Open Access
{"created":"2022-01-31T14:19:21.498033+00:00","id":"lit4214","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Meumann, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 10: 249-322","fulltext":[{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\nVon\nErnst Menmann.\n\u201eMan wird die Gestaltungen in der Zeit, zu wel-clien f\u00fcr Metrik und Musik der Takt die Grundlage bildet, ohne Zweifel zum Gegenstand erneuter Untersuchungen machen.\u201c\tHerbart.\nErster Theil.\nTheoretische Grundlegung.\nDas Gebiet des Rhythmus ist bisher noch nicht in gen\u00fcgender Weise von der psychologischen Forschung ber\u00fccksichtigt worden. Die Worte, mit denen Lotze in seiner \u00bbGeschichte der Aesthetik in Deutschland\u00ab seine Darstellung der Theorie des Rhythmus einf\u00fchrt, dass das unmittelbare Erleben der rhythmischen Wirkungen ebenso leicht sei, wie seine psychologische Erkl\u00e4rung schwierig, gelten auch heute noch. Wir besitzen nur sehr wenige Specialuntersuchungen bestimmter die Rhythmusbildung betreffender Fragen, und eine allgemeine Theorie des Rhythmus, im Sinne einer physiologisch-psychologischen Erkl\u00e4rung der rhythmischen Ordnung succe-dirender Empfindungen hat, in ihren Grundz\u00fcgen nur Wundt gegeben. Es fehlt bisher eine ersch\u00f6pfende Beschreibung der rhythmischen Thatsachen ; wir wissen nicht, warum nur bestimmte Empfindungsgebiete ausgepr\u00e4gte rhythmische Erscheinungen zeigen, andere gar nicht, wir wissen nicht, wie weit eine Succession von rhythmischen Schallempfindungen gedeutet werden kann als ein blo\u00dfes Empfindungsph\u00e4nomen, wie weit Aufmerksamkeitsfactoren, associative und apperceptive Th\u00e4tigkeit dabei betheiligt sind.\nUeber die \u00e4sthetischen Wirkungen des Rhythmus geben die meisten Forscher nur einige unvollst\u00e4ndige Beschreibungen statt Wundt, Philos. Studien. X.\t17","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nErnst Meumann.\neiner systematischen Aufsuchung des Thatbestandes, wie sie nur eine Feststellung der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Wohlgef\u00e4lligkeit der einfachen rhythmischen Formen und der verschiedenen M\u00f6glichkeiten ihrer Complication gew\u00e4hren k\u00f6nnte. Zu einer Erkl\u00e4rung der \u00e4sthetischen Wirkung einfacher Taktformen, welche die erstere aus dem psychologischen Mechanismus der letzteren verst\u00e4ndlich zu machen suchte, sind bis jetzt nur Ans\u00e4tze vorhanden.\nUeher die Definition des \u00bbRhythmus\u00ab herrscht die gr\u00f6\u00dfte Uneinigkeit. Die einen Forscher verstehen unter Rhythmus \u00bbden Inbegriff der Mittel, wodurch die in mannigfaltigen L\u00e4ngen und K\u00fcrzen auf einander folgenden T\u00f6ne in gewisse Zeitformen gebracht und dadurch f\u00fcr Ohr und Geist fassbar gemacht werden\u00ab (Lobe). W\u00e4hrend Hauptmann, Westphal, Lohe, Herbart, Schopenhauer und Lotze das Wesentliche aller Rhythmusbildung in die zeitliche Gliederung der Eindr\u00fccke setzen, sieht K\u00f6stlin den Accentwechsel der T\u00f6ne als das eigentlich Rhythmische an. Rie-mann l\u00e4sst wiederum speciell f\u00fcr die Musik alle rhythmischen Verh\u00e4ltnisse in gleicher Weise durch Intensit\u00e4ts- und Qualit\u00e4tswechsel der T\u00f6ne wie durch die zeitliche Gliederung bedingt sein.\nAlle diese Aufstellungen entbehren durchaus einer systematischen Aufsuchung der Ursachen der Rhythmushildung und einer Vollst\u00e4ndigkeit in der Angabe der Elemente des rhythmischen Eindrucks.\nDie Erkenntniss der M\u00e4ngel der bisherigen Forschung ist den neuesten Vertretern der Musiktheorie und der metrischen Forschung nicht entgangen. Die Forderung systematischer Aufsuchung der Thatsachen hez. experimenteller Gewinnung absoluter Ma\u00dfe f\u00fcr die Zeit- und Betonungsverh\u00e4ltnisse ist mehrfach von Seiten der theoretischen Forschung erhoben worden, und die Entscheidung einiger principieller Fragen, die mir f\u00fcr alle Gebiete des Rhythmus in Betracht zu kommen scheinen, mittelst experimenteller Untersuchung des Takte herstellenden und Takte percipirenden Subjectes soll auch der Gegenstand dieser Abhandlung sein.\nEs scheint mir jedoch w\u00fcnschenswerth, hei der herrschenden Unklarheit \u00fcber die fundamentalen Fragen der Rhythmik eine Reihe theoretischer Erw\u00e4gungen voranzuschicken. Ich beabsichtige in","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t251\ndenselben 1) die verschiedenen Thatsachengebiete, in denen wir die rhythmischen Erscheinungen finden, gegen einander abzugrenzen, ihre Eigenth\u00fcmlichkeiten wenigstens durch eine Aufsuchung der den rhythmischen Eindruck constituirenden Elemente zu bestimmen; 2) die Aufgabe der psychologischen Forschung gegen\u00fcber den Thatsachen des Rhythmus zu bezeichnen, und bestimmte Fragestellungen f\u00fcr die experimentelle Untersuchung zu gewinnen.\nZu diesem Zwecke versuche ich zuerst in einem Ueberblick \u00fcber die rhythmische Literatur das Facit der bisherigen theoretischen Forschung zu ziehen. Der Gesichtspunkt der Betrachtung soll dabei der streng psychologische sein. Ich werde daher weder auf specielle Fragen der Metrik noch auf Einzelheiten der musikalischen Rhythmik eingehen, sondern nur das an der seitherigen Literatur in Betracht ziehen, was ich von Ans\u00e4tzen oder gelegentlichen Beitr\u00e4gen zu einer physiologisch-psychologischen Erkl\u00e4rung des jeweils behandelten rhythmischen Gebietes finde.\nErstes Capitel.\nVersuche zur Ausbildung einer allgemeinen Theorie des Rhythmus.\nDie erw\u00e4hnten M\u00e4ngel der bisherigen Forschung bedingen eine eigenth\u00fcmliche Schwierigkeit f\u00fcr die historische Darstellung. Da n\u00e4mlich das Problem des Rhythmus sich in eine gro\u00dfe Zahl von Theilproblemen zerlegen l\u00e4sst, und da die einzelnen Forscher bald diese bald jene Unterfrage allein in Angriff genommen haben, so ist eine systematische Gliederung der Theorien nach inneren, der Sache selbst entlehnten Gesichtspunkten kaum m\u00f6glich. Damit m\u00f6ge man es erkl\u00e4ren, dass ich die bisherigen Discussionen \u00fcber den Rhythmus nach dem Gesichtspunkt verwandter Forschungsmethoden geordnet habe.