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{"created":"2022-01-31T14:20:37.894694+00:00","id":"lit4183","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"K\u00fclpe, Oswald","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 7: 394-413","fulltext":[{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Aufsenwelt.\nVon\nOswald K\u00fclpe.\nErster Artikel.\nF\u00fcr die philosophische Betrachtung d\u00fcrfte sich Weniges von allgemeinerer und gr\u00f6\u00dferer Bedeutung erweisen, als der Gegensatz des Erlebens und der Reflexion \u00fcber das Erlebte. Zeigt sich doch auch in der Sprache des gew\u00f6hnlichen Lebens dieser Unterschied bei der Beurtheilung menschlicher Charaktere und Anlagen anerkannt und verwendet. So nennen wir denjenigen naiv, welcher triebartig, d. h. in der Form des unmittelbaren Erlebens, handelt, denkt und empfindet. Und in gleichem Sinne erscheint uns der K\u00fcnstler als naiver Sch\u00f6pfer seiner Werke, insofern er \u00fcber das Wie und Warum seiner Leistung und der \u00e4sthetischen Wirkung zu gr\u00fcbeln unterl\u00e4sst, nicht minder der Einzelforscher, welcher nach zweckm\u00e4\u00dfigen Methoden zu selbstverst\u00e4ndlichen Zielen hin arbeitet, ohne nach dem Recht zu fragen, mit welchem jene Methoden gebraucht oder diese Ziele erstrebt werden. Der psychologische Ausdruck, mit welchem gemeiniglich der erw\u00e4hnte Gegensatz bezeichnet wird, ist das einfache Wort \u00bbbewusst\u00ab, und der Doppelsinn, der ungl\u00fccklicherweise an diesem Namen haftet, scheint uns an so manchem Missverst\u00e4ndnis, ja an so mancher Irrung in der Geschichte der deutschen Philosophie die Schuld zu tragen. \u00bbIch bin mir meiner Absicht bewusst\u00ab kann hei\u00dfen: ich habe (erlebe) diese Absicht, oder: ich wei\u00df, dass ich diese Absicht habe (erlebe). Dieselbe Zweideutigkeit ist mit dem Lautcomplex \u00bbunbewusst\u00ab verbunden, der ebensowohl bedeuten kann: nicht (im Bewusstsein) vorhanden, als: ohne das Wissen um","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n395\nein Erlebtes, ohne Reflexion. Dass dieser letztere Begriff des \u00bbUnbewussten\u00ab der einzige in der Psychologie positiv verwendbare ist, darf wohl besonders hervorgehoben werden.\nAber der K\u00fcnstler und der Naturforscher sind niemals blo\u00df naiv. Beide verhalten sich den Erlebnissen der sinnlichen Wahrnehmung oder der stimmungsvollen Erfahrung gegen\u00fcber zugleich reflectirend. Ihre Leistung ist eine Reflexion \u00fcber Erlebtes, w\u00e4hrend sie zugleich in ihrer Arbeit naiv verfahren. Goethe hat einmal alle seine Sch\u00f6pfungen als Gelegenheitsdichtungen bezeichnet. Darin wird f\u00fcr unsere Ueberlegung angedeutet, dass der besondere erlebte Fall seine eigent\u00fcmliche Reflexion in einer im Uebrigen selbst\u00e4ndigen Gesetzen folgenden poetischen Leistung gefunden habe. Gerade Goethe aber erscheint zugleich in der feinen Charakteristik Schiller\u2019s als Hauptvertreter der \u00bbnaiven\u00ab Dichtung. Hiernach m\u00fcssen wir Stufen der Reflexion und des Erlebens unterscheiden. Je nach dem Standpunkt, den man einnimmt, kann derselbe Vorgang als Erlebniss und als Reflexion gew\u00fcrdigt werden. Es gibt eine tiefste Stufe der Reflexionslosigkeit, auf der man sich befindet, wenn man einfach und beziehungslos einen Zustand erf\u00e4hrt, und eine h\u00f6chste Stufe der Reflexion, die sich nur in formaler Spielerei \u00fcberbieten l\u00e4sst, die Philosophie.\nWorin besteht nun aber die Reflexion? Sie ist im allgemeinen nichts Anderes als ein Constatiren, Beschreiben, beziehendes Wissen von Erlebtem. Sie wird \u00fcberall da einen neuen und eigent\u00fcmlichen Inhalt gegen\u00fcber dem einzelnen erlebten Falle besitzen oder gewinnen, wo derselbe in seinen Beziehungen zu anderen dargestellt wird. So l\u00e4sst sich folgendes Erlebniss zum Ausgangspunkt einer Reflexion machen. Ich sitze im dunklen Zimmer, meinen Blick auf die gegen\u00fcberliegende tapezierte Wand gerichtet. Es wird die Th\u00fcr hinter miT ge\u00f6ffnet und ich sehe in dem einfallenden Licht die braune F\u00e4rbung der bis dahin dunklen Wand. Meine wissenschaftliche Erkenntniss kann diesen Thatbestand dahin for-muliren, es sei die Farbe durch die Reflexion und Absorption des Lichts an der Wand hervorgebracht worden. Dieser Beschreibung des Erlebten l\u00e4sst sich aber sofort eine weitere Reflexion \u00fcberordnen. Denn der Name \u00bbFarbe\u00ab ist nicht nur und nicht ersch\u00f6pfend der Ausdruck f\u00fcr das bestimmte Erlebniss, das ich hatte, es ist mit\n26*","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nOswald K\u00fclpe.\nandern Worten der neue Thatbestand des Begriffs, der zugleich mehr und weniger 'enth\u00e4lt, als der einzelne Vorgang, welcher die Aufforderung zu einer neuen Reflexion ergehen l\u00e4sst. Und weiterhin findet sich in jenem Satze der Hinweis auf eine Verkn\u00fcpfung von Farbe und Licht, die gleichfalls \u00fcber das besondere Erlebniss, auf welches sie angewandt wurde, hinausf\u00fchrt. Auch die Causalit\u00e4t wird also der Gegenstand einer h\u00f6heren Beschreibung zu werden haben. Wir finden nun bald, dass diese letztere nicht wiederum f\u00fcr eine eingehende Reflexion den Ausgangspunkt bieten kann, es sei denn, dass wir eine allgemeine Charakteristik des Philosophirens versuchten. Ueber das Wissen vom Wissen des Erlebten f\u00fchrt nur noch eine inhaltleere Dialektik die Stufenreihe der Reflexion weiter.