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{"created":"2022-01-31T14:20:16.469964+00:00","id":"lit4182","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kirschmann, August","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 7: 362-393","fulltext":[{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht-und Farbencontrastes.\nVon\nA. Hirschmann.\nGem\u00e4\u00df dem Beziehungsgesetze, welches mit dem Gesetze der Relativit\u00e4t aller psychischen Gr\u00f6\u00dfen, der intensiven wie der extensiven, identisch ist, ist jeder Bestandtheil des Bewusstseinsinhaltes hinsichtlich seines Empfindungs- und Gef\u00fchlswerthes von allen andern Bestandtheilen einzeln und von deren Zusammenwirken abh\u00e4ngig. Auf dem Gebiete des Lichtsinnes, dessen Beitrag zum Bewusstseinsinhalt vorzugsweise die Vorstellungsseite unseres psychischen Lebens in Anspruch nimmt, bedeutet demnach das Beziehungsgesetz, dass jede mit den Eigenschaften der Ausdehnung, Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t behaftete Lichtempfindung nicht an und f\u00fcr sich aufgefasst, sondern hinsichtlich des Grades jener drei Eigenschaften von den \u00fcbrigen, sei es in der Wahrnehmung, sei es in Erinnerungsbildern existirenden, Gesichtsvorstellungen bedingt ist. Es ist daher m\u00f6glich, dass gleiche physische Reize, auf gleiche oder gleichwerthige Netzhautstellen einwirkend, verschiedene Empfindungen ausl\u00f6sen. Dies muss eintreten, wenn die Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnisse von den \u00fcbrigen durch das Sehorgan vermittelten Empfindungen f\u00fcr die psychischen Wirkungen der beiden Reize nicht die gleichen sind. Ich w\u00e4hle zur Erl\u00e4uterung ein naheliegendes Beispiel: sehen wir im Winter zum Fenster hinaus dem Schneegest\u00f6ber zu, so heben sich die herabfallenden Flocken, so weit sie sich noch auf den Himmel projiciren, dunkel von hellem Grunde","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 363\nab, w\u00e4hrend sie weiter unten vor dem dunklen Hintergr\u00fcnde der B\u00e4ume und H\u00e4user rein wei\u00df erscheinen; dieser subjectiven Verschiedenheit entspricht keine objective. Der von Reif bedeckte Telegraphendraht vor meinem Fenster stellt sich, soweit er den hellen Himmel zum Hintergrund hat, als eine schwarze, weiter unten aber als eine wei\u00dfe Linie dar, und dennoch sendet er an beiden Stellen Licht von gleicher Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t aus\nUeberall da nun, wo wir, durch die Controlle der anderen Sinne oder auch durch den Gesichtssinn selbst gen\u00f6thigt verschiedene Lichtempfindungen auf gleiche physische Reize zur\u00fcckf\u00fchren m\u00fcssen, gewinnt im Gebiete des Lichtsinns das Beziehungsgesetz eine unmittelbare sinnlich anschauliche Evidenz, indem diejenigen Erscheinungen auftreten, die wir unter dem Begriff des Contrastes zusammenfassen. Es handelt sich hierbei \u00fcbrigens nur um den eigentlichen oder sog. reinen simultanen Contrast, welcher jedoch\naUf Jr\u00e0gheits\" und Erm\u00fcdungserscheinungen beruhenden Nachbilder und Randcontraste betr\u00e4chtlich verst\u00e4rkt werden kann.\nDer Umstand, dass wir auch auf dem Gebiete des Gesichtssinnes nicht nach absolutem, sondern nach relativem Ma\u00dfe messen ist schon insofern von au\u00dferordentlichem Werthe, als wir dadurch m den Stand gesetzt sind, die Gegenst\u00e4nde im Gesichtsfelde bei den verschiedensten Beleuchtungen wiederzuerkennen. Wir sind nicht angewiesen auf die absoluten Helligkeitsunterschiede, welche bei jedem Wechsel in der St\u00e4rke der Beleuchtung eine Aenderung erfahren, sondern erkennen die Objecte an ihren Helligkeitsverhaltnissen zu einander, welche letztere in demselben Ma\u00dfe constant sind wie die Reflexionscoefficienten der in Frage kommenden \u2022 lachen. Ferner verdanken wir es dem Contraste, dass wir sowohl m er eihe der farblosen wie der farbigen Lichtempfindungen zur Construction relativer Maxima und Minima gelangen, wodurch es og ich wird, dass wir einerseits die stets mit farblosem Licht remise ten Farben der Naturobjecte dennoch als ges\u00e4ttigte wahrnehmen nderseits aber auf Reizung durch farbloses Licht unter den ver\u2019\nCatis rSteiUrSt\u00e4iden den contr\u00e4ren Endqualit\u00e4ten der achromatischen Reihe, den Empfindungen Schwarz und Wei\u00df realen\nCo!\u201c?; ?ne Mcht ZU versch\u00e4tzende Bedeutung hat darum der als ein besonderer Fall des Beziehungsgesetzes auf dem\n24*","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nA. Kirschmann.\nGebiete der Kunst. Dies gilt in erster Linie von der Malerei und Zeichnung, in geringerem Ma\u00dfe aber auch von der Plastik.\nIn wie weit es gelingt, durch eine Zeichnung, einen Kupferstich oder ein Gem\u00e4lde in dem Beschauer die von dem K\u00fcnstler beabsichtigten Vorstellungen und Gem\u00fcthsstimmungen hervorzurufen, h\u00e4ngt im wesentlichen von drei Factoren ab: vor allem von der Ausf\u00fchrung des Bildes durch den K\u00fcnstler, dann aber auch von der Art der Aufstellung des Kunstwerks im Verh\u00e4ltniss zu seiner Umgebung, und endlich von der geistigen Beschaffenheit des Beschauers. Es soll die Aufgabe der folgenden Betrachtung sein, zu zeigen, wie bei allen drei genannten Factoren der Contrast mitbestimmend betheiligt ist.\nWas zun\u00e4chst die psychische Natur des Beschauers anlangt, so wollen wir hier ebensowohl von der dauernden Gef\u00fchlsanlage wie von der augenblicklichen Stimmung desselben, welche sicherlich nicht ohne Einfluss sind, absehen und uns darauf beschr\u00e4nken, dar-zuthun, welche Verschiedenheit in der Auffassung allein durch die Verschiedenheit in der Reproduction der Vorstellungen bedingt sein kann. Nehmen wir an, der Beobachter gehe ganz ohne Stimmung und Voreingenommenheit an die Betrachtung des Kunstwerks und sei weder durch Vorurtheile \u00fcber Stil und Bedeutung desselben noch durch die Bekanntschaft mit dem K\u00fcnstler beeinflusst. Auch dann d\u00fcrfte das Urtheil sehr verschieden ausfallen, je nachdem der Beschauer ein Mensch von mehr visueller oder von mehr auditiver Sinnesbeanlagung ist. Stellen wir einen Menschen mit wenig ausgebildetem visuellen Ged\u00e4chtniss vor ein einen Sonnenuntergang darstellendes Gem\u00e4lde, so wird derselbe, da hier die Erinnerungsbilder der fr\u00fcher erlebten \u00e4hnlichen Gesichtseindr\u00fccke nicht die St\u00e4rke erlangen und die Sch\u00e4rfe aufweisen wie bei einem Individuum von vorzugsweise visueller Ged\u00e4chtnissanlage, nicht in der Lage sein, einen Vergleich zwischen den wirklich erlebten und den durch die Kunst hervorgebrachten Gesichtsempfindungen zu ziehen, da er die ersteren nur sehr unvollkommen reproduciren kann. Die auf dem Bilde zur Darstellung verwandten Intensit\u00e4ten werden viel leichter ausreichen, bez. sich in Folge der gegenseitigen (Kontrastwirkung dem Helligkeitsmaximum n\u00e4hern, und dieser Beschauer wird daher viel leichter befriedigt sein, als der mehr visuell beanlagte.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und*Farbencontrastes. 365\nDer letztere dagegen wird eher geneigt sein, einen Vergleich zwischen Wirklichkeit und Bild zu ziehen und dabei die Illusion st\u00f6rende Un\u00e4hnlichkeiten in den Helligkeits-, vielleicht auch in den Farbenverh\u00e4ltnissen entdecken. Es darf nat\u00fcrlich hier nicht au\u00dfer Acht gelassen werden, dass auch hinsichtlich der visuellen Beanlagung wieder gro\u00dfe Verschiedenheiten bestehen m\u00f6gen, je nachdem die r\u00e4umlichen Formen, die Intensit\u00e4t oder die Qualit\u00e4t der Erinnerungsvorstellungen mehr in den Vordergrund treten. Es ist nach dem Vorstehenden begreiflich, dass zwei geistig gleich hoch stehende Beschauer eines Gem\u00e4ldes zu ganz entgegengesetzten Ur-theilen \u00fcber dasselbe gelangen k\u00f6nnen, indem beispielsweise der eine von der inneren Wahrheit des Kunstwerks tief ergriffen, der andere nach seiner Meinung von der Unwahrheit der Formen- und Farbengebung geradezu abgesto\u00dfen wird. Man braucht nur eine Weile die Mienen und Aeu\u00dferungen der Personen vor einem Gem\u00e4lde von so gewagten Formen und Farben wie etwa B\u00f6cklin\u2019s Fr\u00fchlingsreigen im Dresdener Museum zu studiren, um sich von der Richtigkeit des Gesagten zu \u00fcberzeugen.\nIch will noch ein Beispiel anf\u00fchren, welches den gro\u00dfen Einfluss selbst des unbewussten Eingreifens von Erinnerungsbildern r\u00e4umlicher Art darzulegen im Stande ist. Wer mit gutem visuellem bez. r\u00e4umlichem Ged\u00e4chtniss begabt ist, d. h. mit der F\u00e4higkeit, in seinen Erinnerungsvorstellungen die r\u00e4umlichen, intensiven und qualitativen Verh\u00e4ltnisse der Gesichtseindr\u00fccke mit besonderer Treue und Sch\u00e4rfe zu reproduciren, dem wird es vielleicht aufgefallen sein, dass auf vielen Mondlandschaften der Mond zu gro\u00df erscheint. Da man f\u00fcr diese Auffassung zun\u00e4chst keinen stichhaltigen Grund finden kann, so h\u00e4lt man sie leicht f\u00fcr eine T\u00e4uschung. Und dennoch besteht sie zu Recht, da der Mond auf den betreffenden Bildern wirklich zu gro\u00df gezeichnet ist. Man wird hier geneigt sein einzuwenden, dass die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Objecte eine relative, durch die Entfernung mitbedingte sei, in Folge dessen man die Gegenst\u00e4nde durch entsprechend gedachte Distanz\u00e4nderung in jedes beliebige Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltniss zu einander bringen k\u00f6nne. Das ist ganz richtig; aber anderseits wird man nicht leugnen k\u00f6nnen, dass zwischen der scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe (dem Gesichtswinkel) und der Deutlichkeit der Begrenzungslinien eine gewisse Abh\u00e4ngigkeit besteht.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nA. Kirschmann.