\nIch behandle deshalb zuerst alle diejenigen Ans\u00e4tze zur Ausbildung einer allgemeinen Theorie des Rhythmus, die nicht speciell f\u00fcr ein bestimmtes Thatsachengebiet, wie etwa die musikalischen Takte oder den gesprochenen Vers, entworfen worden sind, sondern mehr auf die Feststellung des aller Rhythmusbildung Gemeinsamen ausgehen. Unter diesen unterscheide ich entwickelungsgeschichtliche Hypothesen, teleologische Theorien, Ans\u00e4tze zu rein physio-\n17*","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nErnst Meumaun.\nlogischer Erkl\u00e4rungsweise, psycho-physiologische und rein \u00e4sthetische Theorien. Diesen schlie\u00dfe ich an die Beitr\u00e4ge, welche von Seiten der Musiktheoretiker zur psychologischen Erkl\u00e4rung der musikalisch rhythmischen Formen gegeben worden sind. Endlich werden die Anf\u00e4nge psychologischer und physiologischer Erkl\u00e4rungsweise des Versrhythmus, welche von Seiten der phonetischen und metrischen Forschung gemacht worden sind, zu ber\u00fccksichtigen sein.\n\u00a7 1.\nDas Problem des Rhythmus ist merkw\u00fcrdiger Weise von einer sehr gro\u00dfen Zahl seiner Erforscher in dem Sinne einer Frage nach der \u00bbEntstehung\u00ab des Rhythmus formulirt worden. Die Zweideutigkeit des Wortes \u00bbEntstehung\u00ab, das ebensowohl entwickelungsgeschichtlich verstanden werden kann, wie in dem Sinne eines Nachweises der Bedingungen, welche im einzelnen Falle einer Taktwahrnehmung den rhythmischen Eindruck \u00bbentstehen\u00ab lassen, scheint dabei die Forscher irregef\u00fchrt zu haben. Diese Auffassung ging aus von den metrischen Theorien des Zeitalters der klassischen Dichtung. Bei K. Ph. Moritz finden sich, so viel mir bekannt ist, die ersten Andeutungen der genetischen Erkl\u00e4rungsweise (Deutsche Prosodie S. 23 f.). Moritz f\u00fchrt aus: Indem der \u00fcberm\u00e4\u00dfige Bewegungsdrang, das Kraftgef\u00fchl die Menschen (welche und wann? d. Verf.) antrieb zu springender und tanzender Bewegung, habe man zuf\u00e4llig die periodische Abwechselung schneller und langsamer Bewegungen beobachtet, und diese rhythmische Ordnung der Bewegungen, einmal zuf\u00e4llig entstanden, habe die Aufmerksamkeit gefesselt, das Lustgef\u00fchl erregt, sei bewundert und nachgeahmt worden, und so sei die Entstehung des Tanzes zu denken. Aehn-lich die des Metrums aus der zuf\u00e4lligen Aufeinanderfolge regelm\u00e4\u00dfig abwechselnder l\u00e4ngerer und k\u00fcrzerer Silben, wie sie gelegentlich in emphatischer Rede entstehen mochte.\nDiese Auffassung von der Entstehung des Rhythmus aus zuf\u00e4llig rhythmisirten Bewegungen ist seitdem in allen erdenklichen Variationen wiederholt worden. Es hat keinerlei Interesse f\u00fcr die psychologische Forschung, ihre Wandlungen zu verfolgen. Es gen\u00fcge darauf hinzuweisen, dass sie f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss des","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t253\nRhythmus nichts beitragen kann, weil sie einfach den ganzen Apparat \u00e4u\u00dferer und innerer , allgemeiner und specieller, physiologischer und psychologischer Bedingungen des Rhythmus voraussetzt und nur einen \u00e4u\u00dferen Anlass bezeichnet, bei dem dieser Mechanismus in\u2019s Spiel tritt. Wir wissen damit weder, wodurch eine Succession von Bewegungen oder Schallempfindungen sich zu einem ganz neuen Erlebniss, dem \u00bbRhythmus\u00ab steigert, noch woher rhythmische Bewegungen und Schalltakte ihre m\u00e4chtige gef\u00fchlerregende Wirkung haben, geschweige denn, nach welchen Princi-pien die bestimmten rhythmischen Einzelformen sich bilden. Nichtsdestoweniger haben sich bis in die neueste Zeit hinein angesehene Forscher bei dieser \u00bbErkl\u00e4rung\u00ab des Rhythmus begn\u00fcgt. So hat noch neuerdings Scherer (Poetik S. 12) sich dahin ge\u00e4u\u00dfert: \u00bbIch zweifle nicht, dass die Ansicht von der Entstehung des Rhythmus die richtige ist, welche ihn aus dem Tanz herleitet.\u00ab Als Extrem solcher genetischen Constructionen erw\u00e4hne ich nur noch die Dissertation von Benecke (\u00bbVom Takt in Tanz, Gesang und Dichtung\u00ab)1), in der dieser Autor sogar die einzelnen Formen volksth\u00fcmlicher Takte aus dem Zusammenschreiten verschieden gro\u00dfer bez. verschieden alteriger Menschen ableitet. In der That aber verdienen diese Theorien streng genommen nicht einmal den Namen von entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungsweisen, als solche w\u00fcrden sie uns doch wenigstens die rhythmischen Formen in irgend einem Stadium ihrer fr\u00fcheren Entwickelung nachzuweisen und dieses Stadium mit jenen Entstehungsursachen in Verbindung zu bringen haben. Dasselbe gilt von einer rein physiologischen Modification, welche die Entstehungstheorien erfahren haben, und die heute ebenfalls mit einer gewissen Vorliebe vorgetragen wird. Diese Ansicht bringt die Entstehung des Rhythmus in Zusammenhang mit gewissen rhythmischen Vorg\u00e4ngen unseres Organismus, dem Athem, Herzschlag und Puls. An ihnen sollen wir die rhythmischen Bewegungen kennen gelernt haben, und nachdem wir einmal an denselben Gefallen gefunden hatten, machten wir diesen Rhythmus mit willk\u00fcrlichen Bewegungen nach. Auf diese Meinung kommen\n1) Leipzig 1891.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"554\nErnst Meumann.