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{"created":"2022-01-31T12:28:03.268887+00:00","id":"lit4211","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lipps, Gottlieb Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 10: 169-202","fulltext":[{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\nVon\nCtottl. Friedr. Lipps.\n(Fortsetzung.)\nIII.\nDie logische Ordnung und die Zahl.\n\u00a7 1- .\nDas Aufsuchen der Thatsachen, welche der Mathematik zu Grunde liegen, f\u00fchrte zu der Einsicht, dass das Gegebene als ein vom Denken unber\u00fchrter Complex von Erlebnissen aufzufassen sei, der erst dann geschieden und getrennt wird, wenn eine Ver\u00e4nderung im Zustande des Gegebenen thats\u00e4chlich eintritt und wenn das hierdurch erwachende Denken zum Auffassen und Behalten der beharrenden und wechselnden Erlebnisse angeregt wird. Es bieten sich alsdann die einzelnen Erlebnisse, die verm\u00f6ge ihrer Qualit\u00e4t von einander unterscheidbar sind, als Einzelinhalte des Bewusstseins dar und das Bewusstsein selbst ist als ihr Tr\u00e4ger aufzufassen. Dies wurde hervorgehoben, nicht etwa um irrth\u00fcmlicher Weise schon das blo\u00dfe Vorhandensein von Gegenst\u00e4nden des Bewusstseins, die Jedermann als unmittelbar gegeben hinzunehmen geneigt ist, f\u00fcr ein mit bewusster Absicht herbeigef\u00fchrtes Resultat des Strebens nach Erkenntniss auszugeben, sondern um die Bedingungen anzugeben, unter denen man durch den unwillk\u00fcrlich wirkenden psychologischen Mechanismus einzelner Inhalte bewusst Wlrd- Es war aber nothwendig dies hervorzuheben ; denn es erhellt daraus die M\u00f6glichkeit einer Wissenschaft, welche als Objecte der\nWandt, Philos. Studien. X.\t12","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nGotti. Friedr. Lipps.\nUntersuchung unbefangen die Inhalte des Bewusstseins ganz so hin-nimmt, wie sie aus der Analyse des Gegebenen resultiren, und deren Aufgabe in der Erforschung der Beziehungen, die zwischen | jenen Objecten nachweisbar sind, besteht. Es wird nun allerdings zun\u00e4chst das Bed\u00fcrfniss sich geltend machen, eine Uebersicht \u00fcber jene thats\u00e4chlich im Bewusstsein vorhandenen und thats\u00e4chlich erlebten Inhalte zu gewinnen. Als Resultat dieses Bem\u00fchens werden sich die psychologischen Classificationen der Bewusstseinsobjecte ergeben ; darauf kann sich alsdann eine weitergehende psychologische Arbeit gr\u00fcnden, die dadurch gen\u00fcgend charakterisirt ist, dass es immer ein thats\u00e4chlich Erlebtes ist, dessen Beschaffenheit und Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit erforscht wird. Man gewinnt auf diese Weise die Anf\u00e4nge der Psychologie. Man wird ferner das Bed\u00fcrfniss empfinden, die Th\u00e4tigkeit. des Denkens in ihren Eigenschaften und Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten kennen zu lernen, um zu erfahren, nach welchen Regeln das vorhandene Material durch das Denken verarbeitet werden kann. Das formale Gesch\u00e4ft des Denkens wird alsdann den Gegenstand der Untersuchung bilden, deren Ergebniss sich als formale Logik darstellen wird.\nFragt man aber nach dem Grunde der M\u00f6glichkeit, das Gegebene durch das Denken zu bearbeiten, so wird man auf den Zustand des Bewusstseins aufmerksam. Das Bewusstsein bietet sich als der Tr\u00e4ger des Gegebenen dar und man erkennt, dass alles Bearbeiten der Bewusstseinsinhalte nur ein ordnendes Zusammenfassen derselben im Bewusstsein als ihrem Tr\u00e4ger zur Folge hat. Alsdann wird eine Wissenschaft von der Ordnung der Bewusst-y seinsinhalte im Bewusstsein zum Bed\u00fcrfniss. Sie ist naturgem\u00e4\u00df 'durch das psychologische Material bedingt, das vorgefunden wird und zun\u00e4chst geordnet werden muss. Sie ist aber auch von der Natur des Denkens abh\u00e4ngig; denn das Denken erzeugt ja allererst die Ordnung, und die Erzeugnisse des Denkens sind weiterhin ebenso wie die dem Denken sich darbietenden Objecte Inhalte des Bewusstseins und einer ordnenden Zusammenfassung f\u00e4hig.\nDie Erkenntniss, f\u00fcr welche man in solcher Weise die Fundamente gewinnt, soll nicht als die einzig m\u00f6gliche oder einzig berechtigte hingestellt werden. Sie soll vielmehr nur eine erste Stufe des Erkennens markiren, f\u00fcr welche der Gegensatz zwischen","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n171\neinem gegebenen Schein und einem durch den Schein angedeuteten Sein noch nicht vorhanden ist. Eine weitergehende wissenschaftliche Th\u00e4tigkeit mag immerhin sich gen\u00f6thigt sehen, Erg\u00e4nzungen vorzunehmen. Es betont ja Herbart1) eindringlich genug die \u00bbunvermeidliche Mangelhaftigkeit\u00ab aller unserer unmittelbaren Kenntnisse und sieht in der Erg\u00e4nzung eine besondere Operation des Denkens. Auch ist ohne Bedenken das Zugest\u00e4ndnis zu machen, dass der Erkenntnisstrieb auf solch einer ersten Stufe nicht befriedigt wird, sondern dass er das schon durch die popul\u00e4re Reflexion begonnene Gesch\u00e4ft weiterzuf\u00fchren gen\u00f6thigt ist, um dem Ziele einer widerspruchslosen Auffassung des Ichs und der Welt zuzustreben.\nDas Hervorheben jener ersten Stufe des Erkennens ist aber nothwendig, wenn man sich vor der Metaphysik des sogenannten gesunden Menschenverstandes sch\u00fctzen will. Denn man treibt doch, auch wenn man sich dessen nicht bewusst wird, Metaphysik, indem man die Dinge der Au\u00dfenwelt mit ihren Kr\u00e4ften und Eigenschaften und das denkende Ich mit seinen Zust\u00e4nden als gegeben hinnimmt und die Erfahrung, die man an diesen Dingen macht, als Quelle des Erkennens benutzt. Damit ist aber wohl der Standpunkt des in den Einzelwissenschaften herrschenden Empirismus und der positiven Philosophie, wie sie Auguste Comte lehrt, gekennzeichnet. Wollte man auf solcher Grundlage wissenschaftlich arbeiten, so d\u00fcrfte doch wohl Herbart nicht umsonst auf die Widerspr\u00fcche der Erfahrungsbegriffe hingewiesen haben, und es w\u00e4re die einzige M\u00f6glichkeit f\u00fcr ein vor Irrth\u00fcmem gesch\u00fctztes Erkennen in einer Metaphysik im Sinne Herbarts gegeben, deren Aufgabe es w\u00e4re, die Begriffe von ihren Widerspr\u00fcchen zu reinigen und an Stelle der Erg\u00e4nzungen, welche die popul\u00e4re Reflexion geschaffen hat, solche zu setzen, die wissenschaftlich berechtigt sind und ein widerspruchsloses Erkennen erm\u00f6glichen.\nDen Charakter einer von allen Voraussetzungen \u00fcber das Sein und \u00fcber den realen Untergrund des Geschehens und in gleicher\n1) Er sagt: \u00bbdiejenige Operation des Denkens, wodurch die Mangelhaftigkeit verbessert wird, hei\u00dft Erg\u00e4nzung\u00ab. Psychologie als Wissenschaft. K\u00f6nigsberg >824. I. Theil. S. 26.\n12*","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nGotti. Friedr. Lipps.\nWeise von den Ergebnissen der popul\u00e4ren Reflexion unabh\u00e4ngige Wissenschaft erh\u00e4lt auch die Mathematik. Denn die fr\u00fcheren Er\u00f6rterungen zeigten und die folgenden Untersuchungen werden es best\u00e4tigen, dass in den Thatsachen, auf welchen die Ordnung der Bewusstseinsinhalte im Bewusstsein beruht, der geeignete Ausgangspunkt f\u00fcr die Entwickelung der mathematischen Begriffe gefunden wird. Die Natur des in der Mathematik verarbeiteten Thatsachen-materials ist so v\u00f6llig klar gestellt; denn man hat es blo\u00df mit dem Bewusstsein und seinen Inhalten zu thun. Die Art und Weise der Verarbeitung ist aber von Anfang an davon abh\u00e4ngig, ob die Inhalte des Bewusstseins in ihrem Zusammenh\u00e4nge mit dem Gesammt-inhalte oder ob sie in ihrer Isolirung, als f\u00fcr sich bestehende Qualit\u00e4ten erfasst werden. Im ersteren Fall resultirt die anschauliche, im letzteren Falle die logische Ordnung, und je nachdem sich die Reflexion der einen oder der andern Art ordnenden Zusammenfassens zuwendet, entsteht die ejj^e oder die andere der beiden fundamental verschiedenen Arten mathematischer Begriffe.\n\u00a7 2.\nDie Untersuchung der logischen Ordnung, welche durch das Zusammenfassen der f\u00fcr sich bestehenden Qualit\u00e4ten im Bewusstsein als ihrem logischen Tr\u00e4ger vermittelt wird, stelle ich mir zun\u00e4chst als Aufgabe, um so einen Zugang zum Begriffe der Zahl und zu den auf die Zahl gegr\u00fcndeten mathematischen Discijdinen zu gewinnen.\nDer dadurch gegebene Ausgangspunkt der Untersuchung schlie\u00dft von vornherein eine Ber\u00fccksichtigung der Bedingungen aus, unter denen der Zahlbegriff historisch sich entwickelt hat. Dagegen wird der Empirismus, der \u00e4ngstlich bem\u00fcht ist, das Gebiet der im t\u00e4glichen Leben gemachten Erfahrungen nicht zu verlassen, geneigt sein, jene Bedingungen auch f\u00fcr die wissenschaftliche Ableitung des Begriffs als Grundlage zu benutzen. Er wird daher, da die Zahlen offenbar dem sich geltend machenden praktischen Bed\u00fcrfnisse nach Z\u00e4hlungen und Messungen physischer Objecte ihre Entstehung verdanken, nur in physikalischen Thatsachen als der eigentlichen Anwendungssph\u00e4re des Begriffs die Quelle der Begriffsbildung finden.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n173\nVon diesem Standpunkte aus ist es begreiflich, wenn John Stuart Mill sagt1 2) : \u00bbdie in der Definition einer Zahl ausgesagte Thatsache ist eine physikalische Thatsache\u00ab, und dann die Arithmetik im Wesentlichen auf \u00bbSammlungen von Sternchen\u00ab zuriickf\u00fchrt. Man w\u00fcrde aber diesem sorgf\u00e4ltigen Denker ohne Zweifel Unrecht thun, wollte man annehmen, dass ihm die M\u00f6glichkeit, auch nicht physikalisch vorhandene Dinge z\u00e4hlen zu k\u00f6nnen, entgangen sei. Es ist eben die Beschr\u00e4nkung des Gebiets, aus dem der Zahlhegriff ah-strahirt wird, durch den Standpunkt bedingt, der zur Quelle der Begriffsbildung das dem Empiriker n\u00e4chstliegende Gebiet der physikalischen Verwendung des Begriffs w\u00e4hlt. Mill selbst f\u00fchlt diese Beschr\u00e4nkung, indem er sagt, dass es \u00bbangesichts der au\u00dferordentlichen Allgemeinheit der Zahlengesetze und ihres Entr\u00fccktseins aus der Sph\u00e4re \u2014 nicht sowohl der Sinne im Allgemeinen, als der Gesichts- und Tastbilder \u2014 eine gewisse Anstrengung kostet, in diesen Gesetzen physische, durch Beobachtung gewonnene Wahrheiten zu erblicken\u00ab. Es muss aber betont werden, dass auf diese Weise Nebens\u00e4chliches aus dem Anwendungsgebiete des Begriffs bei der Ableitung des Begriffs Beachtung findet.