\nDer Gesichtswinkel des Mondes variirt innerhalb zweier Grenzwerthe, welche nur wenig von einem halben Winkelgrade verschieden sind. Der Mond f\u00fcllt daher in unserem Gesichtsfelde stets einen Kreis aus, dessen Durchmesser ungef\u00e4hr y20 betr\u00e4gt. Auf einer Fl\u00e4che von dieser Ausdehnung sehen wir nur wenige Einzelheiten, und auch diese nur dann, wenn sie durch bedeutende Helligkeitsunterschiede von der Umgebung sich abgrenzen. Eine menschliche Figur, ein Gesicht, Geb\u00e4ude, deren scheinbare Gr\u00f6\u00dfe nicht mehr als ^ betr\u00e4gt, sehen wir aber sehr undeutlich in ihren Conturen. Nun besteht der den erw\u00e4hnten Landschaften anhaftende Fehler, von welchem sich selbst die hervorragendsten Meister wie Achenbach u. A. h\u00e4ufig nicht frei machen k\u00f6nnen, eben darin, dass Objecte von der Art der oben genannten mit scharfen Umrissen und deutlich erkennbaren Einzelheiten in derselben Gr\u00f6\u00dfe gemalt sind wie die Mondscheibe, so dass sich beispielsweise eine menschliche Figur ganz auf die letztere projiciren k\u00f6nnte. Einen Gegenstand von der scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe des Vollmonddurchmessers sehen wir aber selbst bei dem klarsten Mondscheine so undeutlich, dass man h\u00f6chstens aus den Bewegungen schlie\u00dfen kann, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelt. Es ist daher ganz begreiflich, dass ein gro\u00dfer Theil der Beschauer solcher Bilder durch die unverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfige Gr\u00f6\u00dfe des Mondes in dem Genie\u00dfen der sonstigen Vorz\u00fcge des Kunstwerks gest\u00f6rt wird; denn jene Gem\u00e4lde rufen thats\u00e4chlich einen Eindruck hervor, welcher nicht demjenigen einer wirklichen Mondlandschaft entspricht, sondern etwa dem Bilde, welches wir erhalten, wenn wir eine wirkliche Mondlandschaft mit einem Fernrohre betrachten. Sehen wir beispielsweise mit einem terrestrischen Fernrohr von sechsmaliger linearer Vergr\u00f6\u00dferung nach einer fernen H\u00e4userreihe, \u00fcber welcher der Mond steht, so haben wir keineswegs dasselbe Bild wie mit blo\u00dfem Auge bei derjenigen Ann\u00e4herung an die Objecte, welche jener sechsfachen scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe entspricht. Denn n\u00e4hern wir uns den terrestrischen Objecten um so viel, dass ihre scheinbare Gr\u00f6\u00dfe das Sechsfache erreicht, so hat der Mond dagegen immer noch seine fr\u00fchere Ausdehnung beibehalten. Durch das Fernrohr aber sehen wir eine n\u00e4her ger\u00fcckte Landschaft mit einem Himmelsk\u00f6rper von dem scheinbaren Durchmesser von 3\u00b0,","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 367\nalso einen Mond von sechsfacher linearer Gr\u00f6\u00dfe. Ein solcher Ein-\u00bb druck entspricht also nicht der Wirklichkeit.\nWas das Yerh\u00e4ltniss des Kunstwerks zu seiner Umgehung betrifft, so stellt sich die folgende einfache und durch die Gesetze des Helligkeitscontrastes nahegelegte Forderung als wesentlich heraus,: die Aufh\u00e4ngung muss so geschehen, dass die auf dem Bilde zur Verwendung gelangten Maximalgegens\u00e4tze der Lichtst\u00e4rke \u2014 sofern dieselben hinter den entsprechenden der Natur Zur\u00fcckbleiben \u2014 nicht durch solche in der Umgebung \u00fcbertroffen werden. Stellt man beispielsweise eine gute Winter- oder Alpenlandschaft neben einem Fenster auf, welches den Ausblick auf wirkliche Schneefl\u00e4chen gestattet, so k\u00f6nnen bei der M\u00f6glichkeit einer directen Ver gleichung mit der Wirklichkeit die Vorz\u00fcge des Gem\u00e4ldes schwerlich recht zur Geltung gelangen. Die gemalten Intensit\u00e4tsgegens\u00e4tze werden durch den Contrast mit den wirklichen in ihrer Gr\u00f6\u00dfe so sehr herabgesetzt, dass die Gesammtwirkung des Bildes darunter wesentlich verliert. Auch sehr helle W\u00e4nde, wei\u00dfe Gardinen oder der Ausblick nach dem hellen Himmel durch ein nahes Fenster sind im Stande, die Helligkeitswirkung der der Contrastaufhellung bed\u00fcrftigen Partien des Gem\u00e4ldes sehr zu beeintr\u00e4chtigen. Aber auch die Farben der Umgebung sind nicht gleichg\u00fcltig. Wenn die W\u00e4nde des Raumes mit grellen ges\u00e4ttigten Farben ornamentirt sind, so k\u00f6nnen durch den Contrast mit ihnen die Farbent\u00f6ne der Bilder so erhebliche Modificationen erleiden, dass der vom K\u00fcnstler beabsichtigte Effect theilweise oder ganz in Frage gestellt wird. Diese Beeinflussung durch die Umgebung l\u00e4sst sich aber sehr wohl auch zu Gunsten der Wirkung der Kunstwerke verwerthen, wenn man durch vorsichtige und planm\u00e4\u00dfige Wahl und Abstufung die Helligkeiten und Farben der W\u00e4nde, Portieren etc. den Anforderungen der betreffenden Gem\u00e4lde anzupassen sucht. Es ist klar, dass auch die einzelnen Bilder unter einander sich in \u00e4hnlicher Weise gegenseitig beeinflussen m\u00fcssen. Wird dieser Umstand bei der Aufh\u00e4ngung nicht ber\u00fccksichtigt, so k\u00f6nnen sie sich hinsichtlich ihres Gesammtcolorits wie der Farben einzelner Partien betr\u00e4chtlich st\u00f6ren, w\u00e4hrend anderseits nicht zu verkennen ist, dass eine geschickte Zusammenstellung f\u00fcr die Wirkung der Kunstwerke \u00fcberaus g\u00fcnstig und vortheilhaft werden kann. Bei allem dem","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nA. Kirschmann.\naber spielt der Helligkeits- und Farbencontrast eine Hauptrolle.\nEs sei mir gestattet, das Vorstehende durch ein paar Beispiele aus der Dresdener Galerie zu belegen. Da ist ein gro\u00dfes Gem\u00e4lde von Honthorst \u00bbder Zahnarzt\u00ab, welches wir aus andern Gr\u00fcnden weiter unten nochmals zu erw\u00e4hnen haben werden. Ein Meisterwerk in der Wiedergabe eigenth\u00fcmlicher Lichteffecte, stellt es eine bei Lampenschein vorgenommene Zahnoperation dar, ist aber in der Dresdener Galerie in einer f\u00fcr die Geltendmachung seiner Vorz\u00fcge h\u00f6chst ung\u00fcnstigen Umgebung und Beleuchtung untergebracht. Zwischen buntfarbigen Portraits und in Gr\u00fcn prangenden Landschaften und Stillleben, an der hellsten Wand des Saales aufgeh\u00e4ngt, macht es wegen des \u00fcber das Ganze ausgebreiteten, besonders aber auf den Gesichtern liegenden feurigrothen Colorits einen unangenehmen, mindestens aber einen unnat\u00fcrlichen Eindruck. Dieses st\u00f6rende unnat\u00fcrliche Roth verhindert geradezu das Eingehen auf die Idee des K\u00fcnstlers, und ein gro\u00dfer Theil der Beschauer dieses St\u00fcckes wendet sich unbefriedigt ab. Und dennoch hat der K\u00fcnstler diese Wahl der Farben nicht aus blo\u00dfer Laune getroffen, sondern unter der ganz richtigen Voraussetzung, dass sie der Natur der von ihm dargestellten Beleuchtung am besten entspreche. Beim Scheine einer Lampe sehen wir die Gegenst\u00e4nde unserer Umgebung thats\u00e4chlich in dieser rothen F\u00e4rbung, werden uns dessen aber, da wir fast nie Gelegenheit haben, einen directen Vergleich mit der Tagesbeleuchtung anzustellen, nur wenig oder gar nicht bewusst. Der Maler des genannten Bildes hat sicherlich nicht gew\u00fcnscht, dass man sein Werk an einem Orte aufstelle, wo seine Wirkung durch den Contrast mit dem hellen Tageslicht und einer in allen Regenbogenfarben schillernden Umgebung so sehr beeintr\u00e4chtigt, ja f\u00fcr manche Beschauer g\u00e4nzlich vernichtet wird. Der richtige Ort f\u00fcr dieses Kunstwerk w\u00e4re ein kleiner, durch D\u00e4mpfung des Oberlichtes, durch braune oder rothe Gardinen ziemlich verdunkelter Raum mit dunkelroth oder braunroth gehaltenen W\u00e4nden und Draperien.\nDa man aber nicht f\u00fcr jedes St\u00fcck einer Galerie einen beson-dern Raum schaffen und eigens herrichten kann, wie es in der Dresdener Galerie beispielsweise f\u00fcr die Bilder von Munkascy und","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 369\nMakart, f\u00fcr die Sixtinische und Holbein\u2019sche Madonna mit bestem Erfolg geschehen ist, so muss man sich auf andere Weise zu helfen suchen. Durch sorgf\u00e4ltiges Ueberlegen und mannigfaches Probiren l\u00e4sst sich eine Gruppirung der Gem\u00e4lde erzielen, bei welcher die gegenseitige St\u00f6rung auf ein Minimum herabgedr\u00fcckt wird, oder sogar der Helligkeits- und Farbencontrast zwischen den einzelnen St\u00fccken im entgegengesetzten Sinne wirkt und den Effect steigert. Wo diese Gruppirung mit derjenigen nach Schulen und Meistern nicht zusammenf\u00e4llt, muss die letztere nat\u00fcrlich aufgegeben werden, au\u00dfer da, wo die Bilder \u00fcberhaupt nicht nach \u00e4sthetischen, sondern nur nach historischen R\u00fccksichten angeordnet sind.\nAus \u00e4hnlichen Gr\u00fcnden wie den oben angef\u00fchrten sollte man vermeiden, Winterlandschaften, wie die von J. v. Leypold oder Wierusc-Kowalsky (kurze Rast), in unmittelbarer N\u00e4he anderer Landschaften und Baumst\u00fccke von ges\u00e4ttigten Farben und gr\u00f6\u00dferen Lichteffecten aufzuh\u00e4ngen, da durch den Helligkeitscontrast mit diesen letzteren der Charakter der Schneelandschaft fast verloren geht, w\u00e4hrend \u00fcberdies der blaugraue oder violette Ton, in welchem solche Bilder gern gehalten werden, durch den Contrast mit dem umgebenden Gr\u00fcn und Gelbgr\u00fcn bis zur Unnat\u00fcrlichkeit gesteigert werden kann.\nIn dieser Beziehung wirkt auch der herk\u00f6mmliche breite und stark reflectirende Goldrahmen h\u00e4ufig st\u00f6rend und w\u00e4re besser durch eine schwarze (besonders bei Winterlandschaften, Sonnenunterg\u00e4ngen etc.) oder doch wenigstens dunkle Einfassung zu ersetzen. Der Goldrahmen tr\u00e4gt in einzelnen F\u00e4llen sicher zur Erh\u00f6hung der Gesammtwirkung bei; in andern aber st\u00f6rt er durch seine Farbe und seinen Glanz (am meisten bei Landschaften mit hellem Vordergrund). Will man hierbei gar nicht von der Verwendung des Metalles, welche allerdings manches f\u00fcr sich hat, absehen, so lassen sich gegebenen Falles die erw\u00e4hnten st\u00f6renden Contrasteinfl\u00fcsse durch die Wahl eines ganz matt gehaltenen Rahmens aus oxydirtem Silber am besten beseitigen.\nWir kommen jetzt zu dem dritten und wichtigsten Punkte, zu der Ausf\u00fchrung des Bildes durch den K\u00fcnstler. Es ist nat\u00fcrlich in einer psychologisch-optischen Skizze nicht der Ort, auf die Frage","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nA. Kirschmann.