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{"created":"2022-01-31T12:24:31.637802+00:00","id":"lit4187","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Pace, Edward A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 7: 487-557","fulltext":[{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre.\nVon\nEdward Pace.\nEinleitung.\nIn seinen \u00bbPrinciples of Psychology\u00ab1) stellt sich Herbert Spencer zweierlei Aufgaben: die Ausdehnung der Evolutionstheorie auf das psychische Gebiet, und die endg\u00fcltige Best\u00e4tigung jenes erkenntnisstheoretischen Princips, welches der ganzen \u00bbSynthetic Philosophy\u00ab zu Grunde liegt. Schon in den \u00bbPirst Principles\u00ab musste er die Beziehung zwischen Subject und Object voraussetzen; indessen war die Annahme blo\u00df provisorisch; \u00bberst nachdem die Theorien des Erkennenden und des Erkannten ihre letzte Gestalt erreicht haben, ist die letzte Form der Erkenntnisstheorie m\u00f6glich\u00ab. So andererseits war bei der Darstellung des \u00bbEvolutionsgesetzes\u00ab eine h\u00e4ufige Ber\u00fchrung der geistigen Vorg\u00e4nge nicht g\u00e4nzlich zu vermeiden; ihrer n\u00e4heren Betrachtung musste die \u00bbBiologie\u00ab vorausgehen, die \u00bbSociologie\u00ab aber, in der jetzt vorliegenden vollst\u00e4ndigen Form, nachfolgen.\nBildet somit die Psychologie in gewissem Sinne den Mittelpunkt des Spencer\u2019schen Systems, so beh\u00e4lt sie ihre besondere Stellung den n\u00e4chstliegenden Wissenschaften gegen\u00fcber bei. W\u00e4hrend in der Physik der Zusammenhang zwischen zwei Erscheinungen der \u00e4u\u00dfern Welt, in der Physiologie aber der Zusammenhang\n1) 3. Edit. London, 1890, auf welche die im Text angef\u00fchrten Stellen sich beziehen.\nWundt, Philos. Studien. VII.\n32","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488\nEdward Pace.\nzwischen zwei Ver\u00e4nderungen des Organismus in Betracht kommen soll, tritt als eigentliche Frage f\u00fcr die Psychologie hervor: wie h\u00e4ngen diese zwei Beziehungen zusammen?\nZur L\u00f6sung dieses Problems l\u00e4sst sich ein doppelter Weg Anschl\u00e4gen. Entweder ist AB, der objective Zusammenhang, und seine Beziehung zur inneren Relation ab bekannt \u2014 dann sucht man, wie ab in Uebereinstimmung mit AB festgestellt wird; oder aber man setzt ab als bekannt voraus und fragt, mit welchem Recht der Zusammenhang a-A, b-B behauptet wird. Spencer\u2019s Antwort auf die erste Frage ist die Entwickelungsgeschichte des Geistes, auf die zweite der \u00bbumgebildete Realismus\u00ab. Eben weil die \u00e4u\u00dferen Beziehungen im Laufe der Entwickelung die inneren hervorbringen, stimmen beide miteinander \u00fcberein, und eben weil diese Uebereinstimmung eine blo\u00df relative ist, setzt sie nothwendig eine objective, wenn auch unerkennbare Realit\u00e4t voraus. Ohne nun etwa diese \u00bbBeziehungen\u00ab \u00fcberm\u00e4\u00dfig zu verwickeln, soll hier der Versuch gemacht werden, das Verh\u00e4ltniss zwischen den erw\u00e4hnten Antworten zu bestimmen. An und f\u00fcr sich ist die Er-kenntnisslehre Spencer\u2019s schon in Deutschland bekannt. Im Folgenden wird haupts\u00e4chlich der Einfluss der Evolutionstheorie auf die Erkenntnisslehre sowie die Wechselwirkung dieser Hauptmomente der Psychologie zum Gegenstand der Er\u00f6rterung gemacht werden. Dass eine solche Wechselwirkung bei Spencer stattgefunden hat, erhellt schon aus seinem Verzicht, eine vollkommene Erkenntnistheorie herzustellen. \u00bbAbsurd w\u00e4re die Annahme, dergleichen Theorie sei jetzt m\u00f6glich\u00ab. Er will nur \u00bbmit H\u00fclfe der umgearbeiteten Theorien des Erkannten und des Erkennenden\u00ab eine neue Auflage der Erkenntnistheorie versuchen. Und wenn ihn dieser Versuch zu einer gl\u00e4nzenden Widerlegung des Anti-Realismus gef\u00fchrt hat, so ist vielleicht das Resultat nicht ganz von der Ueber-zeugung unabh\u00e4ngig, dass, \u00bbh\u00e4tte der Idealist Recht, die Evolutionstheorie ein Traum w\u00e4re\u00ab.\nOb sich aus dem Traum die Wirklichkeit entwickelt, dar\u00fcber entscheidet die Spencer\u2019sehe Psychologie nicht. Bemerkenswerth ist es jedenfalls, dass mehr als ein Urheber der Evolutionslehre in der neueren Philosophie dem Idealismus gehuldigt hat. Setzt jene Lehre das Werden an die Stelle des Seins, so bleibt doch immer","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 489\nder Gegensatz zwischen Subject und Object \u2014 diesen \u00bbzwei Polen, die sich wechselseitig voraussetzen und fordern\u00ab. Demgem\u00e4\u00df, sagte Schelling, \u00bbmuss alle Philosophie darauf ausgehen, entweder aus der Natur eine Intelligenz oder aus der Intelligenz eine Natur zu machen\u00ab. \u00bbEntweder wird das Objective zum Ersten gemacht und gefragt, wie ein Subjectives zu ihm hinzukomme, das mit ihm \u00fcbereinstimmt; oder das Subjective wird zum Ersten gemacht und die Aufgabe ist die : wie ein Objectives hinzukomme, das mit ihm \u00fcbereinstimmt\u00ab *). Die Fragestellung ist also dieselbe; nur ist die doppelte L\u00f6sung, welche Schelling in den zwei \u00bbGrundwissenschaften\u00ab \u2014 der speculativen Physik und der Transcendental-Philo-sophie \u2014 versucht, in der Psychologie Spencer\u2019s vereinigt.\nDass in der Ausf\u00fchrung diese Philosophen von einander abweichen, beweist keineswegs, dass Schelling die Bedeutung des Evolutionsbegriffes untersch\u00e4tzte. Wohl verstand er, dass \u00bbein und dasselbe Princip die anorganische und die organische Welt verbindet, und dass es wenigstens ein Schritt zu jener Erkl\u00e4rung w\u00e4re (der Erkl\u00e4rung des Lebens aus Naturprincipien), wenn man zeigen k\u00f6nnte, dass die Stufenfolge aller organischen Wesen durch allm\u00e4hliche Entwickelung einer und derselben Organisation sich gebildet habe\u00ab1 2). Dass er diesen Schritt nur als eine M\u00f6glichkeit ansah, oder wenigstens ihn nicht in dem vollen Ma\u00dfe gethan wie Spencer, hat seinen Grund vielleicht darin, dass, von seiner \u00bbH\u00f6he\u00ab angesehen, die einzelnen Successionen von Ursachen und Wirkungen (die mit dem Scheine des Mechanismus uns t\u00e4uschen) \u00bbals unendlich kleine gerade Linien in der allgemeinen Kreislinie des Organismus verschwinden, in welcher die Welt seihst fortl\u00e4uft\u00ab. So war f\u00fcr Schelling die Welt eine Organisation, und ein allgemeiner Organismus selbst die Bedingung des Mechanismus.\nSpencer hat zwar die erste Spur seiner Evolutionstheorie auf dem biologischen Gebiet gefunden. Er will aber den Organismus nicht als \u00bbdas Positive des Mechanismus\u00ab betrachten, sondern alles Leben den Naturprincipi\u00c4 unterwerfen. Gibt er dem Evolutionsbegriff einen weiteren Umfang als der, den Schelling der \u00bbPro-ductivit\u00e4t\u00ab gestattet, so glaubt er den Schl\u00fcssel zu allen Problemen\n1)\tWerke, Stuttgart 1858. I. Abth. III. Bd. S. 340, 341.\n2)\tWerke, I. Abth. II. Bd. S. 348.\n32*","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"490\nEdward Pace.\ndarin zu besitzen. Nicht nur hat er die Lehre vom Werden auf allen Gebieten des Wissens eingef\u00fchrt, sondern auch \u00fcber den Werth der Erkenntniss l\u00e4sst er die Evolution entscheiden. Unsere Erkenntniss verdankt ihre Natur der Entwickelung; sie kann nicht andersartig sein, weil sie so geworden ist. Nicht minder als die \u00e4u\u00dfere Welt hat sie in einem Zustand begonnen, wo ihre Elemente noch gleichartig und vereinigt sind. Allm\u00e4hlich werden diese getrennt; sie stellen sich im Laufe der Entwickelung einander gegen\u00fcber ; und \u00bbdie letzte Stufe in jenem allgemeinen Process, wodurch der Geist zu einem differenzirten und integrirten Theil des ganzen Seins entwickelt wird, ist der umgebildete Realismus\u00ab (Principles of Psychology II. 505 ff.). Das Sein aber, oder die letzte Realit\u00e4t, bleibt trotz aller Differenzirung das Unbedingte, in welchem die bedingten Pactoren der Erkenntniss vereinigt werden.\nDemnach bieten sich unserer Betrachtung dreierlei Phasen dar :\nI.\tDie urspr\u00fcngliche Einheit.\nII.\tDie Aufhebung der Einheit.\nIII.\tDie Wiederherstellung der Einheit.\nI. Die urspr\u00fcngliche Einheit.\nWie man auch von der Evolutionslehre in ihren mannigfaltigen Anwendungen denken mag, so hat sie doch wenigstens ein allen Zweigen der Wissenschaft nunmehr unentbehrliches H\u00fclfsmittel geboten, indem sie die Bedeutung der fr\u00fcheren Zust\u00e4nde oder sogar des Ausgangspunktes in irgend einer Entwickelungsreihe f\u00fcr die Beurtheilung aller darauf folgenden Vorg\u00e4nge ins klare Licht gesetzt. Ob nun diese Vorg\u00e4nge als successive Phasen einer ewigen Differenzirung und Integrirung anzusehen seien, ob sie endlich auf ein dem urspr\u00fcnglichen Zustand \u00e4hnliches Gleichgewicht hinf\u00fchren sollen, dies sind Probleme, welche eine einheitliche L\u00f6sung noch nicht erhalten. Sicher aber ist es, dass eine gegebene L\u00f6sung um so zuverl\u00e4ssiger erscheinen muss, je vollkommener sie in ihrer Ableitung mit ihren Vorbedingungen \u00fcbereinstimmt.\nDieses Kriterium l\u00e4sst sich nicht nur auf die verschiedenen Ausf\u00fchrungen der einzelnen Wissenschaften, sondern auch auf die der ganzen Philosophie zu Grunde liegende Erkenntnisslehre","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 491\nanwenden. Sei es auch, dass hier nur eine logische Entwickelung stattfinden kann, so muss diese doch bei allen Fortschritten dem Ausgangspunkt treu bleiben. Hier in der That bietet dieser R\u00fcckgang einen Vortheil dar, den man auf anderen Gebieten vermisst. W\u00e4hrend n\u00e4mlich in der Weltanschauung es unm\u00f6glich ist, eine Grenze festzustellen, \u00fcber welche hinaus sich das Denken nicht erstreckt, sieht sich dagegen das Denken beim Erkenntnissr\u00fcckgang definitiv begrenzt. Wenn uns die heutige Auffassung des Weltgeb\u00e4udes auf den Urnebel hin weist, so werden wir dadurch nicht verhindert zu fragen, was denn jenem Zustand vorausging. Sind wir aber einmal \u00fcberzeugt, dass alles Denken und alles Erkennen aus einer urspr\u00fcnglichen Einheit des Denkenden und des Gedachten hervorgeht, so d\u00fcrfen wir nicht dar\u00fcber hinaus streben. Denn wir wissen, dass uns jene Strebung nicht jenseits der gegebenen Einheit erhebt, sondern .dass sie lediglich die Einheit selbst aufhebt.\nDa nun Spencer alle Evolutionsprocesse von einem Gleichartigkeitszustand ausgehen l\u00e4sst, so ist es ganz consequent, wenn er die urspr\u00fcngliche Identit\u00e4t der Erkenntnissfactoren hervorhebt. Am allerersten Anfang der Intelligenz sind Subject und Object ungetrennt. Viel sp\u00e4ter als das Bewusstsein entsteht das Selbstbewusstsein. Jene Begrenzung des Inneren vom Aeu\u00dferen, welche das \u00bbIch\u00ab bedeutet, bleibt lange im Kinde unvollkommen. Es sieht die Farben, h\u00f6rt die Glocken, riecht die Blumen, aber was versteht es von einer \u00bbSensation\u00ab? Das \u00bbandere Ich\u00ab des Naturmenschen, welches in seinen Tr\u00e4umen wandelt und im Tod den K\u00f6rper verl\u00e4sst, ist nur ein Duplicat des K\u00f6rpers \u2014 nicht das, was wir \u00bbGeist\u00ab zu nennen pflegen. Trotz aller Fortschritte der Cultur sind wir noch geneigt, den wahrgenommenen Eigenschaften der Dinge eine \u00e4u\u00dfere Existenz zuzuschreiben. Selbst eine philosophische Schule die der Vertheidiger des \u00bbrohen Realismus\u00ab \u2014 leidet noch unter dieser Vermischung. Ihnen ist der Schall ein objectives Etwas, die Anziehung der Erde ein unserer anschaulichen Vorstellung gleichender Zug. Auch der Idealist, wenn er sich an seine fr\u00fchere Erfahrung erinnert, muss gestehen, dass er damals Realist war, und dass nur die Gewohnheit, die Dinge durch sein metaphysisches Mikroskop zu betrachten, ihm alles in umgekehrten Verh\u00e4ltnissen darstellt. So stimmen alle Richtungen darin \u00fcberein, dass sie die urspr\u00fcngliche","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"492\nEdward Pace.\nEinheit anerkennen oder \u00bbwenigstens darauf zuriickgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen\u00ab. \u00bbDas einfache Bewusstsein der Empfindung, unvermischt mit irgend einem Bewusstsein von Subject oder Object, ist zweifellos das urspr\u00fcngliche\u00ab (II. 373).\nHier m\u00fcssen wir Spencer vollkommen Hecht geben: denn, wie es Sc he llin g betont, \u00bbindem ich den Gegenstand vorstelle, ist Gegenstand und Vorstellung eins und dasselbe. Und nur in dieser Unf\u00e4higkeit, den Gegenstand w\u00e4hrend der Vorstellung selbst von der Vorstellung zu unterscheiden, liegt f\u00fcr den gemeinen Verstand die Ueberzeugung von der Bealit\u00e4t \u00e4u\u00dferer Dinge, die doch nur durch Vorstellungen ihm kund werden\u00ab1). Allein es darf nicht vergessen werden, dass diese \u00bbUeberzeugung\u00ab bei jedem Wahrnehmungsact vorhanden ist, gleichviel ob sich der Wahrnehmende auf der niedrigsten oder auf der h\u00f6chsten Stufe der psychischen Entwickelung befinde. Es ist allerdings wahr, dass, wie.Spencer sagt, \u00bbdurch unendlich lange und complicirte Ditferenzirungen und Inte-grirungen von urspr\u00fcnglichen Empfindungen und abgeleiteten Vorstellungen sich ein Bewusstsein des Ich und des correlativen Nicht-Ich entwickelt\u00ab \u2014 und dass \u00bbviel sp\u00e4ter eine letzte Stufe erreicht wird, wo es dem entwickelten Ich m\u00f6glich ist, seine eigenen Zust\u00e4nde als Einwirkungen des Nicht-Ich anzusehen\u00ab. Dabei aber m\u00fcssen wir stets die psychologische Entwickelung und die logische auseinander halten. Jene Vervollkommnung der \u00e4u\u00dferen und der inneren Organe, jene Vermehrung der durch Association verbundenen Vorstellungen, welche die h\u00f6here Entwickelung zu Stande bringt, erleichtert gewiss die Reflexion und bereitet ihr ein immer wachsendes Material vor; aber sie setzt nicht die Reflexion an die Stelle der Wahrnehmung, sie zerst\u00f6rt keineswegs die Wirklichkeit des \u00bbVorstellungsobjectes\u00ab. Der Unterschied zwischen dem Bauer und dem Philosophen in Bezug auf den Werth ihrer Erkenntniss liegt somit nicht etwa darin, dass dem Ersteren eine Realit\u00e4t gegeben ist, welche der Andere erzeugen muss, sondern er besteht lediglich in der mehr oder minder vollst\u00e4ndigen Berichtigung eines Inhaltes, der mit gleicher Realit\u00e4t beiden vor allem Denken zukommt. Der so gegebenen Wirklichkeit sprechen wir nicht nur jene zeitliche Priorit\u00e4t zu, welche Spencer mit Recht als einen\n1) Werke, I. Abth. IL Bd. S. 15.","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 493\nVortheil des Realismus bezeichnet, sondern auch eine logische Priorit\u00e4t, kraft welcher sie zwar der Correctur des nachtr\u00e4glichen Denkens bedarf, seiner Unterst\u00fctzung aber entbehren kann. Erst durch die Reflexion lernen wir, dass es \u00fcberhaupt eine Gedankenentwickelung aus jenem fr\u00fcheren Zustand gibt; aber die Zuverl\u00e4ssigkeit der Reflexion selber beruht endlich auf der urspr\u00fcnglichen Identit\u00e4t der Vorstellung und des Gegenstandes.\nDarum m\u00fcssen wir mit Spencer \u00fcbereinstimmen, wenn er schlie\u00dft, dass \u00bbsowohl in der Geschichte des Geschlechtes wie in der Geschichte jedes einzelnen Geistes die urspr\u00fcngliche Anschauung die des Realismus ist; dass erst, nachdem diese erreicht und lange au\u00dfer Frage gehalten wird, die idealistische Hypothese, und zwar mit H\u00fclfe der realistischen, gebildet werden kann: und dass zu aller Zeit die idealistische Anschauung, da sie von der realistischen abh\u00e4ngt, verschwinden muss, sobald die letztere aufgehoben wird\u00ab. (II. 374.)\nAn diesen Vortheil der Priorit\u00e4t schlie\u00dfen sich nun zwei Zeugnisse an, in welchen die Haupteigenschaften des urspr\u00fcnglich gegebenen Inhaltes deutlich hervortreten. Vergleichen wir zun\u00e4chst diese Anschauungen mit R\u00fccksicht auf ihre respective Einfachheit, so m\u00fcssen wir doch immer den Realismus vorziehen. Allein hier scheint Spencer\u2019s Stellung dem Subjectivismus gegen\u00fcber eine schwankende zu sein. \u00bbEntweder\u00ab, sagt er, \u00bbist das Zeugniss des Bewusstseins, welches den Realismus ergibt, ein unmittelbares oder ein mittelbares. Wenn es unmittelbar ist, dann ist alles zugegeben \u2014 der Streit ist zu Ende\u00ab. (II. 378.) W\u00e4re er nun bei dieser Entscheidung geblieben, so h\u00e4tte er den Realismus richtig aufgefasst ; denn die Wirklichkeit des Objectes ist uns in der That unmittelbar gegeben. Indem er aber seinem Realismus irgend eine Mittelbarkeit zuschreibt, und sich mit dem Schluss befriedigt, dass \u00bb das Bewusstsein, auf dem der Realismus ruht, durch eine einzige Folgerung erreicht wird\u00ab (II. 383), so durfte er zwar diesen dem Idealismus vorziehen, welcher eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen erfordert, jedoch musste die realistische Anschauung selbst stark verletzt oder sogar zerst\u00f6rt werden. Sollte die Wirklichkeit des Gegenstandes, wie er uns in der Vorstellung gegeben wird, von irgend einem Denkprocess, sei dieser kurz oder lang, abh\u00e4ngen, so w\u00e4re freilich","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nEdward Pace.\n\u00abder Streit zu Ende\u00ab \u2014 zu Gunsten des Subjectivismus. Wie Spencer dieses Resultat zu vermeiden sucht, werden wir nachher sehen. Jetzt ist nur hervorzuheben, dass jene Unmittelbarkeit der Realit\u00e4t, wie sie einerseits keine Beweisf\u00fchrung n\u00f6thig hat, so andererseits nicht mit dem blo\u00dfen \u00bbGlauben\u00ab zu verwechseln ist. Was beweisbar ist, und was glaubw\u00fcrdig- erscheint, l\u00e4sst immer hinter sich die M\u00f6glichkeit des Zweifels. Was uns dagegen unmittelbar gegeben ist, l\u00e4sst keinen Zweifel zu. Einen Nachweis aber zu verlangen, dass in der Wahrnehmung Object und Vorstellung identisch sind, ist ebenso vern\u00fcnftig wie etwa die Forderung, das Leuchten der Sonne am Mittag durch einen Syllogismus festzustellen.\nDiese unmittelbare Realit\u00e4t besitzt in der That noch eine Eigenschaft \u2014 jene vollkommene Klarheit, welche Spencer als ein besonderes Merkmal des Realismus ansieht. \u00bbAussagen des Bewusstseins, die uns in den lebhaften Ausdr\u00fccken der Empfindung gegeben sind, dr\u00e4ngen sich mit weit gr\u00f6\u00dferer Gewissheit auf als diejenigen, welche in den schwachen Gestalten von Begriffen erscheinen\u00ab. (II. 379.) Da sich nun der Realismus in lebhaften, bestimmten Aussagen darstellt, w\u00e4hrend der Idealismus durch den unbestimmten Begriffsnebel aufd\u00e4mmert, so k\u00f6nnen wir nicht lange zwischen diesen Ansichten unentschlossen bleiben. Es ist vielleicht etwas \u00fcbertrieben, wenn Spencer schlie\u00dfen will, dass \u00bbes unm\u00f6glich sei, die idealistische Anschauung anzunehmen, ohne zu behaupten, dass die Dinge um so gewisser erkannt je blasser sie wahrgenommen werden\u00ab (II 382). Der Idealist k\u00f6nnte darauf antworten, dass in vielen F\u00e4llen die Begriffe ebenso deutlich sind wie die Empfindungen, und dass er jedenfalls eine widerspruchsfreie Erkenntniss, sollte diese auch nicht in \u00bblebhaften Aussagen\u00ab bestehen, vorzieht.\nAbgesehen aber davon ist es klar, dass sich Spencer\u2019s eigener Realismus keineswegs so eng an jene lebhaften Aussagen h\u00e4lt. Wenn er zur Erkenntniss der Wirklichkeit gewisserma\u00dfen durch eine Schlussfolgerung gelangt, so muss er auch die schwachen Begriffe benutzen. Wir bestreiten allerdings nicht, dass seinem Schluss die gr\u00f6\u00dfere Klarheit zukomme; aber wir sehen keinen Grund, die urspr\u00fcngliche Klarheit zu beleuchten \u2014 oder zu tr\u00fcben. Eine \u00bbwirklichere Wirklichkeit\u00ab, als wir in der Vorstellung anf\u00e4nglich besa\u00dfen, ist nicht zu hoffen.","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprineip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 495\nFassen wir nun die Bedeutung jener Einheit der Vorstellung und des Gegenstandes mit einem Wort auf, so ist uns darin eine klare, unmittelbare Realit\u00e4t gegeben. Die Einheit selbst aber ist leicht zerst\u00f6rbar \u2014 sie ist, um uns eines Spencer\u2019sehen Ausdruckes zu bedienen, ein Zustand \u00bbvon instabilem Gleichgewicht\u00ab. Und da durch die Aufl\u00f6sung des \u00bbHomogeneous\u00ab eine kaum zu begrenzende Heterogeneit\u00e4t zum Vorschein kommt, so ist es nicht zu verwundern, dass aus der Trennung zwischen Vorstellung und Object mannigfaltige Meinungen entstehen. Dass selbst diejenigen, welche mit Spencer die einst gegebene Identit\u00e4t anerkennen, auf dem weiteren Weg des Schlie\u00dfens zuweilen Fehler begehen, ist nur daraus zu erkl\u00e4ren, dass sie den Ausgangspunkt unrichtig gefasst haben. Darum ist hier ein Unterschied hervorzuheben, der leicht \u00fcbersehen wird, sobald die Reflexion in den Vordergrund tritt. Es sind n\u00e4mlich zwei Thatsachen \u2014 Wirklichkeit und Aeu\u00dferlichkeit oder \u00bbAu\u00dferunssein\u00ab \u2014 keineswegs zu verwechseln. Bei jeder Wahrnehmung ist uns das Object mit voller Wirklichkeit gegeben: dass es aber au\u00dfer uns ist, lehrt uns erst das Denken. Wollen wir Spencer\u2019s Forderung Folge leisten und dieses Buch z. B. betrachten, so geben wir ihm vollkommen zu, dass in diesem Augenblick kein \u00bbBegriff von Empfindungen\u00ab, keine Ahnung, dass ein Bild des Buches uns besch\u00e4ftigt, im Bewusstsein auftaucht.\nAber ebensowenig erfahren wir, dass wir das Buch, wie Spencer behauptet, als von uns getrennt wahrnehmen; dass \u00bbder einzige Inhalt des Bewusstseins das Buch ist, betrachtet als eine \u00e4u\u00dfere Realit\u00e4t\u00ab. Die W\u00f6rter etwas au\u00dfer uns dr\u00fccken sehr deutlich den Unterschied zwischen Subject und Object aus: sie geh\u00f6ren daher nicht der Wahrnehmung, sondern der Reflexion an. Es ist allerdings wahr, dass \u00bbdas Bewusstsein vom Ich und das Bewusstsein vom Nicht-Ich einen unaufh\u00f6rlichen Rhythmus bilden\u00ab: allein, setzen wir hinzu, der erste Ansto\u00df zu diesem Rhythmus wird vom Denken gegeben. Wir stimmen freilich nicht mit Hamilton \u00fcberein, wenn er behauptet: \u00bbIn dem Wahrnehmungsact bin ich mir zweier Dinge bewusst \u2014 des Ich als des wahrnehmenden Subjects, und einer \u00e4u\u00dferen Realit\u00e4t, in Beziehung zu meinem Sinn, als des wahrgenommenen Objects. Jedes von diesen wird gleichzeitig und gleichwohl in einer und derselben unzerlegbaren Energie oder in demselben ,moment","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496\nEdward Pace.