\nhinaus die Theorien von Hughlings-Jackson!), F. v. Hausegger1 2), welcher letztere den zweigliedrigen Rhythmus als die einzige elementare rhythmische Form ansieht und diese ahleiten will von der Zweitheilung des Athems, aus der bilateralen Symmetrie des K\u00f6rpers und der k\u00f6rperlichen Geberden. Man muss hier unterscheiden die nicht abzuweisende Ansicht, die schon Herbart ge\u00e4u\u00dfert und neuerdings Wundt vertreten hat, dass Athem (oder Puls3)) auf die Ausbildung unserer unmittelbaren Zeitwahrnehmung sicherlich Einfluss gehabt haben, und die ganz andere Meinung, dass die rhythmischen Formen an ihnen sich entwickelt haben. Im ersten Falle handelt es sich um eine unmittelbare Wahrnehmung k\u00f6rperlicher Vorg\u00e4nge, die ihren Einfluss geltend machen konnten, auch ohne dass wir uns ihre Zeitverh\u00e4ltnisse irgend wie zum Bewusstsein brachten; der Rhythmus willk\u00fcrlicher Bewegungen oder einfacher Schalleindr\u00fccke ist aber selbst in der primitiven Form des jambischen oder troch\u00e4ischen Zweitaktes so wesentlich von dem Athem- oder Pulsrhythmus verschieden, dass es mir viel wahrscheinlicher ist, dass wir, einmal mit rhythmischen Bewegungen und Schalltakten bekannt geworden, erst entdecken mussten, dass Athem und Puls in \u00e4hnlicher Weise verlaufen. Durch diese physiologische Wendung werden die Entstehungstheorien um nichts mehr \u00fcber das Niveau von Phantasieconstructionen \u00e4u\u00dferer Anl\u00e4sse zur Rhythmusbildung erhoben; wir stehen vor lauter vagen M\u00f6glichkeiten, von denen die eine oder andere oder vielleicht auch alle einmal wirksam geworden sein k\u00f6nnen. Die Forschung hat dahei nur zu verlieren, indem der Schein einer Erkl\u00e4rung des Rhythmus erweckt und die wirkliche Erkl\u00e4rung unterlassen wird. Im streng entwickelungsgeschichtlichen Sinne haben endlich Spencer und Darwin eine Anzahl Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Musik gegeben, die ich \u00fcbergehe, weil sie sich weniger mit dem Rhythmus als solchem besch\u00e4ftigen und die Bedeutung der rhythmischen Bewegungen im Sinne von Ausdrucksbewegungen auffassen. Damit wird die Frage der Gef\u00fchlswirkungen des Rhythmus einerseits auf das Problem der\n1)\tAngef\u00fchrt bei Gurney, The Power of Sound. London 1880. S. 547ff.\n2)\tDie Musik als Ausdruck. Wien 1885. S. 132 ff.\n3)\tNur Herbart zieht auch den Puls in Betracht.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n255\nAusdrucksbewegungen zur\u00fcckgeschoben, andrerseits nicht erkl\u00e4rt, was gerade die Periodicit\u00e4t in diesen Ausdrucksbewegungen bedeutet. Wozu die regelm\u00e4\u00dfige Wiederkehr in dem Energiewechsel der Willensimpulse und der St\u00e4rke der Muskelcontractionen, wozu das Einhalten periodisch wiederkehrender Zeitabschnitte in Ausdrucksbewegungen?\n\u00a7 2.\nEiner \u00e4hnlichen Beliebtheit wie die vorher dargestellte genetische erfreut sich die teleologische Betrachtungsweise. Eine teleologische Erkl\u00e4rung stellt sich \u00fcberall da ein, wo wir um den Nachweis des causalen Zusammenhangs in Verlegenheit sind. Sie hat dann h\u00e4ufig den Werth eines heuristischen Princips, bringt aber die Gefahr mit sich, dass \u00fcber dem Nachweis der \u00bbBedeutung\u00ab einer Erscheinung die Erforschung ihrer Bedingungen vergessen wird. Ich will den Werth von Betrachtungen \u00fcber die Bedeutung des Rhythmus in intellectueller und emotioneller Hinsicht durchaus nicht bestreiten, werde sogar wiederholt auf dieselben zur\u00fcckgreifen, aber die psychologische Forschung hat sich nur zu lange bei ihnen begn\u00fcgt und dar\u00fcber die Constatirung der Thatsachen des Rhythmus und den Nachweis ihrer Bedingungen vers\u00e4umt.\nA. W. v. Schlegel scheint die teleologische Erkl\u00e4rung des Rhythmus angebahnt zu haben, die Classiker unserer Dichtung haben sie fortgesetzt, und die moderne Aesthetik ist \u00f6fter auf sie zur\u00fcckgekommen. Nach Schlegel (Ueber Silbenma\u00df und Sprache, S. W. JH) !) sch\u00e4digt der ungeregelte Taumel der Freude und die z\u00fcgellose Aeu\u00dferung des Schmerzes die Kr\u00e4fte des Organismus, sie werden geschont, wenn die Bewegungen an eine Regel gefesselt werden, die dem organischen Haushalt entspricht.\nUmgekehrt werden auch wieder unsere Affecte gemildert, wenn ihre Aeu\u00dferung eine fest geregelte ist, und die Bedeutung des Rhythmus im Tanz und Gesang besteht nach Schlegel also darin, dass durch die periodische Abstufung unserer Ausdrucksbewegungen unser k\u00f6rperliches Wohl vor einer Beeintr\u00e4chtigung durch allzu\n1) Ausgabe von Booking S. 136ff.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nErnst Meumann.\ngewaltsame Bewegungen bewahrt wird und unsere Seele eine Z\u00fcgelung ihrer Leidenschaften erf\u00e4hrt. Diese Beziehung des Rhythmus auf die Regelung unserer Ausdrucksbewegungen ist sicherlich von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr das Yerst\u00e4ndniss gewisser Begleiterscheinungen aller Rhythmusperception, \u00fcber das, was Rhythmus ist, sagt sie uns gar nichts. Die teleologische Auffassung w\u00fcrde erst dann eine principielle Bedeutung gewinnen, wenn sich feststellen lie\u00dfe, wie es zugeht, dass die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit einer bestimmten Art psychischer Th\u00e4tigkeit als Ursache ihrer Ausbildung wirksam werden kann, ohne diesen Nachweis liegt sie fast au\u00dferhalb der Zwecke der psychologischen Forschung1).\nEine Art Combination der beiden vorigen Anschauungsweisen ist eine eigenth\u00fcmlich teleologisch-entwickelungsgeschichtliche Betrachtung, der ich einen etwas gr\u00f6\u00dferen Werth beimessen kann, weil sie sich wenigstens auf die erwiesene Beziehung rhythmischer Ph\u00e4nomene zu allgemeinen psychologischen Thatsachen st\u00fctzt. M\u00fcller und Schumann haben dieselbe neuerdings vertreten, allerdings, wie ich ausdr\u00fccklich bemerke, ohne in den herk\u00f6mmlichen Irrthum zu verfallen, dass damit eine Erkl\u00e4rung des Rhythmus gegeben sei. Aufmerksam gemacht durch die gro\u00dfe Unterst\u00fctzung, welche das rhythmische Sprechen sinnloser Silben dem Auswendiglernen darbot, stellen die Verfasser folgende Ueberlegungen an2): \u00bbMan wird bei Versuchen der in Rede stehenden Art unwillk\u00fcrlich auf die Frage gef\u00fchrt, inwieweit die den Producten der Poesie vielfach eigenth\u00fcmliche Formung der Rede nach rhythmischen Regeln ihren Ursprung dem Umstande verdanke, dass eine rhythmisch geformte Wortreihe sich leichter einpr\u00e4gt und besser beh\u00e4lt, welcher Umstand nat\u00fcrlich zu einer Zeit, wo die Schrift noch gar\n1)\tNeuerdings hat J. Minor die Ansicht Schlegel\u2019s wiedererneuert und sie nur durch Beziehung auf unsere Athem- und Herzth\u00e4tigkeit zu verbessern gesucht. Neuhochdeutsche Metrik. Stra\u00dfburg 1893. S. 9ff. Minor ist dabei durchaus der Meinung, damit eine \u00bbphysiologische Erkl\u00e4rung\u00ab (!) des Rhythmus zu geben. Ohne in diesen letzteren Irrthum zu verfallen, hat auch Ernst Grosse, Die Anf\u00e4nge der Kunst, S. 212, die Bedeutung der rhythmischen Bewegungen f\u00fcr die Entladungen innerer Spannungszust\u00e4nde betont: \u00bbEs ist eine Qual, innerlich erregt, \u00e4u\u00dferlich regungslos zu bleiben; und es ist eine Wonne, dem inneren Drange durch \u00e4u\u00dfere Bewegungen Luft zu machen\u00ab.