\nAls ein Hervorheben von Nebens\u00e4chlichkeiten ist es auch auf Grund des sich darhietenden Ausgangspunktes zu betrachten, wenn in der r\u00e4umlichen oder zeitlichen Anschauung die Quelle des Zahlbegriffs gefunden wird. Man muss dabei die mathematische Ableitungsweise des Begriffs von der philosophischen scheiden. Wird der Zahlbegriff im Zusammenh\u00e4nge mit den allgemeinen Problemen der Erkenntnistheorie behandelt, so stellt er blo\u00df ein Glied in einem gro\u00dfen Gef\u00fcge dar, durch welches er Halt und Begr\u00fcndung findet. So ist es bei Kant. Nachdem derselbe in der transscen-dentalen Logik die reinen Verstandesbegriffe als Bedingungen a priori zu einer m\u00f6glichen Erfahrung gefunden und in der Kategorientafel zusammengestellt hat, sieht er sich vor die Aufgabe gestellt2), anzugeben, wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen ^gewandt werden k\u00f6nnen, da doch beide ganz \u00bbungleichartig\u00ab sind.\n1)\tSystem der deductiven und inductiven Logik. Buch III. Capitel XXIV.\n(Uebersetzt yon Gomperz).\n2)\tKritik der reinen Vernunft; von dem Schematismus der reinen Ver-\nstandesbegriffe.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nGotti. Friedr. Lipps.\nEs muss daher ein Bindeglied geben, das die Anwendung der Kategorie auf die Erscheinung erm\u00f6glicht. Die \u00bbtransscendentale Zeitbestimmung\u00ab ist es nun, welche diese Anwendung vermittelt. Durch diese Vermittlung wird dann die Vorstellung von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, m\u00f6glich, die Kant das Schema zu diesem Begriffe nennt. Ein solches Schema ist die Zahl, n\u00e4mlich \u00bbdas reine Schema der Gr\u00f6\u00dfe (quantitatis) als eines Begriffs des Verstandes\u00ab, und die Zahl ist somit eine Vorstellung, \u00bbdie die successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefasst.\u00ab Der Zusammenhang der Zahl mit der Zeit ist somit f\u00fcr Kant gewiss nicht nebens\u00e4chlich, sondern eine nothwendige Folge seiner ganzen Theorie des Er-| kennens. Es ist aber die vorliegende Untersuchung, welche die Aufgabe hat, den Zahlbegriff durch die Betrachtung der logischen Ordnung zu gewinnen, von den gro\u00dfen Problemen der Erkenntniss-j theorie unabh\u00e4ngig, so dass auch die Gr\u00fcnde in Wegfall kommen, welche Kant oder einen anderen Philosophen bestimmen k\u00f6nnen, die Zahl auf die Anschauungsformen der Zeit oder des Raumes zu gr\u00fcnden.\nDem Zusammenh\u00e4nge mit solch tiefen erkenntnisstheoretischen Problemen entspringt es dagegen nicht, wenn der Mathematiker die Zahlen durch einen Abstractionsproeess. aus r\u00e4umlich getrennten oder zeitlich auf einanderfolgenden Dingen entstehen l\u00e4sst. Es scheint vielmehr blo\u00df das Streben nach anschaulicher Klarheit zun\u00e4chst das Ausgehen von anschaulich Gegebenem zu veranlassenl). Ein solcher Ausgangspunkt ist insbesondere in p\u00e4dagogischem Interesse thats\u00e4chlich geboten, um dem Lernenden das Verst\u00e4ndniss\n1) In diesem Sinne ist wohl die Definition der Anzahl aufzufassen, welche Lipschi'tz zu Beginn seines Lehrbuchs der Analysis gibt: \u00bbWenn man bei der Betrachtung getrennter Dinge von den Merkmalen absieht, durch welche sich die Dinge unterscheiden, so bleibt der Begriff der Anzahl der betrachteten Dinge zur\u00fcck.\u00ab Denn unter den getrennten Dingen hat man doch offenbar r\u00e4umlich oder zeitlich getrennte Dinge zu verstehen. \u2014 Die von den Mathematikern gern benutzte M\u00f6glichkeit, in anschaulich gegebenen Dingen eine Veranschaulichung der Zahlen zu gewinnen, ist es wohl auch, welche W. Brix veranlasst, die Zahl der Raumanschauung und die Zahl der Zeitanschauung als besondere, psychologische Formen des Zahlbegriffs aufzufassen. (Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwickelungsformen. Phil. Stud. V, S. 671 f.)","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n175\nder abstracten Natur der Zahlen und Zahlenoperationen zu erleichtern. Die an gez\u00e4hlte Dinge sich anlehnende Versinnlichung der Zahlen ist nun gewiss nebens\u00e4chlich f\u00fcr die Erkenntniss des Zahlbegriffs selbst; sie ist jedoch unsch\u00e4dlich, wenn sie nicht mit dem Anspruch auftritt, das Wesen der Zahl zu ersch\u00f6pfen. Das Erkennen der wahren Bedeutung des Zahlbegriffs wird es dagegen hindern, wenn die geometrische Verwendung der Zahlen anticipirt wird, deren Bedeutung doch erst eingesehen werden kann, wenn das Wesen der Zahlen selbst schon vollst\u00e4ndig erkannt ist. Es wird sich auf Grund solcher Anticipationen dem Zahlbegriffe leicht ein anderer Begriff, z. B. der des Verh\u00e4ltnisses von Strecken, unterschieben und es werden dann, wenn man davon ausgeht, die Zahlen als Punkte einer Geraden zu betrachten, Eigenschaften der Punkte, die in einer Geraden liegen, f\u00fcr Eigenschaften der Zahlen ausgegeben werden, trotzdem die letzteren doch keinen solchen Tr\u00e4ger, wie er in der Geraden f\u00fcr die in ihr fhdrbaren Punkte vorhanden ist, besitzen.\nDie M\u00f6glichkeit, dass sowohl Philosophen als auch Mathematiker die Zahl auf die zeitliche und r\u00e4umliche Anschauung gr\u00fcnden k\u00f6nnen, erkl\u00e4rt sich mit Leichtigkeit daraus, dass jeder Bewusstseinsinhalt, der als Glied einer logischen Kette von Denkobjecten sich darstellt, zugleich auch kraft seiner Beziehungen zum Gesammt-inhalte des Bewusstseins einer anschaulichen Ordnung sich einf\u00fcgt. Man muss sich folglich der Einseitigkeit der Betrachtungsweise bewusst sein, wenn man von der anschaulichen Ordnung absieht und blo\u00df die logische Ordnung ins Auge fasst. Eine solche einseitige Betrachtung ist aber gesittet, weil die logische Ordnung nicht von der anschaulichen Ordnung abh\u00e4ngig ist, was am besten dadurch bewiesen wird, dass das Zustandekommen der logischen Ordnung beschrieben wird, ohne dabei in der r\u00e4umlichen oder zeitlichen Anschauung eine St\u00fctze zu suchen. Jene Einseitigkeit ist ferner im Interesse der Reinlichkeit der Begriffsentwickelung nothwendig, weil anderenfalls Eigenschaften, die der anschaulichen Ordnung der Bewusstseinsinhalte zukommen, leicht in den Zahlbegriff mit aufgenommen werden. Ist aber dies einmal geschehen, so wird es unm\u00f6glich, eine Entscheidung dar\u00fcber herbeizuf\u00fchren, ob und in wie weit durch Zahlen ein anschauliches, zeitliches oder r\u00e4umliches Continuum dargestellt werden kann und ob die Mannigfaltigkeit der","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nGotti. Friedr. Lipps.\nZahlen von selbst schon ein Continuum darstellt und welcher Art dasselbe ist. Diese Probleme, deren Wichtigkeit unmittelbar einleuchtet, k\u00f6nnen vielmehr nur dann gel\u00f6st werden, wenn sowohl diejenigen mathematischen Begriffe, welche in der logischen Ordnung ihre Begr\u00fcndung finden, als auch diejenigen, welche der anschaulichen Ordnung entspringen, in ihrer Eigenart erkannt sind.\n\u00a7 3.\nWill man nun das Entstehen der logischen Ordnung verfolgen, so muss zuvor klar gestellt werden, in wie fern man von einem Zustande des Bewusstseins, in welchem noch keine logische Ordnung sich findet, reden kann. Es kann dies offenbar nicht den Sinn haben, dass in einem Bewusstsein zuerst ungeordnete Inhalte vorhanden sind und dass dieselben dann irgendwie zusammengefasst und geordnet werden. Denn man k\u00f6nnte alsdann einwenden, dass unwillk\u00fcrlich eine Ordnung sich hemerklich macht, sobald \u00fcberhaupt das Eine vom Anderen unterschieden wird. Dieser Einwand k\u00f6nnte \u00fcberdies mit vollem Rechte gemacht werden, wenn er sich auf die Thatsache st\u00fctzt, dass es nicht im Belieben des denkenden Ichs steht, die Gegenst\u00e4nde des Bewusstseins zu ordnen oder nicht zu ordnen, sondern dass das Entstehen einer Ordnung mit Nothwendigkeit und unmittelbar sich vollzieht. Wenn somit ein Zustand des Bewusstseins ohne Ordnung seiner Inhalte nicht als ein thats\u00e4chliches Erlebniss zu Grunde gelegt werden kann, so kann das Zur\u00fcckgehen auf einen solchen Zustand nur den Sinn haben, dass es m\u00f6glich ist, Einzelinhalte im Bewusstsein vorhanden zu denken, ohne dass sie zugleich geordnet gedacht werden m\u00fcssen.\nDies ist aber m\u00f6glich, weil damit, dass man sich [des Einen bewusst ist, noch nicht die Nothwendigkeit verkn\u00fcpft ist, auch eines Anderen sich bewusst zu werden, obgleich der Widerstreit zwischen dem Wechselnden und Verschiedenen es erst m\u00f6glich macht, sich des Einen oder des Anderen bewusst zu werden. Kann man somit von der Ordnung der Bewusstseinsinhalte absehen, so kann man diese Ordnung auch reconstruiren und zugleich die Bedingungen angeben, unter denen das Ordnen sich vollzieht. In diesem Sinne soll das Entstehen der logischen Ordnung verfolgt werden.","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n177\nSo lange man blo\u00df diesen oder jenen Gegenstand denkend erfasst oder appercipirt, kann von einem Ordnen, von einem Beziehen des einen Gegenstandes auf den andern nicht die Rede sein. Es ist hiezu erforderlich, dass man sowohl den einen als auch den andern Gegenstand bewusster Weise erfasst und dass der eine im Bewusstsein bleibt, wenn der andere ins Bewusstsein tritt. Es ist folglich offenbar das so entstehende Zusammensein von appercipirten Bewusstseinsinhalten im Bewusstsein die Grundbedingung f\u00fcr das Zustandekommen der logischen Ordnung.\nDa diese Ordnung eine Erkenntniss darstellt \u2014 denn es kann das Erkennen direct als ein logisches Ordnen des im Bewusstsein Vorhandenen definirt werden \u2014, so ist das Entstehen des Zusammenseins von Bewusstseinsobjecten auch als Grundbedingung des Erkennens zu bezeichnen. In ihm findet man das, was zu den Gegenst\u00e4nden der Erfahrung hinzukommen muss, um eine Erkenntnis zu erm\u00f6glichen. Es hat im denkenden Ich seinen Ursprung und es ist als eine Th\u00e4tigkeit dieses Ichs, als ein durch das Ich bewirktes Zusammenfassen zu betrachten, sobald man das Ich den Objecten des Denkens gegen\u00fcb erstellt. Jenes Zusammenfassen von Bewusstseinsinhalten kann darum mit Kant als eine Synthese bezeichnet werden, so dass das beginnende Erkejmen auf die Synthese desjenigen sich gr\u00fcndet, was das beginnende Denken durch die anf\u00e4ngliche Analyse des gegebenen Complexes von Erlebnissen gewonnen hat. Dann gilt auch f\u00fcr uns, was Kant sagt1): \u00bbDie Synthesis eines Mannigfaltigen aber (es sei empirisch oder a priori gegeben) bringt zuerst eine Erkenntniss hervor, die zwar anf\u00e4nglich noch roh und verworren sein kann und also der Analysis bedarf; allein die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das Erste, worauf wir Acht zu geben haben, wenn wir \u00fcber den ersten Ursprung unserer Erkenntniss urtheilen wollen.