\nof intuition' wahrgenommen\u00ab. Spencer\u2019s Kritik dieser Lehre besteht wesentlich darin dass er die behauptete Gleichzeitigkeit des Bewusstseins vom Subject und des Bewusstseins vom Object verwirft, weil sich das Bewusstsein nur mit einem von diesen Factoren in einem gegebenen Moment besch\u00e4ftigen kann. \u00bbDas Bewusstsein kann nicht gleichzeitig in zwei verschiedenen Zust\u00e4nden sein \u00ab (II. 440). Es sei uns hier gestattet, von beiden Philosophen abzuweichen, indem wir sagen, dass keiner von diesen Factoren \u2014 weder das Subject noch das Object \u2014 in unserem wahmehmenden Bewusstsein erscheint. Denn gerade die Trennung dieser zwei weist uns auf die fr\u00fchere Vorstellung hin, welche Subject und Object in einer und derselben Wirklichkeit vereinigt. Wer einer Symphonie von Beethoven zuh\u00f6rt, der wird kaum veranlasst werden, entweder jene T\u00f6ne als \u00e4u\u00dfere Vorg\u00e4nge oder sich selbst als ein h\u00f6rendes Subject zu denken; aber ebensowenig wird er an der Realit\u00e4t des Geh\u00f6rten zweifeln.\nDie gemeinsame Quelle nun, aus der diese sich widerstreitenden Ansichten str\u00f6men, l\u00e4sst sich unschwer aufzeigen. Indem durch die Reflexion Subject und Object getrennt werden, wandeln sie sich in zwei Objecte um, die dann nat\u00fcrlich vor dem Blick des Erkennenden liegen, und in allerlei \u00bbBeziehungen\u00ab eingehen. So k\u00f6nnte man wieder das beobachtende Subject ins Objectfeld herabsetzen und auf diese Weise in Ewigkeit fortfahren, ohne jedoch um einen Schritt n\u00e4her an die Wirklichkeit zu kommen. Spencer hat mit Recht bemerkt : \u00bb das metaphysische Argument identificirt zwei Dinge, welche an entgegengesetzten Enden der Entwickelung liegen\u00ab. (II. 373.) Aber nicht minder verh\u00e4ngnissvoll ist der Fehler, den er selbst begeht, indem er das Ergebniss der logischen Entwickelung zum Ausgangspunkt zur\u00fcckschiebt.\nEben diese Verwechselung ist es, welche der Meinung zu Grunde liegt, \u00bbdass auch in dem letzten Rest von Glauben an die numerische Identit\u00e4t von realem und Vorstellungsobject ein Widerspruch stecke\u00ab. rj Es w\u00e4re freilich widersprechend, wollte man zwei Objecte, die \u00bbnumerisch\u00ab verschieden sind, zu einer solchen Identit\u00e4t verbinden. H\u00e4tte das Denken aus einer Mehrheit die Einheit zu schaffen \u2014 etwa eine Synthese aus subjectiven und objectiven\n1) Ed. von Hartmann, Preu\u00df. Jahrb\u00fccher, Juli 1890, S. 12.","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 497\nElementen herzustellen \u2014 so w\u00fcrde es ihm so gut gelingen wie demjenigen, der aus einer gr\u00fcnen Farbe und einem tiefen Ton eine neue \u00bbEntit\u00e4t\u00ab zu erzeugen strebte. In Wahrheit aber ist uns keine solche Aufgabe vorgesehrieben. Wir haben vielmehr die gegebene Einheit zu zerlegen und ihre Factoren begrifflich aus einander zu halten.\nDass diese Analyse keinen Widerspruch entdecken kann, versichert uns schon die Thatsache, dass nicht zwei Dinge vorhanden sind, welche sich widersprechen k\u00f6nnen. Darum ist die Bezeichnung \u00bbnumerische\u00ab irreleitend, wenn man sie auf jene Identit\u00e4t anwenden will: denn sie schlie\u00dft, gleichsam wie ihren Schatten, den Verdacht einer Vielheit ein, welche noch nicht entstanden ist.\nBevor wir auf die Entstehung dieses Zwiespaltes eingehen, werfen wir einen kurzen Blick auf die von verschiedenen Systemen, der urspr\u00fcnglichen Einheit gegen\u00fcber, angenommene Stellung. Der \u00bbrohe Realismus\u00ab, wie ein Kind, das nicht w\u00e4chst, bleibt auf jener niedrigen Stufe stehen, als ob keine Entwickelung stattgefunden h\u00e4tte. Der Idealismus f\u00e4ngt da an, wo die Entwickelung aufh\u00f6rt, und wiegt sich in dem Wahn, er habe die realistische Anschauung zu begr\u00fcnden. Und der umgebildete Realismus\u201d? \u00bbEr vollendet die Differenzirung von Subject und Object, indem er das, wras dem einen geh\u00f6rt, von dem, was dem anderen geh\u00f6rt, ausscheidet. Er sagt nicht, wie der Idealismus, das Object nur wie es wahrgenommen wird existire \u2014 hebt nicht die Grenze zwischen Subject und Object durch eine Uebernahme des letztem ins Bewusstsein auf; sondern er gestattet dem Object eine von aller Wahrnehmung unabh\u00e4ngige Existenz. Er behauptet nicht, wie der rohe Realismus, dass das Object, von einem wahrnehmenden Bewusstsein getrennt, jene Eigenschaften besitze, welche es in der Wahrnehmung kennzeichnen \u2014 schreibt nicht dem Object etwas zu, welches dem Subject angeh\u00f6rt. Indem er zwischen beiden eine un\u00fcbersteigbare Grenze festh\u00e4lt, erkennt er eine \u00e4u\u00dfere unabh\u00e4ngige Existenz an, welche die Ursache der Bewusstseins\u00e4nderungen ist, w\u00e4hrend ihre Einwirkungen auf das Bewusstsein die Wahrnehmungen bilden; und daraus schlie\u00dft er, dass die durch solche Einwirkungen entstandene Erkenntniss nicht eine Erkenntniss der Ursache sein kann, sondern lediglich auf die Existenz der letzteren hinzudeuten vermag\u00ab. (II. 505. XX.)","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498\n* Edward Pace.\nII. Die Aufhebung der Einheit.\nDass die Wirklichkeit und somit die Gewissheit, welche in der urspr\u00fcnglichen Identit\u00e4t von Vorstellung und Object gegeben ist, nicht ausschlie\u00dflich dem \u00bbgemeinen Verstand\u00ab angeh\u00f6rt, hatte S chelling wohl eingesehen. \u00bbWer in Erforschung der Natur und im blo\u00dfen Genuss ihres Reichthums begriffen ist, der fragt nicht, oh eine Natur und eine Erfahrung m\u00f6glich sei. Genug, sie ist f\u00fcr ihn da ; er hat sie durch die That seihst wirklich gemacht und die Frage, was m\u00f6glich ist, macht nur der, der die Wirklichkeit nicht in seiner Hand zu halten glaubt. .... Wie eine Welt au\u00dfer uns, wie eine Natur und mit ihr Erfahrung m\u00f6glich sei, diese Frage verdanken wir der Philosophie, oder vielmehr mit dieser Frage entstand Philosophie\u00ab.1)\nInwiefern Schelling in seiner eigenen Naturforschung diesem Vorbild treu geblieben sei \u2014 ob er als Anbeter der \u00bbverschleierten G\u00f6ttin\u00ab zu gelten habe \u2014 bedarf hier keiner Er\u00f6rterung. Dass die \u00bbPotenzen\u00ab in die Actualit\u00e4ten des Mechanismus vielfach \u00fcbergegangen, und die \u00bbHemmungen\u00ab in der flie\u00dfenden Evolution aufgel\u00f6st worden sind, zeigt deutlich, wie weit die heutige Wissenschaft vom Standpunkt der \u00bbNaturphilosophie\u00ab entfernt ist. Auf dem speculativen Gebiet ist sein Einfluss dauernder gewesen; und selbst diejenigen, welche vom \u00bbabsoluten Idealismus\u00ab nichts h\u00f6ren wollen, m\u00f6gen doch mit Interesse das Bild betrachten, das er vor hundert Jahren gemalt.\n\u00bbDiese Identit\u00e4t des Gegenstandes und der Vorstellung\u00ab, sagt Schelling, \u00bbhebt nun der Philosoph auf, indem er fragt: Wie entstehen Vorstellungen \u00e4u\u00dferer Dinge in uns? Durch diese Frage versetzen wir die Dinge au\u00dfer uns, setzen sie voraus als unabh\u00e4ngig von unseren Vorstellungen. Gleichwohl soll zwischen ihnen und unseren Vorstellungen Zusammenhang sein. Nun kennen wir aber keinen realen Zusammenhang verschiedener Dinge als den von Ursache und Wirkung. Also ist auch der erste Versuch der Philosophie der: Gegenstand und Vorstellung ins Verh\u00e4ltniss der Ursache\n1) Werke, II. Bd. S. 12.","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 499\nund Wirkung zu setzen\u00ab.1) Mit diesem Versuch war Schelling allerdings nicht zufrieden; denn er sah sogleich ein: \u00bbindem ich frage: wie kommt es, dass ich vorstelle, erhebe ich mich selbst \u00fcber die Vorstellung\u00ab \u2014 \u00bb\u00fcber alle Gesetze von Ursache und Wirkung\u00ab. Und da er das \u00bbHirngespinnst von Dingen an sich\u00ab, von Dingen, welche aus den \u00bbZwischenwelten Epikur\u2019s\u00ab auf uns wirken, nicht ertragen konnte, so kehrte er zu jener Identit\u00e4t zur\u00fcck, welche ihm nunmehr als eine \u00bbabsolute\u00ab erschien.\nObgleich nun diese \u00bbErhebung\u00ab bei Spencer nicht zum Ausdruck kommt, ist trotzdem seine ganze Erkenntnisslehre darauf gegr\u00fcndet. Unbewusst vielleicht, hat er, nicht minder wie Schelling, den \u00bbMechanismus des Denkens und Vorstellens durchbrochen\u00ab. Am klarsten sind die Hauptz\u00fcge seiner Hypothese in jener \u00bbletzten Vergleichung\u00ab hervorgehoben, mit welcher er den erst 1880 in den \u00bbPrinciples of Psychology\u00ab eingeschalteten Abschnitt \u00fcber \u00bbCon-gruities\u00ab abschlie\u00dft. Fr\u00fcher h\u00e4tte man sich dar\u00fcber beklagen k\u00f6nnen, dass er in seinem Kampf gegen den Idealismus die Relativit\u00e4tslehre gewisserma\u00dfen im Hintergrund hielt. An der genannten Stelle ist dies nicht mehr der Pall. Entweder, sagt er, gibt es Etwas jenseits des Bewusstseins oder nicht. W\u00e4re das letztere wahr, so w\u00e4re das Bewusstsein unbegrenzt in Zeit und Raum, absolut und unbedingt, ewig, allm\u00e4chtig. Also gibt es Etwas au\u00dferhalb des Bewusstseins. Nun sind vier Hypothesen m\u00f6glicherweise zu bilden: a) beide Existenzen sind unth\u00e4tig; b) die \u00e4u\u00dfere ist th\u00e4tig, die innere unth\u00e4tig; c) die innere ist th\u00e4tig, die \u00e4u\u00dfere unth\u00e4tig; \u2014 und da keine von diesen drei haltbar ist, so bleibt \u00fcbrig, dass d) sowohl die innere Existenz wie die \u00e4u\u00dfere th\u00e4tig ist. Daraus aber folgt nothwendig: erstens dass diese Wechselwirkung die Existenz von beiden Pactoren voraussetzt; und zweitens, dass die Ursachen und ihr Zusammenhang in dem Einen verschieden sein m\u00fcssen von den Wirkungen und deren Zusammenhang im Anderen. \u00bbObwohl in der inneren Existenz die \u00e4u\u00dfere durch ihre Wirkungen repr\u00e4sentirt wird, in ihrer Natur aber nicht pr\u00e4-sentirt werden kann, setzt doch diese Repr\u00e4sentation durch Wirkungen ihre Coexistenz nothwendig voraus\u00ab. (II. 505 ff.)\n1) a. a. O. S. 15.\n4","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500\nEdward Pace.\nSomit haben wir diese Bestandteile des umgebildeten Realismus. die Realit\u00e4t der \u00e4u\u00dferen Existenz und die Unerkennbarkeit ihrer Natur. An der Stelle der urspr\u00fcnglichen Einheit tritt nun eine doppelte Trennung auf. Zun\u00e4chst scheiden sich Subject und Object von einander: dann werden durch die Relativit\u00e4t der Erkenntniss Wesen und Erscheinung auf beiden Seiten gespalten. Die Trennungen lassen sich also etwa in folgender Weise darstellen:\nObject.\tSubject.\nWesen \u2014 Erscheinungen : Erscheinungen \u2014 Wesen.\nUnsere Erkenntniss bleibt auf das Zwischengebiet beschr\u00e4nkt; \u00fcber den Extremen schwebt eine undurchdringliche Dunkelheit. Von der \u00bbSubstanz des Geistes ft wie von dem Wesen der Dinge wissen wir nur, dass sie sind.\nA. Die \u00e4u\u00dfere Realit\u00e4t.\nBei der ersten Sonderung, welche Subject und Object als zwei Theile des Seins einander gegen\u00fcberstellt, f\u00e4llt der Entwickelung die wichtigste Rolle anheim ; oder, genauer ausgedr\u00fcckt, ist unsere Ueberzeugung von der Realit\u00e4t einer \u00e4u\u00dferen Existenz ganz und gar das Werk der Entwickelung. Dar\u00fcber verm\u00f6gen wir uns zwar durch die Analyse Rechenschaft zu geben ; aber die Unterscheidung selbst geht aller Analyse voraus. Demgem\u00e4\u00df haben wir das Zeugniss zun\u00e4chst der durch die Entwickelung bestimmten logischen Noth-wendigkeit; sodann aber das Ergebniss der psychologischen Unter-uchung. Beide Wege f\u00fchren uns auf dasselbe Resultat hin \u2014 es gibt au\u00dferhalb des Bewusstseins eine reale Existenz.\na. Die logische Nothwendigkeit.\nWir haben schon gesehen, in welchem Yerh\u00e4ltniss die verschiedenen Theorien der Realisten und der Idealisten zu einander stehen. Um diesem Streit ein Ende zu machen, ist offenbar eine Entscheidung n\u00f6thig. Wir m\u00fcssen uns auf einen Boden stellen, welcher allen Systemen gemeinsam ist und eine weitere Pr\u00fcfung erm\u00f6glicht. Mit vollem Recht vermuthen wir, dass eine und dieselbe Wurzel des Irrthums jenen Systemen unterl\u00e4uft, welche Glaubens-","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 501\ns\u00e4tze, die mit unserem urspr\u00fcnglichen Glauben schlechthin unvereinbar sind, festzustellen scheinen. An der Vernunft mangelt es nicht: es muss also ein letztes Princip geben, welches die einen oder die anderen \u00fcbersehen. Vor allem ist daher dieses Princip festzustellen; sonst w\u00fcrden wir nur in die Luft schlagen, wie es Reid in seinem Kampf gegen den Skepticismus gethan. Ebensowenig aber l\u00e4sst sich des Skeptikers Angriff abwehren, wenn man ihm gegen\u00fcber mit Hamilton behauptet, \u00bbdas Bewusstsein m\u00fcsse als zuverl\u00e4ssig betrachtet werden, bis es als l\u00fcgenhaft \u00fcberf\u00fchrt wird\u00ab; denn diese Ueberf\u00fchrung des Bewusstseins im allgemeinen setzt die G\u00fcltigkeit der einzelnen Beweisschritte voraus. Eine feste Grundlage also ist nur in einem besonderen Modus des Bewusstseins zu finden.\nHier gibt es eine Frage, welche von jedermann eine Antwort verlangt, bevor es ihm gestattet werden kann, weitere Schl\u00fcsse zu ziehen. An den Grenzen des Erkenntnissgebietes muss er erkl\u00e4ren, auf welche Weise die festgesetzten Formen der geistigen Th\u00e4tigkeit unsere Gedanken in Bezug auf solche Schl\u00fcsse bestimmen. Sei es durch Vererbung, sei es durch die Classification und Organisirung der individuellen Erfahrung \u2014 jedenfalls werden die Denkformen gebildet, die Nothwendigkeiten des Denkens bestimmt, bevor eine Selbsterkl\u00e4rung stattfinden kann. \u00bbEine Gewissheit, welche gr\u00f6\u00dfer ist als diejenige, die der Denkprocess erreichen kann, muss am Anfang alles Denkens anerkannt werden\u00ab. (II. 390.) Eine solche Gewissheit muss das Kriterium der Gewissheit besitzen.\nUm das Kriterium selbst zu finden, m\u00fcssen wir zun\u00e4chst die verschiedenen Systeme auf \u00bbeinen gemeinsamen Nenner\u00ab bringen und ihre Einheiten vergleichen. Die Einheiten, aus denen alle Erkenntniss besteht, sind Urtheile. Ebenso wohl wenn ich das Blau des Himmels anblicke, als wenn ich die Entstehung der Himmelsk\u00f6rper vorstelle, kleidet sich mein Bewusstsein in diese Urtheilsform. Von den m\u00f6glichen Urtheilsclassificationen sind es zwei, die uns haupts\u00e4chlich interessiren. Erstens unterscheiden wir einfache und zusammengesetzte Urtheile. Einfach nennen wir ein Urtheil, welches nichts stillschweigend behauptet, was es buchst\u00e4blich nicht ausdr\u00fcckt. Zusammengesetzt dagegen ist ein Urtheil, dessen Umfang weit mehr einschlie\u00dft als das, was es ausdr\u00fccklich behauptet. Wir brauchen kaum zu bemerken, dass dieser Unter-","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502\nEdward Pace.\nschied nicht absolut ist; denn es gibt kein Urtheil, welches nichts au\u00dfer einem einzigen Subject und einem einzigen mit ihm in Beziehung gebrachten Pr\u00e4dicat in sich fasst. Auch ein scheinbar einfaches Urtheil ist immer der Gefahr ausgesetzt, verf\u00e4lscht zu werden durch die Verf\u00e4lschung eines von den in ihm eingeschlossenen Ur-theilen. Weit gr\u00f6\u00dfer aber ist diese Gefahr f\u00fcr die zusammengesetzten Urtheile; denn besonders bei diesen ist man geneigt, diejenigen Glieder der in Betracht kommenden Classe hervortreten zu lassen, von denen das Pr\u00e4dicat thats\u00e4chlich gilt, w\u00e4hrend solche, die jener Eradication nicht f\u00e4hig sind, Zur\u00fcckbleiben. Unter dieser Verschiebung leidet z. B. das Urtheil: alle von Objecten herr\u00fchrenden Empfindungen haben als ihre Form den Baum.\nNoch bedeutender ist die zweite Eintheilung. Es gibt n\u00e4mlich Urtheile, in denen das Pr\u00e4dicat immer mit dem Subject coexistirt, w\u00e4hrend in anderen dies nicht der Fall ist. In der eisten Classe sind noch zu unterscheiden diejenigen, in welchen die Verbindung des Pr\u00e4dicats mit dem Subject nur zeitweilig ist, voir solchen, in denen diese Coexistenz eine absolut permanente ist. Wenn ich meinen Schreibtisch betrachte, so ist die Coexistenz des Subjects und des Pr\u00e4dicats in dem Urtheil \u2014 \u00bbich sehe den Tisch\u00ab \u2014 eine absolute, so lange ich den Tisch betrachte. Sage ich aber \u00bbdas Viereck ist ein Raumgebilde\u00ab, so coexistiren Subject und Pr\u00e4dicat nicht nur, indem ich die Oberfl\u00e4che des Tisches vor mir habe sondern in jedem Fall, wo beide im Bewusstsein vorhanden sind; die Coexistenz ist absolut und permanent. Jetzt entsteht die Frage, wie k\u00f6nnen wir uns \u00fcberzeugen, dass ein Pr\u00e4dicat unver\u00e4nderlich mit seinem Subject coexistirt? Dazu liegt f\u00fcr uns nur ein Weg offen; wir m\u00fcssen \u00bbeinen Fall aufsuchen, in welchem das Subject des Pr\u00e4dicats entbehrt\u00ab. Verm\u00f6gen wir das Pr\u00e4dicat entweder g\u00e4nzlich zu unterdr\u00fccken, oder durch ein anderes zu ersetzen, dann sind wir nicht gen\u00f6thigt, das Urtheil f\u00fcr wahr zu halten. Sind aber diese Elemente untrennbar, sind wir nicht im Stande, die Verneinung des Urtheils vorzustellen, so werden wir gezwungen, anzunehmen, dass das Pr\u00e4dicat unver\u00e4nderlich mit dem Subject zusammenh\u00e4ngt, und dass das Urtheil eine unumst\u00f6\u00dfliche G\u00fcltigkeit besitzt. Die Unvorstellbarkeit der Negation ist daher das h\u00f6chste Kriterium der Gewissheit f\u00fcr irgend eine Erkenntniss. Sie ist","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relatmt\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 503\nzugleich die psychologische Nothwendigkeit, welche uns so zu denken zwingt, und die logische Versicherung, welche jeden Zweifel ausschlie\u00dft.\nBei der Anwendung dieses Kriteriums liegt eine gewisse Schwierigkeit darin, dass die Vertheidiger entgegengesetzter Meinungen behaupten, jeder f\u00fcr sich, dass ihre Schl\u00fcsse aus den Pr\u00e4missen gerade mit der Gewissheit des Kriteriums folgen. Wie sollen wir entscheiden? Au\u00dfer der schon erw\u00e4hnten Zerlegung der Urtheile steht uns noch eine Methode zur Verf\u00fcgung. Sei es auch, dass unser Kriterium nicht unfehlbar ist, so muss doch die Gefahr des Irrthums um so gr\u00f6\u00dfer sein, je \u00f6fter das Kriterium in einer gegebenen Folgerung zur Anwendung kommt. Dagegen \u00bbmuss derjenige Schluss der sicherste sein, der das Postulat am wenigsten in Anspruch nimmt\u00ab (II. 435).\nBekanntlich waren Mill und Hamilton mit diesem Kriterium nicht einverstanden; und gerade diese Thatsache regt die Frage an, ob denn Spencer seinen Pr\u00fcfstein mit Recht das \u00bbUniversal Postulate\u00ab genannt habe. Die Antwort wird keineswegs leichter, wenn wir uns an den Zweck des Kriteriums erinnern: es soll zwischen den Behauptungen von entgegengesetzten Systemen entscheiden. Nun aber sind Vorstellbarkeit und Un Vorstellbarkeit vom Vorstellenden abh\u00e4ngig; eine Negation, welche f\u00fcr den rohen Realisten unbegreiflich w\u00e4re, k\u00f6nnte doch wohl vom Idealisten begriffen werden. Da sich die Entwickelung nicht \u00fcberall mit gleichem Schritt fortsetzt, so ist es kaum zu erwarten, dass die Unvorstellbarkeit eine universale Bedeutung erreichen soll. Spencer\u2019s Kriterium ist in der That nur eine besondere Form der Relativit\u00e4tslehre: am Ende hat jeder sein eigenes Postulat, und statt der versprochenen Entscheidung tritt lediglich das neue Problem auf: wie sollen wir jetzt unter den Postulaten w\u00e4hlen?\nEs \u00e4ndert freilich nichts daran, zu sagen, man solle die Anwendungen des Kriteriums z\u00e4hlen, und dem Mindestbietenden die Gewissheit anweisen. Denn beim verschiedenen Grad der Vorstellensf\u00e4higkeit wird der Ma\u00dfstab selbst nicht constant sein ; daher w\u00fcrde er noch einer Messung bed\u00fcrfen. Wenn Spencer nicht nur die Urtheile, sondern vielmehr die inneren Th\u00e4tigkeiten der Urtheilenden auf einen gemeinsamen Nenner gebracht haben wird, Wundt, Philos. Studien. VII.\t33","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504\nEdward Pace.\ndann werden wir vielleicht im Stande sein, das Kriterium zu benutzen \u2014 vorausgesetzt, dass wir irgend einen von den Streitenden \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, er habe ja \u00f6fter als sein Gegner das gef\u00e4hrliche Kriterium in Anspruch genommen.\nIndessen nimmt Spencer die Aufgabe ganz ruhig auf, die Zerlegung und die Z\u00e4hlung f\u00fcr zwei Systeme zu bestimmen. Die Pr\u00fcfung ist aber einseitig; denn hei dieser Vergleichung erscheint nur derjenige Theil des umgehildeten Realismus, welcher die Probe am besten zu bestehen verspricht. Von dem Leser, der seinen Blick auf das Buch gerichtet, sagt Spencer: \u00bber f\u00fchlt, dass er, mag er thun, was er will, nicht im Stande ist, diesen Act (die Anerkennung des Buches als einer \u00e4u\u00dferen Realit\u00e4t) umzukehren \u2014 dass es ihm unm\u00f6glich ist, sich vorzustellen, dass dort, wo er das Buch sieht und f\u00fchlt, Nichts sei. Daher, so lange er das Buch zu betrachten fortf\u00e4hrt, besitzt sein Glaube an dasselbe als an eine \u00e4u\u00dfere Realit\u00e4t die h\u00f6chste G\u00fcltigkeit, die \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist. Er hat die unmittelbare B\u00fcrgschaft des universalen Postulates, und er nimmt das universale Postulat nur einmal in Anspruch\u00ab (II. 437). Hier handelt es sich nur um den Punkt, in welchem Spencer mit dem rohen Realismus \u00fchereinstimmt, von der Relativit\u00e4t des Erkennens ist nicht die Rede1). Ebenso gut k\u00f6nnte der rohe Realist z. B. hinzusetzen, er verm\u00f6ge keineswegs zu begreifen, dass blau, s\u00fc\u00df und sanft nicht in den Dingen wirklich existiren. Erinnert nicht diese Bescheidenheit des umgebildeten Realismus an jene \u00bbzusammengesetzten Urtheile\u00ab, die nur ihre g\u00fcnstigen Z\u00fcge erscheinen lassen?2)\nStrenger nun ist die Behandlung des Idealisten. \u00bbEr postulirt das Buch, postulirt sich selbst, postulirt die Kraft, mit welcher das Buch eine Ver\u00e4nderung in ihm bewirkt\u00ab. Also drei Anwendungen des Postulates! Es w\u00e4re vielleicht trotzdem m\u00f6glich zu zeigen, dass die \u00bbMehrheit\u00ab des Idealismus im Vergleich mit Spencer\u2019s\n1)\tMit welchem Erfolg sich das Kriterium auf den hier au\u00dfer Frage gelassenen Theil des Speneer\u2019schen Realismus anwenden l\u00e4sst, zeigt Ernst Gro\u00dfe : Herbert Spencer\u2019s Lehre von dem Unerkennbaren. Leipzig 1890. S. 95.