\neinzugehen, welchen Ideen der K\u00fcnstler in seinen Werken Ausdruck geben d\u00fcrfe und in welcher Form dies geschehen k\u00f6nne. Es handelt sich hier ja nicht um die von den Kunstwerken hervorzurufenden \u00e4sthetischen und intellectuellen Gef\u00fchle selbst, sondern um gewisse unerl\u00e4ssliche Vorbedingungen derselben auf der Vorstellungs- und Empfindungsseite des Bewusstseins. In Bezug auf die Gesichtswahrnehmungen, deren sich der Maler zur Erregung der \u00e4sthetischen Gef\u00fchle ja ausschlie\u00dflich bedient, erhebt sich f\u00fcr den K\u00fcnstler vor allem die Forderung, dass er, einerlei welchen \u00e4sthetischen oder sittlichen Gedanken er auch zum Ausdruck zu bringen gedenkt, die Dinge der Erfahrung, die er in seinem Kunstwerke darstellen will, oder aber die er als Elemente zur Construction nicht in der Erfahrung gegebener Gebilde benutzt, so darstellt, dass sie wahr, das hei\u00dft als Gesichtsempfindungen m\u00f6glich sind. Ein Centaur, ein fliegender Engel sind in diesem Sinne wahre Darstellungen, denn sie sind als Gesichtsempfindungen sehr wohl m\u00f6glich, nicht aber ein biblisches Historiengem\u00e4lde, wo in derselben Landschaft die Person des Heilands zweimal dargestellt ist, oder etwa eine Landschaft, auf welcher die entfernten Gegenst\u00e4nde in derselben Gr\u00f6\u00dfe und Farbenintensit\u00e4t gemalt sind, wie die des Vordergrundes.\nUm der erw\u00e4hnten Forderung zu gen\u00fcgen, muss der Maler oder Zeichner seine Sorgfalt darauf legen, dass er die Dinge so malt, wie sie in den entsprechenden Situationen wirklich gesehen werden (oder doch gesehen werden k\u00f6nnten, falls sie existirten). Dies scheint auf den ersten Blick sehr leicht zu sein : bei genauerer Betrachtung aber wird man zugeben m\u00fcssen, dass es h\u00e4ufig Verst\u00f6\u00dfe gegen diese Forderung sind, welche den Werth eines Kunstwerks beeintr\u00e4chtigen. Ich will hier einige der gew\u00f6hnlichsten Fehler dieser Art anf\u00fchren.\nDa ist zun\u00e4chst das peinliche Detailliren, das bei einem Stillleben, wo man den Blick vom Apfel zur Traube, von dieser zu den Blumen u. s. w. umherschweifen l\u00e4sst, wohl angebracht ist, bei einer stimmungsvollen Landschaft aber, bei einem Portrait oder Historienbilde, wo gewisserma\u00dfen die Schwerpunkte der Betrachtung von vornherein gegeben sind, dem beabsichtigen Effect entgegenwirkt. Sehen wir einen Menschen an, dessen Person uns irgendwie inte-ressirt, so blicken wir ihm ins Antlitz, fixiren einen Punkt desselben","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 371\nund stellen unser Auge f\u00fcr die diesem Punkte entsprechende Entfernung ein. Die andern Theile des Gesichts wie des \u00fcbrigen K\u00f6rpers, welche nicht allein in das Gebiet des indirecten Sehens, sondern zum gro\u00dfen Theil auch in andere Tiefen-Entfernungen fallen, so dass f\u00fcr ihre Betrachtung neben der Verschiebung des Blickpunktes auch eine Accommodations\u00e4nderung erforderlich w\u00e4re, werden je nach ihrem Abstand vom Fixationspunkt mehr oder minder ungenau gesehen. Auf der Leinwand des Malers aber fallen direct und indirect gesehene Theile in dieselbe Ebene, und die einmal ausgef\u00fchrte Accommodation des Auges gilt f\u00fcr beide. Alle diejenigen Partien des Bildes, welche nicht im Vordergr\u00fcnde des Interesses stehen, sind daher hier, wegen des Wegfalls jenes Accom- i modationserfordernisses, hinsichtlich der Genauigkeit der Auffassung beg\u00fcnstigt und in Folge dessen leichter als in der Wirklichkeit im Stande, die Aufmerksamkeit von dem Schwerpunkte der Betrachtung abzulenken. Soll letzteres vermieden werden, so muss dem Bed\u00fcrfniss, die nicht in die Ebene des Hauptgegenstandes fallenden Objecte unklarer aufzufassen, dadurch Rechnung getragen werden, dass man jene Partien in ihren Formen undeutlicher malt. Es ist daher nicht etwa nur eine K\u00fcnstlerschrulle, sondern entspricht ganz und gar den psychologischen Anforderungen, wenn Lenbach bei seinen bekannten Portraits die Sorgfalt der Ausarbeitung auf die Gesichtsz\u00fcge beschr\u00e4nkt, w\u00e4hrend er die \u00fcbrigen Theile in demselben Ma\u00dfe, wie sie sich von jenem Schwerpunkt der Betrachtung entfernen, oberfl\u00e4chlicher behandelt oder nur andeutungsweise anlegt. Fast noch st\u00f6render macht sich der genannte Fehler bei Landschaften geltend, wo durch peinliches Ausmalen auch der nebens\u00e4chlichsten Einzelheiten, die thats\u00e4chlich gar nicht oder nur bei scharfer Fixation wahrgenommen werden, Gesammteindruck und Stimmung schwer gesch\u00e4digt, letztere wom\u00f6glich ganz zerst\u00f6rt werden kann, und zwar haupts\u00e4chlich deshalb, weil das Auge \u00fcberhaupt verhindert wird, einen Schwerpunkt der Betrachtung zu gewinnen.\nEin weiterer Fehler dieser Art besteht darin, dass man auf Grund der \u00bbErkenntniss\u00ab, dass in der Natur nirgends Conturen Vorkommen, alles aufs \u00e4ngstlichste vermeidet, was einer Begrenzungslinie auch nur entfernt \u00e4hnlich sehen k\u00f6nnte. Nun kommen aber in Wirklichkeit gar nicht selten Contrasterscheinungen vor, welche","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nA. Kirschmami.\nin der Form von Randcontrasten oder sehr schmalen Randlinien eine Art von linearer Begrenzung bilden. So lange sich nun die Helligkeiten der wirklichen hierbei in Frage kommenden Fl\u00e4chen : innerhalb derselben Grenzen bewegen', wie die dem Maler bez. i Zeichner zur Verf\u00fcgung stehenden Pigmente, stellen sich diese i Randcontraste bei sonst richtiger Darstellung von selbst auf dem Bilde ein. Liegen aber die Intensit\u00e4ten der Objecte weiter auseinander, als es der Maler verm\u00f6ge der ihm zu Gebote stehenden Mittel wiederzugeben vermag \u2014 und dies tritt, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, sehr h\u00e4ufig ein \u2014 so erscheinen die in diesen F\u00e4llen meist gerade sehr starken Randcontraste auf dem Bilde nicht von selber wieder, oder doch nur in vermindertem Ma\u00dfe. In diesem Falle bleibt dem K\u00fcnstler, will er nicht auf die Wiedergabe eines thats\u00e4chlichen Bestandteils der Wahrnehmung verzichten, nichts \u00fcbrig als dem Rand-contrast durch Anlegung heller oder dunkler Randlinien nachzuhelfen, wie man dies auch bei den Kunstwerken der bedeutendsten Meister finden kann.\nMan k\u00f6nnte gegen die psychologische Forderung, dass die Kunst \u00fcberall wahrheitsgetreu, d. h. den wirklichen oder anschaulich m\u00f6glichen Gesichtswahrnehmungen gem\u00e4\u00df, darzustellen habe, den Einwand erheben, dass damit einem krassen Realismus und Naturalismus das Wort geredet werde. Dies bestreite ich jedoch ganz entschieden und behaupte, dass jene Forderung mit der sich nur auf den geistigen Inhalt des Kunstwerks und seiner Theile beziehenden Frage des Realismus und Idealismus ebenso wenig zu schaffen hat, wie etwa der Streit, ob man auf der B\u00fchne dem Vorgehen der Meininger zu folgen habe, oder ob man zur Shakespeare-B\u00fchne zur\u00fcckkehren m\u00fcsse. Wer dies nicht einsieht, der hat meines Erachtens von dem Verh\u00e4ltniss zwischen Idealismus und Realismus eine sehr realistische Meinung und vergisst', dass die Kunst nicht nur \u00e4sthetische Gef\u00fchle zu erregen hat, sondern, um dies zu k\u00f6nnen, zun\u00e4chst die rein psychologischen, \u00e4sthetisch selbst indiffererenten Bedingungen jener \u00e4sthetischen Gef\u00fchle erf\u00fcllen muss. Diese Vorbedinungen aber bestehen in erster Linie in der Hervorrufung der geeigneten Sinnesempfindungen. Je naturwahrer \u2014 in weiter oben angedeutetem Sinne \u2014 diese letzteren sind, desto leichter wird es dem in dem Gen\u00fcsse des Kunstwerks","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 373\nbegriffenen Bewusstsein gemacht, sich ohne St\u00f6rung jenen der Idee des Werkes entsprechenden h\u00f6heren \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen hinzugeben. Die erw\u00e4hnte \u00abNaturwahrheit\u00ab ist selbstverst\u00e4ndlich eine relative, von dem Standpunkt der jeweiligen Sinnesentwickelung abh\u00e4ngige. Unser Gesichtssinn ist heute anders gew\u00f6hnt und entwickelt als zur Zeit der Shakespeareb\u00fchne, oder auch nur als vor 50 Jahren, wo beispielsweise noch kein Mensch daran dachte, dass die beiden Augen verschiedene Bilder der Gegenst\u00e4nde erhalten und dass haupts\u00e4chlich durch diese Verschiedenheit die Tiefen Vorstellung, die dritte Dimension des Gesichtsraumes, zu Stande kommt. Unser Auge ist darum heute nicht mehr so leicht befriedigt wie damals. Auf der B\u00fchne zum Beispiel verlangt es hinsichtlich der Scenerie eine m\u00f6glichste Ann\u00e4herung an die Wirklichkeit, nicht damit es dieselbe sieht und seine Freude daran hat, sondern gerade, damit es sie nicht sieht, d. h. damit es nicht durch das Fehlen irgend welcher wenn auch geringf\u00fcgiger Bestandtheile der den Ereignissen entsprechenden Gesichtswahrnehmungen gest\u00f6rt und von der \\ ersenkung in den Gang der Handlung und die Charaktere der handelnden Personen abgelenkt werde.\nUeberhaupt kann ich nicht zugeben, dass in der Ausf\u00fchrung der Kunst von einem Idealismus die Bede sein k\u00f6nne; ich sehe hier nur eine mehr oder minder wahre und unwahre Darstellung. Wenn man dennoch einer sogenannten realistischen Ausf\u00fchrung in die Schuhe schiebt, was im letzten Grunde doch in dem geistigen Inhalt der in dem Kunstwerk zur Darstellung gelangenden Idee oder ihrer Theile gelegen ist, so ist dies auf eine durch unpsychologische Kunsthistoriker und Kritiker eingef\u00fchrte Verwechslung allgemein psychologischer mit rein \u00e4sthetischen Momenten zur\u00fcckzuf\u00fchren. Dass ein Kunstwerk wie Bassano\u2019s \u00bbBekehrung des Paulus\u00ab (Dresdener Galerie), wo in naivster Weise eine Darstellung wunderbarer Lichterscheinungen versucht ist, uns heute nicht mehr wahr erscheinen kann, ist selbstverst\u00e4ndlich. Dessenungeachtet hat jener K\u00fcnstler in seinem Werke ebenso gut \u00bbwahr\u00ab sein wollen, wie die Maler unserer Zeiten. Seine Darstellung entspricht eben der Auffassung seiner Zeit, entspricht dem damaligen Wahrheitsbed\u00fcrfniss auf dem Gebiete des Gesichtssinnes. Um schlie\u00dflich keinen Zweifel zu lassen \u00fcber den in diesen Zeilen von","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nA. Kirschmami.