\nAuch der Bericht \u00fcber das erw\u00e4hnte Erlebniss ist eine Reflexion nach der allgemeinen Begriffsbestimmung dieses Vorgangs. Aber er ist zum Unterschied von der wissenschaftlichen Erkenntniss eine blo\u00dfe Beschreibung oder Feststellung des einzelnen Falles, w\u00e4hrend jene eine Verbindung mit anderen oder eine Beziehung zu solchen ausdr\u00fcckt. Wir nennen diese beiden Arten der Reflexion die singul\u00e4re und die complexe. Jene besteht recht eigentlich nur in dem Constatiren oder Darstellen des besonderen jeweils erlebten Vorganges, diese in der Angabe der Beziehungen, welche zwischen dem letzteren und anderen Erscheinungen bestehen, oder in der Subsumtion des einzelnen Falles unter allgemeine Bestimmungen, Gesetze. Da es nichts schlechthin Singul\u00e4res an und unter den Erlebnissen gibt, so l\u00e4sst sich ein jeder solcher Thatbestand in der complexen Form ersch\u00f6pfend beschreiben. Die Reflexion des gew\u00f6hnlichen Lebens ist h\u00e4ufig singul\u00e4r und bleibt stets auf einer unvollkommenen Stufe der complexen stehen, das Ideal der wissenschaftlichen Reflexion ist die Aufhebung aller singul\u00e4ren in eine complexe, die Umwandlung aller Eigenth\u00fcmlichkeiten in noth-wendige Allgemeinheiten, die Herstellung der Alleinheit. Auch der \u00fcbliche Gegensatz des Beschreibens und Erkl\u00e4rens deckt sich mit dem hier besprochenen Unterschiede. Genau genommen ist aber, wie schon mehrfach bemerkt, auch das Erkl\u00e4ren nur ein Beschreiben, ein Beschreiben des einzelnen Falles in seiner Beziehung zu anderen, sei dieselbe nun zeitlich odeT r\u00e4umlich, qualitativ oder quantitativ, causal oder teleologisch.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n397\nSchon hieraus d\u00fcrfte erhellen, dass die Reflexion, welche wir praktisch anstellen, sich nicht wesentlich von der in der Wissenschaft ge\u00fcbten unterscheidet. Auch die Erfahrungen unseres Lebens werden verglichen, auf einander bezogen, verallgemeinert und verbunden. Auch im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch wird Aehnlichkeit und Verschiedenheit ausgedr\u00fcckt, Gr\u00f6\u00dfenbestimmung getroffen, Zweckm\u00e4\u00dfigkeit und Verursachung bezeichnet. Aber den praktischen Zielen dieser Reflexion gen\u00fcgen unvollst\u00e4ndige Beschreibungen, die Angabe der gr\u00f6beren Z\u00fcge und Eigenschaften, die Beibehaltung unverkn\u00fcpfter Thatbest\u00e4nde. Dem gegen\u00fcber ist die wissenschaftliche Reflexion auf die Vollkommenheit der Darstellung gerichtet, von der nichts genommen, zu der nichts gethan werden kann. Die complexe Reflexion ist ihre eigentliche Dom\u00e4ne, so wahr in dieser mehr enthalten ist, als in der singul\u00e4ren, als in dem einzelnen durch sie beschriebenen Vorgang. Die vollst\u00e4ndige Reflexion \u00fcber einen Thatbestand, die den bestimmten Inhalt desselben darlegt, indem sie auch allen Beziehungen desselben zu anderen Erlebnissen gerecht wird, nennen wir die Theorie desselben.\nDie Erkenntniss ist der Thatbestand, welchen die Erkenntnistheorie vollst\u00e4ndig zu beschreiben sucht. Unter der Erkenntniss haben wir aber nichts Anderes zu verstehen als die Reflexion, von der wir im Bisherigen geredet haben. Da in derselben Eigenth\u00fcm-liches und mehr enthalten ist, als in den einzelnen Erlebnissen, so kann sie der Gegenstand einer besonderen Beschreibung werden. Die Erkenntnistheorie ist demnach die philosophische Reflexion \u00fcber diejenige Reflexion, welche das Erleben darstellt. Sie besch\u00e4ftigt sich vorzugsweise mit der vollkommensten Form dieser Reflexion, der wissenschaftlichen, und hei\u00dft deshalb auch Wissenschaftslehre. Vielfach wird es ihre Aufgabe, das Verh\u00e4ltnis der wissenschaftlichen Reflexion zu den Erlebnissen kritisch zu untersuchen, weil die Urtheile verschiedener Wissenschaften mannigfach widersprechende Form angenommen haben, und weil nur auf diese Weise der Anspruch auf Wahrheit und die Ausdehnung in der Giltigkeit von Erkenntnissen festgestellt und gepr\u00fcft werden kann. In diesem Sinne wird sie auch Erkenntnisskritik genannt.\nEin Problem entsteht f\u00fcr die reflectirende Th\u00e4tigkeit \u00fcberall da, wo ein 'Thatbestand noch nicht oder nicht vollst\u00e4ndig beschrieben","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"39S\nOswald Kfilpe.\nworden ist, oder wo verschiedene Reflexionen \u00fcber gleiche Erlebnisse zu widersprechenden Resultaten gekommen sind. So wird unter dem Namen Nervenerregung eine Summe von Erlebnissen zusammengefasst, deren vollst\u00e4ndige Beschreibung bisher noch nicht gelungen ist. Und die widersprechenden Anschauungen \u00fcber die Zusammensetzung und Structur des pflanzlichen Gewebes bilden nicht minder eine Aufgabe f\u00fcr fortschreitende Erkenntniss. Analog haben wir auch in der Erkenntnisstheorie die Probleme theils in unvollst\u00e4ndig beschriebenen Reflexionen, theils in widersprechenden Angaben \u00fcber Erkenntnissthatsachen zu finden. Dazu kommt aber als neue Aufgabe f\u00fcr sie hinzu die Schlichtung derjenigen Widerspr\u00fcche, in welche sich Reflexionen verschiedener Wissenschaften verwickelt haben. Ein solches Problem ist das in dem Titel unserer Arbeit angedeutete.\nUnter dem Namen eines Problems der Au\u00dfenwelt ist in letzterer Zeit wieder mehrfach ein Widerspruch zur Behandlung gelangt, der zwischen dem psychologischen und dem naturwissenschaftlichen Ur-theil \u00fcber gewisse Erlebnisse besteht. Ohne auf diese Behandlung n\u00e4her einzugehen, wollen wir im Folgenden einen von dem \u00fcblichen abweichenden Weg zur L\u00f6sung des Problems einschlagen. Es handelt sich f\u00fcr uns nicht um einen gegebenen Glauben an die Realit\u00e4t der Au\u00dfenwelt, dessen Ursprung zu ergr\u00fcnden w\u00e4re, nicht um die scheinbar erste Thatsache, dass Alles zun\u00e4chst meine Vorstellung sei, sondern getreu unserer Auffassung der Erkenntnisstheorie um einen Gegensatz wissenschaftlicher oder unwissenschaftlicher Reflexionen. Von der einen Seite werden die Erlebnisse, welche der sinnlichen Wahrnehmung angeh\u00f6ren, als Au\u00dfenwelt, als ein \u00bbau\u00dfer mint Befindliches dargestellt, von der andern Seite als Vorstellungen \u00bbin mir\u00ab bezeichnet. Derselbe Thatbestand soll also gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sich befinden. Der Widerspruch ist offenkundig, wenn die Identit\u00e4t des Erlebnisses in beiden Urtheilen feststeht. Und an dieser Identit\u00e4t wird der Unbefangene kaum zu zweifeln im Stande sein. Wir lehnen vorl\u00e4ufig jeden Einspruch philosophischer L\u00f6sungsversuche ab, ebenso die gew\u00f6hnliche Ansicht, nach welcher die Objecte \u00bbau\u00dferhalb\u00ab und die Vorstellungen \u00bbinnerhalb\u00ab zwar dieselben Eigenschaften besitzen, aber numerisch verschieden sein sollen, nicht minder die ontologische Hypostase von","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n399\nAtomen und Kr\u00e4ften in Zeit und