\n2)\tWie Bain sehr treffend fragt: \u00bbIst er berechtigt, Zeugnisse f\u00fcr eine Lehre unter einer Form zu empfangen, und dieselben der Lehre unter einer ver\u00e4nderten Form zu \u00fcbergeben?\u00ab (Mr. Spencer\u2019s Psychological Congruities in Mind, Vol. VI. p. 401.)","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 505\neigenen \u00bbAnspr\u00fcchen\u00ab nicht so bedeutend ist. Wenn sich der Wahrnehmungsinhalt in der Form \u00bbein Buch au\u00dfer mir\u00ab darstellt, so k\u00f6nnte es scheinen, dass der Wahrnehmende das Buch und sich selbst postulirt; und wenn die Relativit\u00e4tslehre hinzugef\u00fcgt wird, so werden auch die \u00bbEinwirkungen\u00ab postulirt; nur ist im letzteren Fall noch das Postulat n\u00f6thig, dass zwischen Ursache und Wirkung keine Uehereinstimmung, der Natur nach, stattfinde. Der umgehildete Realist also stellt sich, nicht minder wie der Idealist, auf einen Standpunkt, \u00bbwovon aus wir den Wahrnehmungsact wahrnehmen k\u00f6nnen\u00ab.\nUebrigens, was das universale Postulat betrifft, so k\u00f6nnen wir seine H\u00fclfe ohne weiteres ablehnen. Denn um uns der Wirklichkeit des Objects zu versichern, brauchen wir nicht ein einziges Mal das Kriterium in Anspruch zu nehmen. Somit ist gesagt, dass wir \u00fcberhaupt kein Kriterium n\u00f6thig haben, so lange es um die Realit\u00e4t desjenigen, was uns in der Vorstellung gegeben wird, sich handelt. In der That ist sowohl die Erfindung wie die Benutzung von irgend einem Postulat die Aufgabe des Denkens \u2014 eine Aufgabe, welche erst dann erf\u00fcllt werden kann, nachdem die Aufhebung der -urspr\u00fcnglichen Einheit vollzogen ist.\nDie Trennung, welche wir der Reflexion zuschreiben, ist nun f\u00fcr Spencer eine schon durch die Entwickelung zu Stande gebrachte Thatsache. \u00bbObgleich diese Erkenntniss (eines \u00e4u\u00dferen Gegenstandes) urspr\u00fcnglich eine zusammengesetzte war, ist sie doch, lange ehe das bewusste Denken seinen Anfang nahm, zu einer einfachen Erkenntniss verschmolzen worden: so bleibt sie einfacher als irgend eine Erkenntniss, welche aus dem bewussten Denken entsteht\u00ab (II. 440). \u00bbIn der Zeitfolge geht diese Scheidung allem' Denken voran: und da sie mit unserer geistigen Structur verflochten ist, so verm\u00f6gen wir nicht von ihr zu denken, ohne sie vorauszusetzen\u00ab1).\nDemnach scheint Spencer dreierlei Stufen der Entwickelung zu unterscheiden: auf der fr\u00fchesten war die Realit\u00e4t durch kein Bewusstsein von Subject und Object getr\u00fcbt; auf der letzten findet der erste Denkact Subject und Object schon getrennt; zwischen\n1) First Principles, S. 156. (4. Ed. New York 1888.)\n33*","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"506\nEdward Pace.\nbeiden spannt sich eine nicht genau bestimmte Zeitstrecke, welche wir als eine Differenzirungsphase zu denken haben. Die Vorg\u00e4nge, welche diese Differenzirung hervorbringen, hat Spencer nicht sehr deutlich aufgezeigt. Es h\u00e4tte freilich keinen Sinn zu fragen, bei welchem Punkt der Entwickelung die Trennung stattfindet; die Bedingungen aber, welche dieselbe \u00fcberhaupt vollziehen, h\u00e4tte er deutlicher hervorheben sollen. \u00bbErfahrungen\u00ab, \u00bbWiederholung von Empfindungen\u00ab sind h\u00f6chstens unbestimmte Ausdr\u00fccke, welche den logischen Process ziemlich schwach beleuchten. Au\u00dferdem schieben sie die Trennung auf eine Stufe zur\u00fcck, wo nach Spencer\u2019s eigener Meinung Subject und Object noch keine Unterscheidung zulassen. Da die geistige Entwickelung in einer fortw\u00e4hrenden Anpassung der inneren Beziehungen an die \u00e4u\u00dferen besteht, so setzt sie Subject und Object voraus. \u00bbTiefer also als alle besonderen Ueberein-stimmungen muss das Bewusstsein dieser zwei entgegengesetzten Ganzen der Existenz sein, zwischen deren Theilen die Ueberein-stimmung in jedem Fall stattfindet; die Erfahrung ihrer (Koexistenz, da sie jede einzelne Erfahrung begleitet, muss nothwendig die fundamentale Erfahrung sein\u00ab (II. 505). Daraus d\u00fcrfte man schlie\u00dfen, dass auch auf den niedrigen Entwickelungsstufen, wo doch der rohe Realismus herrschen soll, diese \u00bbfundamentale Erfahrung\u00ab schon die Einheit von Subject und Object gest\u00f6rt habe; oder sollen wir sagen, dass es damals keine Erfahrung gegeben hat?\nHaupts\u00e4chlich aber besteht der Fehler darin, dass man, sich auf des Beobachters Standpunkt stellend, auf zwei Reihen von Objecten zur\u00fcckschaut, die einander gegen\u00fcber stehen, um nun den Schluss zu ziehen, es sei auch im Subject das immer wachsende Bewusstsein eines au\u00dfer ihm existirenden Subjects vor allem Denken gegeben.\nAuf Grund derselben Voraussetzung scheitert nun die Behauptung, dass \u00bbdie urspr\u00fcngliche Sonderung des Ich vom Nicht-Ich durch die H\u00e4ufung von dauernden Wahrnehmungen der Ueberein-stimmungen und Unterscheidungen zwischen Erscheinungen entsteht\u00ab *). Denn, wie Spencer daselbst hinzuf\u00fcgt, \u00bbdas Denken besteht lediglich in jenem Act, der uns fortw\u00e4hrend veranlasst,\n1) First Principles, S. 154.","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 507\ngewisse Erscheinungen in diejenige Classe, mit der sie so viele Attribute gemeinsam haben, und andere Erscheinungen in eine andere, mit ihnen durch ihre Attribute gleichwohl \u00fcbereinstimmende Classe einzureihen\u00ab. Wenn aber diese Trennung durch einen Vorgang zu Stande kommt, in welchem das Denken, besteht, so ist es nicht einzusehen, wie dann die Trennung allem Denken vorangeht.\nVielleicht ist die Erkl\u00e4rung darin zu suchen, dass f\u00fcr Spencer \u00bb eine wirkliche Erkenntniss nur durch ein begleitendes Wiedererkennen m\u00f6glich ist\u00ab, und dass daher \u00bbErkenntniss im eigentlichen Sinne nur allm\u00e4hlich entsteht \u2014 dass in der ersten Periode der keimenden Intelligenz, ehe die durch Verkehr mit der \u00e4u\u00dferen Welt entstandenen Gef\u00fchle in Ordnung gebracht worden sind, es keine eigentliche Erkenntniss gibt\u00ab1). W\u00e4re dies der Fall, so m\u00fcsste, da diese \u00bbOrdnung\u00ab erst durch einen Denkprocess geschieht, das Denjten etwa eine Vorstufe des Erkennens sein. Nun w\u00e4re es allerdings nutzlos, nach einer Definition der Erkenntniss zu streben, welche allen Systemen annehmbar w\u00e4re; allein, sollte diese Auffassung der Erkenntniss auch auf die Wirklichkeit des erkannten Objectes \u201cbezogen werden, so w\u00e4re die Spencer\u2019sche Definition keineswegs zul\u00e4ssig. Denn ein\" solches Wiedererkennen, weit davon entfernt, eine Vorbedingung zur Kenntniss der Realit\u00e4t zu sein, besteht vielmehr in einer Vergleichung der schon in den Vorstellungen gegebenen Objecte. Oh nun diese Objecte mit einander \u00fchereinstimmen, oder sich von einander durch abweichende Merkmale unterscheiden, ist f\u00fcr die Wirklichkeit derselben gleichg\u00fcltig. In der urspr\u00fcnglichen Erkenntniss kann also von Aehnlichkeit und Un\u00e4hnlichkeit (likeness and unlikeness) gar keine Rede sein; die Vorstellung ist, streng genommen, nicht einem Object \u00e4hnlich, sondern sie ist mit dem Object identisch.\nDie Aufhebung dieser Identit\u00e4t geschieht nicht durch eine \u00bbVerschmelzung\u00ab von fr\u00fcher verschiedenen Erkenntnissacten; denn jeder von diesen geh\u00f6rt entweder der Wahrnehmung oder der Reflexion. Was die Wahrnehmung betrifft, so ist hier keine logische Verschmelzung m\u00f6glich, da sie in einem einzigen Act besteht. Die Begriffe aber, welche uns die Reflexion liefert, entstehen zun\u00e4chst\n1) First Principles, S. 80.","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508\nEdward Pace.\ndurch eine Zerlegung des urspr\u00fcnglichen Inhaltes; und wenn sie sich mit einander verbinden, so l\u00e4sst sich dieses sp\u00e4tere Ergebniss keineswegs in die Vorstellung zur\u00fcckverlegen; die Acte der reflecti-renden Erkenntniss verschmelzen nicht mit der Wahrnehmung. Das was Spencer \u00bbdie eigentliche Wahrnehmung\u00ab nennt, indem er behauptet, dass wir den Gegenstand als eine au\u00dfer uns existirende Realit\u00e4t unmittelbar wahrnehmen, ist vielmehr eine Vermengung der durch Reflexion gewonnenen Begriffe mit jenem Inhalt, dem die Begriffe selber entspringen.\nDass diese Begriffe sich aus Urtheilen zusammensetzen, deren Negation unvorstellbar ist, kann nicht bestritten werden. Andererseits ist es klar, dass sich die Negation der Wirklichkeit, welche uns in der Wahrnehmung gegeben ist, ebensowenig vorstellen l\u00e4sst. Offenbar aber liegen diese Nothwendigkeiten weit auseinander: denn die erstere ergibt sich als das Resultat einer Vergleichung, welche das Denken vornimmt; die letztere dagegen dr\u00fcckt einfach die Unm\u00f6glichkeit aus, das Merkmal der Wirklichkeit vom Vorstellungsobject zu trennen. Indessen lehrt Spencer, dass wir mit derselben Nothwendigkeit gezwungen sind, die Existenz eines \u00e4u\u00dferen Gegenstandes anzunehmen. Auf die Anwendung des Postulates wollen wir hier nicht zur\u00fcckgehen: da aber der Werth des Kriteriums einmal darin besteht, dass es das Resultat der Entwickelung ausspricht, sodann aber in unserer F\u00e4higkeit besteht das Resultat zu erkennen, so erhebt sich die Frage, ob denn in der von Spencer beschriebenen Entwickelung des Geistes eine Stufe zu erreichen sei, wo die logische Th\u00e4tigkeit sic*h entfaltet.\nDie Erfahrung, sagt Spencer, ist nur eine Registrirung von objectiven Thatsachen: unter diesen kommen viele nur gelegentlich vor; andere sind h\u00e4ufiger; und einige sind unver\u00e4nderlich. Diese letzteren m\u00fcssen Glaubenss\u00e4tze feststellen, deren Negation unvorstellbar ist; und die subjective Unvorstellbarkeit entspricht einer objectiven Unm\u00f6glichkeit. W\u00e4re auch eine genaue und vollst\u00e4ndige Z\u00e4hlung dieser Erfahrungen m\u00f6glich, so m\u00fcsste doch die Unvorstellbarkeit der Negation eine h\u00f6here B\u00fcrgschaft f\u00fcr irgend eine Erkenntniss liefern; denn sie vertritt die nerv\u00f6sen Verbindungen und Structuren nicht nur eines Individuums, sondern des ganzen Geschlechtes. Dass wir also die Negation eines Urtheils nicht vor-","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 509\nstellen k\u00f6nnen, bedeutet, dass wir die Wechselwirkung der nerv\u00f6sen Structuren, welche eine unendliche Anzahl von Erfahrungen entwickelt hat, nicht umzukehren verm\u00f6gen. Somit nimmt Spencer eine mittlere Stelle zwischen dem gel\u00e4ufigen Empirismus und dem Apriorismus ein. F\u00fcr ihn beh\u00e4lt die individuelle Erfahrung ihren Werth im vollsten Ma\u00dfe bei, wird aber erweitert und verst\u00e4rkt durch die Vererbung. Gerade die Uebernahme einer schon befestigten Erfahrung gibt dem Individuum jene bestimmte Richtung, welche Leibniz durch die \u00bbpr\u00e4stabilirte Harmonie\u00ab, Kant aber durch die Anschauungsformen vergebens zu erkl\u00e4ren versucht hatten. \u00bbIndem wir diese Thatsache der Intelligenz als a priori f\u00fcr das Individuum, als a posteriori aber f\u00fcr die ganze Reihe von Individuen, von denen der Einzelne ein letztes Glied ist, betrachten, entgehen wir den Schwierigkeiten der beiden Hypothesen\u00ab. (II. 195.) i)\nDas Misslingen dieses Vermittelungsversuches hat seinen Grund principiell darin, dass er ein logisches Problem durch eine psychologische oder sogar eine biologische Antwort zu l\u00f6sen strebt. Der Umstand; dass unsere Begriffsbildung nicht bei dem uns psychologisch Gegebenen stehen bleibt, und'trotzdem eine innere Nothwendigkeit erreicht, deutet schon darauf hin, dass nicht die H\u00e4ufung von Erfahrungen, sondern ihre Bearbeitung durch das logische Denken den Zusammenhang zwischen Subject und Pr\u00e4dicat feststellt.\nSpencer selbst, sobald es sich um die Erkenntniss dieser Nothwendigkeit handelt, schreibt auch dem Denken eine bedeutende Rolle zu. \u00bbBevor eine Wahrheit als nothwendig erkannt werden kann, m\u00fcssen zwei Bedingungen erf\u00fcllt werden. Es muss eine geistige \u00bbStructur\u00ab geben, welche die Elemente (terms) des Urtheils und die zwischen denselben behauptete Relation zu begreifen f\u00e4hig\n1) Hoff ding hat schon bemerkt : \u00bbSagt man \u00e0 priori f\u00fcr das Individuum, so muss man auch sagen a priori f\u00fcr das ganze Geschlecht, denn es handelt sich hier um ein aus der Natur der Sache hervorgehendes Grundverh\u00e4ltniss, nicht um eine Zuf\u00e4lligkeit, die sich anders beim Individuum als hei dem Geschlecht im allgemeinen verh\u00e4lt. \u00bbGeschlecht\u00ab ist ja au\u00dferdem eine relative Bestimmung, sie kann wieder als Individuum im Yerh\u00e4ltniss zu einer umfassenderen Gruppe aufgefasst werden, und so fort bis ins Unendliche.\u00ab Einleitung in die englische Philosophie unserer Zeit. Deutsch von H. Kurella. Leipzig 1889. S. 222.","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"51.0\nEdward Pace.\nist; und diese Elemente m\u00fcssen in einer bestimmten und bedachtsamen Weise vorgestellt werden, um ein klares Bewusstsein der Relation zu erm\u00f6glichen\u00ab1). Zweifellos sind diese Bedingungen unentbehrlich; allein es ist nicht so sicher, dass die Erf\u00fcllung der zweiten m\u00f6glich sei, wenn die in der ersteren verlangte Structur richtig von Spencer aufgefasst wird.\nSowohl das psychische Leben wie das physische besteht in einer Anpassung der inneren Beziehungen an die \u00e4u\u00dferen. Bei den niedrigsten Organismen sind beide Lebensarten noch identisch, und selbst auf den h\u00f6heren Stufen der Entwickelung ist der Unterschied keineswegs absolut. Im weiteren Sinn aber scheiden sich die psychischen Vorg\u00e4nge von den physiologischen dadurch, dass sie eine Reihenfolge bilden, w\u00e4hrend die physiologischen Processe gleichzeitig und successiv vor sich gehen. Nur allm\u00e4hlich sind die psychischen Functionen successiv geworden. \u00bbMit der Entstehung des Nervensystems werden die quasi-psychischen Aenderungen theilweise coordinirt \u2014 die verschiedenen Str\u00e4nge gebunden. Im Laufe der Entwickelung und Integrirung des Nervensystems verflechten sich diese Str\u00e4nge mehr und mehr zu einem einzigen Faden. Bis zum Ende aber bleibt die Vereinigung unvollkommen. Die Lebensfunctionen, welche von der Psychologie behandelt werden, unterscheiden sich zwar von den \u00fcbrigen vitalen Vorg\u00e4ngen durch ihre Tendenz eine Reihe zu bilden; niemals jedoch erreichen sie absolut jene Form\u00ab. (I. 399.)\nWie kommt dieser Unterschied zu Stande? Bei der fr\u00fchesten Differenzirung aus der urspr\u00fcnglichen Gewebsgleichartigkeit \u2014 zwischen der Substanz des Organismus und der \u00e4u\u00dferen H\u00fclle \u2014 f\u00e4llt der ganzen Haut zun\u00e4chst die Absorption, sodann aber auch die Empfindung anheim. Allm\u00e4hlich wird die verbreitete Empfindlichkeit auf specielle Theile der Oberfl\u00e4che, und sogar auf bestimmte Organe beschr\u00e4nkt, bis endlich die gr\u00f6\u00dfte Empfindlichkeit in einem Punkt, wie es z. B. bei der Netzhaut geschieht, sich localisirt. Diese fortw\u00e4hrende Specialisirung bringt nothwendig mit sich die Aufeinanderfolge der psychischen Functionen.\nAndererseits ist dies auch ein Resultat der Anpassung. \u00bbMit anderen Worten, der Fortschritt der Anpassung, die Entwickelung\n1) First Principles, S. 174.","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 511\ndes Bewusstseins und die wachsende Tendenz zur linearen Ordnung der psychischen Aenderungen, sind verschiedene Ansichten derselben Progression .... Jene F\u00e4higkeit, welche ein vern\u00fcnftiges Wesen besitzt, verschiedene \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde zu erkennen und seine Handlungen an verschiedenartig zusammengesetzte Erscheinungen anzupassen, setzt das Verm\u00f6gen voraus, viele getrennte Eindr\u00fccke zu vereinigen. Diese Eindr\u00fccke werden von den Sinnesorganen \u2014 also von verschiedenen K\u00f6rpertheilen \u2014 empfangen. Gehen sie nicht \u00fcber die Empfangsstelle hinaus, so sind sie werthlos; oder wenn nur einige davon in Beziehung zu einander gesetzt werden, bleiben sie doch ohne Werth. Um eine wirksame Verbindung zu erm\u00f6glichen, m\u00fcssen sie alle in Beziehung zu einander treten. Dazu aber ist ein Centrum n\u00f6thig, welches allen gemeinsam ist, und durch welches die einzelnen gehen; und da sie unm\u00f6glich gleichzeitig durch dasselbe gehen k\u00f6nnen, so m\u00fcssen sie auf einander folgen. Je zahlreicher daher und je verwickelter die \u00e4u\u00dferen Ph\u00e4nomene, auf die reagirt wird, um so mehr m\u00fcssen die Aenderungen in diesem Centrum an Verschiedenheit und Geschwindigkeit zunehmen \u2014 es muss eine ununterbrochene Reihe von solchen nerv\u00f6sen Aenderungen zu Stande kommen, deren subjective Seite wir ein zusammenh\u00e4ngendes Bewusstsein nennen\u00ab (I. 403)1).\n1) Dieser letzte Ausdruck ist eine Correctur der in den fr\u00fcheren Auflagen gebrauchten und von Spencer\u2019s Kritikern mehrfach angegriffenen Phrase \u2014 \u00bbes muss ein Bewusstsein entstehen\u00ab. Auf Sidgwick\u2019s Einwand antwortet Spencer: \u00bbIch gehe nun zu, dass hierin ein scheinbarer Widerspruch vorhanden ist. Ich h\u00e4tte sagen sollen: \u00bbes muss eine ununterbrochene Reihe dieser Aenderungen zu Stande kommen, welche, indem sie im Nervensystem eines hochentwickelten Gesch\u00f6pfes erscheint, seiner Handlung einen Zusammenhang gibt (gives coherence to its conduct), und mit welcher wir ein Bewusstsein annehmen, weil Bewusstsein unsere eigenen zusammenh\u00e4ngenden Handlungen begleitet. ... Ein Blick auf das ganze Kapitel zeigt, dass es keineswegs den Zweck hat, zu erkl\u00e4ren, wie Ver\u00e4nderungen als Wellen der molecularen Bewegung sieh in die das Bewusstsein bildenden Gef\u00fchle umwandeln, sondern dass es durch eine objective Betrachtung der Thatsachen von lebendigen Wesen im allgemeinen den Hauptunterschied zwischen den vitalen Operationen im allgemeinen und den besonderen vitalen Operationen, welche uns veranlassen, ein dieselben zeigendes Gesch\u00f6pf \u00bbintelligent\u00ab zu nennen, hervorhebt . . . Die Einf\u00fchrung des Wortes \u00bbBewusstsein\u00ab geschieht, indem versucht wird, zu zeigen, welche fundamentale","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512\nEdward Pace.\nTrotz Spencer\u2019s nachtr\u00e4glicher Corrector und der sonst \u00fcberfl\u00fcssigen Versicherung, dass \u00bbsich Geist und Bewegung durch keine Anstrengung identificiren lassen\u00ab, w\u00e4re noch eine Erkl\u00e4rung mehrerer Punkte dieser Lehre w\u00fcnschenswerth. Zun\u00e4chst ist es nicht selbstverst\u00e4ndlich, welche Eigenschaft des \u00bbCentrums\u00ab einen gleichzeitigen Eintritt und Austritt der peripherischen Eindr\u00fccke verhindert. Hat die Entwicklung des Centrums gleichen Schritt mit der Differenzirung der Sinnesorgane gehalten, so ist keine Verz\u00f6gerung n\u00f6thig. Sollte dagegen der Fortschritt des Bewusstseins in einer stetigen Ann\u00e4herung an die Progressionsform bestehen, so w\u00e4re das einfachste Ganglion dem h\u00f6chstentwickelten Gehirn vorzuziehen. Fernerhin, w\u00e4re diese Aufeinanderfolge die fundamentale Eigenschaft der im Zusammenhang mit dem Bewusstsein stehenden physiologischen Vorg\u00e4nge, so scheint kein Grund vorhanden zu sein, der uns gerade auf die Nervenprocesse hinweisen soll. Es ist allerdings klar, dass eine gewisse Function, welche aus dem Ganzen der Lebensvorg\u00e4nge herausgegriffen und den andern gegen\u00fcbergestellt wird, als successiv mit R\u00fccksicht auf die Mannigfaltigkeit der \u00fcbrigen erscheinen muss. Auf diese Weise aber ist die Respiration z. B. in Vergleich mit anderen Vorg\u00e4ngen nicht minder successiv als die Nervenerregung.\nAndererseits, indem Spencer, um den Materialismus zu vermeiden, den \u00bb speciellen physiologischen Aenderungen \u00ab eine Eigenschaft zuspricht, welche gleichwohl den psychischen angeh\u00f6rt, hebt er den fr\u00fcher behaupteten Unterschied vollst\u00e4ndig auf. Wenn wir lernen, dass die eine Reihe von Vorg\u00e4ngen nicht in die andere \u00fcbergeht, sondern dass beide parallel laufen, und zwar, dass jede ein Succession bildet, so fehlt das Kennzeichen der psychischen Vorg\u00e4nge auch im weiteren Sinn.\nEndlich haben wir in diesem Parallelismus keine L\u00f6sung des Problems. W\u00e4hrend sich die physiologischen Vorg\u00e4nge gewisserma\u00dfen auf Stoff und Bewegung zur\u00fcckf\u00fchren lassen, ist dagegen ein solcher R\u00fcckgang f\u00fcr die psychischen ausgeschlossen. Den\nEigenschaft der speciellen physiologischen Aenderungen einer fundamentalen Eigenschaft der psychologischen parallel geht.\u00ab Fortnightly Review. Vol. XIV, p. 716.","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre 513\nurspr\u00fcnglichen Elementen der Welt schreibt Spencer weder Lehen noch Bewusstsein zu; das letztere will er nicht aus den physischen Processen ableiten: so bleibt die Frage \u2014 woher?\nLassen wir nur den Ursprung des Bewusstseins verh\u00fcllt, so k\u00f6nnen wir wenigstens den Fehler in Spencer\u2019s Versuch leicht aufdecken. Es ist allerdings richtig, dass nur eine einzige Vorstellung im Blickpunkt des Bewusstseins vorhanden sein kann. Setzen wir die zeitliche Beziehung hinzu, so muss eine Reihe entstehen ; oder, genauer, wir apperciren successiv verschiedene Gegenst\u00e4nde. Im strengeren Sinn w\u00e4re die Phrase \u2014 \u00bbeine Reihe von Vorstellungen\u00ab zu vermeiden; denn darin steckt die Meinung, die Vorstellungen seien Dinge, welche auf der B\u00fchne des Bewusstseins einander folgen.