\nmir gebrauchten Begriff der Wahrheit der Darstellung, will ich ein Gem\u00e4lde anf\u00fchren, das meines Erachtens den erw\u00e4hnten psychologischen Forderungen voll und ganz, wie kaum ein anderes, gerecht wird, und welchem dennoch niemand den Vorwurf des Realismus oder Naturalismus machen d\u00fcrfte: die sixtinische Madonna.\nFragen wir uns nunmehr: woher r\u00fchrt die Schwierigkeit, auf die wir sto\u00dfen bei dem Versuche, unsere Gesichtsempfindungen und Vorstellungen auf dem Papier oder auf der Leinwand wiederzugeben, eine Schwierigkeit, welche so gro\u00df ist, dass man an der mehr oder minder unvollkommenen Art und Weise, wie sie zu \u00fcberwinden gesucht wird, Schulen und Kunstepochen erkennen und unterscheiden kann?\nWenn wir einen uns bekannten Gegenstand Wiedersehen oder ein Erinnerungsbild von ihm in uns aufsteigen lassen, so verbinden wir mit dem gegenw\u00e4rtigen Eindr\u00fccke und mit der reproducirten Vorstellung eines fr\u00fcheren Eindrucks in der Regel unbewusst eine mehr oder minder gro\u00dfe Anzahl von reproducirten Vorstellungs-bestandtheilen, welche aus unter andern Verh\u00e4ltnissen und zu anderer Zeit von demselben oder einem \u00e4hnlichen Gegenst\u00e4nde hervor-gerufenen Eindr\u00fccken herstammen. Mit anderen Worten, wir construiren in die gegenw\u00e4rtige thats\u00e4chliche Wahrnehmung \u2014 bez. in das willk\u00fcrlich hervorgerufene Erinnerungsbild \u2014 manches aus fr\u00fcheren Wahrnehmungen im Ged\u00e4chtniss Verbliebene hinein. Dieses unbewusste und unwillk\u00fcrliche Hineinconstruiren ist theils positiv, ein Hinzuf\u00fcgen nicht thats\u00e4chlich vorhandener Elemente, theils aber auch negativ, ein Weglassen gewisser gegebener Wahr-nehmungsbestandtheile, welche gegebenen Falles unsere Aufmerksamkeit nicht in Anspruch nehmen. Wir corrigiren gewisserma\u00dfen den thats\u00e4chlichen Wahrnehmungsinhalt in einer Weise, welche dem Zwecke seiner Einreihung und Verwerthung im Zusammenhang aller Bewusstseinszust\u00e4nde au\u00dferordentlich dienlich ist, die Isolirung und getreue Wiedergabe der Elemente jedoch sehr erschwert, ja zum Theil unm\u00f6glich macht. Denn diese beiden Fac-toren, die wirkliche, augenblickliche, aus einem Complexe von Empfindungen bestehende Wahrnehmung einerseits und jene auf","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 375\nAssociation und Reflexion beruhende Correctur anderseits, vermischen sich so innig mit einander, dass wir sie bei der empirischen Analyse unserer Vorstellungen nur sehr schwer zu trennen verm\u00f6gen. Dies gilt wie f\u00fcr alle Sinne so auch besonders f\u00fcr den Gesichtssinn, und wir stellen uns daher die Dinge nicht so vor, wie wir sie gerade sehen, sondern so, wie wir wissen, dass sie sind. Sollen wir sie dann durch Zeichnen oder Malen reproduciren, so sind wir, selbst wenn der zu copirende Gegenstand sich vor unsern Augen befindet, gar zu leicht geneigt, auf dem Papier oder auf der Leinwand nicht blo\u00df ein Bild unserer augenblicklichen Wahrnehmung, sondern auch jene durch Association und Reflexion entstehende Erg\u00e4nzung wiederzugeben. Ich will versuchen, die Sache durch ein paar Beispiele zu erl\u00e4utern. Kinder zeichnen bekanntlich sehr unvollkommen. Untersucht man die von ihnen begangenen Fehler genauer, so lassen sich leicht diejenigen, welche ihre Ursache in der Unsicherheit der Hand und dem Mangel an Uebung haben, von andern unterscheiden, welche lediglich darauf beruhen, dass das noch wenig entwickelte Bewusstsein den direct gegebenen Wahrnehmungsinhalt von andern Vorstellungsbestandtheilen nicht zu trennen versteht.\nStellt man einem f\u00fcnf- oder sechsj\u00e4hrigen Kinde die Aufgabe, ein menschliches Gesicht zu zeichnen, so kommt in vielen F\u00e4llen ein Kunstwerk seltsamster Art zu Stande: ein Profil mit Nase und Mund, aber mit zwei Augen. Warum malt das Kind zwei Augen? Hat es doch oft genug Gelegenheit, seine Eltern und Gespielen in solcher Stellung zu erblicken, wo es nur ein Auge sieht? Einfach deshalb, weil das Kind wei\u00df, dass ein Mensch zwei Augen hat. Erblickt es ihn von der Seite, so corrigirt es das zweite, jetzt unsichtbare Auge aus seinen fr\u00fcheren Wahrnehmungen hinzu und Wird sich gar nicht bewusst, dass es nur eins wirklich wahrnimmt. Es kann sich trotz des directen Wahrnehmungseindruckes den Menschen gar nicht ohne diese beiden wichtigsten Theile des Angesichts, die Augen, vorstellen, und so zeichnet es denn auch beide.\nEinen Wagen stellen die Kleinen durch ein Trapez oder Rechteck und vier unter demselben und zwar hintereinander angebrachte, \u2022\u00fce R\u00e4der repr\u00e4sentirende Kreise dar. Erst auf einer h\u00f6heren Entwickelungsstufe liefern sie eine L\u00e4ngenansicht des Wagens mit nur","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nA. Kirschmann.\nzwei R\u00e4dern. Hier ist dem Kinde bereits eine Ahnung aufgestiegen von der Unm\u00f6glichkeit einer v\u00f6lligen Congruenz zwischen Object und Bild. Es sieht bereits, dass es durch ein einfaches Nebeneinandersetzen der hintereinander gesehenen Objecte das Richtige nicht trifft, macht aber noch keinen Versuch einer perspectivischen Darstellung, und zwar nicht, weil ihm die n\u00f6thige Handfertigkeit mangelt, sondern weil es die perspectivische Verk\u00fcrzung der Linien, die nicht senkrecht zur Sehachse stehen, und deren wirkliche L\u00e4nge es aus anderen Erfahrungen kennt, zwar wahrnimmt, aber nicht appercipirt. Es sieht die Dinge verk\u00fcrzt und theilweise einander verdeckend, aber es erg\u00e4nzt das Fehlende unbewusst durch Erinnerungsbilder und wei\u00df diese nun nicht von der eigentlichen Wahrnehmung zu scheiden. Aus meiner eigenen Kinderzeit ist mir in sehr lebhafter Erinnerung geblieben ein Beispiel dieser Art, welches ich hier noch erw\u00e4hnen m\u00f6chte. Ein etwa siebenj\u00e4hriger Nachbarknabe hatte eine Kirche gezeichnet, ziemlich richtig wie die Kirche unseres Ortes aussah, mit Thurm und gro\u00dfen Bogenfenstern. Damit aber noch nicht zufrieden, malte er sodann unter heftigster Widerrede meinerseits auch \u00bbden Pfarrer hinein\u00ab, und zwar auf die leere Stelle zwischen zwei Fenstern. In so lebhafter Erinnerung ist mir diese Geschichte geblieben, weil wir beim Streite \u00fcber die Richtigkeit dieser Darstellung ziemlich unsanft ins Handgemenge geriethen.\nNoch bezeichnender ist der folgende Fall, welchen mir Herr Prof. Wundt mittheilte. Ein Knabe, welcher den Marktplatz seiner Vaterstadt darstellen wollte, zeichnete die H\u00e4user, und zwar in Giebelansicht, rings um die den freien Platz darstellende Figur. Dass dabei die H\u00e4user zum Theil auf den Kopf gestellt wurden, schien ihm offenbar weniger wichtig zu sein als die That-sache, dass dieselben um den Marktplatz herum stehen mussten.\nDenselben Fehlern, wie sie das Kind oder auch der auf niedriger Bildungsstufe stehen gebliebene Erwachsene begeht, begegnen wir auch bei den Kunsterzeugnissen der V\u00f6lker fr\u00fcherer Cultur-perioden. Ich erinnere hier nur an die bekannte Behandlung der Perspective in den assyrischen und \u00e4gyptischen Reliefdarstellungen. So geht die Erweiterung des Wahrheitsbed\u00fcrfnisses,","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetisehe Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 377\nwelche die Kunst im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende erfahren hat, einen ganz \u00e4hnlichen Gang, wie ihn die Entwickelung des Anschauungsverm\u00f6gens im Individuum durchl\u00e4uft.\nDer Anf\u00e4nger im Zeichnen und Malen begeht tausend Verst\u00f6\u00dfe gegen Linear- und Luftperspective, und zwar, wie wir gesehen haben, nur zum Theil wegen ungen\u00fcgender Uebung und Sicherheit der Hand und des Augenma\u00dfes, zum gr\u00f6\u00dferen Theil aber, weil er noch nicht versteht, die augenblicklichen Gesichtsempfindungen von den reproducirten Vorstellungselementen zu trennen, Wahrnehmung und Erinnerungsbild auseinander zu halten. Der Dilettant, der zum ersten Male eine Winterlandschaft nach der Natur zeichnen will, scheut sich, die auf den Schneefl\u00e4chen bemerkbaren Schatten auf dem Papier wiederzugeben, weil er sich des Gedankens nicht entschlagen kann, dass der Schnee doch immer wei\u00df sein m\u00fcsse. Als ich einst einen hochgebildeten und sonst sehr scharf beobachtenden Herrn davon zu \u00fcberzeugen suchte, dass selbst an einem tr\u00fcben Wintertage der (gleichf\u00f6rmig bedeckte) \u00bbgraue\u00ab Himmel doch immer noch heller sei als die \u00bbwei\u00dfen\u00ab Schneefl\u00e4chen auf den D\u00e4chern und auf der Erde, oder als ein \u00bbwei\u00dfes\u00ab in g\u00fcnstiger Tagesbeleuchtung befindliches Blatt Papier, gelang mir dies erst, als ich ihn die genannten Fl\u00e4chen durch eine geschw\u00e4rzte und mit Diaphragmen versehene R\u00f6hre betrachten lie\u00df, wodurch der Einfluss der nicht direct der Lichtwahrnehmung angeh\u00f6renden Vorstellungsbestandtheile aufgehoben oder doch sehr beschr\u00e4nkt wurde.\t.\nAuch f\u00fcr den wirklichen und ge\u00fcbten K\u00fcnstler bietet es mannigfache und gro\u00dfe Schwierigkeiten, die Natur so darzustellen, wie er sie im gegebenen Momente wirklich mittelst des Gesichtssinnes wahrnimmt, und nicht so, wie er wei\u00df, dass sie ist. Die Fehler, welche selbst der k\u00fcnstlerischen Production und Reproduction unterlaufen in Folge der Thatsache, dass es sehr schwer ist, bei der Wiedergabe gegenw\u00e4rtiger oder fr\u00fcherer Gesichtseindr\u00fccke sich jeder Vernachl\u00e4ssigung vorhandener Bestandtheile und jedes Hineincorrigirens auf Grund anderweitiger Erfahrungen zu enthalten, liegen zum Theil, wie [in den obigen Beispielen, auf dem Gebiete der Linearperspective, der Gr\u00f6\u00dfen- und Formverh\u00e4ltnisse, bestehen aber zu einem sehr wichtigen Theile auch in der unrichtigen Wundt, Philos. Studien. VII.\t25","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nA. Kirschmann.