\u00ab\nWenn nun aber diese Synthese, als eine dem Verst\u00e4nde eigent\u00fcmliche Function, Kant2) zu der Auffindung der reinen Ver-\n1)\tKritik der reinen Vernunft; von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien.\n2)\tEr sagt am angegebenen Orte: \u00bbDieselbe Function, welche den verschiedenen","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nGotti. Friedr. Lipps.\nstandesbegrifFe hinf\u00efihrt, so kann dieselbe hier eine solche Rolle nicht spielen, und die Erw\u00e4hnung Kant\u2019s vermag nur die Bedeutung der Synthese als der Grundbedingung des Erkennens und Ord-nens hervorzuheben. Denn wir haben keine Veranlassung, ein besonderes Verstandes verm\u00f6gen anzunehmen, das durch die Unterscheidung der im Urtheilen sich beth\u00e4tigenden Functionen der Synthesis \u00bbg\u00e4nzlich ausgemessen\u00ab w\u00fcrde. Es gen\u00fcgt f\u00fcr uns, in der Synthese die Bedingung f\u00fcr das Zustandekommen der logischen Ordnung zu finden und das Wesen der Synthese darin zu erblicken, dass man sich sowohl des einen als auch des anderen f\u00fcr sich erfassbaren Bewusstseinsinhaltes bewusst wird, dass also appercipirte Bewusstseinsinhalte im Bewusstsein zusammengefasst werden.\nDie Thatsache, dass eine Synthese zu Stande kommt, bildet somit den Ausgangspunkt f\u00fcr unsere auf die logische Ordnung und auf die Zahl gerichtete Untersuchung. Man kann nun die logische Ordnung und die Zahl thats\u00e4chlich gewinnen, indem man sich von der durch die Synthese veranlassten Denkbewegung leiten l\u00e4sst. Dies f\u00fchrt zur wirklichen Erzeugung der logischen Ordnung und der Zahl. Damit erreichen wir jedoch das ins Auge gefasste Ziel nicht vollst\u00e4ndig. Denn dies besteht nicht so sehr in einer that-s\u00e4chlichen Herleitung der Zahl durch Vermittlung der im Bewusstsein wirklich sich vollziehenden logischen Ordnung als vielmehr wesentlich in dem Erkennen und Begreifen des Wesens der Zahl auf Grund des Erkennens und Begreifens des Wesens der logischen Ordnung. Dies wird aber am einfachsten dadurch erm\u00f6glicht, dass die Bedingungen, an die das Entstehen der logischen Ordnung und damit auch der Zahl gebunden ist, hervorgehoben werden. Die jenen Bedingungen sich zuwendende Reflexion wird alsdann das Begreifen der logischen Ordnung und der Zahl zur Folge haben und dadurch als Begleiterin des die logische Ordnung und die Zahl wirklich erzeugenden Denkprocesses zugleich den Begriff der logischen Ordnung und der Zahl zu Tage f\u00f6rdern.\nEs besteht daher die n\u00e4chstliegende Aufgabe in einer Beschreibung des Zustandekommens der Synthese. Dadurch wird zwar die\nVorstellungen in einem Urtheile Einheit gibt, die gibt auch der blo\u00dfen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedr\u00fcckt, der reine Verstandesbegriff hei\u00dft.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t179\nlogische Ordnung selbst noch nicht gewonnen ; es wird aber so das Verst\u00e4ndniss des durch die Synthese veranlassten zur logischen Ordnung f\u00fchrenden Denkprocesses. erm\u00f6glicht und das Begreifen der logischen Ordnung selbst wesentlich gef\u00f6rdert werden.\n\u00a7 4.\nUm dies zu leisten, erinnere ich daran, dass die Bewusstseinsinhalte , die in erster Linie einer Synthese sich darbieten, Unterscheidungen am Gegebenen darstellen. Da es Unterscheidungen sind, die das erwachende Denken bewirkt, so muss zugestanden werden, dass jene Inhalte nur auf Grund einer Th\u00e4tjgkeit des denkenden Ichs vorhanden sind. In ihr zeigt sich die sogenannte Spontaneit\u00e4t des Denkens, die sich somit schon beim Vollz\u00fcge der ersten Apperceptionsakte geltend macht. Es ist diese Th\u00e4tigkeit aber keine willk\u00fcrliche; denn die Unterscheidungen sind Unterscheidungen am Gegebenen, durch welches das Denken erst geweckt und gewisserma\u00dfen ausgel\u00f6st wird. Man kann somit nicht einen Zustand der Aufmerksamkeit voraussetzen, in welchem der Eintritt von Gegenst\u00e4nden in das Bewusstsein erwartet w\u00fcrde; man kann auch nicht das Vorhandensein eines Interesses annehmen, welches das Hervorheben bestimmter Gegenst\u00e4nde motiviren k\u00f6nnte; man kann vielmehr nur hinnehmen und aufnehmen, was geboten wird, ohne dass man es w\u00e4hlt oder w\u00fcnscht; und das sind eben all\u2019 jene Einzelerlebnisse, die als solche Gegenstand des Bewusstseins werden. Diese Apperception wird daher passend als passive Apperception1) bezeichnet.\nDieses passive Verhalten des appercipirenden Ichs hat zur Folge, dass ein appercipirter Inhalt Gegenstand der Apperception bleibt, wenn nicht ein anderer Gegenstand sich vordr\u00e4ngt. Geschieht dies jedoch, so kann der andere Gegenstand in gleicher Weise apperci-pirt werden. Es wechseln alsdann die appercipirten Gegenst\u00e4nde und es ist die M\u00f6glichkeit, bald diesen bald jenen Gegenstand zu\n1) Hierdurch, bezeichnet Wundt (Logik, I. Bd. S. 25, 2. Aufl. S. 30) die Th\u00e4tigkeit oder Willenshandlung, \u00bbwelche sich unmittelbar einer in das Bewusst-sein gehobenen Vorstellung zuwendet, lediglich weil diese als psychischer Reiz den Apperceptionsvorgang wachruft\u00ab.","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nGotti. Friedr. Lipps.\nappercipiren und so einen Wechsel in der Apperception herbeizuf\u00fchren, ebenso hervorzuheben wie das Appercipiren selbst. Kommt in dem letzteren die Spontaneit\u00e4t des Denkens zum Ausdruck, so macht sich in dem Wechsel der Apperception die discursive Beschaffenheit des Denkens bemerklich.\nEin solches Vordr\u00e4ngen eines anderen Gegenstandes ist aber nur m\u00f6glich, wenn er ein von dem ersteren verschiedener ist, weil ja sonst kein Grund zum Uebergange von dem einen zum anderen vorhanden w\u00e4re. Auf diese Weise entsteht eine Folge passiv apper-cipirter, von einander verschiedener Bewusstseinsinhalte.\nWenn aber auch ein anderer Inhalt appercipirt wird, so verschwindet doch der bereits appercipirte nicht aus dem Bewusstsein; er bleibt und er muss bleiben, soll \u00fcberhaupt ein Material sich sammeln, das zu einer Erkenntniss Anlass geben kann. Er bleibt aber nicht so, wie er bliebe, wenn nicht noch ein anderer Inhalt appercipirt w\u00fcrde ; sondern er bleibt im Zusammenh\u00e4nge mit diesem letzteren, als ein auf ihn bezogener und ihm zugesellter. So bleibt auch dieser andere Inhalt, wenn noch ein anderer zum Gegenst\u00e4nde der Apperception wird. In Folge dessen gewinnt ein jeder eine directe Beziehung zu einem anderen, der seinerseits eine Beziehung zu noch einem anderen erh\u00e4lt, und diese directen Beziehungen vermitteln die Beziehungen eines jeden zu jedem anderen. Es entsteht somit die Synthese von Bewusstseinsinhalten in der Weise, dass nicht nur der eine oder der andere, sondern sowohl der eine als auch der andere und zwar der eine modificirt durch den anderen im Bewusstsein appercipirt wird. Die zusammengefassten Inhalte sind folglich die Glieder einer Kette oder einer Reihe.\nDer Grund zu den Beziehungen, welche die Inhalte, insofern sie Glieder einer Reihe sind, gewinnen, liegt aber nicht in den Inhalten seihst, sondern lediglich in ihrer Zusammenfassung im Bewusstsein als ihrem Tr\u00e4ger. Die Zusammenfassung in eine Reihe ist daher f\u00fcr die Glieder der Reihe, an und f\u00fcr sich betrachtet, zuf\u00e4llig; sie stellt nur die Form dar, in der das Appercipirte im Bewusstsein zusammengefasst werden kann. Die Reihe wird daher nur ged\u00e4chtnissm\u00e4\u00dfig fixirt und ihre Reproduction ergibt die einzelnen Inhalte wieder als Glieder der n\u00e4mlichen Reihe, in welcher sie anf\u00e4nglich im Bewusstsein Aufnahme fanden.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcntersuebungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n181\nAus der Beschreibung des Zustandekommens der Synthese erhellt somit einerseits, dass das zur Erzeugung der logischen Ordnung zu Gebote stehende Material aus passiv appercipirten, von einander verschiedenen Bewusstseinsinhalten besteht, die sich unwillk\u00fcrlich und unbeabsichtigt im Bewusstsein zusammenfinden; es er-^ gibt sich anderseits, dass eine Uebersicht \u00fcber dieses Material gewonnen wird, indem man es in Form einer Reihe auffasst und als eine Reihe festh\u00e4lt und repro-ducirt.\nEs ist nun zu beachten, dass dieses Resultat aus zwei Theilen besteht, von welchen der erste das durch die Synthese zusammengefasste Material, der zweite die Th\u00e4tigkeit des Zusammenfassens charakterisirt. Beide Theile sind wohl von einander zu scheiden, da sie eine wesentlich verschiedene Bedeutung beanspruchen.\nDas durch die Synthese zusammengefasste Material ist es n\u00e4mlich, das die zur logischen Ordnung f\u00fchrende Denkbewegung veranlasst. Die Charakterisirung dieses Materials wird daher ihre Bedeutung dadurch erhalten, dass sie es erm\u00f6glicht, die in dem empirisch gegebenen Materiale liegenden Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen der logischen Ordnung festzustellen und die Richtung zu verstehen, in welcher das Denken sich bewegen muss, um zur logischen Ordnung zu gelangen. Diese Bedeutung liegt offen zu Tage; denn die Rolle der Synthese empirisch gegebener Bewusstseinsinhalte ersch\u00f6pft sich ja gerade in der Darbietung des Materials, das den ferneren Denkprocess veranlasst.