Raum als drau\u00dfen existirenden Wesen, w\u00e4hrend die sog. sinnlichen Qualit\u00e4ten im Subject best\u00e4nden. Alle derartigen Meinungen sind bereits L\u00f6sungen unseres Problems, deren Werth zu pr\u00fcfen ist, nicht aber der unmittelbare Ausdruck f\u00fcr den erlebten Thatbestand. Man wird im Anhang zu dieser Sehrift einen experimentellen Beweis daf\u00fcr finden, dass die Erlebnisse, welche wir meinen, nur unter der Herrschaft gewisser erfahrungsm\u00e4\u00dfiger Kriterien f\u00fcr subjectiv oder f\u00fcr objectiv gehalten werden, dass sie \u00bban sich\u00ab wgder das eine noch das andere sind und somit dieselben Thatbest\u00e4nde f\u00fcr ein St\u00fcck der Au\u00dfenwelt und f\u00fcr eine Empfindung oder Vorstellung des Ich erkl\u00e4rt werden. Will die Erkenntnisstheorie, wie sie es muss, \u00fcber der Erkenntniss (der einzelnen Wissenschaften und des gew\u00f6hnlichen Lebens) stehen, so wird sie sich weder auf die Seite des naturwissenschaftlichen, noch auf die Seite des psychologischen Standpunkts voreilig schlagen d\u00fcrfen. Ihr hat daher die Ausdrucksweise \u00bbAu\u00dfenwelt\u00ab so gut wie diejenige \u00bbVorstellung\u00ab als der Kritik bed\u00fcrftig zu gelten.\nDas Problem, um dessen L\u00f6sung wir uns bem\u00fchen wollen, besteht daher darin, dass demselben Erlebniss oder derselben Summe von Erlebnissen einander widersprechende r\u00e4umliche Bestimmungen gleichzeitig beigelegt werden. Die Wege, welche man zur Beseitigung dieses Widerspruchs einschlagen kann, lassen sich nach drei Richtungen unterscheiden. Man kann erstlich durch eine Verdopplung der von jenen Bestimmungen getroffenen Erlebnisse den Widerspruch heben. Diesen Weg nennen wir den materialen Standpunkt. Man kann zweitens eine der r\u00e4umlichen Bestimmungen ganz verwerfen oder beide zur theilweisen Deckung bringen und so einen, formalen Standpunkt einnehmen. Man kann endlich den Sinn jener Bestimmungen so zu fassen versuchen, dass der Widerspruch, der nur f\u00fcr die locale Verschiedenheit desselben Thatbestandes sich ergibt, aufh\u00f6rt. Dies sei der kritische Standpunkt.\nI. Der materiale Standpunkt.\nDas Schema f\u00fcr den materialen Standpunkt kann man sich etwa in folgenden Zeichen entworfen denken :\n[A) x | x[ff).","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nOswald E\u00fclpe.\nDer verticale Strich soll die Scheidewand zwischen dem Ich (\u00ab/) und * der Au\u00dfenwelt (A) andeuten. W\u00e4hrend nun das Problem darin besteht, dass das eine x gleichzeitig in beiden Regionen sich aufhalten soll, wird nach dem materialen Standpunkt das x verdoppelt und so in jeden der beiden R\u00e4ume widerspruchslos je eines vertheilt. Nun sind aber verschiedene Deutungen der beiden x immer noch m\u00f6glich und geschichtlich vorhanden, indem man von der inhaltlich \u00e4rmsten zur reichsten Bestimmung des x in (/) oder von der inhaltlich reichsten zur \u00e4rmsten Bestimmung des x in (A) \u00fcbergeht. Wir wollen hier f\u00fcnf Stadien auff\u00fchren, ohne auf die historischen Auspr\u00e4gungen derselben dabei ein besonderes Gewicht legen zu wollen.\n1. Wir k\u00f6nnen als eine erste hierher geh\u00f6rige Anschauung diejenige bezeichnen, nach welcher das Ich nur eine unbestimmte, leere und reine Form ist und die gesammte Mannigfaltigkeit des Erlebbaren zum Nicht-Ich gerechnet wird. Ankl\u00e4nge an diese Auffassung finden sich bei J. G. Fichte, dessen eigentliche Bedeutung jedoch vielmehr in der praktischen Begr\u00fcndung aller Erkenntnis auf ein sittliches Postulat zu suchen ist. Hiernach w\u00fcrde nun in (J), sofern es dem (A) entgegengesetzt ist, kein besonderer Besitz x, sondern nur die M\u00f6glichkeit gelegen sein, irgend ein wirkliches x auf diese einheitliche, an die transcendentale Apperception Kant\u2019s ankn\u00fcpfende Form zu beziehen. Das x f\u00e4llt hier also mit dem (J) zusammen, w\u00e4hrend auf der Seite des (A) aller Inhalt zu suchen ist. Ein besonderes \u00bbin mir\u00ab gibt es daheT nicht, und nur insofern kann von einer Verdoppelung geredet werden, als doch Ich und Nicht-Ich zwei deutlich gesonderte Welten sind, f\u00fcr die wir die r\u00e4umliche Verschiedenheit allerdings kaum mehr festhalten k\u00f6nnen. Der systematischen Vollst\u00e4ndigkeit halber mag diese an der Grenze anderer Standpunkte befindliche Ansicht noch oder schon hier eine Stelle erhalten.\n2. Eine reichere Bestimmung wird dem x in iJ) bei der durch F. Brentano in neuester Zeit haupts\u00e4chlich vertretenen Sonderung vop Act und Inhalt in der sinnlichen Wahrnehmung zu Theil. Darnach erscheint das Vorstellen, Wahrnehmen, Empfinden als Th\u00e4tigkeit des Ich, der vorgestellte, wahrgenommene, empfundene Inhalt als Bestandtheil der Au\u00dfenwelt. In gleicher Weise wird auch der Gegensatz des Psychischen und Physischen festgestellt.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n401\nImmerhin ist auch hier noch der bei weitem gr\u00f6\u00dfere Reichthum an Qualit\u00e4ten auf der (v^Seite zu finden. Und der r\u00e4umliche Gegensatz ist auch hier als ziemlich aufgehoben zu betrachten, da den erw\u00e4hnten Th\u00e4tigkeiten (und anderen dazu kommenden) so wenig wie dem Ich eine r\u00e4umliche Bedeutung beigelegt werden kann. Die enge Beziehung, welche unser Problem zu dem psychophysischen aufweist, scheint namentlich f\u00fcr diese Form des materialen Standpunkts bestimmend gewesen zu sein. In der Unm\u00f6glichkeit, den psychischen Raumgr\u00f6\u00dfen einen Raumwerth zuzugestehen, einer aus dem Begriff des Psychischen herausconstruirten Unm\u00f6glichkeit, die auch der Lotze\u2019schen Localzeichentheorie zu Grunde liegt, wurzelt die hier gegebene Bestimmung vom Ich und von der Au\u00dfenwelt.