\nDaran schlie\u00dft sich unverweilt die Ansicht, dass die im Blickfeld des Bewusstseins bleibenden Vorstellungen \u2014 \u00bbdie \u00e4u\u00dferen F\u00e4den\u00ab \u2014 wie sie Spencer nennt, eine \u00bbTendenz\u00ab besitzen, in den Blickpunkt hervorzutreten \u2014 einen einzigen Strang zu wehen Wodurch diese Tendenz das Ziel erreicht, warum eine gegebene Vorstellung sich vor den anderen aufdr\u00e4ngt, erkl\u00e4rt Spencer nicht. Zwar behauptet er, dass \u00bbdie inneren Wirkungen von den \u00e4u\u00dferen hervorgebracht werden, denen die Sinne ausgesetzt sind. Und je nachdem sich die \u00e4u\u00dferen aneinander reihen, geschieht dasselbe hei den inneren\u00ab (II. 402). In der That aber sind die Einwirkungen von au\u00dfen keineswegs geneigt, eine Reihe zu bilden; im Gegentheil scheinen die Vorg\u00e4nge der physischen Welt, die gleichzeitig stattfinden, an Zahl und Mannigfaltigkeit zuzunehmen, je mehr sich unsere Wahrnehmungsf\u00e4higkeit entwickelt. Und wenn wir uns, trotz dieser Vermehrung der Eindr\u00fccke, dennoch bestimmten Vorstellungen zu wenden, so deutet dies auf eine innere Th\u00e4tigkeit hin, welche die Aufmerksamkeit bald auf die eine, bald auf die andere Vorstellung ahlenkt. Indem nun Spencer, von einer solchen Th\u00e4tigkeit absehend, die allgemeine Thatsache des Unterschieds zwischen Blickpunkt und Blickfeld des Bewusstseins auf den Ursprung des Bewusstseins anwenden will, bem\u00fcht er sich vergebens, eine \u00bbfundamentale Eigenschaft\u00ab der psychischen Vorg\u00e4nge in ihrer blo\u00dfen Aufeinanderfolge festzustellen. Die fundamentale Eigenschaft der bewussten Processe ist gerade jene Willensth\u00e4tigkeit,","page":513},{"file":"p0514.txt","language":"de","ocr_de":"514\nEdward Pace.\nwelche Spencer in seiner Entwicklungsgeschichte der Intelligenz vernachl\u00e4ssigt hat.\nDieselbe Vernachl\u00e4ssigung erstreckt sich nun, und zwar mit immer wachsendem Erfolg, durch die ganze Darstellung des allgemeinen psychischen Gesetzes und der geistigen Evolution.\n\u00bbDa alles Lehen, sowohl physisch wie psychisch, in einer Verbindung von Aenderungen in Uebereinstimmung mit \u00e4u\u00dferen Co-existenzen und Folgen besteht, so ergibt sich daraus, dass, wenn die psychischen Aenderungen auf einander folgen, das Gesetz ihrer Succession eben das Gesetz ihrer Uebereinstimmung sein muss\u00ab (I. 407). Die Uebereinstimmung aber bedeutet, dass die Beziehung zwischen zwei Bewusstseinszust\u00e4nden der Beziehung zwischen den zwei einwirkenden Gegenst\u00e4nden entprechen soll. Wie entsprechen? Worin besteht die Uebereinstimmung? Darin, dass die Dauer des Zusammenhangs zwischen den Bewusstseinszust\u00e4nden der Dauer des Zusammenhangs zwischen den Agentien, welchen jene Zust\u00e4nde entsprechen, proportional ist. Kommt ein Zustand a vor, so muss die Tendenz eines anderen Zustandes 5, ihm nachzufolgen, stark oder schwach sein, je nach dem Grad der Persistenz, mit welcher A und B (Gegenst\u00e4nde oder Attribute, welche a und b hervorbringen) in der Umgebung gebunden sind. \u00bbDie Beziehungen zwischen \u00e4u\u00dferen Objecten, Attributen und Wirkungen stufen sich vom Nothwendigen bis zum Zuf\u00e4lligen ab. Aehnlicherweise m\u00fcssen die entsprechenden Bewusstseinszust\u00e4nde alle Stufen vom Nothwendigen bis zum Zuf\u00e4lligen zeigen \u00abl).\nUeber die Schwierigkeiten, welche die Feststellung eines allgemeinen Gesetzes der Intelligenz darbietet, gibt sich Spencer freilich keiner T\u00e4uschung hin. Dass es in vielen F\u00e4llen an einem solchen Parallelismus mangelt, ist ihm auch klar; allein er sieht auch darin eine Best\u00e4tigung des Gesetzes; denn sowohl von der Motte, welche gegen das Licht hinfliegt, als von dem Kind, welches eine sch\u00f6ngef\u00e4rbte, obgleich giftige Fl\u00fcssigkeit begehrt, sagen\n1) Diese Verlegung wird man unschwer verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass f\u00fcr Spencer \u00bbdie Logik die allgemeinsten Gesetze der Correlation zwischen den Existenzen, insofern diese objectiv betrachtet werden, formulirt\u00ab, dass sie nicht \u00bbeine Darstellung der Denkgesetze sein kann\u00ab. Die Gesetze geh\u00f6ren dem an, was Spencer die \u00bbTheory of Reasoning\u00ab nennt. (II. S. 87.)","page":514},{"file":"p0515.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencers psychologischer Entwicklungslehre. 515\nwir, dass sie \u00bbeinen niedrigen Grad der Intelligenz, oder eine beschr\u00e4nkte Erfahrung, oder eine unvollkommene Aufkl\u00e4rung ver-rathen\u00ab.\nOffenkundig ist in dieser Antwort die Zweideutigkeit des Ausdrucks \u00bb Intelligenz \u00ab. In dem betreffenden Gesetz handelt es sich um den Zusammenhang zwischen Vorstellungen im Verh\u00e4ltniss zu den \u00e4u\u00dferen Ereignissen; f\u00fcr die Beseitigung des Einwands dagegen tritt die begriffliche Arbeit oder sogar die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit ein, welche nicht die dauerhafte Verbindung der inneren Zust\u00e4nde, sondern ihre Beziehung zum Handeln betrifft.\nNicht so bequem ist die Anwendung des Gesetzes auf die Raumwahrnehmung. Das Bewusstsein von Coexistenz besteht aus einer Folge und ihrer Umkehrung. Sind A und B die \u00e4u\u00dferen Gegenst\u00e4nde oder Erscheinungen, so werden sie als coexistirend bekannt, weil die entsprechenden inneren Zust\u00e4nde a, b ebenso leicht in einer Richtung [a-b) wie in der umgekehrten (b-a) nach einander folgen. Die Schnelligkeit dieser Hin- und Herbewegung veranlasst die scheinbar gleichzeitige Wahrnehmung und zeigt au\u00dferdem, wie die inneren Zust\u00e4nde in ihrem festen Zusammenhang den \u00e4u\u00dferen entsprechen1).\nWeiter mit den \u00bbAusnahmen\u00ab wollen wir uns nicht besch\u00e4ftigen; denn diese Beispiele beweisen, dass, wie Spencer sagt, \u00bbkein allgemeines Gesetz sich auf ausgedehnte Theile der Aenderungsreihe anwenden l\u00e4sst\u00ab. Darum erregt der Schluss keine Verwunderung, dass dieses Gesetz \u00bbdas Gesetz der Intelligenz in abstracto \u2014 weder unserer noch irgend einer uns bekannten Intelligenz ist\u00ab.\nNur sind wir in unserer Erwartung get\u00e4uscht worden; denn wir waren von der ziemlich concreten Thatsache ausgegangen, dass ein und dasselbe Gesetz f\u00fcr die Succession der Vorstellungen und ihre Uebereinstimmung mit dem \u00e4u\u00dferen Zusammenhang gilt; und es ist mindestens nicht sehr befriedigend, am Ende zu lernen, dass wir es mit einer \u00bbIntelligenz in abstracto\u00ab zu thun haben.\nWie lautet nun das Gesetz der Intelligenz in concreto? Da das Ziel, auf welches alle Intelligenzen hinstreben, darin besteht, dass der Zusammenhang zwischen inneren Zust\u00e4nden dem \u00e4u\u00dferen\n1) Vgl. Herbart\u2019s Lehre von der Raumvorstellung.","page":515},{"file":"p0516.txt","language":"de","ocr_de":"516\nEdward Pace.\nZusammenhang proportional wird; und da in der Umgebung verschiedene Stufen der Persistenz vorhanden sind, so fragt es sich, auf welche Weise die Grade des inneren Zusammenhangs festgestellt werden. Ist diese Uebereinstimmung das Resultat einer \u00bbpr\u00e4stabi-lirten Harmonie\u00ab, oder ist sie ein Product der Erfahrung? Spencer verwirft die Leibniz\u2019sche Hypothese ; und wenn er \u00fcberhaupt den Geist als einen \u00bbSpiegel der Welt\u00ab betrachtet, so ist zun\u00e4chst der Spiegel ein sehr unebener, und die Bilder, statt von Anfang an auch in dunklem Umriss darin zu sein, werden von der Au\u00dfenwelt allm\u00e4hlich eingepr\u00e4gt. \u00bbDie \u00e4u\u00dferen Beziehungen bringen die inneren Beziehungen hervor\u00ab. Selbst diejenigen Verbindungen, welche f\u00fcr das Individuum anscheinend \u00bb pr\u00e4stabilirt \u00ab sind \u2014 die automatischen Zusammenh\u00e4nge, welche der Erfahrung vorangehen \u2014 sind doch durch die Vererbung zu erkl\u00e4ren. Damit ist das Gesetz, welches wir suchen, dies: \u00bbdass, wenn irgend zwei psychische Zust\u00e4nde unmittelbar nach einander folgen, eine solche Wirkung hervorgehracht wird, dass, hei einer sp\u00e4teren Wiederkehr des ersten, im zweiten eine gewisse Tendenz ist, darauf zu folgen\u00ab (1.425).\nHiermit haben wir einen Leitfaden durch die ganze psychische Entwickelung. In den einfachen Reflexen \u00bbist der innere Zusammenhang der psychischen Zust\u00e4nde ebenso dauerhaft wie die \u00e4u\u00dfere Beziehung zwischen Attributen\u00ab. Die Reflexe sind zwar eine Art von Uehergangsstufe zwischen dem rein physischen Lehen und dem psychischen: erf\u00fcllen sie doch die urspr\u00fcngliche Bedingung des Bewusstseins, indem sie jene Altemirung von zwei Zust\u00e4nden, welche alle Formen des Denkens bildet, deutlich herstellen. Aus den Reflexen gehen nun die h\u00f6heren Th\u00e4tigkeiten hervor. Je com-plexer die \u00e4u\u00dferen Erscheinungen, um so seltener werden sie ; daher werden sie keineswegs so h\u00e4ufig in der Erfahrung gegeben als die einfachen. Da aber der Grad der Festigkeit des Zusammenhangs von der Zahl der Erfahrungen abh\u00e4ngt, so werden die Triebe, indem sie eine gewisse Complexit\u00e4t erreichen, minder fest verbunden; d. h. sie werden nicht mehr v\u00f6llig coordinirt, sondern sie werden weniger automatisch und wandeln sich dadurch in \u00bbEtwas h\u00f6heres\u00ab um. Auf diesem Princip ruht nun die weitere Entwicklung. \u00bbBruchst\u00fccke der Anpassung\u00ab, so d\u00fcrfen wir mit einem Wort Ged\u00e4chtniss","page":516},{"file":"p0517.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 517\nund Verstand, Gef\u00fchl und Wille nennen. Sie sind nur ein Hin-und Herschwanken der automatischen Vorg\u00e4nge.\nDiese Hypothese Spencer\u2019s beruht auf der bekannten \u00bbMecha-nisirung\u00ab der psychischen Vorg\u00e4nge. Es ist freilich nicht zu bestreiten, dass Handlungen, die urspr\u00fcnglich einen bestimmten Willensakt erfordern, durch h\u00e4ufige Wiederholung automatisch werden. Aber Spencer\u2019s Verwerthung dieser Thatsache sieht g\u00e4nzlich von anderen Momenten ah, welche doch f\u00fcr die richtige Bedeutung der Thatsache ma\u00dfgebend sind. Er registrirt einerseits, dass wir im Stande sind, eine Handlung, welche automatisch geworden ist, wiederum dem Willen zu unterwerfen, ohne indessen von einem \u00bbcomplexen Zusammenhang\u00ab in der Umgehung beeinflusst zu werden. Andererseits aber \u00fcbersieht er das Resultat dieser Mechanisirung, welches haupts\u00e4chlich darin besteht, dass \u00bb die psychophysischen Substrate der geistigen Th\u00e4tigkeiten als Werkzeuge erscheinen, welche durch das seelische Lehen selbst immer mehr den geistigen Zwecken angepasst und durch die Erf\u00fcllung dieser Zwecke zu vollkommeneren Leistungen bef\u00e4higt werden\u00ab1).\nWollte man nun diese Erweiterung der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit als einen Ueberrest der \u00bb Teleologie \u00ab verwerfen, so w\u00fcrde man gen\u00f6thigt, wenigstens von Spencer\u2019s Standpunkt aus, die geistige Entwicklung umzukehren. Ist das Auftauchen der inneren Th\u00e4tigkeit nichts als eine Hemmung der automatischen Vorg\u00e4nge \u2014 eine Woge, welche bald wieder in dem Strom verschwindet \u2014 so m\u00fcsste die Intelligenz an und f\u00fcr sich ins Unbewusste hinzielen. Denn jede Wiederholung eines gegebenen psychischen Aktes vermindert mehr und mehr seinen bewussten Charakter; und die geistige Vollkommenheit wird nur durch die Wiederherstellung des automatischen Vorgangs erreicht. In dem Umstand, dass es immer eine unendliche Zahl von \u00e4u\u00dferen Beziehungen gehen soll, an die sich die inneren nur in \u00bbunendlicher Zeit\u00ab anpassen k\u00f6nnen, ist keine Ausflucht zu finden. Denn die complexeren Beziehungen, welche gerade durch ihre Seltenheit den automatischen Gang zerst\u00f6ren, m\u00fcssen mit jedem Fortschritt der Intelligenz ahnehmen und schlie\u00dflich aufh\u00f6ren. Sei es auch, dass dieser Gleichgewichtszustand nie-\n1) Wundt, System der Philosophie, S. 584.","page":517},{"file":"p0518.txt","language":"de","ocr_de":"518\nEdward Pace.\nmais erreicht wird, so f\u00fchrt doch die Anpassung darauf hin; und das Bewusstsein ergibt sich als eine Schw\u00e4che, welche sobald wie m\u00f6glich abzuschaffen w\u00e4re.\nSehen wir nun von der Zukunft ab, welche uns Spencer\u2019s Gesetz verspricht und betrachten wir dasselbe in seiner Anwendung, so interessirt uns in erster Linie die Entstehung des vern\u00fcnftigen Denkens. So lange die \u00e4u\u00dferen Reize wenig und constant sind, dauert der reine Instinct fort. \u00bbWenn aber durch die Organisirung von Erfahrungen die Wahrnehmung der verwickelten Relationen von Gestalten, gemischter F\u00e4rbung, besonderer Bewegung u. s. w.r wie auch die Wahrnehmung der allgemeineren Relationen von Farbe, Lage, Gr\u00f6\u00dfe und Bewegung, m\u00f6glich wird, dann sind die gruppirten Attribute und Beziehungen so zahlreich geworden, dass sie weder psychisch noch physisch gleichzeitig vorgestellt werden k\u00f6nnen. Denn dieselbe Erfahrung, welche diese complexen Gruppen von Attributen erkennbar gemacht, hat sie auch so verschiedenartig den Sinnen dargeboten, dass bald der eine, bald der andere Theil von ihnen wahrnehmbar gewesen ist ... . Durch eine H\u00e4ufung also von solchen Erfahrungen bringt jede complexe Gruppe von \u00e4u\u00dferen Erscheinungen eine entsprechende Gruppe von inneren Zust\u00e4nden hervor, welche mehr Zust\u00e4nde enth\u00e4lt, als durch eine einzige Vorstellung der \u00e4u\u00dferen Gruppe je entstand oder entstehen kann .... Wenn daher, bei einer zuk\u00fcnftigen Vorstellung der \u00e4u\u00dferen Gruppe, einige von diesen zusammenh\u00e4ngenden psychischen Zust\u00e4nden unmittelbar durch den Sinneseindruck hervorgebracht werden, so m\u00fcssen andere Zust\u00e4nde, welche mit den ersteren durch Erfahrung verbunden waren, auftauchen (become nascent): die Ideen von einem oder von mehreren nicht-wahrgenommenen Attributen werden erregt (inferred)\u00ab (I. 458).\nAuf diese Weise also entsteht nach Spencer jene geistige \u00bb Structure, welche, wie oben erw\u00e4hnt, die erste Bedingung f\u00fcr die Erkenntniss der nothwendigen Wahrheit bildet. Wie steht es nun mit der zweiten Bedingung \u2014 der bedachtsamen Betrachtung der Urtheilselemente?\nZun\u00e4chst hat Spencer nicht erkl\u00e4rt, wie jene \u00bballgemeineren Beziehungen\u00ab festgestellt werden. In unserer Umgebung sind Blau und Roth, Viereck und Kreis vorhanden; Form aber und Farbe hat","page":518},{"file":"p0519.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprineip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 519\nkein Mensch je gesehen. Entweder bedeutet jene Organisirung das Automatischwerden der Erfahrungen oder ihre Bearbeitung durch die innere Th\u00e4tigkeit. Im ersteren Fall w\u00fcrde es sich nur um eine Wiederholung der Eindr\u00fccke handeln, welche keine allgemeine Relation enthalten. Im zweiten dagegen w\u00e4re das Denken schon in Anspruch genommen, daher k\u00f6nnte diese Organisirung unm\u00f6glich eine Vorbereitung des Denkens sein.\nFerner bleibt das Denken, nach Spencer\u2019s Erkl\u00e4rung, noch au\u00dferhalb der Schwelle des bewussten Vorgangs. Das Entstehen der \u00bbIdeen\u00ab folgt automatisch auf den Sinneseindruck, welcher zun\u00e4chst nur einen Theil der Gruppe erweckt. Dass eine Classe von Attributen unmittelbar, die \u00fcbrigen nur mittelbar hervorgerufen werden, \u00e4ndert nichts an dem automatischen Charakter des \u00bb Schlies-sens\u00ab. Denn die Erfahrung bindet die secund\u00e4ren Zust\u00e4nde ebenso fest an die prim\u00e4ren, als die letzteren an den \u00e4u\u00dferen Eindruck gebunden sind. H\u00f6chstens k\u00f6nnte man fragen, welche unter diesen zahlreichen Attributen durch das Denken in Beziehung gesetzt werden. Offenbar diejenigen, welche am h\u00e4ufigsten in der Erfahrung zusammen stehen. Aber gerade diese sind es, welche sich vor allen anderen dem automatischen Vorgang ann\u00e4hem.\nJedenfalls schlie\u00dft diese Auffassung die M\u00f6glichkeit des logischen Denkens aus. Denn wo die Elemente des Urtheils und ihre Beziehung lediglich von der Erfahrung bestimmt sind, da kann von einer Ueberlegung oder, wie es Spencer aus\u00e0r\u00fcckt, von einer bedachtsamen Vorstellung der Termini und ihrer Relation kaum die Rede sein.\nUm so weniger w\u00e4ren wir im Stande, jene Relation als eine nothwendige zu bezeichnen ; denn erstens ist diese \u00bb Idee \u00ab der Noth-wendigkeit durchaus nicht das schwache Abbild von irgend einer Empfindung ; und zweitens m\u00fcssten wir, um eine solche Beziehung zwischen Subject und Pr\u00e4dicat festzustellen, \u00bbeinen Fall aufsuchen\u00ab, in dem sie nicht coexistiren. Wir m\u00fcssen also, vermittelst des Denkens, gerade das suchen, was f\u00fcr die betreffende Relation niemals in der Erfahrung gegeben ist. Die Vorstellbarkeit der Negation eines Urtheils beweist am klarsten, dass das Denken f\u00e4hig ist, die \u00bbauftauchenden Ideen\u00ab willk\u00fcrlich zu verbinden oder zu trennen; und die Unvorstellbarkeit der Negation ergibt sich als eine Folge,\nWundt, Philos. Studien. VII.\t34","page":519},{"file":"p0520.txt","language":"de","ocr_de":"520\nEdward Pace.\nnicht unmittelbar aus der H\u00e4ufung von Erfahrungen, sondern aus der begrifflichen Bearbeitung der Erfahrungen, welche in diesem Fall zu einem negativen Resultat gelangt.\nSomit ist das \u00bbPostulat\u00ab Spencer\u2019s wenn auch nicht ein Kri/ terium der Wirklichkeit, doch wenigstens ein Beweis, dass das Denken nicht in einer blo\u00dfen Schwankung der automatischen Vorg\u00e4nge besteht. Insbesondere w\u00e4re, dieser Entwicklungsgeschichte zufolge, die Anwendung des Postulats auf die Unterscheidung des Subjects und Objects unm\u00f6glich ; denn die gr\u00f6\u00dfte Zahl von wiederholten Erfahrungen gen\u00fcgt nicht, an und f\u00fcr sich diese Begriffe zu erzeugen. Wie h\u00e4ufig dagegen bei dieser Trennung das Denken hervortritt, zeigt am besten jene psychologische Analyse, zu welcher wir uns nunmehr wenden wollen.\nb. Die psychologische Analyse.\nJede Er\u00f6rterung innerhalb des Bewusstseins, lehrt Spencer, ist lediglich ein Streit zwischen verschiedenen Verbindungen der bewussten Zust\u00e4nde; und das Ergebniss des Streites besteht darin, dass sich die schwach gekn\u00fcpften Zust\u00e4nde trennen, w\u00e4hrend die fest gebundenen Zusammenh\u00e4ngen. Hier haben wir also \u00bbdie Verbindungen der Zust\u00e4nde im Bewusstsein als einem Ganzen zu untersuchen und zu sehen, ob durch irgend welche absoluten Verkettungen sich diese Elemente zu zwei entgegengesetzten H\u00e4lften sammeln, welche das Subject, beziehungsweise das Object vertreten\u00ab (H. 453). Wir haben, mit anderen Worten, die Merkmale zu bestimmen, durch welche sich die Realit\u00e4t der \u00e4u\u00dferen Existenz von dem subjectiven Antheil des Bewusstseinsinhaltes unterscheidet.\nZun\u00e4chst trennen sich die Zust\u00e4nde in zwei Classen, welche wir respective als die lebhafte und als die schwache bezeichnen k\u00f6nnen. Die lebhaften sind die Originale, welche in den schwachen abgebildet werden. In diesen \u00bbAggregaten\u00ab wird niemals eine Unterbrechung wahrgenommen; w\u00e4hrend aber die lebhaften zu einem Ganzen von unbekannter Ausdehnung geh\u00f6ren, ist das Ganze, welches die schwachen bilden, auf das, was wir Erinnerung nennen, beschr\u00e4nkt. Das erste Aggregat hat Gesetze, welche innerhalb desselben ihren Ursprung nehmen ; es ist vollkommen von dem schw\u00e4cheren Aggregat unabh\u00e4ngig, und die Antecedentien seiner einzelnen","page":520},{"file":"p0521.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 521\nZust\u00e4nde lassen sich nicht immer aufzeigen. Dagegen ist das schwache Aggregat nur theilweise vom lebhaften unabh\u00e4ngig; seine Gesetze r\u00fchren zum Theil von jenem, zum Theil von ihm seihst her; und die Antecedentien seiner Zust\u00e4nde sind stets aufzuzeigen. In ihren Eigenschaften, in der Ordnung ihrer Gleichzeitigkeit und in der Ordnung ihrer Nacheinanderfolge sind die schwachen Zust\u00e4nde unter dem Einfluss des Willens ver\u00e4nderlich, w\u00e4hrend die lebhaften in allen diesen Beziehungen dem Willenseinfluss entgehen. So entsteht aus diesem Gegensatz der beiden Classen \u00bbein Unterschied, der alle anderen Unterschiede \u00fcbersteigt\u00ab (II. 464).\nDie Gem\u00fcthsbewegungen lassen sich, ihrer Intensit\u00e4t nach, nicht classificiren; mit R\u00fccksicht aber auf ihre Gesetze, die Auf-zeigung ihrer Antecedentien und ihre Begrenzung geh\u00f6ren sie dem schwachen Aggregat an. Von Bedeutung ist die Thatsache, dass die Gem\u00fcthsbewegungen die muscul\u00e4re Contraction und dadurch die Bewegung des K\u00f6rpers erregen. So lange keine Gem\u00fcthsbe-wegung entstanden ist, geh\u00f6rt auch der K\u00f6rper zu dem lebhaften Aggregat. Wenn ich aber, in Folge einer Gem\u00fcthsbewegung, z. B. spreche, dann bilden die Kl\u00e4nge zwar einen Theil desselben Aggregats, von den anderen Kl\u00e4ngen unterscheiden sie sich aber dadurch, dass sie von der schwachen Reihe abh\u00e4ngig sind. F\u00fchre ich andere Bewegungen aus, so \u00fcberzeuge ich mich, dass ein gewisser Theil des lebhaften Aggregats auf irgend eine Weise mit dbm schwachen Aggregat zusammenh\u00e4ngt. Eigenth\u00fcmlich in diesem Theil ist es, dass er immer gegenw\u00e4rtig ist, dass seine Zust\u00e4nde einen besonderen Zusammenhang besitzen, dass seine Grenze und seine Gesetze ziemlich wohl bekannt sind.\nFernerhin, vermittelst der Aenderungen in diesem Theil k\u00f6nnen besondere Aenderungen in den \u00fcbrigen Theilen des lebhaften Aggregats hervorgerufen werden. Solche Aenderungen sind entweder relativ \u2014 z. B. wenn ich durch das Schlie\u00dfen und Oeffnen der Augen das Gesichtsfeld verschwinden und wiederkehren lasse \u2014 oder absolut \u2014 z. B. wenn ich einen Gegenstand in Bewegung setze. \u00bbSo l\u00e4sst sich das Ganze meines Bewusstseins theilen: in ein schwaches Aggregat, welches ich meinen Geist nenne ; in einen besonderen Theil des lebhaften Aggregats, der mit dem ersten verschiedenartig zusammenh\u00e4ngt und den ich meinen K\u00f6rper nenne;\n34*","page":521},{"file":"p0522.txt","language":"de","ocr_de":"522\nEdward Pace.\nund in den Rest des lebhaften Aggregats, der keinen solchen Zusammenhang mit dem schwachen Aggregat besitzt\u00ab (II. 472).