\n2)\tZeitschr. f. Psychol, u. Physiol., d. Sinnesorgane. VI, S. 282 f.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik es Rhythmus.\t257\nnicht oder nur sehr wenig in Gebrauch war, stark ins Gewicht fallen musste. Nat\u00fcrlich w\u00fcrde sofort zuzugehen sein, dass, nachdem einmal die Anwendung der nach rhythmischen Regeln geformten Rede aus dem hier angegebenen Grunde bei bestimmten Gelegenheiten gebr\u00e4uchlich geworden sei, die Erhaltung und Weiterbildung der rhythmischen Formen der Rede noch durch eine ganze Reihe anderer Factoren (die Freude an der Symmetrie und \u00e4u\u00dferen Ordnung, die Lust an der Erfindung neuer Formen, doctrin\u00e4re Einfl\u00fcsse, die R\u00fccksicht auf Gesang, Tanz und musikalische Begleitung u. a. m.) bewirkt worden sei\u00ab. In Ansichten wie diese wird also der \u00bbUrsprung\u00ab des Yersrhythmus in einer Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des Rhythmus f\u00fcr das Ged\u00e4chtniss gesucht, und zur Entwickelung specieller Taktformen eine Reihe anderer Factoren in Betracht gezogen. Die Ueberlegenheit dieser Ansicht vor den vorigen besteht darin, dass sie wenigstens nicht blo\u00df einen \u00e4u\u00dferen Anlass zur Rhythmusbildung einf\u00fchrt, sondern eine zuverl\u00e4ssig bewiesene psychische Leistung des Rhythmus als m\u00f6gliche Entstehungsursache in Betracht zieht. Aber sie geht damit hinsichtlich des Nachweises der Thats\u00e4chlichkeit dieses Ursprunges nicht \u00fcber die reine Vermuthung hinaus und sie ber\u00fccksichtigt ebenfalls die prin-cipielle Frage nicht, wie, um es kurz zu sagen, Zweckm\u00e4\u00dfigkeit Ursache werden kann1).\n\u00a7 3.\nMan kann es als Eigenth\u00fcmlichkeit der bisher besprochenen Ansichten bezeichnen, dass sie sich \u00fcberhaupt nicht mit dem Rhythmus selbst besch\u00e4ftigen, sondern mit seinen Anl\u00e4ssen oder mit seinen Beziehungen zu anderen psychischen Thatsachen. Dadurch gewinnen sie eine gewisse Verwandtschaft zu den bisher aufgetretenen rein \u00e4sthetischen Theorien des Rhythmus, die ich schon\n1) Selbst wenn dieser Nachweis gef\u00fchrt worden w\u00e4re, und er w\u00e4re ja vielleicht so zu f\u00fchren, dass zweckm\u00e4\u00dfige Einrichtungen Lust erregen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und dann einer bewussten Weiterbildung anheimfallen, \u2014 so hat diese Betrachtungsweise doch mehr den Sinn, uns die Bedeutung des Rhythmus f\u00fcr das Ged\u00e4chtniss zu zeigen, als die Bedeutung des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr den Rhythmus. F\u00fcr unsere Zwecke w\u00fcrde vielmehr festzustellen sein, was die Arbeit des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr das Zustandekommen des Rhythmus beitr\u00e4gt.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nErnst Meumann.\ndurch den Namen dahin charakterisire, dass sie sich lediglich mit der \u00e4sthetischen Wirkung des Rhythmus besch\u00e4ftigen, diese aber in keine n\u00e4here Beziehung bringen zu dem psychischen Mechanismus des Rhythmus selbst. Von den beiden Aufgaben, welche jede Theorie der \u00e4sthetischen Wirkungen des Rhythmus zu leisten hat: 1) die rhythmischen Formen (Charaktere) nachzuweisen, die sich als die wohlgef\u00e4lligen vor anderen auszeichnen, und die wohlgef\u00e4lligen Elementarformen dieser Combinationen aufzusuchen, und 2) diese Wohlgef\u00e4lligkeit, diesen Lustwerth (bez. den Unlustwerth oder die Indifferenz der \u00fcbrigen Formen) auf die Wirksamkeit der allgemeinen psychischen Factoren zur\u00fcckzuf\u00fchren, die sich bei der Entstehung der rhythmischen Formen beth\u00e4tigen, \u2014 wird also von vorn herein bei den jetzt in Rede stehenden Theorien nur die Erf\u00fcllung der ersteren zu erwarten sein. Aber auch dieser gegen\u00fcber vermisst man eine systematische Entwickelung der rhythmischen Formen, deren Wohlgef\u00e4lligkeit oder Missf\u00e4lligkeit zu constatiren war. Statt dessen bietet uns insbesondere die nachhegelsche Aesthetik wortreiche Beschreibungen rein symbolischer Art. Dazu huldigen die meisten modernen Aesthetiker noch der unheilvollen Manier, die \u00e4sthetischen Kategorien der verschiedensten Gebiete des \u00bbSch\u00f6nen\u00ab in der wildesten Weise zu vermengen: Man spricht von dem Rhythmus in der Baukunst, von dem Complementarismus der T\u00f6ne, von der Tonharmonie der Farben, von der Symmetrie des Rhythmus u. s. w. Es ist kaum ein Aesthetiker, der nicht das Goethe'sehe Wort: \u00bbArchitectur ist gefrorene Musik\u00ab wie eine Offenbarung verwendete, und Hauptmann f\u00fcgt mit vielem Geschmack hinzu: \u00bbMusik ist fl\u00fcssige Architectur\u00ab4). Die verh\u00e4ngnisvolle Folge dieses sinnlosen Wortmissbrauchs ist dann der Schluss: Weil diese Worte gebildet werden konnten, so m\u00fcssen doch auch entsprechende sachliche Beziehungen zwischen den verschiedenen Kunstgebieten vorhanden sein, und diesem Irrthum verdanken wir dann neuerdings ein best\u00e4ndiges Suchen nach Analogien, mit denen das Verst\u00e4ndnis der Eigenth\u00fcmlichkeit der einzelnen Kunstgebiete systematisch verschlossen wird1 2). Es fehlt in Folge dessen der modernen Aesthetik\n1)\tHauptmann, Harmonik und Metrik 1853. S. 313.\n2)\tDer gemeinschaftliche Fehler aller dieser Analogienbildungen ist der, dass an Stelle des verwandten Gef\u00fchlstones, der gew\u00f6hnlich Anlass zu jenen","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t259\nvielfach sogar die richtige Fragestellung f\u00fcr die Erkl\u00e4rung \u00e4sthetischer Wirkungen eines Kunstgebietes.