\nDie Th\u00e4tigkeit des Zusammenfassens ist dagegen eine unmittelbare Beth\u00e4tigung des Denkens. Die Charakterisirung derselben gewinnt demgem\u00e4\u00df ihre Bedeutung dadurch, dass sie nicht die Objecte des Denkens, sondern das denkende Subject betrifft. Nun ist aber das letztere nicht ein frei schaltendes, f\u00fcr sich bestehendes Wesen, das durch das Verm\u00f6gen ausgezeichnet w\u00e4re, das Zusammensein verschiedener Gegenst\u00e4nde in Reihenform zu erfassen. W\u00e4re es ein solches, so k\u00f6nnte es wohl nebst seinen, das Zustandekommen der logischen Ordnung etwa beeinflussenden Besonderheiten direct wahrgenommen werden. Das denkende Ich existirt jedoch f\u00fcr uns nur in seiner Beth\u00e4tigung an den Objecten des","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nGotti. Friedr. Lipps.\nDenkens und es kann darum nur dadurch erkannt werden, dass man auf die Art und Weise dieser Beth\u00e4tigung achtet. Es wurde nun bisher blo\u00df in den Objecten der Anlass zur Denkth\u00e4tigkeit gesucht, w\u00e4hrend nunmehr das Denken durch die Erzeugung der Reihenform sich zu beth\u00e4tigen scheint, ohne hiezu durch die Beschaffenheit der Objecte veranlasst zu werden. Es ist daher noth-wendig, die Keihenform eingehender^ zu betrachten, damit ihre Bedeutung f\u00fcr das Zustandekommen der logischen Ordnung klar hervortrete.\n\u00a7 5.\nZu diesem Zwecke muss das Entstehen einer Erkenntniss wohl unterschieden werden von der Reflexion \u00fcber dieses Entstehen.\nDie zur Erkenntniss f\u00fchrenden Denkprocesse werden n\u00e4mlich unmittelbar und unwillk\u00fcrlich in bestimmten Formen vollzogen, deren man sich dabei nicht bewusst wird, an die man aber gebunden ist. Man wird sich derselben nicht bewusst, weil das Interesse, wie es zur thats\u00e4chlichen Gewinnung von Erkenntnissen nothwendig ist, den Objecten des Denkens sich zuwendet. Es m\u00fcssten somit auch jene Formen, falls sie unmittelbare Beachtung finden sollten, Gegenst\u00e4nde des Bewusstseins werden, an welchen das Denken sich beth\u00e4tigen k\u00f6nnte. Sie sind aber keine Denkobjecte, sondern Formen, in welchen das Denken sich bewegt. Man ist jedoch an diese Formen gebunden. Denn sie machen sich unwillk\u00fcrlich an den Objecten des Denkens bemerklich und pr\u00e4gen denselben Spuren auf, die nicht durch die Objecte selbst begr\u00fcndet sind. Das auf ein thats\u00e4chliches Erkennen gerichtete Denken wird daher jene Spuren allerdings wahrnehmen, aber ihre Bedeutung nicht verstehen k\u00f6nnen, da es ja blo\u00df die Objecte ins Auge fasst.\nAnders ist es, wenn man \u00fcber das Entstehen einer Erkenntniss refl^ctirt. In diesem Falle wird das Erkennen selbst zum Gegenst\u00e4nde des Denkens. Es werden darum auch die Formen, an die das Denken gebunden ist, direct wahrnehmbar, und man gewinnt in ihnen neue Bewusstseinsinhalte, deren Wesen und Bedeutung erforscht werden kann. Es ist aber zu beachten, dass die Reflexion \u00fcber das Entstehen einer Erkenntniss es ist, die in den Denkformen selbst\u00e4ndige^Bewusstseinsinhalte gewinnt. Es w\u00e4re darum eine Ver-","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t183\nkehrung des wirklich bestehenden Sachverhaltes, wollte man die Denkformen zu Objecten des Denkens gestalten und an die Spitze des Erkennens stellen, w\u00e4hrend dieselben doch erst durch die wirklich vollzogene Denkarbeit an den Gegenst\u00e4nden des Denkens bemerkbar werden k\u00f6nnen. Der Weg zur Erkenntniss wird vielmehr durch eine solche Deflexion blo\u00df beleuchtet, indem klar wird, dass das Erkennen nicht nur durch die Beschaffenheit der verarbeiteten Objecte, sondern auch durch die dem Denken eigenthiimliche Form des Yerarbeitens beeinflusst wird.\nDie durch die Deflexion gewonnenen Desultate erhalten somit f\u00fcr das Erkennen selbst ihre Bedeutung dadurch, dass sie es erm\u00f6glichen, in dem an bestimmte Formen gebundenen Denken den Grund f\u00fcr Beziehungen zu finden, die an den Objekten des Denkens zu Tage treten, ohne durch diese selbst bedingt zu sein.\nBeachtet man dies, so wird es nicht befremden, dass die Betrachtung des Zustandekommens der Synthese auf Beziehungen aufmerksam machte, die nicht durch die zusammengefassten Objecte selbst begr\u00fcndet sind, die jedoch an denselben zu Tage treten und sie als Glieder einer Deihe erscheinen lassen. Dass die Objecte, f\u00fcr sich betrachtet, nicht den Grund zur Aneinanderreihung in sich tragen, wird daraus klar, dass sie nur dann als Glieder einer Deihe sich bemerklich machen, wenn das Erfassen ihres Zusammenseins durch das Denken in Frage kommt. Jene Beziehungen k\u00f6nnen deshalb nur im denkenden Subjecte begr\u00fcndet sein, obgleich die Objecte es sind, welche, in Form einer Deihe aufgefasst, festgehalten und reproducirt werden. Die Deihenform kann daher als eine subjective Form des Denkens bezeichnet werden.\nSie ist als solche von der Natur der zusammengefassten Objecte v\u00f6llig unabh\u00e4ngig, da sie ja nur der Degel entspringt, nach welcher ein Zusammensein \u00fcberhaupt, nicht aber das Zusammensein dieser oder jener Gegenst\u00e4nde erfasst werden kann. Sie zeigt sich daher nicht blo\u00df, wenn das von der Erfahrung dargebotene Zusammensein passiv appercipirter, von einander verschiedener Bewusstseinsinhalte erfasst werden soll, sondern in gleicher Weise, wenn es sich um das Erfassen eines Zusammenseins handelt, welches durch das Denken selbst erst geschaffen wird, wobei es \u00fcberdies gleichg\u00fcltig ist, ob ein erlebtes oder ein durch das Denken erst zubereitetes","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nGotti. Friedr. Lipps.\nMaterial zusammengefasst wird. In Folge dessen erweist sich das Denken und Ordnen in seinem ganzen Umfange von der Reihenform beherrscht, indem jedes durch das Denken bewirkte Erfassen eines Zusammenseins apperci-pirter Bewusstseinsinhalte in der Form einer Reihe sich vollzieht.\nEs ist aber zu betonen, dass dieses reihenf\u00f6rmige Zusammen-fassen einen urspr\u00fcnglichen Process darstellt, den man blo\u00df con-statiren, aber nicht begr\u00fcnden oder ableiten kann. Denn man muss ihn schon bemerken, wenn man das Zustandekommen der Synthese unmittelbar erlebter Bewusstseinsinhalte betrachtet. Es kommt ihm daher eine \u00e4hnliche Bedeutung zu, wie dem apperceptiven Erfassen eines einzelnen Bewusstseinsinhaltes, so dass das reihenf\u00f6rmige Erfassen des Zusammenseins appercipirter Objecte im Bewusstsein in \u00e4hnlicher Weise ein elementarer.Vorgang ist, wie die Apperception eines Bewusstseinsobjectes.\nDiese Einsicht in die subjective, fundamentale und elementare Natur der Reihenform ist aber lediglich der Reflexion zu verdanken, welche das Zustandekommen der Synthese betrachtete und auf diese Weise in der Reihenform einen selbst\u00e4ndigen Bewusstseinsinhalt gewann, dessen Wesen erforscht werden konnte. Dagegen wird der zur logischen Ordnung wirklich f\u00fchrende Denkprocess von dem Zusammensein appercipirter Objecte als einer vollendeten Thatsache ausgehen, ohne die Erkenntniss zu zeitigen, dass jenes Zusammensein in Form einer Reihe erfasst wird. Die Reihenform wird sich vielmehr unvermerkt von selbst darbieten. Denn wie das Vollziehen des Apperceptionsaktes nicht ein Reflectiren \u00fcber denselben zur 1 Voraussetzung hat, so ist auch das thats\u00e4chliche Erfassen eines Zusammenseins appercipirter Objecte nicht von der Erkenntniss der j Art und Weise dieses Erfassens abh\u00e4ngig. Man darf demnach nicht die im denkenden_Subjecte begr\u00fcndete Aneinanderreihung von Bewusstseinsinhalten unvermittelt zu einem Objecte des Denkens machen, falls man das Entstehen der logischen Ordnung verfolgen will. Man muss vielmehr auf das Zusammensein empirisch gegebener Objecte im Bewusstsein zur\u00fcckgehen und den dadurch ausgel\u00f6sten, die logische Ordnung erzeugenden Denkprocess wirklich verfolgen.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t185\nWenn nun so der Schein entsteht, als ob durch die bisherigen Bem\u00fchungen das Ziel, zur logischen Ordnung und zur Zahl zu gelangen, um nichts n\u00e4her ger\u00fcckt sei, so muss man bedenken, dass die wirklicheErzeugung der logischen Ordnung und der Zahl nur den Zweck hat, das Begreifen der logischen Ordnung und der Zahl zu erm\u00f6glichen und dass der Zweck erreicht wird, wenn die Reflexion als Begleiterin jenes Erzeugungsprocesses die Bedingungen, an welche die logische Ordnung und die Zahl gekn\u00fcpft ist, hervorhebt.\nDie Ergebnisse der Reflexion \u00fcber das Zustandekommen der Synthese sind daher keineswegs \u00fcberfl\u00fcssig, obwohl durch sie die logische Ordnung selbst noch nicht gewonnen wird. Denn das Begreifen der logischen Ordn\u00fcng wird gef\u00f6rdert, indem die Reflexion in der Reihe die Form findet, in der ein Zusammensein apperci-pirter Objecte denkend erfasst wird. Nur ist in Erw\u00e4gung zu ziehen, dass die Reihenform als Gegenstand der Reflexion zu einem besonderen Bewusstseinsinhalte wird, dass sie aber in dem zur logischen Ordnung f\u00fchrenden Denkprpcesse nur an den Objecten des Denkens zu Tag treten kann, indem die letzteren Merkmale gewinnen, die ihnen durch das reihenformige Erfassen vom Denken aufgepr\u00e4gt werden. Insofern sie als Ergebniss der Reflexion sich darstellte, konnte sie in ihrer subjectiven, fundamentalen und elementaren Natur erkannt werden. Diese Erkenntniss dient nun dazu, ihre Bedeutung f\u00fcr die logische Ordnung verst\u00e4ndlich zu machen. Denn es ist ja m\u00f6glich, dass ein Zusammensein appercipirter Gegenst\u00e4nde im Bewusstsein irgendwie logisch motivirt ist, dass aber ein ordnendes Zusammenfassen derselben blo\u00df der Regel entspringt, nach welcher das Denken ein Zusammensein reihenf\u00f6rmig erfasst. Alsdann gewinnen die zusammengefassten Objecte Beziehungen, die nur dann richtig aufgefasst werden k\u00f6nnen, wenn man in der durch die Reflexion bereits hervorgehobenen Reihenform ihre Quelle erkennt. Man findet somit in der Reihenform ein im denkenden Subjecte begr\u00fcndetes ordnendes Princip, das beim Zustandekommen der logischen Ordnung sich wirksam erweisen wird.\nEs erw\u00e4chst hieraus die Aufgabe, den Einfluss der_Reihenform \u00dc\u00fff die logische Ordnung zu beachten und insbesondere die Beson-Wundt, Philos. Studien. X.\t13","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nGotti. Friedr. Lipps.