\nWiedergabe der Helligkeits- und Farbenverh\u00e4ltnisse. Hierbei spielt gerade der Contrast die bedeutendste Rolle.\nJe n\u00e4her wir die uns gegen\u00fcbertretenden Gesichtsobjecte kennen lernen, desto mehr lernen wir auch, uns von solchen Empfindungsverschiedenheiten, denen, wie wir aus der durch andere Wahrnehmungen gemachten Erfahrung wissen, keine objectiven Unterschiede entsprechen, emancipiren und andererseits gewisse Elemente hinein-corrigiren, welche in der jeweiligen Wahrnehmung gar nicht enthalten sind, sondern ebenfalls der fr\u00fcher gemachten Erfahrung entstammen. Wenn wir von zwei gleichen St\u00fcckchen grauen Papiers das eine auf einen rothen, das andere auf einen blauen Untergrund legen, so werden dieselben auf ein unbefangenes Auge, das nichts von der objectiven Beschaffenheit der beiden Gegenst\u00e4nde wei\u00df, in Folge des Contrastes einen ganz verschiedenen Eindruck machen: jedes erscheint als ein mit der Complement\u00e4rfarbe des Grundes gemischtes Grau. Sobald der Beobachter aber einmal beide St\u00fcckchen heruntergenommen und ihre objective Gleichheit erkannt hat, f\u00e4llt es ihm schwer, bei Erneuerung der fr\u00fcheren Anordnung, den Contrast in der vorherigen St\u00e4rke wiederzusehen; ja er wird h\u00e4ufig behaupten, gar keine Verschiedenheit zu bemerken. Und dennoch sind die Empfindungen dieselben wie vorher. Eine etwaige Beschreibung oder Wiedergabe des Wahrgenommenen durch den Pinsel muss daher verschieden ausfallen, je nachdem der Ausf\u00fchrende nur durch den gegenw\u00e4rtigen GesichtseindTuck bestimmt ist, oder aber durch fr\u00fchere Erfahrungen \u00fcber denselben Gegenstand beeinflusst wird. Der letztere Fall tritt besonders h\u00e4ufig ein, wo es sich um die durch den Contrast bewirkte Aenderung der Empfindungen handelt; es werden alsdann Helligkeiten und Farben dargestellt nicht wie sie sich bei den thats\u00e4chlich in dem betreffenden Falle gegebenen Beleuchtungs- und Lageverh\u00e4ltnissen repr\u00e4sentiren, sondern so wie sie sich bei einer indifferenten Beleuchtung und Umgebung zeigen w\u00fcrden. Nun m\u00fcsste dieser Fehler dadurch wieder ausgeglichen werden, dass ja auch die Pigmente, mit denen der Maler und Zeichner arbeitet, denselben Contrastgesetzen unterworfen sind wie die Farben der Objecte, so dass die gegenseitigen Contrast-beeinflussungen der Farben und Helligkeiten bei sonst richtiger Wahl derselben sich auf dem Bilde ganz von selbst wieder einstellen","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 379\nm\u00fcssten. Dies geschieht auch allerdings, aber nur soweit die dem K\u00fcnstler zur Verf\u00fcgung stehenden Mittel in Bezug auf Helligkeit, Farbenton und S\u00e4ttigung eine genaue Reproduction der objectiven Verh\u00e4ltnisse zulassen. Was den Farbenton anbelangt, so mag wohl zugestanden werden, dass die Pigmente hinsichtlich ihrer Reinheit und der Mannigfaltigkeit der m\u00f6glichen Abstufungen hinter den an den Objecten selbst zu beobachtenden Farben nicht sehr zur\u00fcckstehen. Dasselbe gilt aber keineswegs auch von der Helligkeit.\nDer Zeichner und Maler findet an den von ihm darzustellenden Objecten der Natur die verschiedensten Stufen der Helligkeitsreihe, von dem blendenden Blauwei\u00df des Tageshimmels bis zu dem der v\u00f6lligen Lichtlosigkeit nahekommenden Schwarz der tiefsten Schatten. Zur Wiedergabe auf dem Papier oder auf der Leinwand stehen ihm jedoch nur Pigmente zur Verf\u00fcgung, welche sich hinsichtlich ihrer Helligkeit innerhalb weit engerer Grenzen halten. Den hellsten Lichteffcct bringt er durch Auftr\u00e4gen wei\u00dfer Deckfarben bezw. durch Stehenlassen des wei\u00dfen Grundes zu Stande. Die dunkelsten Stellen des Bildes dagegen sind schwarz gehalten, und ihre Helligkeit betr\u00e4gt, wenn das beste schwarze Pigment \u2014 Elfenbeinschwarz oder Pariser Schwarz \u2014 angewandt worden ist, im g\u00fcnstigsten Falle t/66 von derjenigen des wei\u00dfen Grundes bez. der in Wei\u00df gemalten Fl\u00e4chen. Bei Oelgem\u00e4lden mag die Intensit\u00e4t hellerer Stellen von beschr\u00e4nkter Ausdehnung noch etwas erh\u00f6ht werden durch geschickte Verwerthung der Reliefeigenschaften dick aufgetragener deckender Pigmente. Von den in der eigentlichen Kunst nicht zur Verwendung gelangenden Mitteln wie Transparenz und Beleuchtung einzelner Stellen des Bildes von hinten (bei Rundgem\u00e4lden) oder auch Anwendung durchfallenden Lichtes f\u00fcr das ganze Bild (Glasgem\u00e4lde und transparente Glasstereoskopien) k\u00f6nnen wir hier f\u00fcglich absehen, ebenso wie von der Verwendung metallischer Farben (Bronzen) zur Erreichung gewisser Glanzeffecte. Es bewegen sich somit die Helligkeitsstufen, welche dem K\u00fcnstler zur Verf\u00fcgung stehen, zwischen zwei Grenz- ! werthen, welche das Verh\u00e4ltniss von 1 : 66 nur selten und dann i nur in geringf\u00fcgigem Ma\u00dfe \u00fcberschreiten, w\u00e4hrend den Helligkeits-Verh\u00e4ltnissen der wirklichen Gegenst\u00e4nde, die dem Maler als Vor-bild seines Werkes dienen, solche Grenzen \u00fcberhaupt nicht gesetzt Smd- In der folgenden Tabelle sind einige durch Messung mittelst\n25*","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nA. Kirschmann.\nB o z e i c h n u n g der beiden verglichenen Flachen\t\tSh W \u00ae a toot* fl .H a> - g\u2019S \u00ae 3 \u00a3.2 a rt i\u2014\u00ab M o \u00ab\u00ab-e\tHelligkeits-verh\u00e4ltniss berechnet nach der Formel\tAbgerundetes Helligkeits-\nJ\tJi\t^ \u00ae .\u00a33 l-i ^ P. \u25a0\u00a7 1\ttg ** = \u00a3\tvon J : Ji\n1. Geschw\u00e4rzter Carton im Sonnenschein\tWei\u00dfes Papier im Sonnenschein\t24\t1 : 52,2698\t1 : 52\n2. Geschw\u00e4rzter Carton im diffusen Tageslicht\tWei\u00dfes Papier im Sonnenschein\t20\t1 : 606,628\t1 : 600\n3. Geschw\u00e4rzter Carton im tiefen Schatten\tWei\u00dfer Carton im hellen Sonnenlicht (unter 60\u00b0 einf.)\t16\t1: 3734,438\t1 : 3700\n4. Wei\u00dfer Carton, beleuchtet von diffusem Tageslicht und der 10 cm entfernten Gasflamme\tGasflamme (Flachbrenner zur Erhellung der Scala eines Spektroskops)\t24\t1: 85,6607\t1 : 85\n5. Derselbe Carton, be-leuchtetvon ged\u00e4mpftem Tageslicht und der 1,50 m entfernten Gasflamme\tDieselbe Gasflamme\t24\t1: 1635,057\t1 : 1600\n6. Wei\u00dfes Fensterkreuz des Versuchszimmers\tKlarer Himmel (blau, daher Beob. erschwert)\t24\t1 : 409,467\t1 : 410\n7. Dasselbe\tWei\u00dfe Wolken\t20\t1:668,449\t1 : 670\n8. Graue Wand eines Hauses in vollem Tageslicht (etwa 25 m Entfernung)\tHeller Himmel\t24\t1:50,6285\t1 : 50\n9. Dieselbe Wand\tWei\u00dfe Wolke\t16\t1 :144,8322\t1 : 145\n10. Graue Wand eines Hauses im diffusen Tageslicht w\u00e4hrend des Regens\tTr\u00fcber, gleichm\u00e4\u00dfig bedeckter Himmel w\u00e4hrend des Regens\t24\t1:24,3396\t1 :24\n11. Wei\u00dfes Fensterkreuz des Versuchszimmers\tTr\u00fcber Himmel w\u00e4hrend des Regens\t30\t1:423,0885\t1 : 423\n12. Dasslb. Fensterkreuz j Die graue Wand von Nr. 9 (zur Controlle f\u00fcr Nr. 9 und 10)\t\t20\t1 :22,71427\t1 : 23\n13. Von sehr hellen wei\u00df. W\u00f6lkchen bedeckter Abendhimmel\tV ollmondscheibe\t18\t1:338,501\t1 : 340\n14. Ziemlich klarer und sehr heller Abendhimmel in der Umgebung des Mondes\tVollmondscheibe\t24\t1: 1242,526\t1 : 1240\n15. Sehr klarer Nachthimmel\tHochstehender Mond\t26\t1 : 4799,84\t1 : 4800","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes.\n331\ndes Polarisationsphotometers ermittelte Helligkeitsverh\u00e4ltnisse mit-getheilt, wie sie der K\u00fcnstler h\u00e4ufig zum Gegenstand seiner Darstellungen benutzt, ohne zu erw\u00e4gen, dass die ihm gegebenen Mittel auch nicht ann\u00e4hernd zur genauen Wiedergabe ausreichen. Hierbei ist noch zu ber\u00fccksichtigen, dass die aufgef\u00fchrten Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse \u2014 da die dunklere Fl\u00e4che mit Ausnahme der bei Nr. 4 benutzten \u00fcberall noch eine betr\u00e4chtliche Helligkeit aufzuweisen hatte \u2014 noch keine von extremer Art sind, und dass die Fehler des Polarisationsphotometers die Gegens\u00e4tze der zu vergleichenden Intensit\u00e4ten eher herabsetzen als versch\u00e4rfen k\u00f6nnen. Nehmen wir nun z. B. an, dass der helle Abendhimmel in der Umgebung des Mondes, gering gerechnet, noch etwa die zehnfache Helligkeit besitzt wie eine von diffusem Mondlicht schwach erhellte Geb\u00e4udewand, so stellt sich f\u00fcr diese letztere und die Mondscheibe selber unter Zu-h\u00fclfenahme des Ergebnisses 15 der Tabelle ein Helligkeitsverh\u00e4ltniss von 1 : 48 000 heraus.\nAber selbst wenn in Wirklichkeit der Unterschied der K\u00f6rper in Bezug auf die von ihnen ausgestrahlte oder reflectirte Lichtmenge nicht gr\u00f6\u00dfer w\u00e4re als der zwischen dem hellsten und dunkelsten Pigmente, oder wenn der Maler von der Darstellung aller leuchtenden und sonstigen sehr hellen Dinge absehen und nur matte Gegenst\u00e4nde malen wollte, welche sich hinsichtlich ihrer Reflexions -coefficienten innerhalb der n\u00e4mlichen Grenzen hielten, wie die Pigmente, so w\u00fcrden die vorkommenden Helligkeiten doch noch zu weit auseinander liegen, da au\u00dfer der Reflexionsf\u00e4higkeit der K\u00f6rperoberfl\u00e4chen auch noch die Intensit\u00e4t der Beleuchtung in Betracht zu ziehen ist, welche f\u00fcr verschiedene Objecte oder auch nur f\u00fcr verschiedene Theile desselben Objectes selbst bei einheitlicher Lichtquelle durchaus nicht die gleiche ist. Ein wei\u00dfer Gegenstand kann au\u00dferdem dass er an sich schon die best-reflectirenden Fl\u00e4chen aufzuweisen hat, noch im vollen Lichte, im Sonnenschein stehen, ein schwarzer sich im tiefsten Schlagschatten befinden, wodurch die der diffusen Reflexion gesetzten festen Grenzen wieder ins Unbestimmte auseinandergeschoben werden. Diese Verh\u00e4ltnisse aber getreu wiezugeben ist der Maler und Zeichner au\u00dfer Stande, da er nicht unter das durch das beste schwarze Pigment repr\u00e4sentirte Helligkeitsmini-iuum herab und nicht \u00fcber das durch die Intensit\u00e4t seines reinsten","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nA. Kirschmann.