\nSchopenhauer entwickelt seine Theorie des Rhythmus in Analogie zur Architectur. Beide K\u00fcnste, Musik und Architectur, werden mit der Zwangsjacke der Analogie in eine Summe von sehr uneigentlichen Beziehungen gebracht. Die \u00e4sthetische Wirkung des Rhythmus macht Schopenhauer verst\u00e4ndlich, indem er eine \u00bbabwechselnde Entzweiung und Vers\u00f6hnung\u00ab des rhythmischen und musikalischen Motivs in der Melodie behauptet; womit dem Leser die zweifache Aufgabe gestellt wird, zu erkl\u00e4ren, was mit diesem Bilde von Entzweiung und Vers\u00f6hnung gemeint sei, und die von Schopenhauer \u00fcbersehene Frage zu erledigen, woher denn die \u00e4sthetische Wirkung des Rhythmus als solche stammt* 1).\nEduard v. Hartmann behandelt den Rhythmus unter den blo\u00df \u00bbzeitlichen K\u00fcnsten der raumlosen Ver\u00e4nderung im Ohrenschein\u00ab, kommt aber nirgends \u00fcber triviale Selbstverst\u00e4ndlichkeiten oder unbewiesene Behauptungen hinaus. Die Rhythmik wird definirt als \u00bbdie Kunst des reinen Zeitsinns oder des un-articulirten Schalles ohne bestimmte Tonh\u00f6he\u00ab2). Bemerkenswerth ist h\u00f6chstens noch, dass v. Hartmann f\u00fcr den Rhythmus eine Art von Symmetrie kennt, wobei er den Anblick des geschriebenen Versschemas (bez. der Noten) verwechselt mit der ganz unsymmetrischen Natur des rhythmischen Eindruckes, eine Bemerkung, die ich nur anf\u00fchre, um zu zeigen, dass die Warnung Mach\u2019s, beides nicht zu verwechseln, nicht \u00fcberfl\u00fcssig war3). Ich halte auf alle F\u00e4lle den Begriff einer successiven Symmetrie f\u00fcr ein Unding, bei dem der geometrisch strenge Sinn des Begriffs Symmetrie zu Gunsten einer unberechtigten Erweiterung des Wortgebrauches beseitigt wird.\nK\u00f6stlin, der der Ansicht ist, dass der rhythmische Eindruck wesentlich durch den Accentwechsel zu Stande kommt, ergeht sich\nWortbildungen gegeben hat, eine logische oder sachliche Beziehung der betreffenden Vorstellungs- oder Empfindungsgebiete gesetzt wird. Wundt, Physiol. Psychol. I. 4. Aufl. S. 578 f.\n1)\tWelt als Wille und Vorstellung. II. Leipzig, Brockhaus, 1888. S. 517 f.\n2)\tAesthetik, II. 1887. S. 589.\n3)\tMach, Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen. 1886. S. 108.","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nErnst Meumann.\nbei der Er\u00f6rterung der \u00e4sthetischen Wirkungen der Takte und Versf\u00fc\u00dfe lediglich in symbolischen Beschreibungen. Der Rhythmus kann entweder sein \u00bbganz frei (vag) \u00ab oder \u00bbreal\u00ab ; der Realrhythmus ist \u00bbeng\u00ab oder \u00bbweit\u00ab, \u00bbeinfach\u00ab, \u00bbconcret gegliedert\u00ab, \u00bbeben (planus)\u00ab, \u00bbungleichm\u00e4\u00dfig\u00ab und dann auf einmal \u00bbgeradzahlig\u00ab und \u00bbungeradzahlig\u00ab. Die Tonreihe wird durch den Rhythmus \u00bbanschaulicher\u00ab, \u00bbreich an Wechsel\u00ab, \u00bbfreier, leichter, belebter, anmuthiger\u00ab, sie erh\u00e4lt \u00bbNachdruck, Gewicht, Bedeutsamkeit, Schwung\u00ab u. s. w.\nIch stelle diese Darstellung der speciellen Wirkung musikalischer Takte, die uns K\u00f6stlin in seiner Aesthetik gegeben hat, seinen allgemeinen Ausf\u00fchrungen \u00fcber den Begriff des Rhythmus voraus, da sie charakteristisch ist f\u00fcr den vorhin ger\u00fcgten Mangel der herk\u00f6mmlichen Aesthetik: umfangreiche Wortbildungen an Stelle einer systematischen Aufsuchung des Thatbestandes. Jene allgemeineren Ausf\u00fchrungen verfallen in einen anderen f\u00fcr die \u00e4ltere Aesthetik charakteristischen Fehler. Es ist der, dass der Begriff, um dessen Feststellung es sich handelt, zu weit genommen wird; und so entstehen: 1) jene uneigentlichen Anwendungen der Begriffe auf Thatsachengebiete, mit denen sie nichts zu thun haben ; 2) werden die wirklich f\u00fcr das betreffende Thatsachengebiet charakteristischen Eigenschaften von der Begriffsbestimmung gar nicht ber\u00fchrt. So behauptet K\u00f6stlin, der Begriff des Rhythmus dr\u00fccke die oft wiederholte \u00bbBegrenzung\u00ab aus. \u00bbEine solche Trennung oder Sonderung des Ungeschiedenen in Abs\u00e4tze oder selbst\u00e4ndige Glieder wird, wenn sie sich \u00f6fters wiederholt, Rhythmus genannt\u00ab (S. 90 a. a. O.). Diese Bestimmung ist offenbar viel zu weit, wer wird jede sich \u00f6fter wiederholende Begrenzung Rhythmus nennen? Da wir nun aber ferner vielmehr gewohnt sind, von Begrenzung im Raum zu reden, wie von Begrenzung in der Zeit, so geht K\u00f6stlin folgerichtig in der Weise weiter, dass er den Rhythmus \u00bbeigentlich und urspr\u00fcnglich\u00ab blo\u00df auf die Bewegung, d. h. auf etwas R\u00e4umlich-Zeitliches, sodann auf alle \u00bbSonderungen einer Raumfl\u00e4che in Abs\u00e4tze\u00ab anwendet, und erst in dritter Linie schlie\u00dft sich dasjenige Gebiet des Rhythmus an, in welchem merkw\u00fcrdigerweise allein eine kunstvolle Durchbildung rhythmischer Formen stattgefunden hat, n\u00e4mlich das Zeitliche. Nach K\u00f6stlin m\u00fcsste in gleichem Sinne eine durch Punkte in gleicher Distanz abgetheilte Linie und etwa","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n261\nein einfacher Walzertakt ein Rhythmus genannt werden, die erstere sogar im strengeren Sinne wie der letztere. NachK\u00f6stlin m\u00fcsste eine Reihe gleichm\u00e4\u00dfig wiederkehrender Schalleindr\u00fccke schcpi rhythmisch sein, als einfachster Fall einer \u00bbSonderung einer Zeitstrecke in Abs\u00e4tze\u00ab, w\u00e4hrend sie in Wahrheit h\u00f6chstens durch subjective Rhythmisirung rhythmisch erscheinen kann. Es ist hier nicht der Ort ausf\u00fchrlicher zu er\u00f6rtern, inwiefern im Gebiet des Raumes von einem Rhythmus die Rede sein kann. So viel geht aus einem Vergleich der verschiedenen Sinnesgebiete und ihrer relativen Antheilnahme an den rhythmischen Erscheinungen hervor, dass 1) jedes Sinnesgebiet um so mehr an den rhythmischen Erscheinungen Theil nimmt, je mehr und je