\n3. Zu einer blo\u00df numerischen Verschiedenheit bei qualitativer Identit\u00e4t gelangt die Bestimmung der x in (/) und (A) f\u00fcr die Reflexion des gew\u00f6hnlichen Lebens. In der That: das Ding au\u00dfer mir ist der Vorstellung in mir ganz gleichartig, dieselben Eigenschaften, die sog. sinnlichen Qualit\u00e4ten, kommen beiden zu, und das Ding ist, abgesehen von seiner besonderen Existenz, nichts Anderes als die Summe seiner Eigenschaften. Die Schwierigkeiten, welche die r\u00e4umliche Beschaffenheit von Bewusstseinszust\u00e4nden der psychologischen Ueberlegung bereitet, ber\u00fccksichtigt die naive Reflexion nicht. Ist sie doch vorzugsweise geneigt zu objectiviren, und wird ihr doch die Frage nach dem Verh\u00e4ltniss der Dinge zu den Vorstellungen von ihnen nur selten praktisch aufgedr\u00e4ngt. Dazu kommt noch Eins. Im Einzelnen ist vielfach das f\u00fcr objectiv Gehaltene und die darauf bezogene Vorstellung von verschiedener Qualit\u00e4t, jenes in erster Linie das Sichtbare, diese ein Inhalt anderer Sinnesgebiete. Auch diese Thatsache tr\u00e4gt dazu bei, \u00fcber die theoretischen Consequenzen der bezeichneten Auffassung hinwegzut\u00e4uschen. Im allgemeinen ist aber zweifellos f\u00fcr dieselbe alles sinnlich Erfahrbare zugleich gegenst\u00e4ndlich vorhanden. In der \u00e4ltesten griechischen Philosophie tritt uns diese Auffassung am ungetr\u00fcbtesten entgegen: wie Bild und Original werden hier Vorstellung und Object einander gegen\u00fcbergestellt. Besondere Hervorhebung verdient wohl die Thatsache, dass auch in dieser naiven Reflexion schon der Versuch gemacht wird, den in dem behandelten Problem mehr oder minder klar empfundenen Widerspruch zu beseitigen. Wo","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nOswald K\u00fclpe.\ndiese Reflexion fehlt, wird die Einheitlichkeit des erlebten That-bestandes durch die ausschlie\u00dfliche Objectivirung meist stillschweigend anerkannt.\n4. Das qualitative Gleichgewicht der x in den beiden Welten, das auf dem vorbesprochenen Standpunkt erreicht war, erscheint wiederum gest\u00f6rt, und zwar diesmal zu Ungunsten des (A), in der naturwissenschaftlichen Reflexion, wie sie seit Newton zur Herrschaft gelangt ist. Alle sinnlichen Qualit\u00e4ten werden von derselben in das Subject verwiesen, das x in (A) ist nur noch das continuir-lich oder discret ausgedehnte, unter der Herrschaft gewisser Kr\u00e4fte stehende und zeitlichen Ver\u00e4nderungen unterworfene Etwas. Vorbereitet durch Descartes\u2019 scharfe Trennung von Denken und Ausdehnung, hat diese Ansicht vielfach \u2014 und nur in dieser Beziehung hat sie hier ihre Stelle zu finden \u2014 zu der metaphysischen Ueber-zeugung Anlass gegeben, dass die vom Ich unabh\u00e4ngige Welt aus Atomen ponderabler und imponderabler Materie bestehe, deren gegenseitige Lage\u00e4nderungen das wirkliche Geschehen der Welt au\u00dfer dem Ich bilden und bedeuten. Nicht also die erleuchtete Anschauung eines G. Kirchhoff, nach welcher die Naturwissenschaft nur eine vollst\u00e4ndige Beschreibung von Erlebnissen darstellt, ihre Begriffe somit nicht eine selbst\u00e4ndige, wahre Wirklichkeit sind, sondern nur die gegebene Wirklichkeit m\u00f6glichst vollkommen aus-dr\u00fccken sollen, wird als Auspr\u00e4gung des materialen Standpunkts von uns bezeichnet, sondern die unter Naturforschern und sonst verbreitete Meinung, jene Abstractionen existirten und die Erlebnisse w\u00e4ren nur der subjective, der Correctur bed\u00fcrftige Schein, den die wirkliche Welt durch Vermittlung von Nerven und Sinnesorganen in das erkennende Ich werfe. Zu dieser Reflexion hat die \u00e4ltere rationalistische Philosophie bis auf Herbart undLotze den gr\u00f6\u00dften Ansto\u00df gegeben. Die culturgeschichtlich bedingte Geringsch\u00e4tzung, die seit den Zeiten eines Leibniz der gegebenen Wirklichkeit zu theil wurde, hat die metaphysischen Anstrengungen hervorgerufen, eine Welt zu construiren, die jener substituirt werden k\u00f6nnte. Hegel zuerst hat mit diesem alten Vorurtheil in der deutschen Philosophie gebrochen, indem er das Wirkliche und das Vern\u00fcnftige, Erlebniss und Reflexion als gleichberechtigt gegen\u00fcberstellte. Wie ungerecht hat die Nachwelt ihn nur deshalb behandelt, weil sein","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n403\ngro\u00dfartiger Versuch, diese Gleichberechtigung im Einzelnen durchzuf\u00fchren, \u00fcbereilt war und im Einzelnen viele Irrth\u00fcmer enthalten musste !\n5. Als die letzte Stufe der. Reihe materialer L\u00f6sungen unseres Problems erscheint uns diejenige, auf welcher auch Raum und Zeit und die zur Construction des Weltbildes dienenden Begritfe zum Besitz des Ich, \u00bbunseres Gem\u00fcths\u00ab werden, und das x in (A) sich irr das v\u00f6llig unbestimmte \u00bbDing an sich\u00ab umwandelt. Alles Qualitative der sinnlichen Wahrnehmung, der Stoff der Anschauung ist Empfindung, und der anschaulich u-nd begrifflich geformte Stoff, die Erscheinung, steht dem allein objectiven, noth wendig leeren Begriff des Dinges an sich gegen\u00fcber. Diese Ansicht ist das Gegenbild der an erster Stelle von uns erw\u00e4hnten. Wir nennen sie nicht die kantische,. weil diese letztere nicht nur die eben erw\u00e4hnten Be-standtheile enth\u00e4lt. Aber dass die hier vertretene Auffassung des\" Dinges an' sich kan tisch ist, m\u00f6chten wir uns, trotz der im Neukantianismus beliebten Deutung desselben, zu rechtfertigen oder zu belegen wohl getrauen. Auch in dieser L\u00f6sung unseres Problems ist die Verdoppelung des * nicht die einzige Aenderung, welche die-widersprechenden Reflexionen erfahren. Denn das Ding an sich darf kaum als Bestandtheil einer Au\u00dfenwelt bezeichnet werden. Dennoch d\u00fcrfen wir sie als einen wichtigen Beitrag zu der hier behandelten Reihe von erkenntnisstheoretischen Reflexionen auf-f\u00fchren, weil die mit dem Ding an sich verbundene praktische Metaphysik uns nur \"aus den eingangs erw\u00e4hnten Motiven ihre theoretische Rechtfertigung zu erhalten scheint und deT Zusammenhang mit den an dritter und vierter Stelle entwickelten Anschauungen kaum zweifelhaft sein wird.\nEine Kritik des materialen Standpunkts darf mit dem Zugest\u00e4ndniss beginnen, dass die L\u00f6sung unseres Problems durch denselben logisch erreicht sei. Aber schon die Mannigfaltigkeit der typischen Formen, in denen er sich ausgepr\u00e4gt hat, muss uns zu dem Bedenken f\u00fchren, dass dieser Versuch zur Beseitigung des Widerspruchs an sich noch nicht als die Wahrheit angesehen werden k\u00f6nne, und dass vielleicht \u00fcberhaupt eine solche rein logische L\u00f6sung wegen ihrer logischen Gleichwerthigkeit mit anderen Reflexionen stets unbefriedigend bleiben werde. Denn sicherlich ist","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nOswald K\u00fclpe.