\nderheiten hervorzuheben, die sich bemerklich machen, wenn die Reihe als Form des zusammenfassenden Denkens einen vollendeten und vollkommenen Ausdruck in den zusammengefassten Objecten gewinnt. Diese Aufgabe ist aber f\u00fcr das hier verfolgte Ziel von wesentlicher Bedeutung. Es erhellt dies zur Gen\u00fcge, wenn vorgreifend bemerkt wird, dass die logische Ordnung, welche lediglich in der subjectiven Form des Erfassens eines logisch motivirten Zusammenseins appercipirter Objecte begr\u00fcndet ist, die Keime zur Zahlenreihe enth\u00e4lt.\nDie Bedeutung der von der Reflexion hervorgehobenen Reihenform besteht nun wesentlich in der Stellung dieser Aufgabe. Dieselbe kann jedoch nur gel\u00f6st werden, wenn die logische Ordnung wirklich zu Stande kommt. Hiebei wird aber nicht blo\u00df die im denkenden Subjecte begr\u00fcndete Reihenform in den Objecten des Denkens eine Gestalt gewinnen, sondern es werden auch die Objecte des Denkens zu ihrem Rechte kommen und zur Erkenntniss eines in ihnen begr\u00fcndeten, objectiv ordnenden Princips f\u00fchren. Denn es gewinnt ja das Denken seinen Gehalt durch das von der Erfahrung gebotene Material, dessen Beschaffenheit den Denkpro-cess ausl\u00f6st, der zur logischen Ordnung f\u00fchrt. Es kann darum auch das in der Reihenform gewonnene Resultat der Reflexion \u00fcber das Zustandekommen der Synthese blo\u00df die Einsicht bewirken, dass die Reihe als subjective Form, in der ein Zusammensein appercipirter Gegenst\u00e4nde erfasst wird, die Denkarbeit in ihrem ganzen Umfange beherrschen und je nach der Beschaffenheit der im Denken zusammengefassten Objgcte mehr oder minder Gelegenheit haben wird, sich der Beachtung aufzudr\u00e4ngen. Die Objecte des Denkens selbst sind daher ins Auge zu fassen, wenn man das Zustandekommen der logischen Ordnung betrachten will.\n\u00a7 6.\nL\u00e4sst man demgem\u00e4\u00df die bisher besprochene subjective Form, in der ein Zusammensein von Bewusstseinsinhalten erfasst werden kann, unbeachtet, so f\u00f6rdert die Betrachtung des Zustandekommens der Synthese blo\u00df die Einsicht zu Tage, dass empirisch gegebene, passiv appercipirte und darum von einander verschiedene Inhalte","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik. _\t187\nzusammengefasst werden, die durch ihr Zusammensein zun\u00e4chst nichts weiter gewinnen, als dass der eine in gleicher Weise wie der andere Gegenstand des Bewusstseins ist. Die Objecte sind daher in dem durch die Erfahrung vermittelten Zusammensein noch nicht logisch geordnet. Die logische Ordnung muss vielmehr erst erzeugt werden.\nDas Erlebte zeigt zwar eine Ordnung, die durch die unvermeidlichen Beziehungen der Einzelinhalte zum Gesammtinhalte des Bewusstseins begr\u00fcndet ist. Es ist dies die anschauliche, zeitlichr\u00e4umliche Ordnung. In ihr bietet sich das Erlebte dar und sie veranlasst das Denken, die relative Best\u00e4ndigkeit des r\u00e4umlichen Seins und des zeitlichen Geschehens zu erkl\u00e4ren und nach Gesetzen zu forschen, denen das Erlebte im Raume und in der Zeit unterliegt. Sie ist aber keine logische Ordnung ; denn sie bedarf ja der logischen Begr\u00fcndung und veranlasst so das Problem, das Wirkliche, in seiner anschaulich gegebenen Form, als vern\u00fcnftig darzulegen. Die L\u00f6sung dieses Problems setzt jedoch voraus, dass man \u00fcber das Wesen der logischen Ordnung selbst schon Klarheit besitze; denn nur dann ist es m\u00f6glich nach einer Verwirklichung der logischen Ordnung im anschaulich Erlebten zu forschen. Da es sich nun f\u00fcr uns wesentlich um das Begreifen der logischen Ordnung handelt, so ist es zun\u00e4chst ohne Interesse, ob das Wirkliche thats\u00e4chlich als vern\u00fcnftig dargestellt werden kann. Denn auch in ihrer logischen Begr\u00fcndung kann die anschauliche Ordnung im g\u00fcnstigsten Falle blo\u00df ein Beispiel von logischer Ordnung darstellen, ohne mit dieser selbst identisch zu sein. Die logische Ordnung wird daher blo\u00df im Denken und f\u00fcr das Denken existiren.\nVom thats\u00e4chlich Erlebten muss jedoch ausgegangen werden. Da sich dieses nun einmal in der r\u00e4umlich-zeitlichen Form darbietet, so kann wohl auch der Fall eintreten, dass Besonderheiten, die in der anschaulichen Ordnung begr\u00fcndet sind, den zur logischen Ordnung f\u00fchrenden Denkprocess beeinflussen. Dies kann jedoch nur in der Weise geschehen, dass den Objecten, an sich betrachtet, Merkmale zugelegt werden, die ihren Ursprung in der r\u00e4umlichzeitlichen Form des Gegebenen haben. Denn es ist ja an den Bewusstseinsinhalten nur die ihnen an sich zukommende Beschaffenheit in Betracht zu ziehen, da sie es ist, die den Apperceptions-vorgang veranlasst und durch denselben als Gegenstand des Denkens\n13*","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nGotti. Friedr. Lipps.\nhervorgehoben wird. Bezeichnet man dieselbe, wie es fr\u00fcher schon geschah, als Qualit\u00e4t, so k\u00f6nnen demnach jene anschaulichen Merkmale nicht wegen ihrer Herkunft eine besondere Bedeutung beanspruchen, sondern nur als ein Beitrag zur Qualit\u00e4t der Bewusstseinsinhalte zur Geltung kommen. . Es kommt aber nur darauf an, dass den Bewusstseinsinhalten, an sich betrachtet, \u00fcberhaupt eine Qualit\u00e4t zukommt, und dies ist schon auf Grund des Vorhandenseins einer specifisch psychologischen Qualit\u00e4t der Fall. Man hat es darum gar nicht n\u00f6thig, auf die M\u00f6glichkeit, anschauliche Merkmale durch die Apperception hervorzuheben, Gewicht zu legen, und wir lassen dieselbe ganz au\u00dfer Acht, um nicht den Schein zu erwecken, als oh die logische Ordnung auf die anschauliche sich st\u00fctze und folglich auch die Zahlen durch die anschauliche Ordnung des Gegebenen bedingt seien.\nEs wird so evident, dass das Zusammensein der appercipirten Bewusstseinsobjecte blo\u00df einen Widerstreit ihrer verschiedenen Qualit\u00e4ten und dadurch ein Vergleichen derselben zur Folge haben kann. Da das Zusammensein ein erlebtes ist, so ist der Antheil der Erfahrung an den durch das Vergleichen gewonnenen Resultaten au\u00dfer Frage gestellt. Denn ob ein Resultat \u00fcberhaupt erzielt wird und welcher Art dasselbe ist, h\u00e4ngt doch von der empirisch gegebenen Beschaffenheit der verglichenen Bewusstseinsinhalte ah. In der Erfahrung wird daher auch die logische Ordnung wurzeln, indem das, was logisch geordnet werden kann, von jener geboten wird und darum so vielgestaltig ist, wie die Erfahrung selbst.\nMan gewinnt dadurch die Einsicht, dass nur die Erfahrung das Material zur logischen Ordnung darbietet und dass jedes Beispiel einer solchen aus der Erfahrung gesch\u00f6pft werden muss. Es gen\u00fcgt jedoch diese Einsicht und es ist nicht n\u00f6thig, das weite Feld der Erfahrung zu durchforschen, um den Stoff, der logisch geordnet werden kann, in seinem ganzen Umfange kennen zu lernen. Denn es kann sich hier nur darum handeln, die durch die Erfahrung erf\u00fcllte Bedingung, die das Zustandekommen der logischen Ordnung erm\u00f6glicht, hervorzuhehen. Dieselbe erhellt, wenn man zusieht, wozu das Vergleichen der zusammengefassten Bewusstseinsinhalte f\u00fchrt.\nEs ist nun Thatsache, dass durch das Vergleichen gemeinsame","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n189\nMerkmale an dem Zusammengefassten wahrgenommen werden. Sie werden ohne Zweifel erst durch das Vergleichen bemerkt. Sie bestehen aber nicht blo\u00df f\u00fcr das Vergleichen, sondern, einmal bemerkt, werden sie auch an den f\u00fcr sich betrachteten Objecten wahrgenommen. Man fasst sie darum als Elemente der Objecte auf. Dies w\u00e4re offenbar nicht m\u00f6glich, wenn die Bewusstseinsinhalte nicht von der Erfahrung als thats\u00e4chlich mit unterscheidbaren Merkmalen behaftet dargeboten w\u00fcrden, und darin besteht eben die von der Erfahrung erf\u00fcllte Bedingung, welche ein erfolgreiches Vergleichen des Zusammengefassten und dadurch ein logisches Ordnen erm\u00f6glicht.\nSo findet man beispielsweise, wenn man die specifisch psychologische Qualit\u00e4t der Bewusstseinsinhalte ins Auge fasst, verschiedene Arten einfacher Empfindungen, wie Farben- und Tonempfindungen, und die specifisch psychologische Structur der Bewusstseinsinhalte ist erfahrungsgem\u00e4\u00df der Art, dass Verschmelzungen gleichartiger und Complicationen ungleichartiger Empfindungen den Empfindungsinhalt ausmachen. Anderseits erweisen sich die als Dinge bezeichneten Gegenst\u00e4nde des Bewusstseins als behaftet mit Eigenschaften und wechselnden Zust\u00e4nden.\nIn dem^Bemerken gemeinsamer Elemente besteht somit wesentlich das durch die Erfahrung erm\u00f6glichte Resultat, welches durch Vergleichen der zusammengefassten, empirisch gegebenen Bewusstseinsinhalte erzielt wird.\nIn diesem Resultate ersch\u00f6pft sich f\u00fcr uns die Bedeutung, die ein erlebtes Zusammensein von Bewusstseinsinhalten f\u00fcr das Zustandekommen der logischen Ordnung hat. Diese Bedeutung muss nur noch in das richtige Licht gestellt werden, damit auch der auf ihr beruhende Denkprocess seine Erhellung finde, und es ersichtlich werde, wie man auf Grund hervorgehobener Elemente oder Merkmale zu einer durch das Denken motivirten Zusammenfassung von Bewusstseinsinhalten und zu einer f\u00fcr das Denken zu Recht bestehenden Beziehung zwischen dem Zusammengefassten gelange.\nZun\u00e4chst ist hervorzuheben, dass an dem empirisch gegebenen Zusammensein von Objecten nur das wesentlich ist, dass es nicht durch das Denken veranlasst ist. Es kommt daher nicht darauf an,","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nGotti. Friedr. Lipps.