\nwei\u00dfen Pigmentes gegebenen Helligkeitsmaximum hinauf zu gehen veimag und sein Gem\u00e4lde oder seine Zeichnung auf einer Ebene anlegen muss, welche immer nur eine gleichm\u00e4\u00dfige Beleuchtung erhalten kann.\nNun kann sich aber der K\u00fcnstler nicht auf die Wiedergabe der angedeuteten Dinge beschr\u00e4nken, sondern es finden sich unter den Naturobjecten, welche ihm als Vorbild seiner Darstellungen dienen, mannigfach solche, deren Helligkeit die oben angef\u00fchrten der diffusen Reflexion gesetzten Grenzen um das 10- und 100fache, ja noch weiter \u00fcbersteigen, wie der helle Tageshimmel, die auf- und untergehende Sonne selber, der Mond, das Alpengl\u00fchen, spiegelnde Wasserfl\u00e4chen, das Abendroth und manche andere. Obgleich nun gerade in diesen Dingen, besonders, wenn es sich um die Darstellung leuchtender Gegenst\u00e4nde selber, etwa k\u00fcnstlicher Lichtquellen u. s. w. handelt, von K\u00fcnstlern und Dilettanten viel ges\u00fcndigt wird, so gelingt es anderseits doch in vielen F\u00e4llen, auf der Leinwand oder dem Aquarellpapier eine Zusammenstellung von Farbent\u00f6nen und Helligkeiten zu erzeugen, welche den gew\u00fcnschten Eindruck macht und dem Auge einen Anblick gew\u00e4hrt, der, trotz der Verschiebung der objectiven Helligkeitsdiflerenzen, dem von der Wirklichkeit gebotenen sehr \u00e4hnlich ist. In allen diesen F\u00e4llen, wo der K\u00fcnstler trotz der engen Grenzen der ihm zu Gebote stehenden Mittel dennoch eine relativ hohe Aehnlichkeit mit dem, was wirklich oder als Lichtwahrnehmung m\u00f6glich ist, zu erreichen vermag, verdankt er dies der Beih\u00fclfe des Contrastes, welcher sich zum Theil von selbst einstellt, zum andern und bei weitem gr\u00f6\u00dferen Theile aber vom K\u00fcnstler instinctiv oder mit | Ueberlegung zur Erreichung gewisser Eflecte angewandt wird. Es k\u00f6nnen n\u00e4mlich, vorausgesetzt, dass die Umgebung des Bildes nicht dadurch st\u00f6rend einwirkt, dass sie gr\u00f6\u00dfere, die Grenzen der Dar-stellbarkeit \u00fcberschreitende Helligkeiten aufweist, die von dem K\u00fcnstler vermittelst der Pigmente der bedeutendsten ihm zu Gebote stehenden Helligkeit angelegten Lichter durch den Contrast mit benachbarten, dunkel gehaltenen Stellen in ihrer subjectiven Intensit\u00e4t so sehr gehoben werden, dass die Helligkeitsunterschiede in i ihrem Empfindungs-und Gef\u00fchlswerthe denen der Wirklichkeit nahezu oder ganz gleichkommen, was dann \u2014 soweit die wahrheits-","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 383\ngetreue Wiedergabe der Helligkeitsverh\u00e4ltnisse in Betracht kommt\n__ die vollst\u00e4ndige Befriedigung des Beschauers zur Folge hat. )\nEbenso k\u00f6nnen die immer noch eine erhebliche Lichtmenge reflec-tirenden, mit schwarzen oder anderen sehr dunkeln Pigmenten behandelten Partien durch den Contrast mit angrenzenden helleren Stellen in ihrer Lichtwirkung, so sehr herabgesetzt werden, dass sie den gew\u00fcnschten Eindruck ann\u00e4hernder oder v\u00f6lliger Lichtlosigkeit zu machen im Stande sind. Hierbei kommt der Umstand sehr zu . statten, dass der Contrasteinfluss nicht nur mit der Intensit\u00e4t der in-ducirenden Fl\u00e4che, sondern auch mit der Ausdehnung derselben w\u00e4chst, wie ich an anderer Stelle dargethan habe t). Die Thatsache, dass dieselbe Contrastaufheilung bez. Verdunkelung, welche durch eine sehr dunkle oder sehr helle Fl\u00e4che hervorgerufen wird, auch durch Fl\u00e4chen von weniger extremen Lichtwerthen geleistet werden kann, ; wenn man dieselben nur in entsprechend gr\u00f6\u00dferer Ausdehnung ver- \\ wendet, gibt dem K\u00fcnstler bis zu einem gewissen Ma\u00dfe die Mittel an die Hand, sich f\u00fcr die Unzul\u00e4nglichkeit seiner Pigmente Ersatz zu schaffen. Man sieht leicht ein, dass auf Grund der Reeiprocit\u00e4t zwischen der Gr\u00f6\u00dfe der inducirenden und der inducirten Fl\u00e4che nur verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kleine Partien eine bedeutende Contrastaufhel- \\ lung erfahren k\u00f6nnen, diese aber dann auch in sehr wirkungsvoller )< Weise. Ich erinnere hier nur an die wie wirkliche Lichtp\u00fcnktchen. ] leuchtenden Strandlichter im Hintergr\u00fcnde Oswald Achenbach\u2019scher Seebilder, sowie an die bekannten Bilder Moritz M\u00fcller\u2019s (genannt Feuerm\u00fcller). So findet auch die Mitwirkung des Contrastes zur Erreichung der Ziele der Kunst wieder ihre Grenzen, welche zu erkennen und nicht zu \u00fcberschreiten die Aufgabe des K\u00fcnstlers ist. Da diese Grenzen f\u00fcr die verschiedenen Menschen je nach ihrer individuellen Beanlagung betr\u00e4chtlich verschieden sein d\u00fcrften, so wird der K\u00fcnstler gut thun, dieselben nicht zu weit hinaus zu r\u00fccken, d. h. keine Helligkeitsverh\u00e4ltnisse darzustellen suchen, welchen die von ihm gebrauchten Farbstoffe bei m\u00e4\u00dfiger Mith\u00fclfe ) des Contrastes nicht gewachsen sind. Wenn die Lichtquelle selber, etwa die Sonne, ein Feuer, brennende Kerzen u. s. w. auf dem Bilde\n1) Phil. Stud. VI, S. 491. Ueber die quantitativen Verh\u00e4ltnisse des simultanen Contrastes.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nA. Kirschmann.\nzur Darstellung gelangt, so ist in der Regel die \u00e4u\u00dferste Grenze der M\u00f6glichkeit, dass der Contrast das bewirke, was die Pigmente an sieh verm\u00f6ge ihrer Helligkeit nicht leisten k\u00f6nnen, bei weitem \u00fcberschritten. Dies gilt beispielsweise von einem Gem\u00e4lde von Domenicus Feti (Dresdener Galerie), das Gleichniss vom verlorenen Groschen darstellend; das Licht, das die suchende, auf der Erde knieende Frau in der Hand h\u00e4lt, ist so bla\u00df, dass man nur an der Form erkennt, dass es sich um eine leuchtende Flamme handelt. Einen \u00e4hnlichen Eindruck erh\u00e4lt man bei der Betrachtung von B\u00e4\u00fctzer\u2019s \u00bbWallfahrer am Grabe der hl. Elisabeth\u00ab oder von Fall-mann\u2019s \u00bbGel\u00fcbde eines Benedictinerm\u00f6nches\u00ab (Dresden. Gal.). Bei letzterem Bilde st\u00f6ren die sich von dem bl\u00e4ulich wei\u00dfen Ton der umgebenden Partien kaum abhebenden Kerzenflammen den Ernst der Versenkung in den Geist der dargestellten Handlung eben so sehr, wie es die heilige Handlung selbst gest\u00f6rt haben w\u00fcrde, wenn die M\u00f6nche anstatt brennender Kerzen solche mit k\u00fcnstlichen, aus gelbem Papier geschnitzten Flammen getragen h\u00e4tten. Ist schon die Darstellung von Lichtquellen in dunkler Umgebung meist mit gr\u00f6\u00dften Schwierigkeiten verbunden, so ist eine auch nur ann\u00e4hernd \u00e4hnliche Wiedergabe leuchtende Objecte in einer ohnehin schon erhellten Umgebung wegen des Wegfalls der Contrastauf hell ung geradezu unm\u00f6glich.\nDas Unnat\u00fcrlichste was ich in Bezug auf die Darstellung der Lichtquelle selber gesehen habe, ist eine \u00bbGefangennehmung Christi\u00ab von einem holl\u00e4nd. Meister um 1500, bei welcher ich Fackeln und Laternen erst nach l\u00e4ngerer Betrachtung als solche zu erkennen vermochte. Selbst auf Defregger\u2019s ausgezeichnetem Gem\u00e4lde \u00bbSensenschmiede im Tiroler Aufstande\u00ab (Dresden), wo die Beleuchtung der markanten Bauerngesichter durch das SchmiedefeueT au\u00dferordentlich wirkungsvoll behandelt ist, w\u00e4re das Feuer selbst besser den Blicken entzogen geblieben. Wenn man aber gar, wie es Oswald Achenbach auf seinem Bilde \u00bbSt. Annenzug in Casamicciola auf Ischia\u00ab ausnahmsweise einmal fertig bringt, eine aufsteigende Rakete sich dunkel von dem hellen Grunde des Abendhimmels abheben l\u00e4sst, so sind damit die Lichtverh\u00e4ltnisse der Wirklichkeit in ihr Gegen-theil verkehrt.\nNur da, wo das \u00fcbrige Bild vorwiegend dunkel gehalten ist,","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 385\nder Helligkeitscontrast also in ganzer St\u00e4rke in Kraft tritt, wirkt die Darstellung der Lichtquelle befriedigend, und auch hier nur bei g\u00fcnstiger Aufh\u00e4ngung in m\u00e4\u00dfig heller Beleuchtung und geeigneter Umgebung. Ich erw\u00e4hne hier die vorz\u00fcglichen Mondlandschaften von Camphausen, Lier (z. B. die Oase, Dresd. Gal.), van der Neer und vor allen Andreas und Oswald Achenbach, welche beiden letzteren in der Verwerthung des Helligkeitscontrastes zur Erreichung au\u00dfergew\u00f6hnlicher Lichteffecte das H\u00f6chste leisten. Ich erinnere nur an das im Leipziger Museum befindliche Bild Oswald Achen-bach\u2019s \u00bbGolf von Neapel\u00ab, sowie an die der Dresdener Galerie angeh\u00f6renden \u00bbFischerdorf im Mondschein\u00ab und \u00bbAmsterdamer Gracht\u00ab von Andreas Achenbach. Auch die stimmungsvollen sehr dunkel gehaltenen Mondlandschaften des D\u00fcsseldorfer August Weber geh\u00f6ren zu den besten Leistungen auf diesem Gebiete. Von Genre-und Historienbildern, bei welchen durch ausgiebigste Benutzung der Contrastaufhellung \u00fcberraschende Lichtwirkung erreicht ist, m\u00f6chte ich, um einige Beispiele zu geben, noch auff\u00fchren \u00bbdas Abendgebet\u00ab von M. M\u00fcller und die ganz ausgezeichnet gelungene \u00bbFischmarktscene\u00ab von Pieter van Schendel (Leipziger Museum), \u00bbEine heilige Familie\u00ab von Schalcken (Freih. v. Sternburg\u2019sche Sammlung, L\u00fctzschena), vielleicht auch das (ebendaselbst) sehr g\u00fcnstig in einer etwas d\u00fcstern Ecke eines Nebensaales aufgeh\u00e4ngte gr\u00f6\u00dfere Gem\u00e4lde von Fran\u00e7ois Biard \u00bbCarl VII, dem Exorcismus unterworfen\u00ab. Bei dem letzteren indessen, ebenso wie bei den beiden die Erfindung des Porzellans darstellenden gro\u00dfen Wandgem\u00e4lden auf der Albrechtsburg in Mei\u00dfen, sind die der Contrastaufhellung bed\u00fcrftigen Stellen im Vergleich mit der \u00fcbrigen Fl\u00e4che schon zu gro\u00df, so dass man, \u00e4hnlich wie bei Defregger\u2019s Sensenschmiede, das Feuer selber lieber verdeckt sehen m\u00f6chte. Dasselbe gilt von Gr\u00e4f\u2019s \u00bbverfolgter Phantasie\u00ab (Berlin), wo die Lichtwirkung des Feuers auf die Gestalten trefflich gelungen ist, das Feuer selber aber st\u00f6rend wirkt. Am vollkommensten erreicht der Maler bei solchen au\u00dfergew\u00f6hnlichen Beleuchtungseffeeten Sein Ziel, wenn er auf die Darstellung der Leuchtquelle selber verzichtet und sich auf die Wiedergabe der Wirkung derselben auf die Umgebung beschr\u00e4nkt, denn hierbei reicht die Contrastaufhellung selbst f\u00fcr verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gro\u00dfe, die intensivsten Reflexe repr\u00e4sentirenden Partien aus. Es ist der Contrast","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nA. Kirschmann.