exclusiver es Organ der Zeitsch\u00e4tzung ist, daher das Geh\u00f6r, der zeitliche Sinn xar \u00e8\u00c7oyrjV, auch am meisten zur kunstvollen Durchbildung rhythmischer Formen Veranlassung gegeben hat. Weit weniger schon die Bewegungen, da sie zugleich der Raumsch\u00e4tzung dienen, noch weniger das Gesicht, das sich in den Zeitsinnversuchen von gro\u00dfer Stumpfheit der Zeitsch\u00e4tzung, daher als fast exclusiver Raumsinn erweist. Man kann weiter 2) leicht sehen, dass wir bei r\u00e4umlichen Gebilden, insbes. bei architektonischen Kunstwerken nur soweit von einem Rhythmus reden, als sie der successiven Betrachtung Anlass geben zu einer Art von periodischem Wechsel zwischen Ruhe und Bewegung. Wenn Auge und Aufmerksamkeit des Beschauers an den Gew\u00f6lbe-feldem einer Kirchendecke hinschweifen und hier best\u00e4ndig von Traveen zu Traveen, von Quergurt zu Quergurt weitergleiten, wenn die gleichm\u00e4\u00dfig wiederkehrenden Gurte oder Rippen vielleicht eben so viele Fixationspunkte f\u00fcr das Auge und Ruhepunkte f\u00fcr die Aufmerksamkeit bilden, w\u00e4hrend Auge und Aufmerksamkeit rascher \u00fcber die Gew\u00f6lbekappen weggleiten, so gibt hier das Bauwerk indirect Veranlassung zu einer Succession psychischer Erlebnisse, einem Vorstellungswechsel, einem Aufmerksamkeitswechsel, der von gro\u00dfem Reiz ist und mit dem Rhythmus der Schallempfindungen etwas Verwandtes hat. In beiden F\u00e4llen erleben wir einen rhythmischen Vorstellungs- und Aufmerksamkeitswechsel. Die Verwandtschaft beider Erlebnisse kann aber schon darum nur eine sehr entfernte sein, weil die perspectivische Verk\u00fcrzung nothwendig den durch die r\u00e4umliche Ordnung veranlassten","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nErast Meumann.\nRhythmus der Vorstellungsth\u00e4tigkeit zu einem ungleichm\u00e4\u00dfigen macht.\nKurz, nur soweit r\u00e4umliche Gebilde dem betrachtenden Subject mittelbar Veranlassung zu periodisch succedirender Betrachtung geben, k\u00f6nnen sie etwa Antheil nehmen an den rhythmischen Erlebnissen. Die Begriffsbestimmungen K\u00f6stlin\u2019s w\u00fcrden eher das Umgekehrte vermuthen lassen1). Mit jenen allgemeineren Ausf\u00fchrungen geht K\u00f6stlin allerdings \u00fcber die blo\u00df \u00e4sthetischen Theorien hinaus. Da sie aber lediglich im Sinne einer Begriffsanalyse gehalten sind und zu dem psychologischen Verst\u00e4ndniss der rhythmischen Erlebnisse nichts beitragen k\u00f6nnen, sehe ich keinen Grund, die Rhythmustheorie K\u00f6stlin\u2019s unter einem andern als dem \u00e4sthetischen Gesichtspunkt zu behandeln. Zugleich aber m\u00f6gen die Ausf\u00fchrungen K\u00f6stlin\u2019s als Beispiel einer speculativen Behandlung des Rhythmus gen\u00fcgen. Auf die zahlreichen, rein speculativen Rhythmustheorien gehe ich nicht weiter ein.\nObgleich Lotze eine Reihe gelegentlicher Bemerkungen \u00fcber die psychologische Erkl\u00e4rung des Rhythmus als solche gegeben hat, so \u00fcberwiegen bei ihm so sehr die Reflexionen \u00fcber die \u00e4sthetische Seite des Ph\u00e4nomens, und diese sind so wenig mit der psychologischen Erkl\u00e4rung des Rhythmus in Zusammenhang gebracht, dass wir sie hier selbst\u00e4ndig behandeln k\u00f6nnen. Mit Lotze sto\u00dfen wir zum ersten Male auf eine Trennung des directen und associativen Factors in der \u00e4sthetischen Wirkung des Rhythmus. Es ist bekannt, dass er im Gegensatz zu der formalistischen Aesthetik der Herbartianer als ein Hauptverfechter der ausschlie\u00dflichen Bedeutung der associativen Factoren f\u00fcr den \u00e4sthetischen Eindruck auftrat. Seine Theorie der \u00e4sthetischen Wirkungen des Rhythmus muss im Zusammenhang mit seinen allgemeinen \u00e4sthetischen Anschauungen betrachtet werden (Gesch. d. Aesth. S. 487 ff.; vergl. Vorlesungen \u00fcber Aesthetik, Leipzig 1884. S. 26. Kleine Schriften, Bd. II. S. 222 ff.).\nJedes Kunstwerk muss nach Lotze eine Andeutung des ganzen Weltbaus und \u00bberst auf sie aufgetragen die Darstellung einer\n1) K\u00f6stlin, Aesthetik. T\u00fcbingen 1869. S. 89 ff., 554ff. und \u00f6fter. Ich brauche wohl kaum zu bemerken, dass ich \u00fcber die geistreiche Musik\u00e4sthetik des genannten Autors mit den obigen Ausf\u00fchrungen keinerlei Urtheil abgegeben haben will.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n263\nbesonderen Erscheinung darbieten\u00ab, es muss eine \u00bbErinnerung\u00ab an einen objectiv wirklichen zweckm\u00e4\u00dfigen Weltplan und ein in ihm herrschendes allgemeines Gesetz in dem Beschauer erwecken. Drei Elemente \u00bbverschlingen sich\u00ab nun, wenn die \u00bballgemeine Figur alles Geschehens\u00ab zum Ausdruck kommen soll: Allgemeine Gesetze zuerst, theilnahmlos und ohne Vorliebe f\u00fcr besondere Gestalt der herauskommenden Erfolge beherrschen alle Erscheinungen; ihnen unterthan ist dann eine Vielheit wirklicher Elemente, jedes mit seiner unableitbaren Eigennatur ausger\u00fcstet, die dem Gebote der allgemeinen Gesetze gehorcht, ohne doch aus ihnen zu entspringen, ein ordnender G edanke f\u00fcgt als leitender Zweck den mannigfachen L\u00e4rm der Erscheinungen zu dem Ganzen eines Planes zusammen (Gesch. d. Aesth. S. 488). Indem nun die harmonisch verklingenden T\u00f6ne und die Melodie die \u00bbVielheit wirklicher Elemente\u00ab und den \u00bbordnenden Gedanken\u00ab repr\u00e4sentiren, ist \u00bbder Takt\u00ab \u00bbindem er die Zeit in gleiche Abschnitte zerlegt, und die Hebungen und Senkungen seiner inneren Gliederung immer in gleicher Weise (?) wiederholt ohne R\u00fccksicht auf die Verschiedenheit des musikalischen Inhalts\u00ab (?) \u2014 dasjenige was die allgemeine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit darstellt, \u00bbwelche alle Mannigfaltigkeit gleich-m\u00fcthig beherrscht \u2014 ohne f\u00fcr die Besonderheit der einen Erscheinung mehr Theilnahme zu empfinden als f\u00fcr die andere\u00ab (Gesch. d. Aesth. S. 489. vergl. Vorlesungen S. 26). Die Erinnerung, der Gedanke an diese Bedeutung des Taktes ist es nun, was nachLotze die \u00e4sthetische Wirkung des Taktes bedingt.