\ndie Verdoppelung des einheitlichen Thatbestandes, den wir erleben, ein willk\u00fcrlicher Ausweg aus unserem Dilemma. Der logische Widerspruch ist dadurch vernichtet auf Kosten der inhaltlichen Richtigkeit der Beschreibung. Ein Fehler hat den anderen abgel\u00f6st, und wir sehen uns nach wie vor zu einer Berichtigung auch der in der geschilderten Form corrigirten Reflexionen gen\u00f6thigt. Als eine wirkliche L\u00f6sung kann daher der materiale Standpunkt nicht betrachtet werden.\nDer Mutterboden f\u00fcr alle derartigen Reflexionen ist in der Ansicht des gew\u00f6hnlichen Lebens zu suchen. Hier, wo der bewusste Zusammenhang mit dem psychophysischen Problem ebenso sehr fehlt, wie die systematische Verkn\u00fcpfung aller im einzelnen gef\u00e4llten Urtheile \u00fcber Inneres und Aeu\u00dferes, fanden wir die einfachste Form der Verdoppelung, die numerische. Abgesehen von dem ehrlichen Zeugniss f\u00fcr die Identit\u00e4t des Erlebten wird darin am reinsten der Grundzug aller dieser L\u00f6sungen zum Ausdruck gebracht: die ontologische Doppelexistenz des in zwei verschiedenen Beziehungen gleichzeitig gegebenen Thatbestandes. Eine solche ontologische Existenz f\u00fchrt die Materie der naturwissenschaftlichen Metaphysik -nicht minder als das Ding an sich und das reine Ich ebensowohl wie die Th\u00e4tigkeiten des Empfindens oder Vorstellens. Ihr Vorbild haben alle diese Hypostasen in der popul\u00e4ren Metaphysik des Gegenstandes, der von der Vorstellung, die er hervorrufe, unabh\u00e4ngig ein besonderes Dasein besitze.\nIm Einzelnen haben wir von dem reinen Ich und von dem Dinge an sich zu bemerken, dass sie begriffliche Erfindungen sind, denen nichts Erlebtes entspricht. In dem Sprachgebrauch der Reflexion allein scheinen sie ihre St\u00fctze zu finden, insofern mit dem Namen Ich oder Ding, abgesehen von den besonderen Eigenschaften, die man ihnen jeweils im vollst\u00e4ndigen Urtheil beimisst, die Vorstellung eines eigenth\u00fcmlichen Wesens sich verbinden kann, dessen unbeschreibliche Art durch die Epitheta \u00bbrein\u00ab oder \u00bban sich\u00ab angedeutet werden sollen. Es bedarf kaum eines erneuten Hinweises auf das ontologische Verfahren, das in dieser Methode Wesen zu schaffen sich verr\u00e4th. Wir begn\u00fcgen uns daher in unserer Ablehnung dieser beiden Formen des materialen Standpunkts mit der Begr\u00fcndung, dass weder in dem Erlebten noch in dem Thatbestande","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n405\nder Reflexion eine Rechtfertigung der Begriffe des reinen Ich und des Dinges an sich zu finden ist.\nAnders verh\u00e4lt es sich mit dem Vorstellen und der Materie. Beide sind allerdings durch Erfahrungsthatsachen direct veranlasst und stellen sich uns als Ausdruck f\u00fcr Erlebbares dar. Aber auf den besprochenen Stufen des materialen Standpunkts erscheint diese Beziehung zum Erlebten in einem falschen Lichte. Es gibt keine Th\u00e4tigkeit des Empfindens oder Vorstellens oder Wahrnehmens, die neben dem Wahrgenommenen, Vorgestellten, Empfundenen eine besondere Existenz h\u00e4tte, und kein Erlebniss der sinnlichen Erfahrung besitzt nur r\u00e4umlich-zeitliche Merkmale, nur quantitative Bestimmungen. Der Thatbestand, welcher durch das Wort Wahrnehmen bezeichnet wird, ist in der Abh\u00e4ngigkeit gegeben, in welcher sich die Sinneseindr\u00fccke von der Aufmerksamkeit, der dem Willen unterworfenen Stellung der Sinnesorgane und anderen Zust\u00e4nden des wahrnehmenden Subjects befinden. \u00bbIch nehme etwas wahr\u00ab weist also darauf hin, dass f\u00fcr das Eintreten eines gewissen Erlebnisses nicht nur eine bestimmte Constellation \u00e4u\u00dferer Umst\u00e4nde, sondern auch ein im Einzelnen variable^ Verh\u00e4lten des Ich von ma\u00dfgebender Bedeutung ist. Sobald man dagegen eine Th\u00e4tigkeit des Vorstellens construirt, ger\u00e4th man auch in eine un\u00fcberwindliche Schwierigkeit den sogenannten Erinnerungsbildern gegen\u00fcber. Was ist an ihnen, die doch gleichfalls Inhalt und Act unterscheiden lassen, das Objective, das zur Au\u00dfenwelt, zum Physischen Geh\u00f6rige?\nVon dem Begriffe der Materie darf man sagen, dass alle seine Merkmale auf Erlebtes zur\u00fcckgehen. M\u00f6gen wir jdie Undurchdringlichkeit oder die Anziehungskraft, die Ausdehnung oder die Bewegung, die Theilbarkeit oder die Beharrung in der Zeit uns vergegenw\u00e4rtigen, \u00fcberall werden uns verst\u00e4ndliche Ausdr\u00fccke f\u00fcr bestimmte Eigenschaften erlebter Thatbest\u00e4nde entgegentreten. In dem Begriff der Materie wird nun aber von gewissen Merkmalen des sinnlich Wahrgenommenen abstrahirt, er enth\u00e4lt nur diejenigen Be-standtheile desselben, welche eine r\u00e4umliche und zeitliche Bedeutung haben und daher quantitativer, mathematischer Behandlung zug\u00e4nglich sind. Nur Gestalt, Lage, Zeitfolge und Dauer des sinnlich Erlebten besch\u00e4ftigen den Naturforscher, und alle Bestandtheile desselben, sofern sie in diese Kategorien hineinpassen oder bestimmende","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nOswald K\u00fclpe.\nBedeutung f\u00fcr dieselben besitzen, werden in den einheitlichen\nNamen \u00bbMaterie\u00ab zusammengefasst. Eine neue Existenz wird selbstverst\u00e4ndlich dem Materiellen dadurch nicht gewonnen.\nDie popul\u00e4re Reflexion, deren wir an dritter Stelle gedachten, geht bei consequenterer und vollst\u00e4ndigerer Ueberlegung in die naturwissenschaftliche \u00fcber. Das Schwanken zwischen diesen beiden Anschauungen zeigt sich bei dem popul\u00e4r- wissenschaftlichen Empirismus des John Locke auf das deutlichste. Gegen die ontologische Methode, welche alle Formen des materialen Standpunkts, wie wir gesehen haben, durchzieht, eine besondere Beweisf\u00fchrung nach Kant antreten zu wollen hie\u00dfe Eulen nach Athen tragen.\nII. Der formale Standpunkt.