\nhier in viel weiterem Ma\u00dfe als bei der Darstellung leuchtender K\u00f6rper im Stande, die Unzul\u00e4nglichkeit der Pigmente zu decken, und es machen daher Gem\u00e4lde dieser Art bei geschickter Ver-werthung der verschiedenen Contrasteinfl\u00fcsse einen \u00fcberaus g\u00fcnstigen und befriedigenden Eindruck. Die niederl\u00e4ndischen Schulen sind reich an derartigen Darstellungen. Hierher geh\u00f6rt Rembrandt\u2019s Grablegung Christi (Dresden), wo die die Grabesh\u00f6hle erhellende Lichtquelle durch eine Hand verdeckt ist, w\u00e4hrend ihre Wirkung auf die Umgebung, ohnehin schon meisterhaft ausgef\u00fchrt, noch erh\u00f6ht wird durch den Farbencontrast, mit dem im Hintergr\u00fcnde durch den Ausgang der H\u00f6hle hereinblickenden Abendhimmel. Auch auf dem weiter oben schon erw\u00e4hnten Bilde \u00bbder Zahnarzt\u00ab von Honthorst hat der K\u00fcnstler die Quelle der eigenartigen Beleuchtung durch eine Figur verdeckt. Einen besonderen Reiz erh\u00e4lt diese Art der Darstellung, wenn die Verdeckung der Lichtquelle noch anderweitig in ungezwungener Weise motivirt ist, so beispielsweise, wenn die vorgehaltene Hand die Flamme vor dem Luftzug sch\u00fctzen soll oder dergl.\nVon Landschaften, welche in Bezug auf die zur Darstellung gelangenden Helligkeiten ein \u00e4hnliches den psychologischen Forderungen am vollkommensten entsprechendes Verfahren einhalten, m\u00f6chte ich hier erw\u00e4hnen: Adelsteen Normann\u2019s Bafsund in Norwegen (Dresden), bei welchem der Reflex der Sonne auf der Wasserfl\u00e4che sehr wirkungsvoll wiedergegeben ist, ohne dass die Sonne selbst zur Darstellung gelangt. Auch die Bilder von Douzette, \u00bbHafen bei Mondschein\u00ab (Leipzig) und \u00bbLandsee im Mondschein\u00ab (Dresden) geh\u00f6ren zu den besten auf diesem Gebiete. Auf dem letztgenannten ist der Mond selbst durch W\u00f6lkchen verdeckt, die Beleuchtung dieser letzteren und des Wassers kommt dabei aber um so besser zur Geltung. Auch auf dem herrlichen gro\u00dfen Gem\u00e4lde von Oswald Achenbach \u00bbAm Golf von Neapel\u00ab (Dresden) ist die fast untergegangene Sonne selbst nicht sichtbar, desto naturgetreuer aber ihre Beleuchtungseffecte und die noch blasse Sichel des Mondes. Vor allem aber geh\u00f6rt hierher Calame\u2019s gro\u00dfartiger \u00bbSonnenaufgang \u00fcber dem Monte Rosa\u00ab (Leipzig).\nAber nicht blo\u00df bei der Hervorrufung intensiver Leuchteffecte leistet der Helligkeitscontrast ausgezeichnete Dienste. Die Meister des Helldunkels wissen ihn auf das Geschickteste zu verwerthen, um","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 387\nzu erreichen, dass dieselbe Fl\u00e4che im Vergleich mit einer helleren uns ziemlich dunkel, mit einer dunkleren verglichen aber noch in betr\u00e4chtlicher Helligkeit erscheint.\nW\u00e4hrend der Zeichner und Kupferstecher lediglich auf den Helligkeitscontrast angewiesen sind, dessen geschickte Verwendung ihnen sogar bis zu einem gewissen Grade die Farben ersetzen muss, ist der Maler insofern g\u00fcnstiger gestellt, als er Hellig-keits- und karbencontrast, sowohl einzeln als auch vereint, anwenden darf. In Betreff des Farbencontrastes ist ihm allerdings, sofern er sich vor Uebertreibungen h\u00fcten will, nicht viel mehr gestattet, als die an den Objecten gegebenen Contrastwirkungen zu copiren, was um so leichter gelingt, als ja gerade der Farbencontrast bei den dem Maler in seinen Pigmenten zu Gebote stehenden mittleren Helligkeiten seinen Maximalwerth erreicht. Auch eine dritte Form des Simultancontrastes, der S\u00e4ttigungscontrast ist nicht ohne Bedeutung und kann da, wo der Helligkeitscontrast uns im Stiche l\u00e4sst, noch wichtige Dienste leisten, so z. B. bei der Darstellung leuchtender F\u00e4rbungen wie des Abendroths, des Alpengl\u00fchens u. s. w. Eine Er\u00f6rterung der \u00e4sthetischen Bedeutung, welche dem Contrast zwischen den an die Gesichtsvorstellungen gekn\u00fcpften elementaren und h\u00f6heren Gef\u00fchlen Zuerkannt werden muss, geh\u00f6rt nicht in den Rahmen dieser Abhandlung.\nEine besondere Wichtigkeit besitzt der Contrast f\u00fcr die Darstellung des Glanzes. Die Vorstellung des Glanzes entsteht durch unvollkommene Spiegelung <), zu welcher dann bei binocularer Betrachtung, dadurch dass die Bilder in beiden Augen hinsichtlich der Intensit\u00e4t und Lage der Stellen von gesteigerter Helligkeit bedeutende Ungleichheiten aufweisen, ein Wettstreit der Sehfelder hinzutreten kann. Bei monocularer Betrachtung entsteht die Vorstellung des Glanzes, wie ich glaube, allemal dann, wenn wir an einer und derselben K\u00f6rperoberfl\u00e4che Helligkeiten neben einander sehen, deren Unterschied gr\u00f6\u00dfer ist, als er bei einem Gegenst\u00e4nde, von diffus reflectirender Oberfl\u00e4che zu erwarten ist. Es handelt sich hierbei stets um gr\u00f6\u00dfere Helligkeitsdifferenzen zwischen naheliegenden Stellen, deren Lage durch den jeweiligen Standpunkt des beobachtenden Auges bedingt ist und schon bei sehr geringen Orts-\n1) Wundt, Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 315.","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nA. Kirschmann.\nVer\u00e4nderungen des letzteren sich erheblich ver\u00e4ndert. Wenn wir uns \u00fcberzeugen wollen, ob ein Gegenstand wirklich gl\u00e4nzt oder aus andern Gr\u00fcnden ungew\u00f6hnliche Helligkeitsdifferenzen aufweist, so machen wir ganz instinctiv Bewegungen mit dem Kopfe, um aus der Constanz oder Inconstanz der Lage und der Intensit\u00e4t der in Frage kommenden Stellen auf das eine oder das andere zu schlie\u00dfen. Eine graue Kugel von matter Oberfl\u00e4che k\u00f6nnte mit schwarzen und wei\u00dfen Pigmenten sehr wohl so bemalt werden, dass sie bei mono-cularer Betrachtung und ruhendem Auge von einer sonst gleichen unbemalten grauen, aber polirten, also gl\u00e4nzenden Kugel unter passender Beleuchtung nicht unterschieden werden k\u00f6nnte. Bewegung des Auges oder binoculares Sehen w\u00fcrden die T\u00e4uschung sofort unm\u00f6glich machen. Man wird aus dem Vorstehenden] leicht ersehen, dass der K\u00fcnstler, der seine Gem\u00e4lde mittelst glanzloser Pigmente auf der gleichm\u00e4\u00dfig beleuchteten Ebene anlegen muss, auf die Herstellung der Bedingungen, wie sie den bei monocularer Fixi-rung und unbewegtem Auge entstehenden Glanzvorstellungen zu Grunde liegen, beschr\u00e4nkt bleibt. Hierbei aber leistet ihm wiederum der Helligkeitscontrast durch sein Verm\u00f6gen, Intensit\u00e4tsdifferenzen geringeren Grades in ihrem Empfindungswerthe erheblich zu steigern, so treffliche Dienste, dass wir in vielen F\u00e4llen \u00fcber das Nichtvorhandensein der Kriterien des stereoskopischen Glanzes, f\u00fcr welchen er eigentlich keinen Ersatz zu schaffen vermag, hinwegget\u00e4uscht werden. Ebenso k\u00f6nnen unter geeigneter Verwerthung des Farben- und S\u00e4ttigungs-Contrastes und unter Zuhiilfenahme der wirklichen und scheinbaren Transparenz der Farben Vorstellungen hervorgerufen werden, welche den durch die Bedingungen des bino-cularen Contrastes bewirkten sehr nahe kommen. Ich erinnere hier nur an die Durchsichtigkeit und den Glanz der Wasserfl\u00e4chen bei Achenbach\u2019schen und Gudin\u2019schen Seest\u00fccken. Es ist ferner bekannt, mit welcher Virtuosit\u00e4t manche Portraiteure und Historienmaler den Seidenglanz und \u2014 wenn auch nicht ganz in derselben Vollendung \u2014 den Metallglanz nachzuahmen verm\u00f6gen.\nWir haben im Vorstehenden gesehen,- wie die Ber\u00fccksichtigung und geschickte Verwerthung der Contrastwirkungen geradezu ein nothwendiges Erforderniss in der Aus\u00fcbung der Kunst bildet. Unser","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 389\nGesichtssinn, von allen Sinnen mit der gr\u00f6\u00dften Unterschiedsempfindlichkeit begabt und mit einem Organe von vollendeter Beweglichkeit ausger\u00fcstet, scheint nicht f\u00fcr die Ruhe und Einf\u00f6rmigkeit, welche ihn mehr als andere Sinne active Anstrengungen erm\u00fcden, bestimmt zu sein. Unser Auge verlangt Contrast in irgend einer Form. Der Goldgrund, die vergoldeten Heiligenscheine und Orna-mentirungen der Gew\u00e4nder auf den Bildern der alten Schulen, die Verst\u00e4rkung des Helligkeitscontrastes zwischen Figuren und Umgebung bei den den Farbencontrast etwas vernachl\u00e4ssigenden Spaniern sind nur der Ausdruck jener Forderung. Nichts st\u00f6rt uns mehr an einem Bilde als Contrastlosigkeit, besonders aber der Mangel des -Helligkeitscontrastes, welch letzterer unter Umst\u00e4nden \u2014 wie Kupfer-und Stahlstiche beweisen \u2014 bis zu einem gewissen Grade den Farbencontrast zu ersetzen im Stande ist, ohne jedoch eine Umkehrung dieses 1 erh\u00e4ltnisses zuzulassen. Einer die Entwickelung der Kunst und des Geschmackes sch\u00e4digenden Vernachl\u00e4ssigung des Helligkeitscontrastes macht sich die heutige Freilichtmalerei schuldig, welche nicht nur hinsichtlich des Colorits einen in Wirklichkeit sich selten bietenden Ausnahmezustand der Natur allen ihren Darstellungen zu Grunde legt, sondern auch sich der wichtigsten Mittel zur Erreichung der Kunstziele begibt, indem sie die in Bezug auf ihre Helligkeitsdifferenzen ohnehin weit hinter der Wirklichkeit zur\u00fcckbleibenden Pigmente in ihrer Anwendung noch wesentlich beschr\u00e4nkt, ohne jedoch den Bereich des Darzustellenden entsprechend einzuengen. Gen\u00fcgen bei voller Verwendung aller Helligkeitsstufen zwischen dem reinsten Wei\u00df und dem besten Schwarz die verf\u00fcgbaren Farbstoffe keineswegs zur Wiedergabe aller in Wirklichkeit vorkommenden Lichteffecte, so reichen die innerhalb viel engerer Grenzen sich bewegenden grauvioletten T\u00f6ne, in welche die ! Plein-air-Malerei ihre Erzeugnisse zu kleiden pflegt, erst recht nicht aus.