\nIch brauche wohl kaum das sehr wenig Zutreffende dieser Schilderung hervorzuhehen. Lotze scheidet hier augenscheinlich nicht zwischen Takt und Rhythmus. Er beabsichtigt \u2014 das zeigt namentlich die weitere Ausf\u00fchrung (Gesch. d. Aesth. S. 489 f.) \u2014 den rhythmischen Eindruck im H\u00f6renden zu schildern, von diesem gilt aber die Gleichg\u00fcltigkeit gegen den besonderen Inhalt des musikalischen Motivs durchaus nicht. Diese gilt h\u00f6chstens von dem geschriebenen und in der Notenvorschrift gemessenen Takt, und da der letztere nur eines der Mittel ist, durch die der Componist dem Spielenden seine rhythmischen Absichten erkennbar macht, so kommt er unmittelbar f\u00fcr die Aesthetik des rhythmischen Eindruckes \u00fcberhaupt nicht in Betracht.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nErnst Meumann.\nAber hiervon abgesehen, so liegt ein Grundirrthum Lotze\u2019s darin, dass er die \u00e4sthetische Wirkung der gesetzm\u00e4\u00dfigen Ordnung, welche der Rhythmus thats\u00e4chlich \u2014 wenn auch nicht gleichg\u00fcltig gegen die Wandelungen des Motivs \u2014 in die Tonfolge bringt, rein in den associativen Apparat des Zuh\u00f6renden verweist. Niemand hat diese Auffassung besser widerlegt, als Fechner (Vergl. dessen Vorschule d. Aesth. I. S. 162 ff.). Alles, was Fechner gegen Lotze\u2019s Auffassung von der Wirkung der Musik im allgemeinen sagt, gilt auch von dessen Auffassung des Rhythmus. Es kann nach Fechner \u00bbJemand sehr wenig allgemeine Bildung besitzen, und st\u00e4rkere und h\u00f6here directe musikalische Eindr\u00fccke erhalten, die Musik im eigentlichen Sinne besser verstehen und mehr genie\u00dfen als der Gebildete, wenn er ge\u00fcbter als dieser im Auffassen und Verfolgen musikalischer Beziehungen ist, und mehr musikalische Anlage hat, trotzdem dass er wenig, der Andre viel und Bedeutendes associiren kann \u00ab.\nMit Recht hebt Fechner hier gegen Lotze hervor, dass die erste Bedingung, die der Beschauer oder H\u00f6rer gegen\u00fcber dem Kunstwerk erf\u00fcllen muss, die ist, dass er im Stande sei, die Eindr\u00fccke, die ihm das Kunstwerk bietet, mit gr\u00f6\u00dfter Bestimmtheit aufzufassen, und dass von dieser rein percipirenden Th\u00e4tigkeit der \u00e4sthetische Eindruck mindestens ebenso \u00abehr abh\u00e4ngt, wie von dem, was der Zuh\u00f6rer associirt. Ist es aber m\u00f6glich, dass ein Beobachter, der besser und gr\u00fcndlicher pereipirt, mehr \u00e4sthetischen Genuss habe, als einer, der schlecht auffasst, aber mehr associirt, so ist damit die Existenz des directen Factors zugestanden, und sobald diese anerkannt wird, ist es die erste Aufgabe des Aesthetikers den unmittelbaren Gef\u00fchlswirkungen des Kunstwerkes nachzugehen. Es ist Fechner\u2019s Verdienst, auch gegen\u00fcber dem Rhythmus auf die Nothwendigkeit der Untersuchung des directen Factors in dem \u00e4sthetischen Eindruck hingewiesen zu haben. Bei Lotze aber muss die einseitige Betonung der Associativen Factoren um so mehr in Erstaunen setzen, als er wiederholt Ans\u00e4tze zu einer psychologischen Erkl\u00e4rung unmittelbarer Gef\u00fchlswirkungen des Rhythmus gemacht hat, auf die ich in einem sp\u00e4teren Zusammenh\u00e4nge zur\u00fcckkomme (S. 277 d. A.). Fechner anderseits l\u00e4sst uns im Stich, wenn wir nach genaueren Angaben \u00fcber den directen Factor in der \u00e4sthe-","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n265\ntischen Wirkung des Rhythmus fragen. Es sind \u2014 abgesehen von einigen Andeutungen \u00fcber den Rhythmus der Bewegungen \u2014 nur zwei Bemerkungen, die wir heranziehen m\u00fcssen, die, obgleich sie von der Musik im allgemeinen gesagt sind, doch durchaus auch von dem Rhythmus als solchem gelten. Zuerst hat Fechner betont, dass, w\u00e4hrend \u00bbin den K\u00fcnsten der Sichtbarkeit\u00ab der associative Factor die Hauptrolle spiele, in der Musik diese vielmehr dem directen Factor zufalle. Es ist freilich keine Frage und namentlich durch die sorgf\u00e4ltige Sammlung von Selbstbeobachtungen beim Experiment von mir selbst und Andern\" (insbesondere neuerdings von Bolton, Amer. Journ. of Psych. Bd. IV. S. 184ff.) festgestellt worden, dass associative Factoren, interpretirende Vorstellungen der verschiedensten Art die Rhythmuswahrnehmung fortw\u00e4hrend begleiten, aber es zeigt sich auch in diesen Selbstaussagen und wird durch Puls- und Athemmessungen best\u00e4tigt, dass m\u00e4chtige, rein sinnliche Gef\u00fchlswirkungen des Aufregenden, Verletzenden und Peinlichen, des angenehm Erregenden, der erwartungsvollen Spannung u. s. w. den Gef\u00fchlscharakter der einfachen rhythmischen Formen wesentlich bestimmen. Sodann gibt Fechner einen Wink f\u00fcr die Beantwortung der Frage, woher der bestimmte Gef\u00fchlscharakter einzelner Rhythmusformen stamme, indem er darauf hinweist, dass der Rhythmus ganz besondere Beziehung habe zu dem \u00bbStimmungselement\u00ab der Musik (Vorschule S. 159) und dass er diese Beziehung einer unmittelbaren Uebereinstimmung gewisser rhythmischer Zeit- und Betonungsverh\u00e4ltnisse mit bestimmten Verh\u00e4ltnissen unsrer Ausdrucksbewegungen verdanke (a. a. O. S. 160). \u00bbIn Betreff dieser \u2014 Stimmungen d\u00fcrfte man wohl f\u00fcglich als Princip aussprechen k\u00f6nnen, dass die Bestimmungen und Verh\u00e4ltnisse der Musik, wodurch eine solche Stimmung erweckt wird, sich in wesentlichsten Punkten mit der activen Ausdrucksweise derselben Stimmung in Stimme und Bewegungen des Menschen begegnen. \u2014 Eine lustige Musik hat ein anderes Tempo, einen anderen Rhythmus als eine tragische, und einen analogen Gegensatz zeigt der eigene Ausdruck der Lustigkeit und Trauer in Stimme und Bewegung.\u00ab Wir brauchen aber nicht blo\u00df, wie Fechner will, an. den Ausdruck unserer Gef\u00fchle in Stimme und Bewegung zu denken, auch ein entsprechender Vorstellungs- und Aufmerksamkeitswechsel\nWundt, Philos. Studien. X.\t18","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nErnst Menmann.