\nAu\u00dferdem vermag der K\u00f6rper auch in sich selbst Ver\u00e4nderungen hervorzubringen. Streichle ich die linke Hand mit der rechten, so entsteht eine Tastempfindung; ergreife ich die Haut, so werde ich mir zun\u00e4chst eines Druckes und endlich eines Schmerzes bewusst. Aber alle diese Empfindungen sind vorher durch den vom schwachen Aggregate unabh\u00e4ngigen Theil des lebhaften Aggregats hervorgerufen worden. Wenn nun die Einwirkungen gleichartig sind, so m\u00fcssen die Antecedentien etwas gemeinsam haben. Wie an diese Empfindungen, w\u00e4hrend ich sie hervorbringe, sich die Bewusstseinszust\u00e4nde, welche ihre Antecedentien waren, ankn\u00fcpfen, so \u00e4hnlicherweise, wenn die Empfindungen nicht von mir hervorgerufen werden, verbinden sich damit in meinem Bewusstsein die schwachen Formen jener Antecedentien \u2014 \u00bbkeimende Vorstellungen von einer Energie, die mit derjenigen verwandt ist, \"welche ich selbst ausge\u00fcbt hatte \u00ab (II. 475). Lasse ich nun die H\u00e4nde einander betasten, so entstehen die Empfindungen von Spannung, von Druck und von Widerstand; und diese drei Bewusstseinszust\u00e4nde h\u00e4ngen derart zusammen, dass, sobald einer von ihnen vorhanden ist, Theile von den anderen folgen m\u00fcssen. Wenn ich daher einen Gegenstand angreife, so treten nothwendig in mir die Vorstellungen des Druckes, des Widerstandes und der Spannung auf. Wenn pl\u00f6tzlich der Wind meine Th\u00fcr zuschl\u00e4gt, so wiederholt sich die schwache Form jener Anstrengung, welche ich kurz vorher auf die Th\u00fcr ausge\u00fcbt. \u00bbDas allgemeine Resultat ist also, dass mit dem lebhaften Aggregat, sowohl indem es einen passiven Widerstand, als indem es eine active Energie offenbart, sich im Bewusstsein die Idee einer Kraft, die zwar von der Kraft, welche das schwache Aggregat in sich selbst entwickelt, getrennt, derselben aber einigerma\u00dfen verwandt ist, unvermeidlich verbindet\u00ab (II. 477).\n\u00bbDie Empfindung von Widerstand ist das urspr\u00fcngliche, universale und stets vorhandene Element des Bewusstseins\u00ab \u2014 \u00bbdie Muttersprache des Denkens, in welcher alle fr\u00fchesten Erkenntnisse registrirt werden und in welche alle sp\u00e4ter gelernten Symbole sich \u00fcbersetzen lassen\u00ab (II. 232, 236). Der Wurzelbegriff einer Existenz au\u00dferhalb des Bewusstseins ist der Begriff des Widerstandes und","page":522},{"file":"p0523.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprineip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 523\neiner von ihm gemessenen Kraft. Um diesen Begriff zu vervollst\u00e4ndigen, ist noch ein Unterschied hervorzuheben, den uns das lebhafte Aggregat darbietet. W\u00e4hrend n\u00e4mlich sich die lebhaften Zust\u00e4nde, welche f\u00fcr uns den \u00e4u\u00dferen Gegenstand bilden, stetig ver\u00e4ndern, bleibt etwas immer unver\u00e4ndert. Diesem auffallenden Unterschied zwischen der wechselnden Gruppe von lebhaften Zust\u00e4nden und ihrem constanten Nexus \u00bbm\u00fcssen wir einen Namen geben, \u2014 und das Wort Existenz, auf den unbekannten Nexus angewendet, bedeutet nichts anderes\u00ab (II. 482). Fassen wir nun diese Merkmale zusammen, so ist der Begriff eines Etwas, welches Unabh\u00e4ngigkeit, Dauer und Kraft vereinigt, unser Begriff von der Materie.\nDas Verdienst eines k\u00fchnen Versuchs k\u00f6nnen wir Spencer freilich nicht absprechen ; allein, hat er seinen Zweck erreicht'? Hat er uns wirklich eine \u00e4u\u00dfere Realit\u00e4t geschaffen? Am Anfang der Analyse besa\u00dfen die Vorstellungen keinen objectiven Werth, denn sie waren lediglich \u00bbBewusstseinszust\u00e4nde\u00ab, und solche bleiben sie bis zum Ende, trotz aller Bem\u00fchung Spencer\u2019s, ein Object daraus zu entwickeln. Anders konnte es wohl nicht sein, denn sobald man jene Vergleichung zwischen lebhaften und schwachen Zust\u00e4nden vornehmen will, zieht man sich auf den H\u00f6hepunkt der Reflexion zur\u00fcck und l\u00e4sst die zwei \u00bbStr\u00f6me\u00ab in ihrem gemeinsamen und zwar suhjectiven Bett vorbeiflie\u00dfen. Ohne Reflexion ist allerdings keine Analyse m\u00f6glich, und wenn bei der R\u00fcckkehr die Wirklichkeit des Objects festgehalten wird, so d\u00fcrfen wir die Reflexion nicht als eine \u00bbGeisteskrankheit des Menschen\u00ab1) ansehen. Wenn man aber die Realit\u00e4t des Objectes einmal ausschlie\u00dft, so verm\u00f6gen alle denkbaren und gedachten Merkmale nicht die Realit\u00e4t wieder zu gewinnen; von der Wirklichkeit gibt es keinen Abdruck.\nDass die Lebhaftigkeit nicht ein entscheidendes Merkmal ist, gesteht Spencer selbst, indem er die Gem\u00fcthsbewegungen, obwohl sie zuweilen ziemlich stark hervortreten, dem schwachen Aggregat einreiht. Dabei \u00fcbersieht er freilich einen bedeutenden Unterschied zwischen den Classen. Bei der fr\u00fcheren Theilung n\u00e4mlich waren die lebhaften Zust\u00e4nde von den schwachen vollkommen unabh\u00e4ngig.\n1) Schelling\u2019s Ausdruck f\u00fcr die blo\u00dfe Reflexion.\n4","page":523},{"file":"p0524.txt","language":"de","ocr_de":"524\nEdward Pace.\nNun stellt er die Gem\u00fctlisbewegungen unter die schwachen und zeigt sofort, dass sie im Stande sind, Ver\u00e4nderungen in dem lebhaften Aggregat hervorzubringen. Ebenso wenig kann das Merkmal der Unabh\u00e4ngigkeit, an und f\u00fcr sich, den lebhaften Zust\u00e4nden eine objective Realit\u00e4t verleihen. Denn so lange wir uns mit blo\u00dfen Bewusstseinszust\u00e4nden besch\u00e4ftigen, bedeutet die Unabh\u00e4ngigkeit nichts, als dass dem Zustand A z. B. die Vorstellung seiner Entstehung a nicht vorausgeht, oder dass A fortdauert, nachdem die Vorstellung seines Verschwindens d aufgetreten ist. Ob der eine Zustand subjectiv und der andere objectiv sei, bleibt noch unentschieden*).\nAllein hier tritt uns ein neuer Factor entgegen: das schwache Aggregat ist der Willensth\u00e4tigkeit unterworfen und dadurch unterscheidet es sich von dem lebhaften, auf welches der Wille keinen Einfluss \u00fcbt. Dieser Unterschied ist in der That das bedeutendste unter allen jenen abweichenden Merkmalen, welche die zwei Classen einander gegen\u00fcbersetzen. Je wichtiger aber diese Function des Willens, um so weniger war sie zu erwarten, nachdem wir uns mit Spencer\u2019s Auffassung der Willensth\u00e4tigkeit vertraut' gemacht und die Bedeutung derselben f\u00fcr seine psychologische Lehre kennen gelernt haben. Denn, da wir noch immer auf dem psychologischen Boden stehen, so d\u00fcrfen wir uns die Frage erlauben, ob der Wille, nach Spencer\u2019s Ansicht, die F\u00e4higkeit besitze, solche Ver\u00e4nderungen zu bewirken.\nBekanntlich hat Spencer dem Willen eine sehr bescheidene Stelle in seiner Philosophie zugewiesen. Vielleicht w\u00e4re dies durch seinen Eifer gegen die Willensfreiheit zu erkl\u00e4ren, welche sein gro\u00dfes Werk (die Psychologie) in eine blo\u00dfe T\u00e4uschung umzuwan-- dein drohte1 2).\nImmerhin sind es zwei Stellen in der \u00bbPsychologie\u00ab, welche uns von seiner Meinung unterrichten. Einmal schimmert der Wille\n1)\tVon Interesse in dieser Beziehung ist vielleicht die Thatsache, dass der subjective Lichtschein, den man im dunklen Raum vor sich sieht, nicht nur sehr intensiv ist, sondern auch trotz aller Anstrengungen des \u00bbschwachen Aggregats\u00ab, seien diese nun Willensacte, Schlie\u00dfung der Augen oder Umdrehung des Kopfes, fortdauert.\n2)\tDieser Gefahr, welche f\u00fcr die 2. Aufl. (New York, 1877. p. 503) bestand, scheint allerdings die 3. nicht mehr ausgesetzt zu sein.","page":524},{"file":"p0525.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 525\noei der Wahrnehmung von Widerstand ganz fl\u00fcchtig durch; denn \u00bbdiese besteht in der Feststellung einer Relation zwischen der Muskelempfindung und jenem Bewusstseinszustande, den wir Willen nennen \u2014 eine solche Relation, dass der unausgeglichene Ueberschuss (unballanced surplus) von Gef\u00fchl, welcher den Willen augenblicklich bildet, der Muskelempfindung vorangeht und mit derselben, so lange sie dauert, coexistirt\u00ab (II. 242).\nEine weitere Erkl\u00e4rung von diesem \u00bbUeberschuss\u00ab erhalten wir da, wo es sich um die Entstehung des Willens handelt. \u00bbWenn die automatischen Vorg\u00e4nge so verwickelt, so verschiedenartig und, was die einzelnen betrifft, so selten geworden sind, dass sie nicht mehr mit entschiedener Genauigkeit ausgef\u00fchrt werden \u2014 wenn, einem complicirteren Eindruck zufolge, die entsprechenden motorischen Ver\u00e4nderungen auftauchen, ihr unmittelbarer Uebergang in eine Handlung aber durch die Gegenwirkung von anderen, einem \u00e4hnlichen Eindruck entsprechenden motorischen Aenderungen verhindert wird, so entsteht ein Bewusstseinszustand, welcher bei seinem Uebergang in eine Handlung das zeigt, was wir Willensth\u00e4tig-keit nennen .... Diese Umwandlung einer idealen motorischen Ver\u00e4nderung in eine wirkliche bezeichnen wir als Willen\u00ab (I. 496).\nWie unterscheidet sich nun eine willk\u00fcrliche Bewegung von einer unwillk\u00fcrlichen? Erstens dadurch, dass die willk\u00fcrliche vorgestellt, ehe sie ausgef\u00fchrt wird, w\u00e4hrend keine Vorstellung von der unwillk\u00fcrlichen derselben vorangeht. Zweitens, und zwar infolgedessen, tritt bei der willk\u00fcrlichen Bewegung eine Verz\u00f6gerungszeit zwischen dem Eindruck und der Handlung ein, welche bei dem unwillk\u00fcrlichen \u00bbUebergang\u00ab ausbleibt1).\nDa nun im Laufe der Entwicklung \u00bbdie allgemeine Natur des Vorgangs \u00ab unver\u00e4ndert bleibt, so ist es nicht einzusehen, wie dann \u00fcberhaupt, nach Spencer\u2019s Ansicht, eine f\u00fcr die Vergleichung der zwei \u00bb Classen \u00ab von Zust\u00e4nden noth wendige Reflexion m\u00f6glich w\u00e4re.\n1) Spencer\u2019s Beispiel, die Bewegung des Beines, ist nicht gerade treffend, denn bei dem bekannten \u00bbKniesto\u00dfe\u00ab geht dieser allerdings unwillk\u00fcrlichen Bewegung eine ziemlich klare Vorstellung voraus. Auffallend ist dies, wenn man den Versuch an sich selbst ausf\u00fchrt, wobei die Handbewegung (wenigstens bei Wiederholung des Versuches) nicht, wohl aber das dem Schlag nachfolgende Schenkelzucken vorgestellt wird.","page":525},{"file":"p0526.txt","language":"de","ocr_de":"526\nEdward Pace.\nDass jedoch die Selbstbeobachtung, sei dieselbe frei oder nicht, willk\u00fcrlich ist, wird auch Spencer kaum bestreiten. Trotzdem wird sie keineswegs durch eine Verz\u00f6gerung der automatischen Handlungen zu Stande gebracht; und weit entfernt davon, mit einem \u00bbGef\u00fchls\u00fcberschuss\u00ab verbunden zu sein, wird sie vielmehr gerade dadurch verhindert oder sogar unm\u00f6glich.\nAu\u00dferdem ist es nicht ganz klar, wie sich das Wesen des Willens zu seinen Functionen verh\u00e4lt. Einerseits besteht er selbst in dem Uebergang von einer idealen in eine wirkliche Bewegung, oder, was den vorliegenden Fall betrifft, von einem schwachen Zustand in eine Ver\u00e4nderung jenes Theiles des lebhaften Aggregats, den wir unsern K\u00f6rper nennen. Andererseits soll die Willensth\u00e4tigkeit in den schwachen Strom eingreifen. Wie ist dies aber m\u00f6glich, wenn der Wille selbst erst bei der \u00bbUmwandlung\u00ab auftritt? Kann der Wille in der Wirkung bestehen und zugleich diese hervorbringen?\nWir stimmen freilich mit Spencer \u00fcberein, wenn er den Einfluss des Willens auf die Vorstellungen hervorhebt. Nur ist es schwer zu verstehen, warum die Aus\u00fcbung dieser Th\u00e4tigkeit mit einer Bewegungsvorstellung als dem wesentlichen Merkmale des Willens Zusammenh\u00e4ngen soll. Da ferner der Wille lediglich das Ergebniss eines Streites zwischen zwei Gruppen von idealen Ver\u00e4nderungen ist, so kann, so lange sich die schwachen Zust\u00e4nde ganz friedlich benehmen, von einer Vermittelung des Willens kaum die Rede sein. Den Streit aber veranlasst der \u00e4u\u00dfere Eindruck; und somit verdankt der Wille seine Herrschaft \u00fcber das schwache Aggregat der Wirkung des lebhaften ! Kein Wunder also, dass das letztere von der Willensth\u00e4tigkeit unabh\u00e4ngig ist.\nUm nichts deutlicher ist die Theihiahine des Willens an der Widerstandswahrnehmung. Dass die Willenshandlung von Gef\u00fchlen begleitet wird, geben wir zweifellos zu ; daraus aber darf man nicht schlie\u00dfen, dass der Wille in einem die Muskelempfindung begleitenden Ueberschuss von Gef\u00fchl bestehe. Denn erstens hat Spencer nicht erkl\u00e4rt, warum ein Ueberschuss vorhanden und warum er nicht \u00bbausgeglichen\u00ab sei. Sodann ist es keineswegs ersichtlich, wie dann sich diese zweite Definition der Willensth\u00e4tigkeit zur ersteren verh\u00e4lt. Nehmen wir an, der Wille sei lediglich die Umwandlung einer idealen Bewegung in eine wirkliche, so werden wir","page":526},{"file":"p0527.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 527\nschwerlich behaupten k\u00f6nnen, dass der Gef\u00fchls\u00fcberschuss, welcher den Willen bildet, der Muskelempfindung voraus gehe.\nSchlie\u00dflich sind die schwachen Zust\u00e4nde dem Willenseinfluss unterthan. Aber auch das Gef\u00fchl ist, der Spencer\u2019schen Theilung nach, ein Glied des schwachen Aggregats. Daher sollten wir sagen,' nicht dass der Wille in der schwachen Reihe Ver\u00e4nderungen bewirkt, sondern dass ein schwacher Zustand, indem er eine gewisse St\u00e4rke \u2014 einen Ueberschuss so zu sagen \u2014 erreicht, die \u00bbEigenschaften\u00ab und die \u00bbOrdnung\u00ab der anderen schwachen Zust\u00e4nde ver\u00e4ndert. Indessen w\u00e4re es noch nicht einzusehen, warum diese Ver\u00e4nderung der Vorstellungen von einer Muskelempfindung begleitet werden soll.\nEin Aufschluss dar\u00fcber d\u00fcrfte jedoch von Interesse sein, wenn wir in der Widerstandswahrnehmung die wichtigste B\u00fcrgschaft f\u00fcr die objective Realit\u00e4t erblicken sollen. Thats\u00e4chlich aber hilft uns diese Wahrnehmung keineswegs \u00fcber die Grenze des Subjectiven hinaus. Denn eine \u00bbBeziehung zwischen der Muskelempfindung\u00ab und \u00bbeinem Ueberschuss von Gef\u00fchl\u00ab ist eine innere Thatsache, welche keinen Anspruch auf eine von uns unabh\u00e4ngige Realit\u00e4t machen darf. Dagegen wird uns diese Realit\u00e4t des Objects in anderen Wahrnehmungen unmittelbar gegeben, die sich nicht in Widerstandsempfindungen aufl\u00f6sen lassen. Wenn ich dieses Blatt wahrnehme, so hin ich mir weder einer Muskelspannung noch eines Gef\u00fchls\u00fcberschusses bewusst: und wie soll ich den Widerstand eines Tones bestimmen? Spencer\u2019s Behauptung, dass alle Er-kenntnisssymbole in Widerstandsempfindungen \u00fcbersetzt werden k\u00f6nnen, liefert ein neues Beispiel jener bedenklichen \u00bbzusammengesetzten Urtheile\u00ab.\nDer Hauptfehler nun in dieser Betrachtung des Widerstandes als eines Merkmales f\u00fcr den objectiven Werth gewisser \u00bbZust\u00e4nde\u00ab ist der, dass sie dem Ergehniss der Analyse vorauseilt. Indem man n\u00e4mlich, der Muskelspannung zufolge, einen entsprechenden Widerstand janimmt, setzt man schon ein Etwas \u2014 ein Widerstehendes \u2014 voraus. Man verlegt somit eine gegenseitige Spannung in ein Ding, dessen Existenz jedoch erst durch seine Wirkung bekannt werden soll. F\u00e4llt nun diese Voraussetzung hinweg, so bleiben wir auf die Muskelspannung, also auf das Subjective, beschr\u00e4nkt.","page":527},{"file":"p0528.txt","language":"de","ocr_de":"528\nEdward Pace.\nWenn wir nun aber auf diese Weise aus dem Bewusstsein unm\u00f6glich hinauskommen k\u00f6nnen, und wenn Spencer trotzdem die Versicherung aufstellt, dass wir die objective Realit\u00e4t erreicht haben, so liegt die Vermuthung nahe, es habe im Laufe des Verwirklichungsvorganges irgend ein Sprung stattgefunden. Eine erste Ahnung von dieser Ueberschreitung liegt bereits in jener \u00bb Theilung \u00ab vor, welche \u00bbdas Ganze des Bewusstseins\u00ab in Geist, K\u00f6rper und einen noch nicht genau bezeichneten \u00bbRest des lebhaften Aggregats\u00ab getrennt hat. Bisher hatten wir mit blo\u00dfen \u00bbZust\u00e4nden\u00ab zu thun ; sowohl das lebhafte Aggregat wie auch das schwache geh\u00f6rte dem Bewusstsein an, und die vorangehende Analyse zeigte nur, dass die beiden Classen in gewissen Beziehungen zu einander stehen. Bei der Theilung aber zieht sich der Geist zur\u00fcck und l\u00e4sst eine Realit\u00e4t au\u00dfer sich aufd\u00e4mmern. Es bleibt noch ein Schritt \u00fcbrig. Wir greifen einen Gegenstand an, und mit der Widerstandsempfindung verbindet sich das schwache Abbild eines Druckes, der lebhaft war, als wir unsere linke Hand mit der rechten ergritfen. Ein Freund ergreift unsere Hand und sofort lebt wieder auf die schwache Gestalt jener Anstrengungsempfindung, welche wir fr\u00fcher hatten. So associirt sich das lebhafte Aggregat mit der Idee einer Kraft, welche von der Kraft innerhalb des schwachen Aggregats getrennt, derselben aber verwandt ist. Gerade in diesem \u00bbgetrennt\u00ab vollzieht sich der Sprung. Denn jene Vorstellungen sind immer noch Erinnerungsbilder unserer Empfindungen, und wenn sie wieder hervorgerufen werden, so deuten sie auf einen Druck und eine Anstrengung in unserer Hand, nicht auf einen Druck oder eine Anstrengung im allgemeinen hin. Mit welchem Recht nun verlegt Spencer diese schwachen Zust\u00e4nde in einen \u00e4u\u00dferen Gegenstand? Ebenso wohl h\u00e4tte er schlie\u00dfen k\u00f6nnen, dass der Stock, den wir ergreifen, einen Schmerz empfindet, weil etwa bei einem kr\u00e4ftigen Ergreifen des Stockes die Vorstellung unseres fr\u00fcheren Schmerzes wieder auftaucht. Die Associationslehre ist allerdings ein wichtiges H\u00fclfsmittel f\u00fcr die psychologische Betrachtung; ihre Anwendung aber auf das Erkenntnissproblem ist eben darum fehlerhaft, weil sie uns am Ende auf die Frage zur\u00fcckf\u00fchrt, von welcher wir ausgegangen waren: wie kommt zu unserer Vorstellung eine objective Realit\u00e4t hinzu?","page":528},{"file":"p0529.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprineip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 529\nUebrigens aber ist es Spencer nicht entgangen, dass die \u00bbVerwandtschaft\u00ab zwischen der \u00e4u\u00dferen und der inneren Kraft eine gewisse Schwierigkeit f\u00fcr die Relativit\u00e4tslehre darbietet. \u00bbObwohl die Behauptung, dass die objective Kraft ihrer Natur nach sich von der Kraft, wie wir sie subjectiv erkennen, unterscheidet, w\u00f6rtlich verst\u00e4ndlich ist; und obwohl die Annahme, dass beide \u00e4hnlich sind, uns in unhaltbare Absurdit\u00e4ten verwickelt, so sind wir doch nicht im Stande, uns die Kraft im Nicht-Ich als verschieden von der Kraft im Ich vorzustellen\u00ab (II. 239). Trotz alledem sollen wir als den Wurzelbegriff der \u00e4u\u00dferen Existenz \u00bbdas Bewusstsein von Widerstand und von einer durch ihn gemessenen Kraft, welche der inneren Kraft verwandt ist\u00ab, ansehen?\nAbgesehen nun von den \u00bbAbsurdit\u00e4ten\u00ab ist noch ein Punkt hervorzuheben. Diese Analyse hatte Spencer vorgenommen, um die durch die Entwicklung vor allem Denken zu Stande gebrachte Gegen\u00fcberstellung von Subject und Object zu best\u00e4tigen. Hat er dabei das Ergebniss der Entwicklung wirklich dargestellt, so d\u00fcrfen wir schlie\u00dfen: einerseits, dass die H\u00e4ufung von Erfahrungen die urspr\u00fcngliche Einheit der Vorstellung und des Gegenstandes nicht zerst\u00f6rt, andererseits aber, dass die entgegengesetzte Annahme, wenn sie durch die Analyse gepr\u00fcft wird, uns zum Subjectivismus ver-urtheilt.\nB. Die Relativit\u00e4t der Erkenntniss.\nDer Realismus, zu dem uns die psychische Entwicklung, nach Spencer, gef\u00fchrt, ist nur eine unvollkommene Differenzirung des Subjects und des Objects. Beide Factoren sind noch einer weiteren Zerlegung f\u00e4hig, denn in beiden lassen sich Wesen und Erscheinung von einander trennen. In dieser Trennung nun besteht die \u00bbUmbildung\u00ab des Realismus und das wesentliche der Spencer-schen Lehre.\nDas Reale, auf welches die innere Wahrnehmung hindeutet, ist die geistige Substanz. Der Ausdruck \u00bbSubstance of Mind\u00ab ist einer doppelten Erkl\u00e4rung f\u00e4hig. Verstehen wir darunter \u00bbden Geist, insofern dieser in jedem scheinbar gleichf\u00f6rmigen und unzerlegbaren, jedoch durch Introspection zu trennenden Theil qualitativ differenzirt wird, so wissen wir etwas von der Substanz des","page":529},{"file":"p0530.txt","language":"de","ocr_de":"530\nEdward Pace.\nGeistes, so werden wir vielleicht noch mehr wissen k\u00f6nnen . . . Bedeutet dagegen diese Phrase das unterst\u00fctzende Etwas, aus dem jene unterscheidbaren Theile sich bilden \u2014 dessen Modificationen sie sind \u2014 dann wissen wir davon nichts \u00ab (I. 145).\nZu diesem Schluss werden wir offenbar gezwungen, wenn wir mit Hume den Geist ein \u00bbB\u00fcndel von Vorstellungen\u00ab nennen; denn daraus m\u00fcssten wir ja folgern, dass jeder \u00bbEindruck\u00ab und jede \u00bbIdee\u00ab, an und f\u00fcr sich, eine Substanz sei, wenn \u00fcberhaupt von einer geistigen Substanz die Rede w\u00e4re : von einem unterst\u00fctzenden Etwas h\u00e4tten wir somit keinen Begriff.\nSind wir jedoch gen\u00f6thigt, sagt Spencer, unter allen diesen Modis einen Tr\u00e4ger, der bei aller Ver\u00e4nderung beharrt und die einzelnen Zust\u00e4nde verbindet, zu denken, so ist es nicht minder klar, dass die Substanz des Geistes unserer Erkenntniss entgeht. Wenn jeder Zustand eine Modification der geistigen Substanz ist, so kann diese in keinem Zustand unver\u00e4ndert auftreten. Aber auch bei einem solchen Auftreten w\u00fcrden die Bedingungen der Erkenntniss dennoch fehlen. Denn ein und dasselbe Ding kann nicht gleichzeitig Subject und Object sein; daher m\u00fcsste das Geist-Object durch etwas, was nicht Geist ist, erkannt werden. Erkennen hei\u00dft ferner classificiren, und eine Classification ist nur da m\u00f6glich, wo ein Gegenstand auf irgend eine Weise mit anderen \u00fcbereinstimmt. Sagen wir nun mit dem Idealisten, dass keine Substanz au\u00dfer dem Geist existirt, so ist nat\u00fcrlich an einen Vergleich nicht zu denken. Nehmen wir aber mit dem Realisten an, dass alles Sein sich in Geist und Nichtgeist theilen l\u00e4sst, so w\u00fcrde es sich um einen Unterschied, nicht um eine Uebereinstimmung handeln. In jedem Fall daher k\u00f6nnte der Geist nicht classificirt und in Folge dessen nicht erkannt werden.\nZu bedauern ist, dass Spencer nicht so ausf\u00fchrlich die Existenz der geistigen Substanz als ihre Unerkennbarkeit nachzuweisen versucht. Es ist immer noch ein Ueberrest der Cartesianischen Auffassung, welcher die Philosophie des Geistes tr\u00fcbt ; nur hat sich die \u00bbres cogitans\u00ab bei Spencer mit dem Schleier der Unerkennbarkeit verh\u00fcllt. Zugleich liegt dieser Voraussetzung eine Ueber-tragung des materiellen Substanzbegriffes auf die inneren Vorg\u00e4nge zu Grunde. \u00bbWir k\u00f6nnen uns keinen Begriff einer Substanz des","page":530},{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 531\nGeistes bilden, welcher sich der durch das Wort ,Substanz' be-zeichneten Attribute schlechthin entkleidet: und alle derartigen Attribute sind von unseren Erfahrungen der materiellen Erscheinungen abstrahirt. Schlie\u00dft man von dem Begriff des Geistes alle jene Attribute aus, durch welche wir ein \u00e4u\u00dferes Etwas von einem \u00e4u\u00dferen Nichts unterscheiden, so wird der Begriff des Geistes vernichtet\u00ab (I. 626). Wenn nun trotzdem dieser Begriff bestehen soll, so muss der Geist Attribute besitzen; daher muss er nibht ganz unerkennbar sein.