\nAuf dem formalen Standpunkt wird die Einheitlichkeit des erlebten Thatbestandes anerkannt, der Widerspruch zwischen den beiden Localisationen desselben aber dadurch beseitigt, dass man an diesen eine Aenderung vornimmt. Es sind drei Umwandlungen denkbar, die zu dem erw\u00fcnschten Ziele f\u00fchren: erstlich die Aufhebung des (A) und die Verlegung aller x nach (J), zweitens die entsprechende ausschlie\u00dfliche Anerkennung von [A), und drittens die theilweise Deckung der Gebiete des Ich und der Au\u00dfenwelt und die Einordnung des x in die beiden gemeinsame Region. Die Schemata f\u00fcr die L\u00f6sungsversuche k\u00f6nnen folgenderma\u00dfen gezeichnet werden:\nDurch alle drei Auffassungen wird der Widerspruch gehoben, indem es entweder nur ein \u00bbin mir\u00ab oder nur ein \u00bbau\u00dfer mir\u00ab gibt oder thats\u00e4chlich gewisse Erlebnisse beiden Sph\u00e4ren angeh\u00f6ren.\n1. Unschwer erkennen wir in dem ersten Schema diejenige philosophische Ansicht, welche man als subjectiven Idealismus zu bezeichnen pflegt. Geschichtlich finden wir sie kaum irgendwo mit voller (Konsequenz festgehalten, aber es gibt nicht Wenige, die mit dem Bekenntniss, zun\u00e4chst sei alles Wahrgenommene lediglich eine Vorstellung des Ich, beginnen zu m\u00fcssen glauben. Dieses \u00bbzun\u00e4chst\u00ab] kann aber eine psychologische und eine logische","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n407\nBedeutung haben. Jene tritt hervor, sobald man behauptet, die Beziehung alles Wahrnehmbaren auf das Ich sei in der Entwicklung des individuellen geistigen Lebens zuerst vorhanden und erst nachtr\u00e4glich werde durch Schlussakte der Besitz des Ich auf \u00e4u\u00dfere Ursachen zur\u00fcckgef\u00fchrt. Noch unanfechtbarer erscheint die logische Begr\u00fcndung des subjectiven Idealismus. Sie betont vor Allem den unzweifelhaften Vorstellungscharakter alles \u00e4u\u00dferlich Gegebenen. Vorstellung sei aber niemals \u00fcberhaupt, sondern nur als Vorstellung eines geistbegabten Wesens zu denken. Muss ich also zugestehen, dass alles Wahrgenommene Vorstellung ist, so muss ich es auch als meine Vorstellung bezeichnen. Unz\u00e4hlige luftige Br\u00fccken sind gebaut worden, um \u00fcber diesen einfachen Anfang hinaus zu trans-subjectiven Minimis oder Maximis zu gelangen.\n2. Auch das zweite Schema hat in einer bekannten philosophischen Weltanschauung seine geschichtliche Verwirklichung gefunden, in dem Materialismus. Aber w\u00e4hrend wir bei den Idealisten einer sehr gleichf\u00f6rmigen und pr\u00e4cisen M\u00f6tivirung und Darlegung ihres Standpunktes begegnen, m\u00fcssen wir uns erst durch einige Analyse den Weg zu bestimmten Formen des Materialismus bahnen. Wir finden zun\u00e4chst eine dualistische und eine monistische Auspr\u00e4gung desselben, jene nur in den Anf\u00e4ngen der griechischen Philosophie als die Lehre von dem gr\u00f6beren und feineren Stoff, diese in mannigfaltigen Variationen bis heute herrschend. Unter den letzteren machen sich drei verschiedene Ausdrucksweisen besonders geltend. Nach der einen sind die geistigen Vorg\u00e4nge nichts Anderes als Gehirnprocesse, nach der zweiten sind sie Eigenschaften gewisser materieller Erscheinungen, so etwa die Empfindung die specifische Energie der Ganglien in der Gro\u00dfhirnrinde, nach der dritten die Wirkungen derselben. Wir k\u00f6nnen diese drei Modifica-tionen des monistischen Materialismus, die wir in der Literatur dieser Gattung ohne eigentliche Sonderung neben und durch einander gebraucht finden, als \u00e4quativen, attributiven und causale n Materialismus bezeichnen.\nDer Zusammenhang dieser Spielarten des theoretischen, und zwar metaphysischen Materialismus (wir sehen hier von dem praktischen ebensosehr ab, wie von einem materialistischen regulativen Princip) mit unserem Problem ist hiernach leicht zu \u00fcbersehen. Die","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nOswald K\u00fclpe.\n\u00e4quative Auffassung entspricht am reinsten unserem Schema. Denn alles der inneren Wahrnehmung, wie man sich ausdr\u00fcckt, Gegebene ist hiernach ein \u00e4u\u00dferlich Gegebenes. Der Gegensatz zwischen dem \u00bbin mir\u00ab und dem \u00bbau\u00dfer mir\u00ab ist zu Gunsten des letzteren durch eine Zur\u00fcckf\u00fchrung des ersteren auf dasselbe beseitigt. Nicht so radical verfahren die anderen beiden Anschauungen. Die eigen-th\u00fcmliche Qualit\u00e4t der inneren Erlebnisse bleibt wenigstens unber\u00fchrt durch ihre Verkn\u00fcpfung mit der Materie. Aber die in der besonderen Localisation angedeutete Selbst\u00e4ndigkeit der auf das Ich bezogenen Zust\u00e4nde wird doch auch bei diesen Formen des Materialismus aufgehoben. Die volle Wirklichkeit hat darnach doch nur das Materielle, und die Gegen\u00fcberstellung des Ich und der Au\u00dfenwelt hat auch hier, infolge der ausschlie\u00dflichen Beziehung aller Erlebnisse auf die unzweifelhaft \u00bbau\u00dfer mir\u00ab gedachte Materie, ihre urspr\u00fcngliche Bedeutung verloren. W\u00e4hrend also f\u00fcr den subjec-tiven Idealismus der Weisheit letzter Spruch in dem Urtheil bestand, alles Wahrnehmbare sei Vorstellung des Ich, erkl\u00e4rt der Materialismus gerade diesen Satz dahin, dass die Vorstellung des Ich eine Eigenschaft oder Wirkung bestimmter materieller Vorg\u00e4nge sei. So stehen sich beide Ansichten diametral gegen\u00fcber, was f\u00fcr die eine prim\u00e4r ist, ist f\u00fcr die andere secund\u00e4r, und umgekehrt.\n3. Den gef\u00e4lligsten Eindruck ist das letzte Schema des formalen Standpunkts hervorzurufen geeignet. Von der Willk\u00fcr einer Verdopplung des einheitlichen Thatbestandes finden wir hier ebenso wenig eine Spur, wie von der Gewaltsamkeit, welche der Vernichtung einer der beiden r\u00e4umlichen Bestimmungen anzuhaften scheint. Genau genommen ist aber auch bei dieser geschichtlich unseres Wissens nicht vertretenen Auffassung der einander widersprechenden Reflexionen eine Umwandlung an einem Bestandtheil derselben vollzogen worden. Die absolute Verschiedenheit der \u00f6rtlichen Beziehungspunkte hat aufgeh\u00f6rt, das x erf\u00e4hrt nur noch scheinbar eine verschiedene Localisation, indem es dem (A) oder dem (/) zugewiesen wird. Wie eine Landparzelle, zwei benachbarten Staaten gleichzeitig angeh\u00f6rend, zum identischen Schauplatz desselben Ereignisses werden kann, so wird ein sinnliches Erlebniss, auf den n\u00e4mlichen Ort bezogen, den beiden Welten des Ich und des Nicht-Tch zugleich zugerechnet werden d\u00fcrfen.