\nob jene Objecte irgend wann gleichzeitig wahrgenommen, oder ob sie als eine zeitliche Succession im Bewusstsein zusammengefasst werden; es ist sogar nicht einmal n\u00f6thig, dass das erlebte Zusammensein wirklich als ein fertiges Zusammensein vorliege. Es k\u00f6nnen vielmehr die zusammengefassten Objecte auch durch Association sich allm\u00e4hlich vergesellschaften. Nur darf die Association nicht durch das auf eine Erkenntniss abzielende Denken begr\u00fcndet sein, sondern sie darf lediglich durch den psychologischen Mechanismus bewirkt werden, der wegen des Fehlens logischer Motive als blind wirkender bezeichnet werden kann. H\u00e4lt man dies fest, so kann man ohne Bedenken darauf hinweisen, dass die Bewusstseinsinhalte z. B. bez\u00fcglich ihrer specifisch psychologischen Qualit\u00e4t als Associationen einfacher Empfindungen aufgefasst werden k\u00f6nnen, und dass m\u00f6glicherweise jeder aus Elementen zusammengesetzte Bewusstseinsinhalt, wofern nur diese Elemente der Beachtung sich aufzudr\u00e4ngen verm\u00f6gen, als Beispiel einer durch die Erfahrung dargebotenen Association eben jener Elemente dienen kann. Denn man hat es gar nicht n\u00f6thig, unter den Bewusstseinsobjecten nur selbst\u00e4ndige Dinge sich vorzustellen; es k\u00f6nnen vielmehr auch Eigenschaften und Zust\u00e4nde, Ereignisse und Erscheinungen unter jenen Objecten verstanden werden. Es kann so allerdings Vorkommen, dass das n\u00e4mliche Object einmal als unmittelbares Erlebniss, ein andermal als Resultat des Vergleichens empirisch zusammengefasster Bewusstseinsinhalte sich darstellt. Und es ist nicht einmal m\u00f6glich, einen Unterschied zwischen beiden F\u00e4llen dadurch zu con-struiren, dass man sagt, im zweiten Falle werde das Object durch einen Abstractionsprocess hervorgehoben, der im ersten Falle fehle. Denn auch als Glieder eines erlebten Zusammenseins existiren die Bewusstseinsinhalte nur auf Grund der Apperception, die stets von einem Abstractionsvorgange begleitet sein kann. So sollte ja beispielsweise von vornherein jede R\u00fccksicht auf die Beziehungen der Einzelinhalte zum Gesammtinhalte des Bewusstseins bei Seite gelassen werden. \u2014 Es ist aber das Resultat des Vergleichens darum doch nicht illusorisch und etwa blo\u00df einer Fortsetzung des n\u00e4mlichen Processes zu verdanken, der die Einzelinhalte des Bewusstseins als Abscheidungen vom gegebenen Gesammtcomplexe des Erlebten zur Folge hatte. Denn dieses Abscheiden konnte lediglich","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n191\ndurch die verselbst\u00e4ndigten Objecte selbst veranlasst werden, so dass die Apperception eine passive genannt werden musste; das Vergleichen entspringt dagegen dem Streben nach Erkenntniss, und die Resultate desselben sind nicht die Folge eines passiven Bemerkens, sondern eines activen Hervorhebens, durch das ein denknothwendiger Zusammenhang zwischen den Objecten hergestellt werden soll.\nEs ist daher auch hervorzuheben, dass die Resultate des Ver-gleichens zwar, an sich betrachtet, keineswegs neue, von allen bisherigen verschiedene Inhalte des Bewusstseins darstellen m\u00fcssen, dass ihnen aber durch das eine Erkenntniss erstrebende Denken eine besondere Bedeutung zu Theil wird, die ihnen abgeht, wenn sie blo\u00df als Erlebnisse ins Bewusstsein treten.\nZur Erzeugung der logischen Ordnung steht folglich kejjLjjg-sonderes, eigent\u00fcmliches Material, zu Gebote, das erst aus dem empirisch Gegebenen zubereitet werden m\u00fcsste, ohne dass es m\u00f6glicher Weise auch von der Erfahrung direct dargeboten werden k\u00f6nnte. Es bleibt daher zur Ergr\u00fcndung des Wesens der logischen Ordnung blo\u00df \u00fcbrig, den Denkprocess zu charakterisiren, den das Bemerken gemeinsamer Merkmale an den verglichenen, empirisch zusammengefassten Objecten veranlasst.\n\u00a77.\nDas Hervorheben gemeinsamer Merkmale bewirkt nun ein allm\u00e4hliches Vergesellscliaften all\u2019 jener Bewusstseinsinhalte, welche diese Merkmale besitzen. Durch die Erfahrung werden sie dargeboten und sie werden in dem Ma\u00dfe durch das Denken zusammengefasst, in welchem die Erfahrung sie kennen lehrt. Ihr Zusammensein wird daher nicht erlebt; es existirt blo\u00df f\u00fcr das Denken und es ist ein logisch begr\u00fcndetes Zusammensein, da es lediglich durch die hervorgehobenen gemeinsamen Merkmale motivirt wird. Die Individualit\u00e4t der erlebten Bewusstseinsinhalte kommt dabei zun\u00e4chst gar nicht in Betracht, indem jeder derselben die n\u00e4mliche Bedeutung gewinnt, insofern er der Tr\u00e4ger der n\u00e4mlichen Merkmale ist.\nSo bildet z. B. das Bemerken gemeinsamer Merkmale den Anlass, die Thiere oder die Pflanzen, die physikalischen oder die chemischen Erscheinungen durch das Denken im Bewusstsein zusammen-","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nGotti. Friedr. Lipps.\nzufassen. Die Erfahrung liefert den Stoff; das Zusammenfassen selbst ist aber ein Werk des Denkens und findet seine Begr\u00fcndung durch die hervorgehobenen gemeinsamen Merkmale. Da nun diese letzteren dem Denken als St\u00fctze dienen, wenn es die zusammengefassten Dinge oder Erscheinungen zu begreifen sucht, so liegt ihre Bedeutung f\u00fcr das Begreifen des Zusammengefassten offen zu Tage und sie k\u00f6nnen darum, wie es \u00fcblich ist, als Inhalt des schlie\u00dflich resultirenden Begriffs bezeichnet werden, w\u00e4hrend die zusammengefassten Objjjcte den Unjfang des Begriffs darstellen. Es ist aber kein Grund vorhanden, darauf besonderes Gewicht zu legen. Das Wesentliche, das hervorgehoben werden muss, besteht vielmehr darin, dass die durch das Vergleichen erlebter Bewusstseinsinhalte gefundenen gemeinsamen Merkmale zu einem durch das Denken geschaffenen und durch das Denken begr\u00fcndeten Zusammensein von Bewusstseinsinhalten im Bewusstsein f\u00fchren.\nEs kommt nun zwar, so lange man nur die Begr\u00fcndung des Zusammenseins im Auge hat, der einzelne Bewusstseinsinhalt blo\u00df als Tr\u00e4ger der gemeinsamen Merkmale in Betracht. Er bleibt aber dennoch was er ist und verliert seine Individualit\u00e4t nicht. Dieselbe kann m\u00f6glicherweise auch f\u00fcr das Denken eine Bedeutung gewinnen und das Unterscheiden untergeordneter Gruppen von Dingen oder Erscheinungen, oder das directe Studium der lebensvollen Wirklichkeit selbst veranlassen. Wie dem auch sein mag, jedenfalls ist es m\u00f6glich dass an dem durch das Denken Zusammengefassten neben dem Gemeinsamen auch das Verschiedene Beachtung finden kann. Dies wird zum Anlass, das Eine auf das Andere zu beziehen und so die Mannigfaltigkeit des dem Denken sich Darbietenden zu ordnen. Die im Vorhergehenden bereits hervorgehobene Reihenform kommt hier zur Verwendung. Denn die ordnenden Beziehungen kommen zu Stande, indem das Denken von dem Einen zu einem Anderen \u00fcbergeht und so das Zusammengefasste in eine Reihe formt. Die Beziehungen^selbst entspringen jedoch nicht dieser Form, sondern den Objecten, welche allein das Interesse in Anspruch nehmen und den Uebergang des Denkens von dem Einen zu einem Anderen veranlassen. Nur durch Betrachten der Objecte kann es daher zur Entscheidung gebracht werden, wie das Denken","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n193\ndazu kommt, Wesentliches von Unwesentlichem zu scheiden und in dem in seiner Bedeutung erkannten Einen den Grund zu finden, aus dem ein Anderes folgt.\nMan vermag allerdings verschiedene Arten der so entstehenden Abh\u00e4ngigkeit zwischen den Objecten des Denkens zu unterscheiden, indem die M\u00f6glichkeit eingesehen werden kann, dass das Eine direct vom Anderen abh\u00e4ngt, oder dass die Abh\u00e4ngigkeit erst durch Zwischenglieder vermittelt wird; dass ferner nicht blo\u00df jenes durch dieses, sondern auch dieses durch jenes bedingt ist; dass schlie\u00dflich das Eine als in einem Andern enthalten und somit ihm untergeordnet erkannt wird, oder dass beide durch verschiedene Merkmale unterschieden, aber durch das Denken, gleichberechtigt, einem Dritten untergeordnet werden und so im Verh\u00e4ltniss der Beiordnung stehen. Aber auch diese Erkenntniss, dass die Abh\u00e4ngigkeit eine directe oder vermittelte, eine einseitig oder wechselweise bestimmte sein, und das Gewand der Ueber- und Unterordnung oder dasjenige der Beiordnung tragen kann, ist nur der Betrachtung von Abh\u00e4ngigkeitsbestimmungen, die thats\u00e4chlich vollf\u00fchrt werden, zu verdanken. Sie ersch\u00f6pft aber keineswegs die F\u00fclle der thats\u00e4chlich durch das Denken geschaffenen Beziehungen. So verschiedenartig dieselben; aber auch sein m\u00f6gen, so k\u00f6nnen sie doch als Modifikationen der allgemeinen Beziehung des Grundes zur Folge bezeichnet werden, j\nEs muss daher hervorgehoben werden, dass jede durch das Denken geschaffene Abh\u00e4ngigkeit eine besondere, der Natur der untersuchten Denkobjecte angepasste Gestaltung der allgemeinen Beziehung des Grundes zur Folge darstellt, und dass folglich jedes durch die Objecte selbst motivirte ordnende Zusammenfassen durch das Verh\u00e4ltniss des Grundes zur Folge seine Charakterisirung erh\u00e4lt.\nIndem somit die Objecte das Denken veranlassen, Abh\u00e4ngigkeiten zu schaffen, durch welche das Eine zu einem Anderen in die Beziehung des Grundes zur Folge gebracht wird, findet man m dem Verh\u00e4ltniss des Grundes zur Folge das objectiv ordnende Princip des Denkens. Es hat eine fundamen-tale Bedeutung, weil es jedes durch die Objecte motivirte Ordnen charakterisirt. Es hat aber auch einen urspr\u00fcng-. eltm.e.n.taren Charakter, weil es nicht selbst wieder begr\u00fcndet oder abgeleitet werden kann, da es ja die","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nGotti. Friedr. Lipps.\nForm darstellt, in der das Denken sich bewegt, wenn es durch die Objecte geleitet wird.\nDieses objectiv ordnende Princip stellt sich so neben das in der Beihenform bereits gefundene subjectivordnende Princip, dessen elementare und fundamentale Bedeutung schon fr\u00fcher dargelegt wurde.\nEs lassen sich daher die Ergebnisse der auf die Erkenntniss der logischen Ordnung gerichteten Bem\u00fchungen in folgendem Be-sultate zusammenfassen: Die logische Ordnung kommt zu Stande, indem das Denken eine Mannigfaltigkeit verschiedener Bewusstseinsinhalte im Bewusstsein auf Grund gemeinsamer Merkmale zusammenfasst und dadurch, dass es die Bewusstseinsinhalte nach Grund und Folge auf einander bezieht, eine Beihe schafft, deren Glieder im Verh\u00e4ltnisse des Grundes zur Folge stehen. \u2014 Die logische Ordnung wird daher dadurch charakterisirt, dass erstens ein Zusammensein von Bewusstseinsinhalten durch das Denken begr\u00fcndet wird, dass zweitens das Zusammensein in Form einer Beihe erfasst wird, und dass drittens die Glieder der Beihe durch die Beziehung des Grundes zur Folge mit einander verkn\u00fcpft werden.\nAus diesem Besultate ergibt sich nun auch unmittelbar die L\u00f6sung der fr\u00fcher gestellten Aufgabe, die Besonderheiten anzugeben, die zu Tage treten, wenn die logische Ordnung blo\u00df dem subjectiv ordnenden Principe entspringt und folglich den zusammengefassten Objecten nur die Merkmale der Beihenform durch das Denken angeheftet werden.