\nSpencer l\u00e4sst in der That die geistige Substanz, und zwar als Tr\u00e4ger der inneren Zust\u00e4nde, aus ihrem Dunkel hervortreten. Eine Idee ist die psychische Seite dessen, was auf der physischen Seite eine verwickelte, durch Nervenplexus fortgepflanzte Reihe von mo-lecularen Aenderungen ist. So lange sich die Bewegungswellen fortsetzen, dauert auch die Idee; h\u00f6ren jene auf, so verschwindet diese: das aber, was bleibt, ist die Plexusgruppe. Diese bildet die Potentialit\u00e4t der Idee und erm\u00f6glicht zuk\u00fcnftige, derselben gleichartige Ideen. Jede Plexusgruppe, welche stetiger Ver\u00e4nderungen, Verbindungen und Erregungen von au\u00dfen f\u00e4hig ist, bildet somit den dauernden inneren Nexus der Ideen, welcher dem dauernden \u00e4u\u00dferen Nexus der Erscheinungen entspricht (II. 485).\nWenn dies aber der Fall ist, warum sollen wir uns hinter den \u00bbIdeen\u00ab ein unerkennbares Etwas denken? Oder sind dann die Plexus auch so geheimnissvoll? Man wird schwerlich gestehen, dass diese die \u00bbPotentialit\u00e4t der Ideen\u00ab bilden; jedenfalls aber halten sie die actuellen Ideen nach Spencer\u2019s Ansicht zusammen und leisten somit alles, was er von dem unbekannten Tr\u00e4ger verlangt.\nEr versichert uns zwar, dass uns ein Umweg \u2014 \u00bba vicarious examination\u00ab \u2014 zu dieser Erkenntniss des inneren Nexus f\u00fchrt. Aber freilich ist es gleichg\u00fcltig, was die Erkennbarkeit betrifft, ob wir mit einem Blick oder durch l\u00e4ngere Forschung zum Ziel gelangen. Erst eine indirecte Untersuchung lehrt uns, dass wir eine Netzhaut besitzen; ist diese auch deshalb unerkennbar zu nennen? Nachdem Spencer behauptet, dass die von den Kr\u00e4ften des Organismus durchdrungenen physischen Structuren \u00bbjenes substantielle Ich bilden, welches hinter den ver\u00e4nderlichen Bewusstseinszust\u00e4nden, die wir den Geist nennen, steht und dieselben bestimmt\u00ab (I. 504),","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"532\nEdward Pace.\nso ist es nicht einzusehen, warum er fast in demselben Athem das substantielle Ich als \u00bbin seiner letzten Natur unerkennbar\u00ab bezeichnet. Hat er doch sowohl in den \u00bbPrinciples of Biology\u00ab als in den \u00bbPrinciples of Psychology\u00ab die Entstehung und die Entwicklung dieser Structuren beschrieben. Wenn er also von einer \u00bbletzten Natur\u00ab derselben spricht, so d\u00fcrfen wir vielleicht darunter verstehen, dass unter diesen Nerven Verbindungen, wie unter jeder materiellen Erscheinung, sich ein unerforschliches Etwas versteckt. Demgem\u00e4\u00df f\u00e4llt die Unerkennbarkeit des \u00bbsubstantiellen Ichs\u00ab mit der Unerkennbarkeit des materiellen, den \u00e4u\u00dferen Nexus bildenden Substrats zusammen.\nDie Relativit\u00e4tslehre als eine Beschr\u00e4nkung unserer Erkenntniss von der objectiven Welt folgert Spencer zun\u00e4chst aus einem biologischen Princip, welches er derart erweitert, dass es eine psychologische Bedeutung erh\u00e4lt. Alles Leben ist eine fortw\u00e4hrende Anpassung der inneren Relationen an die \u00e4u\u00dferen. Auf den niedrigsten Stufen der Entwicklung, wo n\u00e4mlich die Th\u00e4tigkeit des Organismus auf die in Ber\u00fchrung mit ihm stehenden und fast unver\u00e4ndert bleibenden Theile der Umgebung beschr\u00e4nkt wird, ist kaum eine Spur von psychischem Leben vorhanden. Sobald aber sich der Organismus einer Beziehung anpasst, ohne jedoch von beiden Elementen derselben ber\u00fchrt zu werden, erscheint eine psychologische Th\u00e4tigkeit. Je complexer nun die \u00e4u\u00dferen Relationen, je breiter ihre Ausdehnung in Zeit und Raum, um so h\u00f6her wird die Intelligenz, um so zahlreicher ihre Leistungen. Niemals aber wird der Punkt erreicht, wo sich das psychische Leben jener Definition des Lebens im allgemeinen entziehen kann.\nWenn nun die Intelligenz in einer solchen Anpassung besteht, so ist die Relativit\u00e4t der Erkenntniss offenbar. \u00bbDa das einfachste Erkennen die Feststellung einer Verbindung zwischen subjectiven Zust\u00e4nden ist, welche einer Verbindung zwischen objectiven Agen-tien entspricht, da jede complexere Erkenntniss in der Bildung einer noch complexeren Verbindung von solchen Zust\u00e4nden besteht, welche einem verwickelteren Zusammenhang der Agentien entspricht, so ist es klar, dass die Intelligenz durch diesen Process, mag er noch so weit gef\u00fchrt werden, weder die Zust\u00e4nde noch die Agentien erreichen kann .... Wenn Denken Beziehen","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 533\nist, so kann kein Gedanke jemals mehr ausdr\u00fccken als Beziehungen\u00ab1).\t'\nBeim ersten Blick k\u00f6nnte man vielleicht in diesem Argument eine Ueberschreitung der Kluft zwischen den physischen und psychischen Vorg\u00e4ngen sehen; und in der That ist Spencer dieser Einwand nicht erspart geblieben. \u00abAus der Thatsache, dass die organischen Vorg\u00e4nge den \u00e4u\u00dferen nicht dem Wesen, sondern nur den Beziehungen nach entsprechen\u00ab, habe er gefolgert, \u00bbdass sich auch in den Bewusstseinszust\u00e4nden nur die Beziehungen der ob-jectiven Zust\u00e4nde, nicht aber diese selbst ausdr\u00fccken\u00ab2).\nIndessen ist der Vorwurf nicht gerade treffend; denn es ist offenbar f\u00fcr den Werth des Arguments gleichg\u00fcltig, ob die physiologischen Vorg\u00e4nge den objectiven Zust\u00e4nden dem Wesen oder den Beziehungen nach entsprechen, vorausgesetzt man gestehe, dass alle Erkenntniss lediglich eine Bildung von Relationen sei. Wenn Spencer \u00fcberhaupt bei dieser Beweisf\u00fchrung einen Sprung gethan hat, so geschieht dies da, wo die Kluft eine viel breitere ist.\nVorl\u00e4ufig sei bemerkt, dass der Schluss etwas den Umfang der Pr\u00e4missen \u00fcbertrifft. H\u00f6chstens w\u00e4re Spencer berechtigt zu folgern, dass wir nur die Beziehungen der \u00e4u\u00dfern Agentien erkennen ; daran aber zu kn\u00fcpfen, dass auch die inneren Zust\u00e4nde unerkennbar sind, ist nichts als eine Dehnung des logischen Sinnes. Er selbst hat uns zuvor ziemlich viel \u00fcber die lebhaften und schwachen Aggregate, in welche sich die Zust\u00e4nde einreihen, belehrt. Die Behauptung, dass wir die subjectiven Zust\u00e4nde nicht erkennen, scheint wenigstens ebenso bedrohlich f\u00fcr die Psychologie zu sein, als die Lehre von der Willensfreiheit.\nNoch eine Fehlerquelle erblicken wir in jener Verwechslung von Denken und Erkennen, welche sich auch hier wiederholt. Dass Denken Beziehen ist, macht uns keine Schwierigkeit, dass aber alles Erkennen nur ein beziehendes Denken sei \u2014 diese stillschweigende Voraussetzung des Spencer\u2019schen Arguments m\u00fcssen wir verwerfen. Es ist nicht statthaft, gerade bei der Frage von\n1)\tFirst Principles, S. 85.\n2)\tSo Ernst Grosse a. a. O. S. 71, der \u00fcbrigens zugibt, dass Spencer\u2019s Definition des Lebens \u00bbsowohl das physische als auch das psychische Leben umfasst\u00ab.","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"534\nEdward Pace.\ndem Werth der Erkenntniss das Verh\u00e4ltniss umzukehren und das Denken, welches schon auf innere Zust\u00e4nde oder Relationen beschr\u00e4nkt ist, als ein Zeugniss gegen die Wirklichkeit hervorzuheben, welche jeder Wahrnehmung zukommt.\nSuchen wir nun die Wurzel, der dieser Schluss entspringt, blo\u00dfzulegen, so steckt sie in jener Verallgemeinerung, welche Spencer\u2019s Definition des Lebens auf das psychische Lehen in allen seinen Formen ausdehnt. Inwieweit jene Formel f\u00fcr das physische Lehen gelten darf \u2014 oh sie die Thatsachen klarer gemacht oder umgekehrt \u2014 darauf haben wir nicht einzugehen. Wollte man beil\u00e4ufig einwenden, dass auch diejenigen Handlungen, welche keine Anpassung zeigen und deshalb einen f\u00fcr den Organismus sch\u00e4dlichen Erfolg haben, dennoch an und f\u00fcr sich vitale Operationen sind, so k\u00f6nnte Spencer vielleicht erwidern, es handle sich um eine Definition des Lebens in abstracto.\nJedenfalls verr\u00e4th sich, sobald die Erkenntniss als eine Anpassung der inneren Beziehungen an die \u00e4u\u00dferen dargestellt wird, die Zweideutigkeit des Ausdrucks. Denn \u00bbanpassen\u00ab hei\u00dft etwa, den Zustand eines Dinges derart ver\u00e4ndern, dass es sowohl den ver\u00e4nderten Beziehungen zu andern Dingen als auch seinem urspr\u00fcnglichen Zwecke gerecht wird. Dahin also l\u00e4sst sich das Wesentliche der Anpassung feststellen, dass \u25a0 sie zwei getrennte Dinge voraussetzt. Eben deshalb aber ist \u00bbanpassen\u00ab mit Bezug auf die Erkenntniss nicht zul\u00e4ssig. Man denkt sich, hier seien die Vorstellungen, dort die Gegenst\u00e4nde; jetzt wandeln sich die letzteren zu einer neuen Beziehung um, infolgedessen m\u00fcssen sich die Vorstellungen, falls die Uebereinstimmung gerettet werden soll, auch umgestalten. Was ist geschehen? R\u00fcckt vielleicht der innere Zustand etwas n\u00e4her an das \u00bbWesen\u00ab des \u00e4u\u00dferen? Keineswegs; nur eine neue Beziehung ist zu Stande gekommen, und die Relativit\u00e4t der Erkenntniss liegt auf der Hand ; \u00bbkein Gedanke kann jemals mehr ausdr\u00fccken als Beziehungen\u00ab. Es ist allerdings wahr, dass wir bei unserer Begriflsbildung nach einer Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit hinstrehen; wenn aber die Wirklichkeit nicht in der Vorstellung gegeben ist, so ist unser Streben von vornherein zu einem Misslingen verurtheilt. Der Compass ist \u00fcber Bord geworfen; wo sollen wir hinsteuern?","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tspriiicip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 535\nDer Trost, den Spencer uns darbietet, indem er hinzuf\u00fcgt : \u00bb die Erkenntniss der Dinge an sich, w\u00e4re sie auch m\u00f6glich, k\u00f6nnte doch keinen Nutzen bringen\u00ab, ist um so mehr \u00fcberfl\u00fcssig, als wir \u00fcber \u00bbDinge an sich\u00ab nicht einmal zu trauern haben. Au\u00dferdem ist diese Einf\u00fchrung des \u00bbUtilitarismus\u00ab in die Erkenntnisslehre nur geeignet, die schon schwierigen Probleme der letzteren weiter zu verwirren. \u00bbWas wir Wahrheit nennen, welche uns zum gl\u00fccklichen Handeln und dadurch zum Erhalten des Lebens f\u00fchrt, ist lediglich die genaue Ueb\u00ebreinstimmung der subjectiven und der objectiven Relationen; w\u00e4hrend der Irrthum, der uns zum Versehen und zum Tod hinleitet, ein Mangel ist an jener genauen Ueber-einstimmung\u00ab1). Mag es so sein (obgleich der zunehmende Besitz von \u00bbWahrheit\u00ab nicht immer das Leben des Besitzers zu verl\u00e4ngern scheint), jedenfalls hat die Erkenntnisslehre nur die Wirklichkeit und ihre richtige Bearbeitung zu betrachten; die darauf folgende Handlung, wenn eine solche folgen soll, \u00fcberl\u00e4sst sie anderen Gebieten des Wissens.\nWenn Spencer andererseits dieses Princip der Uebereinstim-mung auf die psychische Entwicklung anwenden will, so ist die Behauptung, dass alle Leistungen der Intelligenz nur in einer Anpassung der inneren Beziehungen an die \u00e4u\u00dferen bestehen, ein unvollkommener Ausdruck der Thatsachen. Eine h\u00f6here Intelligenz wird zweifellos ihre Handlungen der Umgebung mehr und mehr anpassen; fernerhin aber vermag sie auch umgekehrt die \u00e4u\u00dferen Beziehungen so zu ver\u00e4ndern, dass diese den inneren Zust\u00e4nden entsprechen. Ist doch die Arbeit eines Raphael oder eines Edison vielmehr die Anpassung der \u00e4u\u00dferen Relationen an die inneren; und jeder Fortschritt des Culturlebens beruht schlie\u00dflich auf einer Beherrschung der physischen Vorg\u00e4nge durch die psychische Th\u00e4tig-keit. Freilich entspringen die Elemente der Kunst- und Erfindungsvorstellungen aus der Erfahrung; ihre Verwirklichung aber in Bildern und Worten enth\u00e4lt ein neues Element \u2014 das Gepr\u00e4ge des Denkens; und ihren h\u00f6chsten Werth verdanken sie dem Willen, durch den sie zur Erreichung von immer umfassenderen Zwecken gebraucht werden. Daher ist das Verh\u00e4ltniss zwischen Erkenntnisslehre und Psychologie mit R\u00fccksicht auf den Anpassungsbegriff\n1) First Principles, S. 85.\nWundt, Philos. Studien. VII.\n35","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536\nEdward Pace.\nv\u00f6llig umzukehren. W\u00e4hrend das Leben, insofern es von den psychischen Zust\u00e4nden abh\u00e4ngig ist, in einer Anpassung der Handlung an den Vorstellungsinhalt unmittelbar besteht, kann dagegen die Erkenntniss, indem sie auf die Wirklichkeit des Objectes hindeutet, nicht eine Anpassung der inneren Zust\u00e4nde an die \u00e4u\u00dferen genannt werden.\nW\u00e4re es aber wahr, dass alle Erkenntniss ein beziehendes Denken sei, so k\u00f6nnten wir dennoch die Objecte ihrem Wesen nach erkennen, vorausgesetzt dass die Zust\u00e4nde, welche in Beziehung gebracht werden, jenes Wesen darstellen. Indessen gestattet uns Spencer diese Annahme nicht. Wo er die Zerlegung des Geistes vornimmt, behauptet er, dass alle unserem Blick zug\u00e4nglichen Bestandtheile desselben nur \u00bbRelativit\u00e4t\u00ab zeigen und somit eine beschr\u00e4nkte Erkenntniss der \u00e4u\u00dferen Welt liefern. Die Elemente, aus denen sich der Geist zusammensetzt, sind \u00bbEmpfindungszust\u00e4nde\u00ab (feelings) und ihre Beziehungen. Wie aus der Definition erhellt, nimmt Spencer das Wort \u00bbfeelings\u00ab im weitesten Sinne; ein feeling \u00bbist irgend ein Bewusstseinstheil, dessen Umfang eine wahrnehmbare Individualit\u00e4t bewahrt, der von naheliegenden Theilen durch qualitative Unterschiede sich ahgrenzt, und der sich bei der Introspection anscheinend gleichf\u00f6rmig erweist\u00ab (I. 164). Von den Zust\u00e4nden unterscheiden sich zwar die Beziehungen durch ihre K\u00fcrze, ihre Aehnlichkeit mit einander und ihre Abh\u00e4ngigkeit von den Zust\u00e4nden, welche sie verbinden. In der That aber sind auch die Beziehungen eine Art von Zust\u00e4nden ; nur sind sie nicht wie diese weiter zerlegbar, sondern jede Beziehung ist einer von jenen subjectiven \u00bbSt\u00f6\u00dfen\u00ab, aus welchen sich die Zust\u00e4nde zusammensetzen.\nEs w\u00e4re vielleicht interessant, die verschiedenen Formen, in denen Spencer das \u00bbProtoplasma\u00ab des Bewusstseins darstellt, zu vergleichen; denn au\u00dfer diesen sto\u00dfartigen Einheiten bilden gleichwohl die Widerstandsempfindung, die einfachen Ver\u00e4nderungen und die unbestimmte Existenzvorstellung den \u00bbrohen Stoff\u00ab der Intelligenz. Eine Auswahl d\u00fcrfte somit jedem Anh\u00e4nger der \u00bbmind-stuff theory\u00ab wohl m\u00f6glich sein. Was uns aber unmittelbar besch\u00e4ftigen soll, ist das Verh\u00e4ltniss zwischen den Empfindungszust\u00e4nden und den \u00e4u\u00dferen Agentien, welche dieselben hervorbringen.","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 537\nWeder qualitativ noch quantitativ stimmen die Zust\u00e4nde mit ihren objectiven Ursachen \u00fcberein, obgleich sie in ihren mannigfaltigen Ver\u00e4nderungen auf eine unver\u00e4nderliche \u00e4u\u00dfere Existenz hinweisen. Derselbe Eindruck ruft verschiedenartige Empfindungen je nach der specifischen Structur des Subjects hervor. In demselben Individuum sind die Eigenschaften und die Quantit\u00e4t der Wirkung von seinem physiologischen Zustand abh\u00e4ngig. Nicht nur weichen die Zeugnisse der verschiedenen Sinnesorgane von einander ab, sondern dasselbe Organ, seinen wechselnden Bedingungen nach, gibt uns einen unbest\u00e4ndigen Bericht von der Au\u00dfenwelt. Nun entsteht die Frage : welchen von diesen suhjectiven Zust\u00e4nden sollen' wir dem \u00e4u\u00dferen Gegenstand gleichsetzen? Und da wir keinen Grund haben, irgend eine Empfindung als die wirkliche Vertreterin vorzuziehen, so bleibt f\u00fcr uns das Wesen der Dinge und die eigentliche Natur der Vorg\u00e4nge unerreichbar. \u00bbDie Eigenschaften des Stoffes, wie wir uns ihrer bewusst sind, sind lediglich subjective, durch unbekannte und unerkennbare objective A gen tien hervorgebrachte Ei Wirkungen\u00ab (I. 206).\nDenselben Bedingungen sind auch die \u00bbBeziehungen\u00ab unterworfen. Die Relationen von Coexistenz und Folge, welche in unsere Raum- und Zeitvorstellungen eingehen, sind von suhjectiven Zust\u00e4nden abh\u00e4ngig; und die fundamentale Relation von Unterschied, wie sie im Bewusstsein auftritt, ist nichts als eine Ver\u00e4nderung des Bewusstseins. \u00bbWie kann sie also ihrem Ursprung jenseits des Bewusstseins \u00e4hnlich oder irgendwie verwandt sein?\u00ab (I. 224.)\nEin Blick auf die Entstehungsweise der Zust\u00e4nde und der Beziehungen wird denselben Schluss verst\u00e4rken. Zwischen der Nervenerregung und dem \u00e4u\u00dferen Reiz ist keine Uebereinstimmung vorhanden ; und seihst die Unterschiede zwischen mehreren dem Centrum zugeleiteten Erregungen gleichen den objectiven Unterschieden nicht. Da nun der Zustand entweder von der Beschaffenheit des Centrums oder von der Reizleitung oder von beiden Momenten abh\u00e4ngt, so kann er unm\u00f6glich dieselbe Qualit\u00e4t oder Quantit\u00e4t wie die Reizursache besitzen. Ebenso unbegreiflich ist die Annahme, dass der Zusammenhang der \u00e4u\u00dferen Agentien nach seiner Umwandlung auf physiologischen Wegen doch seine urspr\u00fcngliche Form bis ins Bewusstsein beibehalte.\n35*","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"538\nEdward Pace.\nEmpfindungen also und ihre Beziehungen sind lediglich Symbole einer Welt, deren Existenz wir voraussetzen m\u00fcssen, deren Natur aber sich aller Strebung unserer Erkenntniss entzieht.\nAuf die Originalit\u00e4t dieser Argumente, \u00bbmit denen jeder Student der Psychologie vertraut ist\u00ab, erhebt Spencer keinen Anspruch. Nichtsdestoweniger gewinnt der uralte Beweis oder Einwand eine Bedeutung f\u00fcr das Spencer\u2019sche System dadurch, dass besonders in diesem Punkt sich der umgebildete Realismus und die Lehre von der geistigen Entwicklung kreuzen. Die Einschaltung der letzteren in den Rahmen der allgemeinen Evolutionstheorie geschah schon in jenem Hauptst\u00fccke der \u00bbFirst Principles\u00ab, welches sich der \u00bbUmwandlung und Aequivalenz der Kr\u00e4fte\u00ab gewidmet. Dort (S. 212) erfahren wir u. a. : \u00bbDass zwischen den physischen Kr\u00e4ften und den Empfindungen wie zwischen den physischen Kr\u00e4ften selber eine Correlation stattfindet, dar\u00fcber muss jede Unentschiedenheit verschwinden, sobald man sich erinnert, dass die eine Correlation wie die andere nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ist\u00ab. Demnach ist es etwas \u00fcberraschend, wenn die Relativit\u00e4tslehre verlangt, dass \u00bbzwischen der \u00e4u\u00dferen Kraft und dem inneren Zustand eine solche Relation wie diejenige, welche der Physiker Aequivalenz nennt, nicht existiren\u00ab soll \u2014 dass \u00bbdie beiden auch kein constantes Yerh\u00e4ltniss bewahren\u00ab (I. 194).\nSuchte man m\u00f6glicher Weise eine Vers\u00f6hnung darin, dass hier f\u00fcr das Ganze eine Aequivalenz negirt, welche dort f\u00fcr die einzelnen Vorg\u00e4nge behauptet wird, so misslingt der Versuch darum, weil selbst die wechselnden Bedingungen ebenso nothwendig in dem einen wie in dem andern Fall ber\u00fccksichtigt werden m\u00fcssen. Nur durch eine Ver\u00e4nderung der Bedingungen begreifen wir, dass f\u00fcr die sinnliche Grundlage des psychischen Lebens sich das Princip der Aequivalenz bew\u00e4hrt. Wejm aber eine \u00e4hnliche Begriffsbildung f\u00fcr die Sch\u00e4tzung der Wahrnehmung herbeigezogen wird, so muss man sich auf Voraussetzungen st\u00fctzen, von denen keine in der Wahrnehmung gegeben ist.\nHier in der That setzt Spencer voraus: erstens, dass es ein Object au\u00dfer uns gibt, zweitens, dass dasselbe unver\u00e4ndert bleibt, drittens, dass der \u00e4u\u00dfere Vorgang sich zum inneren Zustand wie die Ursache zu ihrer Wirkung verh\u00e4lt. Nun sind alle diese","page":538},{"file":"p0539.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 539\nErgebnisse des Denkens keineswegs auf unsere Erkenntniss des Objectes zur\u00fcckzuf\u00fchren. Da uns in der Vorstellung die ganze Realit\u00e4t des Objectes ohne die geringste Ahnung von einem unerkennbaren Substrat gegeben ist, so hat die sp\u00e4tere Reflexion nicht etwa einen Theil des Inhalts als unbekannt in die Au\u00dfenwelt zu verlegen, sondern lediglich von dem stets als wirklich festgehaltenen Object gewisse Elemente als subjectiv auszuscheiden. Auf diese Weise erf\u00fcllt das Denken gerade die Aufgabe, welche ihm Spencer selbst angewiesen hat. \u00bbDas Denken, indem es sich mit Aussagen des Bewusstseins besch\u00e4ftigt, welche wir als Wahrnehmungen der \u00e4u\u00dferen Welt bezeichnen, hat viele von diesen durch die Ausschlie\u00dfung der rohen mit ihnen gew\u00f6hnlich verbundenen Interpretationen zu berichtigen; dabei aber muss es sich derart den Wahrnehmungen unterordnen, dass die wesentlichen Zeugnisse der letzteren au\u00dfer Frage bleiben\u00ab (II. 243).\nKein Zeugniss der Wahrnehmung aber sagt uns, dass hinter allen Ver\u00e4nderungen eine und dieselbe Wirkung oder Beziehung beharrt. Um so weniger gerathen die Wahrnehmungen als solche in AViderspruch mit einander, \u00bbsondern jene Widerspr\u00fcche entstehen erst in dem Augenblick, wo wir die einzelnen Gegenst\u00e4nde unserer Erfahrung zu einander in Wechselbeziehung setzen, um ihre getrennte Auffassung in einer zusammenh\u00e4ngenden Erfahrung wiederum aufzuheben. Hiermit beginnt dann zugleich die Umgestaltung des urspr\u00fcnglichen ver\u00e4nderlichen Dingbegriffs zu dem Begriff eines beharrenden Gegenstandes\u00ab1).\nUm uns eines Spencer\u2019schen Beispiels zu bedienen, ist zwischen dem Ton der Stimmgabel und der Sto\u00dfempfindung, welche ihre Schwingungen in der Hand hervorbringen , kein Streit vorhanden. Einen Blinden w\u00fcrde man vielleicht nicht \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dass der Geh\u00f6r- und der Tasteindruck in diesem Fall von demselben Gegenstand herr\u00fchren, obwohl seine Empfindung ebenso vollkommen ist, wie die Empfindung desjenigen, der die Stimmgabel sieht. Wenn wir dagegen, wie es h\u00e4ufig geschieht, vermittelst der Gesichtsvorstellung die Sinneswahrnehmungen auf einen einheitlichen Gegenstand beziehen, so ist die Einheit selbst zwar zu begreifen, nicht aber wahrzunehmen.