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n409\nDer Raumtheil, welcher diese ausgezeichnete Bedeutung eines \u00e4u\u00dferen und inneren Besitzes erh\u00e4lt, kann sicherlich nur der eigene K\u00f6rper sein. In der That finden wir das Urtheil \u00fcber denselben je nach Umst\u00e4nden und Beziehungen der Reflexion wechselnd genug : bald wird er unzweifelhaft dem Begriffe des Ich als wesentliches Glied zugeordnet, bald mit Entschiedenheit als ein Aeu\u00dferes von dem Ich gesondert. Alles was in den eigenen K\u00f6rper localisirt wird, m\u00fcsste daher ebenfalls diese doppelte Bedeutung gewinnen k\u00f6nnen. Am klarsten erscheint eine solche bei den Empfindungen des sogen. Gemeingef\u00fchls, die gerade deshalb in der beschreibenden Psychologie eine besondere Stellung zugewiesen bekommen. Die Muskel-, Gelenk- und Sehneneindr\u00fccke, die mannigfaltigen sub-jectiven Hautsensationen, Hunger, Durst u. dergl. werden alle in Theilen des eigenen K\u00f6rpers localisirt und erhalten dadurch die Bedeutung eines Inneren und eines Aeu\u00dferen.\nUeber das Raumbild des eigenen K\u00f6rpers hinaus w\u00fcrde nach dieser Ansicht nur Inneres nach der einen und nur Aeu\u00dferes nach der anderen Seite liegen. Auch diese Consequenz der besprochenen Anschauung kann auf erfahrungsm\u00e4\u00dfige Belege hinweisen. Dem Denken und Wollen beispielsweise wird die Beziehung auf das Ich ausschlie\u00dflich zugeschrieben, und die Atome mit ihren Kr\u00e4ften und Bewegungen werden als Bestandtheile der Au\u00dfenwelt lediglich zu gelten haben. Dass aber nur der eigene K\u00f6rper jene gemeinsame Localisationssph\u00e4re sein kann, erhellt auch aus folgender Ueber-legung. Dasjenige, was localisirt wird, braucht nicht eigene r\u00e4umliche Merkmale zu besitzen, denn auch T\u00f6ne oder Ger\u00fcche werden localisirt. Aber der Ort, an den etwelche Vorg\u00e4nge verlegt werden, muss selbst\u00e4ndigen Raumwerth haben. Daher kann das Ich in dem Ausdruck \u00bbin mir\u00ab nur dann ein Localisationsziel sein, wenn darunter ein r\u00e4umlich gegebenes Ich verstanden wird. Als ein solches kann aber weder die \u00bbSeele\u00ab, noch die \u00bbtranscendentale Apperception\u00ab, noch das \u00bbAbsolute\u00ab angesehen werden, sondern nur der eigene K\u00f6rper, auf den in der Reflexion des gew\u00f6hnlichen Lebens auch regelm\u00e4\u00dfig der Name Ich ohne Scham und Scheu angewandt zu werden pflegt.\nDie Kritik des formalen Standpunkts wird allen besonderen Auspr\u00e4gungen desselben den neuen Mangel Vorhalten m\u00fcssen, der nach Beseitigung des- urspr\u00fcnglichen Widerspruchs an Wundt, Philos. Studien. VII.\t27","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nOswald K\u00fclpe.\nden ver\u00e4nderten Reflexionen bemerkbar wird. Der Gegensatz zwischen den beiden r\u00e4umlichen Bestimmungen des \u00bbin mir\u00ab und \u00bbau\u00dfer mir\u00ab gelangt in den drei entwickelten formalen Umwandlungen nicht zu seinem Recht. Offenbar hat aber die Anwendung dieser Begriffe nur dann eine verst\u00e4ndliche Bedeutung, wenn der r\u00e4umliche Gegensatz aufrecht erhalten bleibt. Es ist eine willk\u00fcrliche L\u00f6sung des Problems, ohne Eingehen auf den tieferen Sinn der beiden Locali-sationen dieselben ganz oder ihrem wesentlichen Gehalt nach aufzuheben. Von einem \u00bbin mir\u00ab kann doch nur die Rede sein, wenn ein \u00bbau\u00dfer mir\u00ab gedacht oder vorausgesetzt wird, und umgekehrt. So wenig eine absolute Ortsbestimmung in der Astronomie m\u00f6glich ist (abgesehen von der conventionellen Wahl eines allgemeing\u00fcltigen Beziehungspunktes), so wenig darf hier Inneres oder Aeu\u00dferes als f\u00fcr sich bestehend vorgestellt werden. Und gleicherweise l\u00e4sst uns die Ansicht, welche wir als dritte formale L\u00f6sung vorgetragen haben, die zweifellose Verschiedenheit der .beiden Raumtheile vermissen, an die wir uns denselben Thatbestand gekn\u00fcpft denken. Wenn der Tisch, den ich sehe, zugleich eine Vorstellung in mir und ein Ding au\u00dfer mir sein soll, so \u00fcberrede ich mich relativ leicht davon, dass er in beiden F\u00e4llen nicht dasselbe sei, aber gewiss nicht von der Richtigkeit der Behauptung, der Ort, an welchen ich ihn als Vorstellung und als Ding verlege, w\u00e4re der n\u00e4mliche.\nDer subjective Idealismus ist in seiner psychologischen Motivirung evident irrig. Alle unsere Kenntnisse \u00fcber die Entwicklung des Ichbewusstseins beim Kinde weisen darauf hin, dass dasselbe sich nicht zuerst, sondern zugleich mit den Vorstellungen einer Au\u00dfenwelt ausbildet. Es kann sich auch, logisch betrachtet, nicht anders verhalten. Denn wir k\u00f6nnen zwar alle diejenigen Erlebnisse, welche durch den Namen Ich bezeichnet werden, haben, ohne dass nebenher Erlebnisse, denen wir die Bedeutung eines Nicht-Ich beilegen, gegeben zu sein brauchen. Aber die mehr oder weniger bestimmte Reflexion, welche wir in Bezug auf jene durch eine Namengebung und Begriffsbildung anstellen, kann sich nur entwickeln auf Grund einer Abgrenzung dieser Classe von Erlebnissen gegen andere. So sehr das Erlebniss, welches wir mit dem Namen \u00bbToth\u00ab bezeichnen, m\u00f6glich ist, wenn auch kein \u00bbgr\u00fcn\u00ab oder \u00bbgelb\u00ab genannter Vorgang, \u00fcberhaupt keine andere Farbe vor-","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n411\nhanden w\u00e4re, so wenig ist der Begriff \u00bbroth\u00ab denkbar ohne die Entgegensetzung anderer Farben. Nun ist aber der Name Ich in dieser Hinsicht dem Ausdruck \u00bbroth\u00ab ganz analog. Eine Anwendung desselben ist auch schon auf der fr\u00fchesten Stufe geistiger Entwicklung, wenn wir seinen Sinn nicht v\u00f6llig umgestalten wollen, nuT verst\u00e4ndlich, sobald irgend eine Abgrenzung gegen ein Nicht-Ieh einger\u00e4umt wird. Thats\u00e4chlich sind nun auch solche Inhalte, welche das entwickelte Bewusstsein als Au\u00dfendinge kennzeichnet, schon im j\u00fcngsten Kindesalter eine gew\u00f6hnliche Erscheinung. Darnach kann also ein Ichbewusstsein, wie es dem subjectiven Idealismus bei seiner psychologischen Motivirung vorschwebt, niemals und nirgends vor einem Wissen um die Au\u00dfenwelt entstehen.