\nDa jedes Ordnen das Vorhandensein von Gegenst\u00e4nden des Ordnens voraussetzt, so muss auch in diesem Falle ein Zusammensein von Bewusstseinsinhalten vorliegen. Jeder Bewusstseinsinhalt hat nun seine unverlierbare Individualit\u00e4t; er ist auf Grund derselben von jedem anderen unterscheidbar und es muss so sein, falls jeder neben jedem sich behaupten soll. Wenn nun aber das Denken keinen Anlass haben soll, die Objecte auf Grund ihrer Verschiedenheit auf einander zu beziehen und dadurch eine objective Ordnung zu schaffen, so muss offenbar jedes Object das n\u00e4mliche Interesse beanspruchen wie jedes andere; es k\u00f6nnen daher blo\u00df gemeinsame","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n195\nMerkmale das Denken in Anspruch nehmen und so ein Zusammensein begr\u00fcnden. Die Bewusstseinsinhalte werden daher zwrar verschiedene Individuen, aber gleichwerthigeJDenkobjecte sein, und es ist klar, dass durch das Erfassen ihres Zusammenseins blo\u00df diejenigen Beziehungen zu Tage treten, die durch die Fryrm des Erfassens bedingt sind und die schon bei der Betrachtung des Erfassens eines erlebten Zusammenseins sich bemerklich machten. Sie entstehen dadurch, dass man von dem Einen zu einem Andern \u00fcbergeht, und sie bestehen darin, dass die Individualit\u00e4t des einen Bewusstseinsinhaltes f\u00fcr das Denken die Bedeutung gewinnt, auf einen andern, gleichfalls individuell bestimmten Bewusstseinsinhalt hinzuf\u00fchren und mit ihm in ged\u00e4chtnissm\u00e4\u00dfig fixirtem Zusammenhang zu stehen.\nDie Individualit\u00e4t der Bewusstseinsinhalte kommt somit allerdings dennoch zur Geltung, aber nicht als Grund, der das Denken veranlasst, ihr einen anderen Bewusstseinsinhalt als Folge beizugesellen, sondern blo\u00df als Mittel, um den Bewusstseinsinhalten die Merkmale, durch welche sie bestimmte Glieder der zusammengefassten Reihe werden, aufzupr\u00e4gen. Diese Merkmale sind daher unmittelbar mit den zusammengefassten Bewusstseinsinhalten verschmolzen, und, wenn der Process des Aneinanderreihens sich wiederholt, so werden die n\u00e4mlichen Merkmale in gleicher Weise mit den nunmehr aneinandergereihten Bewusstseinsinhalten verschmelzen.\nErst durch das Vergleichen verschiedener Ausf\u00fchrungen des n\u00e4mlichen Processes wird man zu einem Verselbst\u00e4ndigen der Merkmale der Reihenform gelangen. Man kann zwar offenbar auch dann individuell bestimmte Bewusstseinsinhalte nicht entbehren, man wird aber denselben nur die Bedeutung zulegen, dadurch, dass sie in einem ged\u00e4chtnissm\u00e4\u00dfig fixirten Zusammenh\u00e4nge stehen, Glieder der Reihe zu markiren, die von einem vorhergehenden zu einem nachfolgenden den Uebergang vermitteln. Auf diese Weise schafft man eine Normalreihe von Bewusstseinsinhalten, in welcher die subjective Form, in der ein Zusammensein erfasst werden kann, zu obj ectiver Darstellung gelangt und deren Glieder lediglich die Tr\u00e4ger von Merkmalen der Reihenform sind.\nEs kann indessen blo\u00df die Nothwendigkeit, eine Normalreihe","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nGotti. Friedr. Lipps.\n\u00fcberhaupt zu schaffen, auf diese Weise eingesehen werden. Das thats\u00e4chliche^Herstellen einer Noimalreihe wird dagegen durch Zuf\u00e4lligkeiten bedingt sein, so dass im Grunde genommen jeder einzelne Mensch, mindestens aber jede in wechselweiser Beeinflussung lebende Gemeinschaft von Menschen zur Bildung einer besonderen Normalreihe gelangen kann. Da der Mensch ein mit Sprache begabtes Wesen ist, so liegt es nahe, besondere Laute oder W\u00f6rter und \u00fcberdies, wenn der Besitz der Schrift hinzukommt, besondere Schriftzeichen als Tr\u00e4ger jener Merkmale der Reihenform zu schaffen. Auch ist es nicht n\u00f6thig, die Erzeugung einer Normalreihe von Anfang an als Ergebniss wissenschaftlicher Reflexion \u00fcber den sub-jectiven Process des Erfassens eines Zusammenseins von Bewusstseinsinhalten im Bewusstsein aufzufassen. Praktische Bed\u00fcrfnisse werden vielmehr den ersten Ansto\u00df gehen. Denn die Normalreihe hat auch einen praktischen Werth, der darin besteht, dass sie das Erfassen eines vorliegenden Zusammenseins von Objecten, die keine hervorstechenden, unterscheidenden Merkmale besitzen, vermittelt. Indem n\u00e4mlich die Glieder der Normalreihe nach einander den zu erfassenden Objecten hinzugef\u00fcgt werden, erh\u00e4lt jedes Object das unterscheidende Merkmal eines Gliedes der Reihe, und das ganze Zusammensein kann so durch Zuordnung der Normalreihe erfasst werden.\nJedoch wird auf diese Weise weder die Normalreihe noch ihre Verwendungsweise in ihrem Wesen erkannt. Der Reflexion bleibt es daher Vorbehalten, das subjective Princip des Ordnens in einer vollendeten Normalreihe zu einer vollkommenen Darstellung zu bringen. Es ersteht somit der wissenschaftlichen Reflexion ein besonderes Problem in der Erforschung der Bedeutung und des Wesens der Normalreihe, deren Glieder die Tr\u00e4ger der Merkmale der Reihenform sind.\nDie Stellung eines neuen Problems ist mithin die Frucht davon, dass die Besonderheiten, welche die Reihe als eine Form des Denkens auszeichnen, beachtet wurden. Die Aufgabe, auf dieselben zu achten, erwuchs in Folge der Betonung des Gegensatzes zwischen der Reihenform, insofern sie der Reflexion als eine Form des Denkens sich darstellt, und zwischen der unmittelbaren und unwillk\u00fcrlichen Einkleidung zusammengefasster Objecte in die Reihenform, die da-","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n197\ndurch eine objective Gestalt gewinnt. Der n\u00e4mliche Gegensatz besteht nun aber auch betreffs der Beziehung des Grundes zur Folge, die im Verein mit der Reihenform die logische Ordnung charakteri-sirt. Denn die nach den Bedingungen der logischen Ordnung forschende Reflexion beachtet die Art und Weise der durch die Objecte angeregten Beth\u00e4tigung des Denkens und findet so in dem Forts\u00e7jireiten vom Grunde zur Folge eine Form des Denkens, w\u00e4hrend die that sachlich durch das Denken geschaffene logische Ordnung wesentlich in besonderen, durch die empirische Beschaffenheit der Denkobjecte bedingten Beziehungen des Grundes zur Folge besteht, die als solche das Wesen und die Bedeutung jener Form nicht rein hervortreten lassen. Es bleibt daher der wissenschaftlichen Reflexion Vorbehalten, auch das objectiv ordnende Princip des Denkens zu einer vollendeten Darstellung zu bringen, und es ersteht derselben nochmals ein besonderes Problem, welches die Beziehungen des Grundes zur Folge als eine Form des Denkens zum Gegenst\u00e4nde hat und dieselben an Bewusstseinsinhalten, die lediglich als Tr\u00e4ger jener Beziehungen geschaffen werden, eine vollendete Gestalt gewinnen l\u00e4sst.\n\u00a7 8.\nDie so zu einem Abschluss gebrachte Untersuchung der logischen Ordnung wurde in der ausgesprochenen Absicht unternommen, auf diese Weise einen Zugang zum Begriffe der Zahl und zu den auf die Zahl gegr\u00fcndeten mathematischen Disciplinen zu gewinnen. Dass \u00fcberhaupt ein Zugang gesucht werden muss, indem es nicht zweckdienlich ist, eine Definition der Zahl an die Spitze der Untersuchung zu stellen, ergab sich aus den Er\u00f6rterungen \u00fcber \u00bbAufgabe und Methode der Untersuchung\u00ab. Diesen Zugang in der logischen Ordnung zu suchen, wurde durch die \u00bbThatsachen, welche der Mathematik zu Grunde liegen\u00ab, nahe gelegt. Dass nun aber dieser Zu-,r Sang der richtige ist, wurde thats\u00e4chlich noch nicht bewiesen, und es war im Grunde genommen eine blo\u00dfe Behauptung, wenn ich sagte, dass man auf diesem Wege zur mathematischen Zahl gelangen werde. Hiezu war ich allerdings berechtigt, weil ich, von den mathematischen Disciplinen ausgehend und nach ihrer logischen","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nGotti. Friedr. Lipps.\nBegr\u00fcndung suchend, Schritt f\u00fcr Schritt zu den Thatsachen des Bewusstseins und zu den Anf\u00e4ngen des Erkennens zur\u00fcckgedx\u00e4ngt wurde. Es ist daher der hier verfolgte Weg die Umkehrung eines bereits zur\u00fcckgelegten Weges, wobei nur von der Darlegung fr\u00fcherer Irrwege und Umwege Abstand genommen wird. Dies zeigt jedoch nur, dass ein vollgiltiger Beweis f\u00fcr die Richtigkeit des eingeschla-genen Weges nur dadurch erbracht werden kann, dass die Fortsetzung des Weges thats\u00e4chlich zu den auf die Zahl gegr\u00fcndeten mathematischen Disciplinen f\u00fchrt.\nIndessen ist wohl auch jetzt schon evident, dass durch die bisherige Untersuchung nicht ein Gebilde der logischen Phantasie an die Stelle der mathematischen Zahl gesetzt wird, sondern dass die von der Reflexion zur Vollendung gebrachte Normalreihe, deren Glieder die Tr\u00e4ger der Merkmale der Reihenform sind, nichts anderes ist als die mathematische Zahlenreihe. Wird aber dies zugestanden, so erweist sich die Zahlenreihe als Gegenstand des ersten der beiden Probleme, welche die Charakterisirung der logischen Ordnung im Gefolge hatte.\nAlsdann muss man aber auch zugeben, dass die Zahl in keiner Weise auf die r\u00e4umliche oder zeitliche Anschauung sich gr\u00fcndet und darum von Haus aus weder anschaulich stetig noch anschaulich unstetig sein kann. Die \u00fcbliche Versinnlichung der Zahlenreihe durch eine aequidistante Punktreihe in einer Geraden bringt somit erst das der Zahl an sich durchaus fremde Merkmal des Unstetigen in die Zahlenreihe. Ein von solchen fremdartigen Beimischungen freies geometrisches Abbild derselben findet man darum wohl blo\u00df in Herhart\u2019 s1) Construction der \u00bbstarren Linie\u00ab, deren Punkte die nicht in einander \u00fcberflie\u00dfenden, aber direct an einander liegenden Glieder der Zahlenreihe darstellen, und f\u00fcr welche alsdann die von Herb art erw\u00e4hnte Definition der alten Metaphysiker zutrifft: ex-tensio lineae ex num\u00e9ro punctorum, quibus constat, determinatur. Doch ist wohl das Bild einer Kette von unmittelbar verbundenen, selbst\u00e4ndigen Gliedern noch vorzuziehen.\nEs erhellt ferner, dass die Zahl in ihrer primitiven Gestalt\n1) Allgemeine Metaphysik. II. Theil. K\u00f6nigsberg 1829. Synechologie ; von der starren Linie und der Zahl. S. 215 f.