\n1) Wundt, System der Philosophie, S. 172.","page":539},{"file":"p0540.txt","language":"de","ocr_de":"540\nEdward Pace.\nDass unter den so entstandenen Beziehungen sich diejenige von Causalit\u00e4t findet, beweist nicht im geringsten, dass einerseits die Wirkung uns bekannt, andererseits die Ursache ihrem Wesen nach unerkennbar sei ; denn beiden kommt die Wirklichkeit und somit die Erkennbarkeit zu, welche sie urspr\u00fcnglich im Vorstellungsobject besa\u00dfen. Ist die Zerlegung vollzogen, so begreifen wir, dass die \u00e4u\u00dferen Gegenst\u00e4nde auf uns wirken ; diese Wirkung aber zwischen Vorstellung und Object, wie sie anf\u00e4nglich erkannt werden, einzuschieben, haben wir keinen Grund. Da fernerhin diese Causal-beziehung erst durch das Denken festgestellt wird, so sind wir keineswegs veranlasst, das eine von diesen Elementen als undenkbar zu betrachten.\nSomit kehren wir auf den Ausgangspunkt des Spencer\u2019sehen Argumentes zur\u00fcck. \u00bbEntweder\u00ab, sagt er, \u00bbgibt es etwas au\u00dferhalb des Bewusstseins oder nicht\u00ab. Hier bemerken wir sofort, dass die letztere Annahme \u2014 es sei keine Existenz au\u00dferhalb des Bewusstseins \u2014 durchaus nicht an den Schluss gebunden ist: also ist das Bewusstsein ewig, unendlich u. s. w. Denn die Annahme w\u00e4re an und f\u00fcr sich nur eine Beschr\u00e4nkung ; dazu k\u00e4me eine imagin\u00e4re Ausdehnung erst durch die stillschweigende Vermengung dessen, was der Annahme zufolge ausgeschlossen war oder \u00fcberhaupt nicht existirt. Man beschr\u00e4nkt das Bewusstsein auf sich selbst und erweitert dann seinen Umfang, bis es alle Eigenschaften von Zeit und Baum wiederum in sich schlie\u00dft.\nAbgesehen aber vofi dieser unlogischen Erweiterung, liegt nun der Hauptfehler in der Anwendung der positiven Alternative auf die Erkenntniss. Dass wir die \u00e4u\u00dfere Existenz im Begriff fest-halten, dar\u00fcber ist kein Zweifel. Indem aber dieser Begriff als eine Vorbedingung der Erkenntniss auftritt, stellen sich Subject und Object einander gegen\u00fcber, ohne jede Hoffnung, das Object \u00bban sich\u00ab erkennbar zu machen. Demnach verzichtet das Subject auf eine vollkommene Erkenntniss seines Gegenstandes, um sich mit \u00bbErscheinungen\u00ab m\u00f6glichst zu begn\u00fcgen.\nAllein, wenn alle Eigenschaften des Stoffes lediglich subjective \u00bbaffections\u00ab sind, so d\u00fcrfte man einer geistigen Entwicklung oder einer Evolution \u00fcberhaupt nicht sicher sein. Differenzirung und Integrirung sind freilich Vorg\u00e4nge, die von Ver\u00e4nderungen der","page":540},{"file":"p0541.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 541\nEigenschaften des Stoffes und von den wechselnden Beziehungen seiner Theile abh\u00e4ngig sind. Da nun sowohl die Beziehungen wie die Eigenschaften keine objective Wirklichkeit besitzen, so m\u00fcssen wir behaupten, dass Differenzirung und Integrirung blo\u00df subjective Vorg\u00e4nge sind. Diese aber auf \u00e4u\u00dfere Gegenst\u00e4nde zu beziehen, ist eben darum unm\u00f6glich, weil die letzteren im Spencer\u2019sehen Sinne unerkennbar sind; wir haben also kein Recht zu sagen, dass das Reale differenzirt oder integrirt wird \u2014 wir wissen nichts davon. Die Evolutionstheorie, wie jede Weltanschauung, ist eine Begriffsbildung und setzt deshalb nicht ein Unerkennbares, sondern eine die ganze Realit\u00e4t des Objectes umfassende Erkenntniss voraus. Ist diese Realit\u00e4t nicht in der Vorstellung gegeben, so bleibt jene Theorie eine blo\u00dfe Abstraction oder h\u00f6chstens eine Schilderung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge. H\u00e4tte der Relativist Recht, so w\u00e4re die Evolutionslehre ein Traum.\nEs l\u00e4sst sich daher am Ende fragen, ob die Bezeichnung \u00bbRelativit\u00e4t\u00ab f\u00fcr unsere Erkenntniss beizubehalten sei. Man ist n\u00e4mlich geneigt, sich einerseits vor der \u00bb absoluten Erkenntniss \u00ab, andererseits vor dem Subjectivismus zu scheuen und einen mittleren Weg einzuschlagen, indem man Subject und Object als zwei Factoren einer \u00bbRelation\u00ab ansieht. Hat diese mildere Form des Relativismus den Vortheil, dass sie die Fiction eines Objects au\u00dfer aller Beziehung zu einem Subject verwirft, so ist sie trotzdem einer Interpretation f\u00e4hig, welche gerade diesen Vortheil preiszugeben vermag. Wer alle Erkenntniss als eine Relation zwischen Subject und Object betrachtet, der wird bald die Ueberzeugung gewinnen, die subjec-tiven Elemente seien ja von den objectiven urspr\u00fcnglich getrennt, durch die Erkenntniss aber zu einer Beziehung vereinigt. Angemessener scheint .es daher, diese Bezeichnung innerhalb der Sph\u00e4re des Denkens, wo sie zuerst entstand, zu belassen. Die Relationen, welche das Denken bildet, verbinden nur die an die Stelle der Wahrnehmungsvorstellungen getretenen Begriffe ; sobald aber der objective Werth der Erkenntniss in Betracht gezogen wird, ist der Ausdruck \u00bbrelativ\u00ab zu vermeiden.\nUebrigens spricht jede Verallgemeinerung, welche den Werth der Erkenntniss herabsetzt, ihre eigene Verurtheilung aus. So l\u00e4sst sich die Formel \u00bbAlles Erkennen ist relativ\u00ab auf gleiche Linie","page":541},{"file":"p0542.txt","language":"de","ocr_de":"542\nEdward Pace.\nmit dem Zweifel des extremen Skeptikers stellen und einer Selbstwiderlegung unterwerfen. Spencer ist freilich kein Skeptiker, und er will nicht in diesem Satz eine absolute Wahrheit liefern. Das Princip ist in seiner relativen Bedeutung ein Eigenthum des umgebildeten Realismus, von dem es zum Zweck der Trennung verwendet wird. Hat es die Scheidung vollendet und die urspr\u00fcngliche Realit\u00e4t in Erscheinungen aufgel\u00f6st, so bleiben nicht minder Subject und Object als zwei Theile des Realen. Hiermit tritt uns die Frage entgegen, ob denn ein solcher Dualismus bestehen soll, oder ob in einer noch unergr\u00fcndlichen Tiefe sich der Zwiespalt aufhebt.\nIII. Die Wiederherstellung der Einheit.\nW\u00e4ren Vorstellung und Gegenstand von Anfang an getrennt, so h\u00e4tte der Streit zwischen Dualismus und Monismus eine geringere Bedeutung f\u00fcr die ontologische Weltanschauung. Denn allen Strebungen des Denkens, irgend eine Einheit herzustellen, w\u00fcrde man doch erwidern k\u00f6nnen, die so gewonnene Vereinigung sei am Ende lediglich ein Spiel der Phantasie, dem gegen\u00fcber stets die urspr\u00fcngliche Zwietracht beharrt.\nErst dem Gedanken, dass wir die fr\u00fcher gegebene Einheit aufgehoben haben, entspringt die Hoffnung, jene \u00bbSehnsucht nach einem einmal dagewesenen goldenen Zeitalter\u00ab in Begriffen wenigstens zu befriedigen. Ist dagegen die Scheidung des Subjects und des Objects eine von unserem Denken unabh\u00e4ngige, durch den Zwang der Entwicklung vollzogene Thatsache, so ist offenbar jede Bem\u00fchung, die Kluft zu \u00fcberbr\u00fccken, nur ein Kampf gegen die Natur.\nHieran schlie\u00dft sich nun die Erkenntniss, dass die innere Th\u00e4tigkeit, welcher die Vorstellung geh\u00f6ren soll, an einen Theil des objectiven \u00bblebhaften Aggregats, den wir unsern K\u00f6rper nennen\u00ab, gebunden ist, sich aber durch keine physischen Processe erkl\u00e4ren l\u00e4sst. \u00bbSo dr\u00fcckt uns immer noch\u00ab, sagt Schelling, \u00bbdieselbe Unbegreiflichkeit, wie zwischen Materie und Geist Zusammenhang m\u00f6glich sei\u00ab. Soll trotzdem der Mensch nicht als das \u00bbsichtbare herumwandernde Problem aller Philosophie \u00ab zur\u00fcckgelassen und soll","page":542},{"file":"p0543.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip' in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 543\ndie innere Welt auf irgend eine Weise mit der \u00e4u\u00dferen vereinigt werden, so bietet sich der willkommene Begriff des \u00bbAbsoluten\u00ab dar.\nAllein es f\u00fchren mehrere Wege auf das Absolute hin. Hat man die urspr\u00fcngliche Einheit zuerst anerkannt, so kehrt man im Kreisl\u00e4ufe der Kritik nach derselben zur\u00fcck und erhebt sie zum Hang des Unbedingten. Wurde aber eine solche Einheit von vornherein dem logischen Denken unm\u00f6glich, so bleibt nichts \u00fcbrig, als eine \u00bbletzte Realit\u00e4t\u00ab ins Leben zu rufen, in 4em nunmehr alle Gegens\u00e4tze erl\u00f6schen.\nDen ersteren Weg ging Schell in g. Ihm war das Absolute \u00bbein ewiger Erkenntnissact\u00ab, \u00bbder nicht Subject, nicht Object, sondern nur das identische Wiesen beider ist\u00ab. Reine Identit\u00e4t ist es \u2014 \u00bbnur Absolutheit und nichts anderes, und Absolutheit ist durch sich nur sich selbst gleich ; aber es geh\u00f6rt eben auch zur Idee derselben, dass diese reine, von Subjectivit\u00e4t und Objectivit\u00e4t unabh\u00e4ngige Identit\u00e4t als diese, und ohne dass sie in dem einen oder in dem anderen auf h\u00f6re, es zu sein, sich selbst Stoff und Form, Subject und Object sei\u00ab1). Was nun die Behauptung einer Identit\u00e4t anbelangt, so stimmt darin Spencer mit Schelling \u00fcberein: \u00bbes ist eine und dieselbe letzte Realit\u00e4t, welche sich uns subjectiv und objectiv offenbart\u00ab (I. 627). Zugleich scheidet sich das Absolute von beiden Formen der Offenbarung; denn \u00bbdie bedingte Form, in welcher sich das Sein im Subject darstellt, kann ebenso wenig wie die bedingte Form, in der sich das Sein im Object darstellt, das Unbedingte sein, welches beiden gemeinsam ist\u00ab (I. 162).\nIn zwei Punkten aber gehen diese Ansichten aus einander. Erstens ist Schelling das Absolute nicht nur erkennbar, sondern es ist der Erkenntnissact selbst. Jenes \u00bbabsolute Wissen\u00ab, welches die Relativit\u00e4t der Erkenntniss nach Spencer\u2019s Meinung beseitigen soll, ist f\u00fcr Schelling \u00bbnur ein solches, worin das Subjective und Objective nicht als entgegengesetzte vereinigt, sondern worin das ganze Subjective das ganze Objective und umgekehrt ist\u00ab2). Spencer dagegen sieht im Absoluten etwas nicht nur unbekanntes, sondern auch unerkennbares. \u00bbDer Gegensatz von Subject und Object,\n1)\tWerke, I. Abth. 2. Bd. S. 62\u201463.\n2)\ta. a. O. S. 61.","page":543},{"file":"p0544.txt","language":"de","ocr_de":"544\nEdward Pace.\nder sich, so lange das Bewusstsein dauert, niemals \u00fcberwinden l\u00e4sst, macht alle Erkenntniss jener letztep. Realit\u00e4t, in welcher Subject und Object vereint sind, unm\u00f6glich\u00ab (I. 627).\nIst Schelling gerade durch diese \u00bbIndifferenz\u00ab des Subjectiven und Objectiven verhindert, ein Weiteres au\u00dferhalb der Erkenntniss zu suchen, so glaubt sich Spencer durch die Unm\u00f6glichkeit, den Stoff anders als in Ausdr\u00fccken des Geistes, den Geist anders als in Ausdr\u00fccken des Stoffes zu denken, auf eine \u00bbultimate reality\u00ab hingewiesen, die sowohl dem X wie dem Y zu Grunde liegen soll. So lautet in der That seine Entscheidung da, wo er die Anklage der Spiritualisten und die Yertheidigung der Materialisten zum Verh\u00f6r kommen l\u00e4sst. \u00bbDen Werth von X bestimmen wir in Elementen von Y; den Werth von Y bestimmen wir in Elementen von X; und so k\u00f6nnen wir in Ewigkeit fortfahren, ohne der L\u00f6sung n\u00e4her zu treten\u00ab (I. 627). Somit besteht Spencer\u2019s eigene \u00bbL\u00f6sung\u00ab darin, dass er X und Y als \u00bbFunctionen\u00ab von Z \u2014 dem Unerkennbaren \u2014 betrachtet.\nAn diesen ersten Unterschied zwischen dem absoluten Idealismus und dem umgebildeten Realismus schlie\u00dft sich nun ein zweiter, und zwar von methodischem Charakter, an. Nach Schelling ist \u00bb der erste Schritt zur Philosophie und die Bedingung, ohne welche man auch nicht einmal in sie hineinkommen kann, die Einsicht: dass das absolut-ideale auch das absolut-Reale sei und dass au\u00dfer jenem \u00fcberhaupt nur sinnliche und bedingte, aber keine absolute und unbedingte Realit\u00e4t sei\u00ab. Die Identit\u00e4t des Subjectiven und Objectiven ist also f\u00fcr ihn der Ausgangspunkt. Demgem\u00e4\u00df \u00bbkann man diese Einsicht selbst nur indirect, nicht direct beweisen, da sie vielmehr Grund und Princip aller Demonstration ist\u00ab; und wenn er denjenigen, welchem das absolut-ideale noch nicht als absolut-Reales aufgegangen ist, zu diesem Punkt, der Einsicht hinzutreiben versucht, so st\u00fctzt er sich auf die Annahme, die Philosophie sei eine absolute Wissenschaft1).\nAnders nun Spencer. Ihm ist die Philosophie keineswegs eine absolute Wissenschaft, sondern sie ist \u00bbErkenntniss von der h\u00f6chsten Allgemeinheit\u00ab; sie bleibt, wie jede Erkenntniss, auf das\n1) a. a. O. S. 58.","page":544},{"file":"p0545.txt","language":"de","ocr_de":"Das Eelativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 545\nRelative beschr\u00e4nkt. Was sie voraussetzt ist: \u00bbeine unerkennbare Macht; die Existenz erkennbarer Uebereinstimmungen und Unterschiede unter den Offenbarungen jener Macht; und eine resultirende Spaltung der Offenbarungen in diejenigen von Subject und diejenigen von Object\u00ab1).\nWie die psychische Entwicklung diese Trennung zu Stande bringt, haben wir schon erw\u00e4hnt; es handelt sich um die Wiederherstellung der zerst\u00f6rten Einheit. Auch hier hat der Entwicklungsbegriff die Hauptrolle zu spielen; nicht zwar, als ob diese Vereinigung aus dem Entwicklungsprocesse hervorginge, sondern weil die Thatsache der Evolution auf eine letzte Realit\u00e4t hindeutet, die dem Subject und dem Object gemeinsam ist. Der wahre Schluss, zu welchem wir gef\u00fchrt werden, ist, sagt Spencer, \u00bbder, dass sich eine letzte Realit\u00e4t uns subjectiv und objectiv offenbart. Denn w\u00e4hrend die Natur desjenigen, welches sich unter beiden Formen offenbart, unerforschlich bleibt, ist doch die Reihenfolge seiner Offenbarungen durch alle geistigen Erscheinungen dieselbe wie die Reihenfolge seiner Offenbarungen durch alle materiellen Erscheinungen. Sowohl die innere wie die \u00e4u\u00dfere Welt ist\u2019 vom Evolutionsgesetze beherrscht\u00ab (I. 627). Somit weicht Spencer auch darin von Schelling ab, dass er nicht etwa einen indirecten, sondern einen fast den ganzen Inhalt seiner Psychologie umfassenden directen Beweis f\u00fcr jene Identit\u00e4t liefert, welche Schelling als eine zu aller Demonstration nothwendige Voraussetzung gilt.\nWeder Spiritualist noch Materialist will Spencer sein. Die Realit\u00e4t hebt er aus dem Streit dieser entgegengesetzten Meinungen in den Nebel der Unerkennbarkeit empor. Ob er durch diese Entscheidung die eine oder die andere Partei vollkommen befriedigt, darf hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat die Psychologie, welche sich immer mehr von metaphysischen Voraussetzungen zu befreien strebt, ebenso wenig wie die Erkenntnisslehre, so lange sie sich ihrer eigenen Entwicklung bewusst bleibt, irgend einen Grund zum Unerkennbaren ihre Zuflucht zu nehmen.\nDen philosophischen Werth der Spencer\u2019sehen L\u00f6sung werden wir am sichersten bestimmen, indem wir zun\u00e4chst die behauptete Realit\u00e4t und sodann die Begr\u00fcndung der Identit\u00e4t in Betracht ziehen.\n1) First Principles, S. 157.","page":545},{"file":"p0546.txt","language":"de","ocr_de":"546\nEdward Pace.\na. Die letzte Realit\u00e4t.\nDas Streben, welches, seitdem Spinoza \u00bbGeist und Materie mit vollem Bewusstsein als Eines, Gedanke und Ausdehnung nur als Modificationen desselben Princips ansah\u00ab1), unsere Weltanschauung in die Richtung des Monismus lenkt, ist nur dann als philosophisch gesund zu betrachten, wenn es dem Einheitsbediirfnisse wirklich entspricht. Da wir die Welt lediglich in Begriffen zu erkl\u00e4ren verm\u00f6gen, so muss das, was wir als Einheitsgrund annehmen, begreiflich sein. Dass wir nicht Alles wissen, darf freilich von niemand bestritten werden, aber das h\u00f6chste L\u00f6sungsprincip aller Probleme muss dem Wissen zug\u00e4nglich sein. Das Unerkennbare kann unsere Erkenntniss begrenzen: es kann sie nicht erg\u00e4nzen. Daher war jenen Systemen, welche den letzten Weltgrund als Substanz, als Geist oder als Willen fr\u00fcher ansahen, trotz ihrer sonstigen Irrth\u00fcmer das Verdienst nicht abzusprechen, dass sie wenigstens Licht ins Dunkel ausstrahlen lie\u00dfen. Bei Spencer dagegen flie\u00dfen die Erkenntnissstrahlen ins Dunkel zusammen, \u2014 eine Interferenz, woraus das Unerkennbare entsteht. Gerade mit diesem negativen Wort verzichtet er darauf, die Aufgabe der monistischen Philosophie zu erf\u00fcllen.\nIndessen schreibt Spencer seinem Unerkennbaren eine objective Realit\u00e4t zu; aber fragen wir uns, mit welchem Recht? Der klarsten Vorstellung will er nur einen relativen Werth beilegen; dem Absoluten dagegen, von dem wir \u00bbein unbestimmtes Bewusstsein\u00ab haben, \u00bbdas nicht formulirt werden kann\u00ab, soll die h\u00f6chste Wirklichkeit zukommen.\nWorin diese \u00bbPormulirung\u00ab des Bewusstseins bestehe, hat Spencer nicht erkl\u00e4rt; dieser Unterschied zwischen dem formulir-baren Theile der inneren Wahrnehmung und dem nicht formulir-baren ist von ihm cingef\u00fchrt worden, um den positiven Charakter unseres Bewusstseins vom Noumenon zu retten. Das Schicksal des Absoluten in den H\u00e4nden seiner Vertheidiger ist freilich ein interessantes Kapitel der neueren Philosophie. Nachdem man mit gro\u00dfer M\u00fche die Existenz des Unbedingten nachgewiesen hat, kehrt man\n1) Schel ling, a. a. O. S. 20.","page":546},{"file":"p0547.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 547\num und strebt mit gleicher Sorge seine Erkennbarkeit wom\u00f6glich zu vermindern. So hatten Hamilton und Mansel die Ueber-zeugung gewonnen, dass das Absolute nur durch eine Negation der Begreifbarkeit zu begreifen sei. Und diese \u00bbAntwort der reinen Logik\u00ab muss auch Spencer f\u00fcr wahr halten. Allein er findet einen Ausweg auf der psychologischen Seite. \u00bbAu\u00dfer vollst\u00e4ndigen Gedanken und au\u00dfer denjenigen, die vervollst\u00e4ndigt werden k\u00f6nnen, gibt es Gedanken, deren Vervollst\u00e4ndigung unm\u00f6glich ist und die in dem Sinne real sind, als sie normale Vernunftzust\u00e4nde sind\u00ab1).\nWir wollen nicht auf eine Diagnose der Vernunft eingehen, um den Unterschied zwischen normalen und anormalen \u00abaffections\u00ab zu bestimmen. Hier ist nur zu bemerken, dass, w\u00e4re ein solches \u00bbNormalsein\u00ab als B\u00fcrgschaft f\u00fcr die objective Wirklichkeit anzusehen, so m\u00fcsste ja s\u00e4mmtlichen normalen Zust\u00e4nden dieselbe Realit\u00e4t entsprechen. Mit noch besserem Recht w\u00fcrde der \u00bbrohe\u00ab Realismus behaupten, die Empfindungen von Blau und Roth, von Kalt und Warm, also von objectiven Eigenschaften, seien normale Zust\u00e4nde.\nAu\u00dferdem ist es nicht gerade klar, an welchem Ende der Gedankenentwicklung dieses unbestimmte Bewusstsein festzustellen sei. \u00bbDa unser Bewusstsein des Unbedingten buchst\u00e4blich das unbedingte Bewusstsein oder der rohe Gedankenstoff ist, dem wir durch das Denken bestimmte Formen geben, so folgt daraus, dass ein stets vorhandenes Bewusstsein (sense) der realen Existenz die Grundlage unserer Intelligenz ist\u00ab. Somit d\u00fcrfte man glauben, dass dieses Bewusstsein allen einzelnen Zust\u00e4nden vorausgehe. Dies ist aber nicht der Fall; denn jener unbestimmte Gedanke entsteht durch die Verbindung einer Reihe von Gedanken. \u00bbIndem wir eine Reihe von Bewusstseinszust\u00e4nden verschmelzen, und in den einzelnen, sobald sie zu Stande kommen, die Begrenzungen und Bedingungen wegschaffen, entsteht das Bewusstsein von einem unbedingten Etwas\u00ab. Daher ist \u00bbdieses Bewusstsein nicht das Ab-stractum von irgend einer Gruppe von Gedanken, Begriffen oder Vorstellungen, sondern es ist das AbstTactum von allen Gedanken, Begriffen oder Vorstellungen. Das, was allen gemeinsam ist, was\n1) First Principles, S. 88.","page":547},{"file":"p0548.txt","language":"de","ocr_de":"548\nEdward Pace.\nnicht wegger\u00e4umt werden kann, nennen wir Existenz\u00ab1}. So musste doch am Ende die Logik zu H\u00fclfe kommen; oder ist vielleicht die Abstraction kein logischer Vorgang? Dass ein solcher Gedanke nicht \u00bbvervollst\u00e4ndigt\u00ab werden kann, versteht sich von selbst; denn er ist schon durch alle Gedanken und Zust\u00e4nde zur Vollst\u00e4ndigkeit gebracht worden.\nEs ist aber kaum ersichtlich, warum dieses \u00bbAbstractum\u00ab so \u00bbunbestimmt\u00ab sein soll. Wenn alle unsere Symbole sich in die Muttersprache des Denkens \u2014 die Widerstandsempfindung \u2014 \u00fcbersetzen lassen, und wenn alle unsere Ideen lediglich schwache Abbilder der fr\u00fcheren Empfindungen sind, so m\u00fcsste ja die Abstraction davon endlich in den Widerstandsbegriff aufgehen. Somit w\u00e4re das Abstractum keineswegs ein absolutes, sondern nur das correlative unseres Muskelspannungsbewusstseins. Wollte man darauf antworten, es handele sich hier um den Begriff der Existenz im allgemeinen, so ist nicht zu vergessen, dass nach Spencer \u00bbder Unterschied, den wir zwischen der besonderen und der allgemeinen Existenz f\u00fchlen, der Unterschied ist zwischen dem, was in uns ver\u00e4nderlich, und dem, was in uns unver\u00e4nderlich ist\u00ab. Es l\u00e4sst sich aber fragen, wie ein derartiger Unterschied wahrgenommen werden kann. Denn das \u00bbunver\u00e4nderliche in uns\u00ab ist, der Hypothese zufolge, die unerkennbare geistige Substanz, das ver\u00e4nderliche aber die inneren Zust\u00e4nde. Wie ist nun eine Vergleichung m\u00f6glich, da wo der eine Factor niemals im Bewusstsein auftritt?\nMag schlie\u00dflich das Abstractum bestimmt oder unbestimmt sein, dennoch bleibt es immer eine Begriffssch\u00f6pfung, und das so entstandene Absolute, statt eine letzte Realit\u00e4t zu sein, verr\u00e4th sich als eine blo\u00dfe Hypostasirung der Abstraction.\nSollten jedoch auf diese Weise Subject und Object vereint werden, so w\u00e4re noch die Schwierigkeit zu \u00fcberwinden, welche die behauptete Causalbeziehung darbietet. Denn das Unerkennbare au\u00dfer uns wird als eine Ursache gedacht, welche auf das innere Unerkennbare einwirkt und gewisse Erscheinungen hervorbringt. Daraus d\u00fcrfte man folgern, entweder dass das Unerkennbare auf sich selbst wirkt, oder dass es in zwei parallel laufende in causaler\n1) First Principles, S. 95.","page":548},{"file":"p0549.