\nDie logische Motivirung ist kaum besser begr\u00fcndet. Es ist eine durchaus einseitige, der thats\u00e4chlichen Reflexion nicht entsprechende Behauptung, dass die Beziehung eines sinnlichen Erlebnisses auf das Ich die allein bestehende sei. Das jtq\u00fcrov ipevdog liegt hier in der unkritischen 'Bevorzugung des Namens \u00bb Vorstellung \u00ab, w\u00e4hrend der weitere Schritt zum Ausdruck \u00bbmeine Vorstellung\u00ab ziemlich nat\u00fcrlich ist. Indem ich ein sinnliches Erlebniss als eine Vorstellung bezeichne, deute ich die Abh\u00e4ngigkeit desselben von einem wahrnehmenden Subject an oder die Beziehung, welche es zu gewissen dem Ich zugeschriebenen Eigenschaften oder Th\u00e4tigkeiten sicherlich besitzt. Aber weder ist jene Abh\u00e4ngigkeit oder diese Beziehung die einzige noch logisch zun\u00e4chst gegeben. Die Glieder eines jeden Gegensatzes sind coordinirte Begriffe. Es ist daher eine vergebliche Bem\u00fchung, das Aeu\u00dfere dadurch eliminiren zu wollen, dass man es zu einer Species des Inneren degradirt. Au\u00dferdem sind aber thats\u00e4chlich die Abh\u00e4ngigkeit und die Beziehungen, in welchen die sinnlichen Erlebnisse zu einander stehen, von selbst\u00e4ndiger, durch die Reflexion anzuerkennender Bedeutung. Der Tisch als Vorstellung l\u00e4sst sich ohne weiteres von dem ihn tragenden Boden trennen, die Thatsache der eigenth\u00fcmlichen, von jeder Vorstellungsverbindung wesentlich verschiedenen Verkn\u00fcpfung des Tisches als eines K\u00f6rpers mit dem Boden l\u00e4sst sich dagegen durch kein erkenntnisstheoretisches Decret aus der Welt schaffen. Wenn also der subjective Idealismus behauptet, alles Wahrnehmbare sei nur Vorstellung des Ich, so abstrahirt er f\u00e4lschlich von den erw\u00e4hnten ge-\n27*","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nOswald K\u00fclpe.\ngebenen Beziehungen der Wahrnehmungs- oder Vorstellungsobjecte zu einander. Und wenn er erkl\u00e4rt, dass die logische Unterordnung eines sinnlichen Erlebnisses unter den Begriff \u00bbmeine Vorstellung\u00ab die erstberechtigte sei, so \u00fcbersieht er, dass ein logisches \u00bbzun\u00e4chst\u00ab bei den Gliedern eines Begriffspaares unanwendbar ist, wenn dieselben in gegenseitiger contr\u00e4rer oder contradictorischer Limitation ihre Gleichberechtigung deutlich verrathen. Man kann die Verlegenheit, in welche sich diese Ansicht verwickelt, nicht drastischer illustriren, als durch den eigenth\u00fcmlichen, von F. A. Lange dargestellten Materialismus Ueberweg\u2019s. Sollten am Ende die sub-jectiven Idealisten nach dem bekannten Recept: \u00bbJeder ist sich selbst der N\u00e4chste\u00ab ihre Erkenntnisstheorie gebaut haben?\nWie oft ist nicht der Materialismus in allen Formen durch die soeben bek\u00e4mpfte Auffassung zur\u00fcckgewiesen worden! Und wenn irgendwo, so mag es hier gelten, dass beide Theile Unrecht haben, weil sie beide im Recht sind. Wird auf der einen Seite der Vorstellungscharakter der sinnlichen Erlebnisse \u00fcberspannt, so nicht minder auf der anderen das objective Merkmal. Daher gelten die Ausf\u00fchrungen gegen ein ausschlie\u00dfliches \u00bbin mir\u00ab vice versa auch gegen das alleinige \u00bbau\u00dfer mir\u00ab. Insbesondere ist die Behauptung des \u00e4quativen Materialismus in ihrer Nacktheit eine Sinnlosigkeit, deren psychologische Erkl\u00e4rung einen umf\u00e4nglicheren Apparat erfordert, als wir ihn bei diesem Anlass aufwenden wollen. Sodann aber entfaltet die ontologische Metaphysik an dem Begriff der Materie in den beiden anderen Formen des Materialismus ihre vollste Unbefangenheit. Keine andere philosophische Richtung hat so g\u00e4nzlich vergessen, dass die naturwissenschaftlichen (und psychologischen) Begriffe jeder f\u00fcr sich nur unvollst\u00e4ndige Reflexionen \u00fcber Erlebtes sind, nicht dieses selbst, und dass wir die Wirklichkeit, m\u00f6gen wir sie nun hoch oder gering sch\u00e4tzen, nur in dem Erlebten oder Erlebbaren fassen und besitzen.\nDie dritte auf dem formalen Standpunkt m\u00f6gliche Ansicht erkannte in dem eigenen K\u00f6rper den gemeinsamen Schauplatz sowohl der nach innen als auch der nach au\u00dfen verlegten Erlebnisse. Es erscheint unm\u00f6glich, dieselbe mit gerechter R\u00fccksicht auf alle That-sachen durchzuf\u00fchren. Das au\u00dferhalb meines K\u00f6rpers gesehene Object kann ja gleichfalls als meine Vorstellung betrachtet werden,","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt.\n413\nwird aber als Au\u00dfending niemals in den eigenen K\u00f6rper localisirt, auch selbst wenn dieser dem Ich als ein Nicht-Ich entgegengesetzt werden k\u00f6nnte. Ferner ist eine Ausdehnung des \u00e4u\u00dferlich Gegebenen \u00fcber den engen Bezirk des Pers\u00f6nlich-K\u00f6rperlichen hinaus fast ohne Grenzen m\u00f6glich, w\u00e4hrend das r\u00e4umliche Ich \u2014 und nur um dieses kann es sich bei seiner Bedeutung als Beziehungsort handeln \u2014 in unserer leiblichen H\u00fclle ersch\u00f6pft wird. So erscheint das Ich nur als Theil des zur Au\u00dfenwelt Geh\u00f6rigen, und der alte Widerspruch regt sich mit verst\u00e4rkter Dialektik. Von der M\u00f6glichkeit endlich, an der bunten F\u00fclle subjectivirender und objectivirender Reflexionen auf Grund dieses Schemas den Wahrheitsgehalt aufzusp\u00fcren, wird nicht die Rede sein d\u00fcrfen. Ist es ja doch nichts Ungereimtes, von den Muskeleindr\u00fccken zu behaupten^ sie seien Empfindungen \u00bbin mirer, und die Muskeln mitsammt ihren sensiblen Nerven und deren centralen Endigungen \u00bbau\u00dfer sich\u00ab zu setzen! Wie sollte sich die Wahrheit an dieser Reflexion, die wir unabweisbar ahnen, von dem Gesichtspunkt einer solchen L\u00f6sung aus auffinden lassen? Wir aber halten es auch darin mit Hegel, dass eine jede Reflexion der Ausdruck f\u00fcr irgend eine Wirklichkeit sei und dass diejenige Philosophie die vollkommenste, welche sich alle Reflexionen ungezwungen einzuordnen verm\u00f6ge.","page":413}],"identifier":"lit4183","issued":"1892","language":"de","pages":"394-413","startpages":"394","title":"Das Ich und die Au\u00dfenwelt","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:20:37.894700+00:00"}