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n199\nzwar praktischen Bed\u00fcrfnissen ihr Dasein verdankt, dass sie aber im Dienste praktischer Verwendung nicht zur Vollendung gelangt und ihr Wesen nicht enth\u00fcllt. Dies erm\u00f6glicht vielmehr erst die? wissenschaftliche Reflexion, welche den Process des Aneinander- j reihens in der Normalreihe zu einer reinen und vollendeten Dar-!\nK \u00ce\nStellung bringt. In Folge dessen tritt die Bedeutung, welche die/ Beschaffenheit des Denkens f\u00fcr die Zahl hat, klar zu Tage. Dieselbe hebt auch Wundt1) hervor, wenn er den \u00bbeinzelnen Denkact\u00ab als Tr\u00e4ger des Begriffs der Einheit, die Function des Z\u00e4hlens als \u00bbdie Verbindung der einzelnen Denkacte als solcher, abgesehen von jedem Inhalt\u00ab und die Zahl als den \u00bbabstracten Ausdruck der discursiven Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit des Denkens\u00ab betont.\nDa somit die Zahl nicht blo\u00df ein Gegenstand der Reflexion, sondern auch ein Product derselben ist, so l\u00e4uft es auf eine blo\u00dfe Selbstverst\u00e4ndlichkeit hinaus, wenn Husserl2), wie er in der Vorrede zu seiner Philosophie der Arithmetik sagt, im zweiten Theile seines Werkes zu zeigen versucht, \u00bbwie die Thatsache, dass wir fast durchgehends auf symbolische Zahlbegriffe eingeschr\u00e4nkt sind, den Sinn und Zweck der Anzahlenarithmetik bestimmt.\u00ab Und er scheint blo\u00df eine durch den ersten Theil seiner Untersuchungen selbstgeschaffene Schwierigkeit zu \u00fcberwinden, wenn er den Zahlenoperationen zuerst die durch eigentliche VielheitsVorstellungen fundirten Zahlen zu Grunde legt und so \u00bbauf den Abweg einer zersetzenden Skepsis\u00ab ger\u00e4th, um sodann in den \u00bbsymbolischen Zahlbildungen\u00ab die \u00bbeigentlichen Substrate\u00ab der Verkn\u00fcpfungs- oder Operationsgesetze zu finden.\nEs ist auch auf Grund des gewonnenen Zugangs zur Zahl hervorzuheben, dass es in erster Linie die Zahlenreihe ist, die von der Reflexion entwickelt und erforscht werden muss. Mit ihrer Hilfe\nv\tc\nwerden erst die Anzahlen festgestellt werden k\u00f6nnen. Die Anzahl setzt daher die Zahlenreihe und den Process des Z\u00e4hlens voraus und j kann folglich nicht als nat\u00fcrlicher Ausgangspunkt f\u00fcr eine Untersuchung des Zahlbegriffs dienen. Will man aber den Begriff der\n1)\tLogik, I. Bd. Stuttgart 1880. S. 468 f. 2. Aufl. 1893. S. 521 f. \u2014 II. Bd. Lie mathematische Abstraction. S. 108.\n2)\tPhilosophie der Arithmetik. Halle 1891, Vorrede VIL S. 297, 298.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nGotti. Friedr. Lipps.\nAnzahl festsetzen, so wird ein logisch begr\u00fcndetes Zusammensein gleichwerthiger Denkobjecte zu Grunde gelegt werden m\u00fcssen. Da ein solches, wie bereits oben erw\u00e4hnt wurde, als Umfang eines Begriffs gedeutet werden kann, so erhellt unmittelbar die von Herbart1) und insbesondere von Frege2) hervorgehobene Bedeutung des Begriffs und des Begriffsumfangs f\u00fcr den Begriff der Anzahl.\nWenn nun die Zahlenreihe als der nat\u00fcrliche Ausgangspunkt f\u00fcr eine Untersuchung des Zahlbegriffs sich darbietet, so erscheint es blo\u00df naturgem\u00e4\u00df, dass eine die Zahl lediglich in ihrer mathematischen Bedeutung kl\u00e4rende und widerspruchslos gestaltende Untersuchung mit der Zahlenreihe als etwas Gegebenem beginnt. In dieser Weise verf\u00e4hrt Kronecker3), indem er sagt: \u00bbDen naturgem\u00e4\u00dfen Ausgangspunkt f\u00fcr die Entwickelung des Zahlbegriffs finde ich in den Ordnungszahlen. In diesen besitzen wir einen Vorrath gewisser, nach einer festen Reihenfolge geordneter Bezeichnungen etc.\u00ab Es liegt dabei offenbar gar nicht in seiner Absicht \u00bbauf dem freien Plane philosophischer Vorarbeit\u00ab die Entwickelung des Zahlbegriffs soweit zu f\u00fchren, \u00bbdass der Begriff schon mit seinen Grundeigenschaften ausgestattet ist, wenn die specialwissenschaftliche Behandlung beginnt.\u00ab Denn es d\u00fcrfte alsdann die Zahlenreihe nicht einfach hingenommen, sie m\u00fcsste vielmehr erst abgeleitet werden, damit so ihre Grundeigenschaften hervortreten k\u00f6nnen.\nWeiter als Kronecker geht Dedekind4), der eine Ableitung\n1)\tPsychologie und Wissenschaft. II. Theil. S. 161: \u00bbJede Zahl nun bezieht sich auf solche Weise auf einen allgemeinen Begriff des Gez\u00e4hlten\u00ab.\n2)\tDie Grundlagen der Arithmetik. Breslau 1884. S. 79: \u00bbDie Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, ist der Umfang des Begriffes, gleichzahlig dem Begriffe F<-\n3)\tUeber den Zahlbegriff (Philosophische Aufs\u00e4tze zu Zeller\u2019s Jubil\u00e4um oder Crelle\u2019s Journal. Bd. 103. S. 337 f.). Er beginnt die Abhandlung mit den Worten: \u00bbAuf dem freien Plane philosophischer Vorarbeit, aus welchem man in die eingehegten Gebiete der verschiedenen Wissenschaften gelangt, sind auch die Begriffe der Zahl, des Raumes und der Zeit zu entwickeln, von welchen in der Mathematik Gebrauch gemacht wird. Und es erscheint zweckm\u00e4\u00dfig, die Entwickelung dort soweit zu f\u00fchren, dass die Begriffe schon mit ihren Grundeigenschaften ausgestattet sind, wenn die specialwissenschaftliche Behandlung beginnt.\u00ab \u2014 In \u00e4hnlicher Weise wie Kronecker geht v. Helmholtz in der Abhandlung: \u00bbZ\u00e4hlen und Messen\u00ab (Philos. Aufs\u00e4tze zu Zeller\u2019s J\u00fcbil.) von der Zahlenreihe aus.\n4)\tIn der Schrift: \u00bbWas sind und was sollen die Zahlen?\u00ab Braunschweig 1888. Die citirten Stellen finden sich: Vorwort VIII; S. 1, 2, 6; 21.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n201\nder Zahlenreihe thats\u00e4chlich gibt. Er geht davon aus, dass Dinge als Gegenst\u00e4nde unseres Denkens \u00abaus irgend einer Veranlassung unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte aufgefasst, im Geiste zusammengestellt werden\u00ab und so \u00bbein System\u00ab bilden k\u00f6nnen. Er findet ferner die das Denken erm\u00f6glichende F\u00e4higkeit des Geistes darin, \u00bbDinge auf Dinge zu beziehen, einem Dinge ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden\u00ab und versteht demgem\u00e4\u00df unter \u00bbeiner Abbildung cp eines Systems S\u00ab \u00bbein Gesetz, nach welchem zu jedem bestimmten Elemente s von S ein bestimmtes Ding geh\u00f6rt, welches das Bild von s hei\u00dft und mit cp (s) bezeichnet wird\u00ab. Mit Hilfe des Begriffs der \u00bbAehnlichkeit einer Abbildung\u00ab und der \u00bbAbbildung eines Systems in sich selbst\u00ab kann er alsdann endliche und unendliche Systeme scharf von einander scheiden und schlie\u00dflich die \u00bbReihe der nat\u00fcrlichen Zahlen\u00ab aus den \u00bbeinfach unendlichen Systemen\u00ab dadurch gewinnen, dass er sagt: \u00bbWenn man bei der Betrachtung eines einfach unendlichen, durch eine Abbildung cp geordneten Systems V von der besonderen Beschaffenheit der Elemente g\u00e4nzlich absieht, lediglich ihre Unterscheidbarkeit festh\u00e4lt und nur die Beziehungen auffasst, in die sie durch die ordnende Abbildung cp zu einander gesetzt sind, so hei\u00dfen diese Elemente nat\u00fcrliche Zahlen oder Ordinalzahlen oder auch schlechthin Zahlen, und das Grundelement 1 hei\u00dft die Grundzahl der Zahlenreihe Va Es charakterisiren sich somit die Untersuchungen Dedekind\u2019s als Untersuchungen allgemeiner Mannigfaltigkeiten, aus welchen durch Specialisirung die Zahlenreihe hervorgeht. Der Begriff der Abbildung ist dabei von grundlegender Bedeutung. Es begn\u00fcgt sich Dedekind jedoch mit der blo\u00dfen Hervorhebung der Th\u00e4tigkeit des Abbildens als einer F\u00e4higkeit des Geistes, w\u00e4hrend es doch nothwendig ist, auf die Form zu achten, an die das Denken bei der Th\u00e4tigkeit des Abbildens gebunden ist. Geschieht dies, so wird sich, wie die fr\u00fcheren Ueber-legungen gezeigt haben, die Reihe als die urspr\u00fcngliche, elementare form des Denkens, in der ein Zusammensein oder ein System erfasst werden kann, darbieten. Es wird daher auch durch Dedekind\u2019s Untersuchungen das Zur\u00fcckgehen auf die im logischen Ord-nen bestehende, primitive Beth\u00e4tigung des Denkens nicht erspart.\nWenn demgem\u00e4\u00df das Unternehmen, durch die logische Ordnung\nWandt, Philos. Studien. X.\t14","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202 Gotti. Friedr. Lipps. Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\neinen Zugang zur Zahl zu gewinnen, nicht aus sichtslos zu sein scheint, so darf dies doch nicht zu einem erzwungenen Vordringen veranlassen. Der Zugang muss vielmehr in nat\u00fcrlicher Weise sich ergeben soll der Werth der Untersuchung nicht illusorisch sein. Es ist daher sehr wohl zu beachten, dass nicht blo\u00df ein subjectiv ordnendes Princip in der Reihenform gefunden wurde, sondern dass auch in der Beziehung des Grundes zur Folge ein objectiv ordnendes Princip erkannt wurde. Beide sind in ihrer Bedeutung f\u00fcr den Zahl-begriff zu ber\u00fccksichtigen. War es evident, dass die auf Grund des ersteren Princips sich darhietende Normalreihe nichts anderes als die Zahlenreihe ist, so ist es wohl auch evident, dass das auf Grund des letzteren Princips in der Beziehung des Grundes zur Folge erstehende Problem die Quelle ist, aus der die Beziehungen zwischen verschiedenen Bewusstseinsinhalten flie\u00dfen. Fasst man nun solche Bewusstseinsinhalte als Zahleinheiten auf, so ergibt sich zugleich eine Quelle f\u00fcr Beziehungen zwischen Zahleinheiten, und man erkennt, dass dadurch einestheils die Mittel zur Begr\u00fcndung der positiven und negativen, ganzen und gebrochenen, reellen und imagin\u00e4ren Zahlen, anderenteils die Grundlagen f\u00fcr eine allgemeine Operationenlehre, insofern sie eine Lehre von allgemeinen Beziehungen zwischen Zahleinheiten ist, gewonnen werden k\u00f6nnen.\nIst aber dies der Fall, so kann man hoffen, in der logischen Ordnung die wahrhaft philosophische Grundlage des Zahlbegriffs gefunden zu haben, die es gestattet, die Zahl in ihrer urspr\u00fcnglichen und in ihrer verallgemeinerten Gestalt zu verstehen und zu begr\u00fcnden.\n(Fortsetzung folgt.)\nxr .M-ne.","page":202}],"identifier":"lit4211","issued":"1894","language":"de","pages":"169-202","startpages":"169","title":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik, Fortsetzung","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:28:03.268894+00:00"}