\ti\nEs bleibt noch die Rolle des Contrastes bei Farbenzusammenstellungen, welche als solche unter mehr oder minder weitgehender Vernachl\u00e4ssigung des \u00e4sthetischen Werthes der r\u00e4umlichen Formen eine Wirkung auf die Gef\u00fchlsseite unseres Bewusstseins lier Vorbringen sollen. Hierher geh\u00f6rt die Benutzung der Farben in der Architektur, der Teppich- und Zeugweberei, der verschiedenen","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nA. Kirschmann.\nArten von Mosaikarbeit und allen andern der Herstellung unserer Kleidung und der Ausschm\u00fcckung unserer Umgebung dienenden K\u00fcnste.\nAlle Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, welche sich auf diesem Gebiete bis dahin als stichhaltig erwiesen hat, beschr\u00e4nkt sich auf die kaum zu bestreitende Thatsache, dass die Zusammenstellung complement\u00e4rer Farben, sowie diejenige von dem Tone nach verwandten, aber verschiedene Grade der S\u00e4ttigung oder Helligkeit aufweisenden Farben von angenehmen \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen begleitet ist1], So ist auch hier zum Zustandekommen eines angenehmen Eindruckes der Contrast in irgend einer Gestalt gefordert. Dass es aber zu einer weitergehenden genaueren Ermittelung der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten der Farbenharmonie, zur Aufstellung festeT unangreifbarer Regeln f\u00fcr die \u00e4sthetische Wirkung von einfachen und verwickelteren Farbenzusammenstellungen, bislang nicht gekommen ist, d\u00fcrfte darin seinen Grund haben, dass man die Gef\u00fchlswirkung einer Farbe allein, wie diejenige mehrfarbiger Fl\u00e4chen als lediglich von ihrer Qualit\u00e4t bedingt erachtet und demgem\u00e4\u00df bei der Combination nur einseitig den Farben contrast in Betracht zieht und nicht ber\u00fccksichtigt, dass die \u00fcbrigen Formen des Contrastes, in welche Lichtempfindungen zu einander treten k\u00f6nnen, an dem Gesammterfolge in hohem Ma\u00dfe ' mitbetheiligt sind. Wir haben hier zu unterscheiden:\n1.\tden Helligkeitscontrast, zwischen allen Lichteindr\u00fccken von verschiedener Helligkeit wirkend,\n2.\tden Farbencontrast, zwischen verschiedenen Farbent\u00f6nen,\n3.\tden S\u00e4ttigungscontrast, zwischen verschiedenen S\u00e4ttigungsstufen einer und derselben oder verschiedener Farben,\n4.\tden Contrast zwischen den den einzelnen Farbent\u00f6nen eigenen N\u00fcancen des Gef\u00fchlstones.\nDie vorstehend aufgef\u00fchrten Arten des simultanen Contrastes sind jede in ihrer Weise variabel, da sie hinsichtlich ihrer St\u00e4rke von der Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t, von der Gr\u00f6\u00dfe und r\u00e4umlichen Anordnung der in Frage kommenden Fl\u00e4chen abh\u00e4ngen. Sie k\u00f6nnen bei einer Verbindung von Farben einzeln, zu mehreren vereint\n1) Wundt, Physiolog. Psychologie, II3, S. 212.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 391\noder alle zugleich in Wirksamkeit treten. Die betheiligten k\u00f6nnen in gleicher St\u00e4rke wirken; es kann aber auch eine die Vorherrschaft besitzen. Wenn man diese Umst\u00e4nde richtig w\u00fcrdigt, so wird man bei der gro\u00dfen Variabilit\u00e4t, deren die aufgez\u00e4hlten Factoren einzeln f\u00e4hig sind, wohl zugeben m\u00fcssen, dass die Zahl der m\u00f6glichen Combinationen schon bei zwei oder drei Farben eine sehr gro\u00dfe ist, bei Vermehrung der Componenten aber ins Unabsehbare geht, und dass man \u00fcber die \u00e4sthetische Wirkung einer Farbenzusammenstellung nichts a priori aussagen kann, ohne auf s\u00e4mmt-liche der genannten Factoren R\u00fccksicht zu nehmen. Man darf daher nicht sagen, wie dies h\u00e4ufig genug zu h\u00f6ren ist: \u00bbGr\u00fcn und Blau passen nicht zusammen\u00ab, sondern es muss hei\u00dfen: Ein gewisses Gr\u00fcn und ein gewisses Blau machen, wenn sie in gewissen Helligkeitsabstufungen und S\u00e4ttigungsgraden combinirt werden, einen unangenehmen Eindruck\u00ab. Zwischen Gr\u00fcn und Blau ist der Farben-contrast gering; er kann aber durch eine andere Contrastwirkung, durch S\u00e4ttigungs- oder Helligkeitscontrast ersetzt werden. Oder \u00bbpasst\u00ab etwa der hellblaue Himmel nicht zu dem dunkeln Gr\u00fcn der W\u00e4lder oder dem saftigen Gelbgr\u00fcn der Wiesen?\nJe zwei Farbent\u00f6ne, welche es auch sein m\u00f6gen, gestatten, sofern man sie nur in geeigneter S\u00e4ttigung und Helligkeit und in der richtigen r\u00e4umlichen Gr\u00f6\u00dfe und Vertheilung anwendet, und sofern die \u00fcbrigen gleichzeitig percipirten Gesichtsempfindungen j nicht st\u00f6rend Eingreifen, eine Combination, welche auf das Auge einen angenehmen und harmonischen Eindruck macht. Der Grad des Wohlgefallens ist je nach den Eigenschaften der Componenten ein verschiedener und erreicht sein Maximum, wenn Farben-, [ S\u00e4ttigungs- und Helligkeits-Contrast vereint wirken. Da jede der j drei genannten Contrastarten ihre gr\u00f6\u00dfte St\u00e4rke bei Ausschluss der \u00fcbrigen Contrastwirkungen zu finden scheint, so erreicht der Ge-sammtcontrast seinen H\u00f6hepunkt bei einer mittleren Intensit\u00e4t der Einzelcontraste. Es macht somit die Combination complement\u00e4rer Farben in verschiedener Helligkeit und S\u00e4ttigung in der Regel einen sehr wohlthuenden Eindruck, w\u00e4hrend das gr\u00f6\u00dfte Missfallen durch Verbindung von gleich hellen und gleich ges\u00e4ttigten Farben, welche keine Complement\u00e4reigenschaften zeigen, hervorgerufen wird. Die unangenehme Wirkung, welche eine Farbenzusammenstellung","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nA. Kirschmann.\nauf das \u00e4sthetische Gef\u00fchl zu \u00e4u\u00dfern im Stande ist, beruht somit zum gr\u00f6\u00dften Theile auf der Contrastlosigkeit. Indessen muss hier darauf hingewiesen werden, dass vielfach auch das Verkennen oder Unber\u00fccksichtigtlassen des Einflusses der r\u00e4umlichen Ausdehnung und Vertheilung zu unsch\u00f6nen Combinationen Anlass gibt. Es ist bekannt, dass der Contrast auch von dem Gr\u00f6\u00dfen- und Lagever-h\u00e4ltniss zwischen inducirender und inducirter Fl\u00e4che abh\u00e4ngig ist; Gr\u00f6\u00dfe und Lagenverh\u00e4ltnisse der Componenten einer Verbindung von Farben k\u00f6nnen daher nicht ohne Einfluss auf die \u00e4sthetische : Wirkung des Ganzen sein. Zwei bestimmte Farbent\u00f6ne, die in einem Ornamente von gegebener Ausdehnung und Fl\u00e4chenverthei-lung einen sehr befriedigenden Eindruck machen, werden in einem zweiten Ornamente, in anderer Vertheilung und anderen Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen combinirt, vielleicht ungleich weniger g\u00fcnstig wirken. Ebenso kann man aus der Wirkung neben einander gelegter Stoffoder Tapetenproben, wie Jedermann wei\u00df, keineswegs endg\u00fcltig auf den \u00e4sthetischen Effect der ausgef\u00fchrten Decoration schlie\u00dfen. Ja selbst die absolute Gr\u00f6\u00dfe der fertigen Farbenzusammenstellung ist nicht gleichg\u00fcltig. Darum macht so h\u00e4ufig eine aufs Genaueste nach Vorschrift hergestellte Arbeit einen ganz andern Eindruck als das im Kleinen ausgef\u00fchrte Muster. Dies r\u00fchrt gew\u00f6hnlich daher, dass das Modell wegen seiner Kleinheit einem ganz andern, mannigfacheren (daher aber auch meist weniger eindeutigen) Contrasteinfluss von Seiten der Umgebung ausgesetzt ist, als das im Gro\u00dfen ausgef\u00fchrte und einen betr\u00e4chtlichen Theil des Gesichtsfeldes ausf\u00fcllende Werk selber. Wie h\u00e4ufig kommt es vor, dass die ausgef\u00fchrten Kunstwerke der Plastik und Architektur wegen mangelnden oder st\u00f6renden Contrastes mit der Umgehung oder dem Hintergr\u00fcnde das nicht erf\u00fcllen, was die im Kleinen ausgef\u00fchrten Modelle versprachen. Auch ist die Ausdehnung einer farbigen Fl\u00e4che im Gesichtsfeld schon an sich selber von Einfluss auf den Gef\u00fchlston, besonders bei sehr ges\u00e4ttigten Farben. In gr\u00f6\u00dferen Fl\u00e4chen angelegt lieben wir mehr die Farben von mittlerer und st\u00e4rkster Brechbarkeit, in kleineren Partien dagegen mehr die lebhaften langwelligen Farben. Darum ziehen wir in der Regel rothe oder gelbe Ornamente auf gr\u00fcnem, blauem oder violettem Grunde der umgekehrten Anordnung vor, ein Verh\u00e4ltniss, welches auch dem entspricht, was uns an","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes. 393\nFarbenspiel von der Natur geboten wird, die ja mit dem reinen ges\u00e4ttigten Roth und Gelb meist sparsam umgeht.\nSoviel \u00fcber das Zusammenwirken zweier Farben. Das Hinzu- 5 treten einer dritten und weiterer Componenten macht die Sache erheblich schwieriger und fast un\u00fcbersehbar, da sich die Contrast-Wirkungen zwischen den einzelnen Componenten compliciren, also sich verst\u00e4rken oder auch unter Umst\u00e4nden sich hemmen und auf-heben k\u00f6nnen. Um hier zur Ermittelung der wichtigsten Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten, mithin zu einer empirischen Grundlage f\u00fcr eine wirkliche, allen Verh\u00e4ltnissen Rechnung tragende Aesthetik der Farben zu gelangen, dazu ist die gegenw\u00e4rtige Kenntniss der optischpsychologischen und optisch-\u00e4sthetischen Thatsachen noch nicht ausreichend. Als n\u00e4chster Schritt zur L\u00f6sung dieser Aufgabe empfiehlt sich daher die sorgf\u00e4ltige Beobachtung und planm\u00e4\u00dfige, wenn m\u00f6glich quantitative Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Gef\u00fchlston und den h\u00f6heren \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen einerseits und den r\u00e4umlichen und Contrasteigenschaften der Licht- und Farben- [ empfindungen andererseits.\nWundt, Thilos. Studien. VII.\n26","page":393}],"identifier":"lit4182","issued":"1892","language":"de","pages":"362-393","startpages":"362","title":"Die psychologisch-\u00e4sthetische Bedeutung des Licht- und Farbencontrastes","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:20:16.469969+00:00"}