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 549\n.Relation mit einander stehende Theile zerf\u00e4llt. Die erstere Annahme w\u00e4re nach Spencer unhaltbar, denn das Resultat der Wirkung, die Erkenntniss, setzt seiner Ansicht zufolge zwei verschiedene Dinge voraus. Die letztere Annahme dagegen, obwohl sie Subject und Object aus einander h\u00e4lt, l\u00e4sst sich doch am leichtesten mit jener Wahrheit in Einklang bringen, welche aller Erfahrung zu Grunde liegen soll \u2014 der \u00bbDauer der Kraft\u00ab. Diese, sagt Spencer, ist die Erkenntniss, welche \u00bballe Beweisf\u00fchrung \u00fcbersteigt\u00ab. Die Kraft aber, welche hier in Betracht kommt, ist nicht diejenige, deren wir uns bewusst sind, sondern sie ist die \u00bbabsolute Kraft\u00ab, die \u00bbunbedingte Realit\u00e4t\u00ab, \u00bbohne Anfang und ohne Ende\u00ab1). Das Absolute also, in welchem Subject und Object vereint werden, gestaltet sich nunmehr als die unerkennbare Kraft, deren mannigfach bedingte Formen in der Wechselwirkung der inneren und der \u00e4u\u00dferen Welt erscheinen. Leider aber hat Spencer nicht erkl\u00e4rt, wie denn diese Kraft in eine geistige Substanz einerseits und in ein beharrliches stoffliches Substrat andererseits umgewandelt wird.\nOb \u00fcberhaupt das Absolute in der allgemeinen Evolution begriffen sei, ist ein Problem, welches die Philosophen nicht \u00fcbereinstimmend gel\u00f6st haben. F\u00fcr Schelling war kein Herausgehen des Absoluten aus sich selbst oder Uebergehen zum Handeln m\u00f6glich \u2014 es selbst ist dieses ewige Handeln. \u00bbAlle Differenz, welche hier stattfinden kann, ist nicht in der Absolutheit selbst, welche dieselbe bleibt, sondern nur darin, dass sie in dem einen Act als Wesen ungetheilt in Form, in dem anderen als Form unge-theilt in Wesen verwandelt wird und sich so ewig mit sich selbst in Eins bildet .... Das Absolute producirt aus sich nichts als sich selbst, also wieder Absolutes\u00ab2).\nMit diesem Verfahren war Hegel bekanntlich nicht zufrieden. Das Absolute unterwarf er einer stetigen Entwicklung seines Wesens, obgleich der Entwicklungsbegriff f\u00fcr ihn nur eine logische Bedeutung besa\u00df.\nZwischen beiden Ansichten bewegt sich Spencer\u2019s Meinung mit der vollen Freiheit, welche einem Unerkennbaren gegen\u00fcber zul\u00e4ssig scheint. Einmal ist die \u00bbuniversale Macht\u00ab das, was allein\nj) First Principles, S. 192 f.\n2) a. a. O. S. 62 ff.","page":549},{"file":"p0550.txt","language":"de","ocr_de":"550\nEdward Pace.\ntrotz aller Ver\u00e4nderungen der Erscheinungswelt dauert \u2014 \u00bbthe one permanent thing\u00ab (II. 503). Zugleich aber ist \u00bbjedes Bewusstsein ein individualisier Theil der universalen Macht\u00ab (II. 505 ff.). Ist einerseits unser Begriff vom Unerkennbaren nur dann richtig, wenn wir es uns als unbedingt vorstellen, so d\u00fcrfen wir dagegen nicht vergessen, dass \u00bbdas Ich, welches alle Ver\u00e4nderungen \u00fcberlebt, jener Theil der unerkennbaren Macht ist, der. in besonderen Nervenstructuren statisch bedingt ist, welche von einem dynamisch-bedingten Theile der unerkennbaren Macht \u2014 Energie genannt \u2014 durchdrungen sind\u00ab (I. 504). In der That d\u00fcrfte die Frage, ob das Absolute sich entwickle, von vornherein eine m\u00fc\u00dfige sein, da wir, nach Spencer, etwas von demselben weder zu bejahen noch zu verneinen im Stande sind.\nb. Die Begr\u00fcndung der Identit\u00e4t.\nDer Beweis, welcher die Vereinigung von Subject und Object darthun soll, besteht haupts\u00e4chlich darin, dass die Offenbarungen des Unerkennbaren dieselbe Ordnung im Inneren und im Aeu\u00dferen zeigen. Wollten wir streng an der Relativit\u00e4tslehre festhalten, so w\u00fcrde dieser Beweis ohne weiteres fehlschlagen. Denn wir h\u00e4tten nicht mit zwei Reihen, sondern mit einer blo\u00df subjectiven Reihe von Erscheinungen zu thun. Uns ist der \u00e4u\u00dfere Zusammenhang v\u00f6llig unbekannt ; die inneren Beziehungen sind nur relative Bilder der \u00e4u\u00dferen; wie sollen wir irgend einen Vergleich aufstellen? Um so weniger d\u00fcrfen wir sagen, dass die Reihenfolge auf beiden Seiten dieselbe sei.\nBestimmter ausgedr\u00fcckt ist die Behauptung, dass das Evolutionsgesetz sowohl die subjective wie die objective Welt beherrscht. Dass von Spencer\u2019s Standpunkt diese Behauptung m\u00f6glich ist, erkl\u00e4rt sich einfach dadurch, dass er dem Evolutionsbegriffe einen Umfang gegeben hat, welcher alle Vorg\u00e4nge in sich wohl einzuschlie\u00dfen vermag. Allein wir sehen darin keinen Nachweis f\u00fcr die gesuchte Identit\u00e4t. W\u00e4re auch die stillschweigende Annahme unbestreitbar, dass n\u00e4mlich identische Gesetze auf ein identisches Wesen hindeuten, so m\u00fcssen wir doch den Schluss eben darum ablehnen, weil sich das Gesetz nicht auf das Subject und nicht auf das Object, sondern nur auf die Erscheinungen bezieht. Gerade","page":550},{"file":"p0551.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 551\ndiejenigen Elemente, welche der Einheit des Gesetzes wegfen zu vereinigen w\u00e4ren, die Tr\u00e4ger der Kundgebungen, werden nicht vom Gesetze ber\u00fchrt.\nIst man aber berechtigt, selbst mit R\u00fccksicht auf die Erscheinungen von einem solchen Gesetze zu reden? Vielmehr ergibt sich die Evolution als ein allgemeiner Vorgang, dessen Gesetze je nach der in Betracht kommenden Th\u00e4tigkeit mannigfaltig wechseln. Dass die Evolution nicht als ein Gesetz, sondern als eine Thatsache zu bezeichnen sei, scheint auch Spencer einzugestehen. Nachdem er in den \u00bbFirst Principles\u00ab dem \u00bbGesetz der Evolution\u00ab vier Hauptst\u00fccke gewidmet, stellt er schlie\u00dflich nicht einen gesetzm\u00e4\u00dfigen Entwurf, sondern lediglich eine Definition des allherrschenden Processes dar. Wir ziehen es also vor, wie dort am Ende Spencer gethan, uns des Ausdrucks \u00bbFormel\u00ab zu bedienen.\nNach derselben ist nun die Evolution \u00bbeine Integrirung des Stoffes und ein begleitendes Verschwinden der Bewegung, w\u00e4hrend dessen der Stoff von einer unbestimmten unzusammenh\u00e4ngenden Gleichartigkeit zu einer bestimmten zusammengeh\u00f6renden Ungleichartigkeit \u00fchergeht und die Bewegung eine \u00e4hnliche Umwandlung erleidet\u00ab1). Hierin sind zwei Factoren enthalten, welche selbstverst\u00e4ndlich bei der Anwendung der Formel auf die psychischen Vorg\u00e4nge hinwegfallen. Angenommen auch, dass Bewegung und Stoff blo\u00dfe Symbole des Unerkennbaren sind, so verm\u00f6gen sie doch keineswegs die bewusste Th\u00e4tigkeit zu erkl\u00e4ren. Darum gibt Spencer zu, dass \u00bbder Geist subjectiv betrachtet uns nur als ein Aggregat von bewussten Zust\u00e4nden bekannt ist, welche sich nicht als Formen von Stoff und Bewegung vorstellen oder denselben Gesetzen der Wiederzerlegung (Redistribution) unterwerfen lassen\u00ab (I. 508).\nWas Spencer an dieser Stelle hinzuf\u00fcgt, hat zu mancherlei Kritik Anlass gegeben. \u00bbObjectiv angesehen ist der Geist als ein Aggregat von den durch einen Organismus entfalteten Th\u00e4tigkeiten bekannt \u2014 ist also das Correlat gewisser materieller Umwandlungen, welche dem allgemeinen Process der materiellen Evolution einzureihen sind, wenn diese wirklich universal ist\u00ab. Vermittelst dieser\n1) First Principles, S. 396.\nWundt, Philos. Studien. VII.\n36","page":551},{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"552\nEdward Pace.\nsogenannten \u00bbDouble-Aspect Theory\u00ab1) und des Princips, dass die Bewegung die \u00bbLinea minoris resistentiae \u00ab einschl\u00e4gt, kn\u00fcpft Spencer sowohl die Entwicklung des Nervensystems wie die Entwicklung der begleitenden psychischen Vorg\u00e4nge an die allgemeine Evolution an. Ohne hier auf die k\u00fchnen Hypothesen einzugehen, welche sich mit wohlbekannten Thatsachen der Physiologie und der Psychologie in dieser Ausf\u00fchrung verweben, bemerken wir nur, dass, da ein \u00bbAspect\u00ab einen \u00bbAspiciens\u00ab voraussetzt, wir nochmals auf den intellectualistischen Standpunkt zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Somit treten drei Factoren auf: der physiologische Vorgang, der psychische Vorgang als nicht-subjectiv, und endlich der psychische Vorgang, insofern dieser zugleich bewusst und subjectiv sich dem Evolutionsgesetz entzieht. Wenn aber die geistigen Processe, wie wir sie im Bewusstsein erkennen, nicht als eine Folgerung aus der Dauer der Kraft zu erkl\u00e4ren sind, und wenn andererseits sich die physischen Bewegungen, wie auch Spencer gesteht, keineswegs in psychische Ereignisse umzuwandeln verm\u00f6gen, so ist es kaum zu verstehen, woher diese \u00bbobjectiven\u00ab Bewusstseinszust\u00e4nde irgend eine Wirklichkeit erhalten. Den physiologischen Vorg\u00e4ngen sprechen wir mit Recht eine Realit\u00e4t zu ; eine Abstraction aber k\u00f6nnen wir nicht als die Kehrseite derselben ansehen.\nAngenommen auch, dass diese Fiction dem psychologischen Schematismus ein gewisses Interesse darbietet, so ist ihre Anwendung fehlerhaft da, wo es sich um die Vereinigung des Subjects und des Objects zu einer letzten Realit\u00e4t handelt. Denn diese Aufgabe ist schon dadurch gen\u00fcgend erschwert, dass das Subject seinem Wesen nach unerkennbar ist; um so mehr sollen wir bei der Frage nach der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit seiner Erscheinungen an diesen, wie sie uns thats\u00e4chlich gegeben sind, festhalten.\nUebrigens scheint Spencer auch dieser Meinung beizupflichten, indem er die \u00bbobjective Psychologie\u00ab von der \u00bb subjectiven\u00ab abh\u00e4ngen l\u00e4sst. \u00bbDie objective Psychologie\u00ab, sagt er, \u00bbals solche kann keine Existenz haben, ohne ihre Thatsachen von der subjectiven Psycho-\n1) Eine Er\u00f6rterung dieser Theorie findet man bei Guthrie: On Mr. Spencer\u2019s Unification of knowledge. London 1882. p. 221 ff. Angemessener vielleicht f\u00fcr den ganzen Umfang der Spencer\u2019schen Lehre w\u00e4re der Ausdruck \u00bbTriple Aspect\u00ab.","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 553\nlogie zu borgen\u00ab (I. 141). Es w\u00e4re allerdings eine T\u00e4uschung, wollte man sieb auf die Introspection beschr\u00e4nken und einzig daraus die Gesetze der inneren Erfahrung ableiten; aber ebenso wenig ist es zul\u00e4ssig, um des Systems wegen innere und \u00e4u\u00dfere Wahrnehmung in eine Relation zu vermengen, welche am Ende unbegreiflich ist. \u00abObwohl wir durch eine Reihe sehr indirecter Schl\u00fcsse aus mehrfachen Beobachtungen und Versuchen zu der Ansicht gef\u00fchrt werden, dass Geist und Nerventh\u00e4tigkeit nur die subjective und die objective Seite eines und desselben ,Dinges' sind, verm\u00f6gen wir trotzdem nicht einzusehen oder sogar zu vermuthen, in welcher Beziehung beide zu einander stehen\u00ab (I. 146). Geben wir also zu, dass die Nerventh\u00e4tigkeit den Gesetzen der Evolution unterworfen sei, so haben wir dennoch kein Recht, oder vielmehr sind wir nicht f\u00e4hig, jene Gesetze auf die geistigen Vorg\u00e4nge auszudehnen.\nWenn nun die Formel der Evolution in ihrer vollsten Bedeutung die innere Weit nicht umfassen kann, wenn \u00bb eine Gef\u00fchlseinheit gar nichts mit einer Bewegungseinheit gemeinsam hat\u00ab, so bleibt wenigstens \u00fcbrig, die Analogie zu H\u00fclfe zu rufen. L\u00e4sst sich doch der Evolutionsbegriff derart erweitern, dass er \u00fcberall da sich geltend macht, wo eine Differenzirung und Integrirung auf irgend welche Weise stattfindet. Man w\u00fcrde schwerlich den Verdacht beseitigen, dass wir bei dieser Verallgemeinerung nicht nur mit dem \u00bbGesetz\u00ab, sondern auch mit der Formel gebrochen haben. M\u00f6glicherweise w\u00e4re der einfachere Schluss vorzuziehen : Es gibt Ver\u00e4nderungen in der \u00e4u\u00dferen Welt und Ver\u00e4nderungen in der inneren Welt; also gilt ein und dasselbe Gesetz f\u00fcr beide. Und wenn dies nicht der Fall ist, m\u00fcsste dann nicht von der \u00bbZusammengeh\u00f6rigkeit\u00ab und der \u00bbGleichartigkeit\u00ab abgesehen werden? Diese Eigenschaften des sich entwickelnden Stoffes, sammt ihren respectiven Gegens\u00e4tzen, zeigen sich schon gewisserma\u00dfen in der Zusammensetzung des Geistes.\nWie oben erw\u00e4hnt, lehrt Spencer, dass die Elemente des Geistes, welche uns erkennbar sind, Zust\u00e4nde und Beziehungen sind. Nun ergibt sich aus einer weiteren Analyse, dass die Zust\u00e4nde aus kleineren Einheiten \u2014 unzerlegbaren Elementen \u2014 bestehen. Wie eine Tonempfindung sich aus einer Anzahl rasch auf einander folgender Ger\u00e4usche zusammensetzt, so d\u00fcrfen wir sagen,\n36*","page":553},{"file":"p0554.txt","language":"de","ocr_de":"554\nEdward Pace.\nnicht nur dass die \u00fcbrigen Empfindungen auf dieselbe Weise gebildet werden, sondern dass alle Empfindungen, trotz ihrer Ver-schiedenartigkeit, auf eine urspr\u00fcngliche Bewusstseinseinheit zur\u00fcckzuf\u00fchren sind. Indem diese \u00bbleisen subjectiven St\u00f6\u00dfe\u00ab sich zu einer Empfindung verbinden, zeigen sie das erste Merkmal der Evolution \u2014 eine Integrirung. Da nun die so entstandenen Empfindungen immer mehr qualitativ von einander abweichen, so nimmt ihre Ungleichartigkeit zu. Je h\u00f6her aber die Stufe der Intelligenz, welche durch successive Integrirung und Differenzirung erreicht wird, desto bestimmter sind die geistigen Vorg\u00e4nge. Gegen jene einfachsten Bewusstseinselemente gehalten, erscheint somit die h\u00f6chste Leistung des Geistes als das Ergebniss des Ueber-gangs \u00bbvon einer unbestimmten unzusammengeh\u00f6rigen Gleichartigkeit zu einer bestimmten zusammenh\u00e4ngenden Ungleichartigkeit (t1).\nDieses Resultat der Synthese l\u00e4sst sich auch durch die Analyse best\u00e4tigen. Denken, Wahrnehmen, Empfinden \u2014 sie bestehen schlie\u00dflich in der Feststellung von Relationen. Alle Relationen aber haben als ihre wesentlichen Elemente die Beziehungen von Uebereinstimmung und Unterschied (likeness and unlikeness), und diese bedeuten lediglich Aenderung und Nicht-Aenderung. Ohne sich zu \u00e4ndern, kann das Bewusstsein weder entstehen noch fortdauern \u2014 es muss differenzirt werden. Ein Bewusstseinszustand aber bildet an und f\u00fcr sich keine Erkenntniss; er muss mit anderen gleichartigen Zust\u00e4nden vereinigt werden; es muss eine fortw\u00e4hrende Integrirung vor sich gehen. \u00bbVon diesem allgemeinsten Standpunkt aus l\u00e4sst sich alle geistige Th\u00e4tigkeit als eine unaufh\u00f6rliche Differenzirung und Integrirung von Bewusstseinszust\u00e4nden d\u00e9finir en \u00ab (II. 301). Gerade diese \u00bbAllgemeinheit\u00ab beweist, in welchen schwachen Umrissen das psychische Leben geschildert werden muss, wenn es eine Nachahmung der physischen Evolution zeigen soll. Wird jenes Streben nach der letzten Realit\u00e4t um so unbestimmter, je h\u00f6her wir uns im allgemeinen erheben, so bleibt\n1) Der Werth dieser Hypothese zeigt bei Spencer ein gewisses Wachsthum. So (I. 157) sagt er: \u00bbK\u00f6nnten wir auch naehweisen, dass der Geist aus solchen gleichartigen Empfindungs-Einheiten gebildet wird, so w\u00e4ren wir doch nicht im Stande zu sagen, was der Geist sei.\u00ab S. 184 aber spricht er von einem \u00bbentscheidenden Beweis\u00ab f\u00fcr dieselbe Annahme.","page":554},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"Das Eelativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre. 555\ndoch immer die Hoffnung, nachdem so vieles dem systematischen Zwang geopfert worden ist, wenigstens eine Spur der Identit\u00e4t zu erblicken.\nIndessen scheint weder die Synthese noch die Analyse eine Erf\u00fcllung dieser Hoffnung zu versprechen, denn beiden liegt ein gemeinsamer Fehler zu Grunde. Jene Umwandlung der psychischen Ereignisse in Objecte, welche schon in der Relativit\u00e4tslehre zum Vorschein kam, taucht wieder auf, sobald man eine \u00bbDifferenzirung und Integrirung (c der psychischen Zust\u00e4nde herstellen will.\nFerner brauchen wir kaum zu bemerken, dass die Darstellung der Empfindungen als einer Art von Voltaischen S\u00e4ulen auf einer unhaltbaren Annahme beruht. Was uns die Physik \u00fcber die Luft-und Aetherbewegung lehrt, l\u00e4sst sich keineswegs auf die uns that-s\u00e4chlich gegebenen Zust\u00e4nde des Bewusstseins anwenden. Ob die Wellen, welche eine Farbe hervorbringen, sich billionen Mal in einer Secunde wiederholen oder nicht, ist f\u00fcr die Einfachheit der Empfindung gleichg\u00fcltig. Wir begreifen zwar, dass diese Analyse einigerma\u00dfen die physischen Vorg\u00e4nge verst\u00e4ndlich macht, die Empfindung aber m\u00fcssen wir als das letzte, nicht weiter zerlegbare Element des Bewusstseins ansehen.\nAngenommen aber, diese Analogie habe f\u00fcr die psychologische Erkl\u00e4rung etwa den Werth, den wir der Association beilegen, so fehlt dennoch die Aehnlichkeit mit dem \u00e4u\u00dferen Vorgang. Denn in einem physischen Anfangszustande A ist schon alles enthalten, was in dem Endzust\u00e4nde B nach der Differenzirung oder Integrirung erscheint. Ist A gegeben, so werden wir a, b, c . . ., die Producte der Differenzirung, Voraussagen k\u00f6nnen; sind umgekehrt a, b, c . . . gegeben, so l\u00e4sst sich B \u2014 das Ergehniss der Integrirung \u2014 bestimmen. Ganz anders f\u00fcr die psychischen Zust\u00e4nde. Die Elemente, welche in eine Vorstellung eingehen, sind dieser nicht gleichzusetzen. Der Endzustand der Differenzirung oder Analyse enth\u00e4lt weniger, und der Endzustand der Integrirung oder Synthese mehr, als der Zustand, von dem sie respective ausgehen. Schlie\u00dflich gibt Spencer selbst zu, dass die Verdinglichung der inneren Ereignisse nur ein \u00bbpopul\u00e4rer Begriff\u00ab ist. \u00bbEs ist wahr, dass in psychologischen Erkl\u00e4rungen die Ideen derart betrachtet werden, als ob sie eine dauernde Existenz bes\u00e4\u00dfen.... Hier aber,","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556\nEdward Pace.\nwie \u00fcberhaupt in metaphysischen Er\u00f6rterungen, wo wir insbesondere eine endg\u00fcltige Analyse zu machen und Thatsachen und Hypothesen zu entwirren haben, m\u00fcssen wir die Wahrheit anerkennen, dass dieser popul\u00e4re Begriff, der gew\u00f6hnlich in psychologischen und metaphysischen Er\u00f6rterungen aufgenommen wird, nicht nur willk\u00fcrlich, sondern auch unserer Erfahrung widersprechend ist\u00ab (II. 485).\nNun aber wird Niemand an der metaphysischen Bedeutung der gegenw\u00e4rtigen Frage zweifeln k\u00f6nnen; und wenn wir uns dabei von \u00bbpopul\u00e4ren Begriffen\u00ab befreien sollen, so stellt sich ohne weiteres heraus, dass von einer psychischen Differenzirung und Inte-grirung im Spencer\u2019schen Sinne nicht die Rede sein kann. Das Gesetz der geistigen Entwicklung ist also nicht die Spencer\u2019sche Evolutionsformel, und der \u00bbwahre Schluss\u00ab, zu dem wir gef\u00fchrt werden, ist der \u2014 dass das Unerkennbare weder die letzte, noch irgend eine Realit\u00e4t besitzt. Die Einheit von Subject und Object, wenn sie durch die Entwicklung ohne das Denken aufgehoben wird, l\u00e4sst sich nicht durch das Denken, trotz aller Entwicklung, wiederherstellen.\nSchluss.\nWir waren mit Spencer von einem gemeinsamen Standpunkt ausgegangen. K\u00f6nnen wir dennoch mit seinen weiteren Ausf\u00fchrungen nicht \u00fchereinstimmen, so liegt der Grund daf\u00fcr haupts\u00e4chlich in jener Verwechslung der psychologischen und der logischen Entwicklung, auf welcher seine Erkenntnisslehre beruht. Der \u00bbumgebildete Realismus\u00ab ist darin mit der Entwicklungsgeschichte des Geistes einig, dass er die psychische Th\u00e4tigkeit m\u00f6glichst beschr\u00e4nkt. Wie Spencer den Willen in die Entwicklung nicht eingreifen l\u00e4sst, so entzieht er dem Denken alle Theilnahme an der Trennung des urspr\u00fcnglichen Inhaltes.\nIndessen zeigt uns eine Vergleichung der Haupttheile seiner Psychologie, dass diese einander nicht unterst\u00fctzen. Denn einerseits w\u00e4re der Geist nach Spencer\u2019s Auffassung der Entwicklung nicht im Stande, die Merkmale auch einer relativen Wirklichkeit aufzuzeigen; andererseits schlie\u00dft die Relativit\u00e4t der Erkenntniss nicht minder wie der Subjectivismus die M\u00f6glichkeit einer realen Evolution hoffnungslos aus. Ist die verlorene Wirklichkeit durch die","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"Das Relativit\u00e2tsprincip in Herbert Spencer\u2019s psychologischer Entwicklungslehre. 557\nAnnahme eines Unerkennbaren nicht wieder herzustellen, so lassen sich Subject und Object in einer solchen Realit\u00e4t keineswegs vereinen.\nDie Entscheidung zwischen Schelling und Spencer haben wir nicht auszusprechen. Allein es schien lehrreich daran zu erinnern, dass der erstere von diesen \u00bbIdentit\u00e4ts-Philosophen\u00ab schon die Grundlage, auf welcher der andere haut, als unsicher verl\u00e4sst. Oh die \u00bb Dinge an sich \u00ab im Laufe der Evolution an philosophischem Werth zunehmen, ist immerhin zweifelhaft; jedenfalls geh\u00f6ren sie, was die Psychologie und Erkenntnisslehre betrifft, der Vergangenheit an.\nIm \u00fcbrigen kann es kein Wunder nehmen, dass Spencer\u2019s \u00bbPrinciples of Psychology\u00ab so verschiedenartige Bestandtheile umfassen, nachdem wir am Anfang gesehen hatten, was er unter \u00bbPsychologie\u00ab versteht. Lassen wir den Wortsinn hei Seite, so wurzelt schon in der Bestimmung ihrer Aufgabe der Irrthum, welcher seine ganze Erkenntnisslehre durchdringt. Subject und Object sind einander gegen\u00fcbergestellt, und die Frage ist: wie kommt es, dass sie mit einander irgendwie \u00fcbereinstimmen? Daher das fruchtlose Streben, rein subjective Zust\u00e4nde zu einer objectiven Realit\u00e4t zu verdichten.\nWill man dagegen dieses Missgeschick vermeiden, so ist beim ersten Schritt das Ziel richtig ins Auge zu fassen. \u00bbNicht objective Realit\u00e4t zu schaffen aus Elementen, die seihst solche noch nicht enthalten, sondern objective Realit\u00e4t zu bewahren, wo sie vorhanden, \u00fcber ihre Existenz zu entscheiden, wo sie dem Zweifel ausgesetzt ist, dies ist die wahre und die alllein l\u00f6sbare Aufgabe der Erkennt-nisswissenschaft \u00ab M.\n1) Wundt, a. a. O. S. 103.","page":557}],"identifier":"lit4187","issued":"1892","language":"de","pages":"487-557","startpages":"487","title":"Das Relativit\u00e4tsprincip in Herbert Spencer's psychologischer Entwicklungslehre","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:24:31.637808+00:00"}