\nwird durch den Rhythmus nachgeahmt und eingeleitet. In Zust\u00e4nden der Lust belebt sich der Fluss der Vorstellungen, steigert sich die Energie der Aufmerksamkeit, die Raschheit des Aufmerksamkeitswechsels, und dies Tempo unserer Seelenth\u00e4tigkeiten erzeugt ein schneller Rhythmus unmittelbar. Das Umgekehrte gilt von Zust\u00e4nden der Unlust. Der Rhythmus macht einen Theil des inneren Erlebens nach und erzeugt damit die analogen Gef\u00fchlszust\u00e4nde, \u00e4hnlich wie wir durch aufmerksame Nachahmung gewisser Ausdruckshewegungen die diesen entsprechenden Gef\u00fchle in uns k\u00fcnstlich erzeugen k\u00f6nnen.\nUeberhlicken wir die bisherigen Er\u00f6rterungen \u00fcber den Rhythmus, sein psychisches Wesen und seine \u00e4sthetische Bedeutung, so ist das Resultat ein recht d\u00fcrftiges. Eine Analyse der Elemente, die den rhythmischen Eindruck constituiren und eine Bestimmung ihres gegenseitigen Verh\u00e4ltnisses vermissen wir ganz. Eine Erkl\u00e4rung der sensorischen und motorisch-rhythmischen Ph\u00e4nomene in dem Sinne, dass die Rhythmusbildung als die besondere Wirkungsweise eines oder mehrerer psychischer Elementarph\u00e4nomene nachgewiesen w\u00fcrde, ist von den bisher genannten Autoren nicht versucht worden. F\u00fcr die \u00e4sthetische Wirkung des Rhythmus allein scheinen wir einige greifbare Ergebnisse zu gewinnen. Alles weist darauf hin, dass 1) unmittelbare sinnliche Gef\u00fchlswirkungen beim Rhythmus eine weit gr\u00f6\u00dfere Rolle spielen, wie bei allen \u00fcbrigen Objecten \u00e4sthetischer Beurtheilung; und 2) dass in den Beziehungen des Rhythmus zu den Ausdruckshewegungen und jenen organischen Ver\u00e4nderungen, welche alle Gef\u00fchlszust\u00e4nde begleiten, f\u00fcr Lust-und Unlustwirkungen des Rhythmus das allgemeinere Ph\u00e4nomen zu liegen scheint, von dem auch die letzteren ihre Erkl\u00e4rung zu erwarten haben. Mit ihr besch\u00e4ftigen sich die rein physiologischen Theorien, denen ich mich jetzt zuwende.\n\u00a7 4.\nDie Ueberlegenheit der physiologischen Theorien des Rhythmus \u00fcber die bisherigen Meinungen liegt darin begr\u00fcndet, dass sie wenigstens die eine Seite des zu erkl\u00e4renden Ph\u00e4nomens seihst zu erforschen suchen. Die meisten unter ihnen r\u00fchren bezeichnen-","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"267\nUntersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\nder Weise von Schriftstellern her, die sowohl der Physiologie wie der physiologischen Psychologie v\u00f6llig fern stehen und die durch das moderne Uebel der Popularisirung der Physiologie angesteckt mit lauter missverstandenen physiologischen Daten arbeiten. Das Charakteristische aller dieser Schriften, die sich Physiologie der Tonkunst, Physiologie der Melodie, Physiologie des Contrapunktes, Physiologie des Rhythmus u. s. w. nennen, ist immer dies, dass irgend eine physiologische Begleiterscheinung, die in irgend einer n\u00e4heren oder auch ganz entfernten Beziehung zu dem zu erkl\u00e4renden psychischen Ph\u00e4nomen steht, f\u00fcr \u00bbdas Wesen\u00ab desselben ausgegeben wird, zugleich ist die Bedeutung einer descriptiven Analyse des psychischen Thatbestandes diesen Autoren unbekannt. Ich erw\u00e4hne z. B., dass C. Fiebach in seiner Physiologie der Tonkunst sich die rhythmischen Verh\u00e4ltnisse der T\u00f6ne als ebenso viele \u00bbGef\u00e4\u00dfkr\u00e4mpfe\u00ab erkl\u00e4rt. So werden z. B. bei einer rhythmischen\nForm wie diese \u00df\t\u00bbdie Gef\u00e4\u00dfe zweimal rasch hinter\neinander kurz, dann einmal lang und einmal halblang zusammengezogen\u00ab. Die einzige Theorie, welche unter denen, die sich vorwiegend mit der physiologischen Seite des Rhythmus besch\u00e4ftigen, ernst genommen zu werden verdient, ist die von Mach. Mach hat seiner Theorie zwei verschiedene Formulirungen gegeben, in beiden nimmt er allerdings auch auf die psychologische Basis des Rhythmus R\u00fccksicht, doch ist das Bemerkenswertheste an ihnen der versuchte Nachweis eines physiologischen Aequivalentes des Rhythmus bez. der Zeitwahrnehmung, indem ihm die Wahrnehmung rhythmisch geordneter Empfindungen mit Recht nur ein specieller Fall von Zeitwahrnehmung ist. Die erste Hypothese st\u00fctzt sich auf die Thatsache, dass eine (bekannte) Melodie, deren Rhythmus durch Klopfen mit dem Finger auf den Tisch hergestellt wird, errathen werden kann. Hieraus folgert Mach, der Rhythmus sei also an eine besondere Gruppe von Empfindungen gebunden, die \u00bbRhythmus-empfiMungen \u00ab. Als den Sitz der Rhythmusempfindungen betrachtet er dann den Accommodationsapparat des Ohres, die Rhythmusempfindungen seien also Accommodationsempfindungen des Ohres *).\n1) Mach, Untersuchungen \u00fcber den Zeitsinn des Ohres. Wien. Sitz.-Ber.\n18*","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nErnst Meumann.\nMan muss an dieser Hypothese zweierlei ans einander halten: 1) den Beweis f\u00fcr das Vorhandensein einer besonderen Rhythmusempfin-dung; 2) die Hypothese ihres peripheren Organes. Der Fehler des erstgenannten Beweises ist ein zweifacher: es scheint, dass Mach sich die Sache so denkt, wie wenn wir das eine Mal die Melodie und den Rhythmus, das andere Mal gewisserma\u00dfen den Rhythmus als solchen h\u00f6rten, w\u00e4hrend thats\u00e4chlich derselbe Rhythmus einmal durch T\u00f6ne, einmal durch Schallempfindungen hergestellt wird. Indem dieser bei seiner Herstellung durch das eine oder andere Medium einen verwandten Eindruck macht, vermag das in beiden Wahrnehmungen Gemeinsame die Melodie zu reproduciren. Mit genau demselben Rechte w\u00fcrde man aus demselben Versuche schlie\u00dfen, dass es eine besondere \u00bbMelodieempfindung\u00ab g\u00e4be. Der zweite Fehler ist der, dass f\u00fcr ein so complexes Ph\u00e4nomen wie den Rhythmus eine besondere Empfindung construirt wird. Von einer Rhythmusempfindung zu reden widerstreitet der Einfachheit der Empfindungen nicht mehr und nicht weniger wie etwa die Melodieempfindung * 1).\nDer zweite Theil der Hypothese, dass der Rhythmus seinen Sitz in den Accommodationsempfindungen des Ohres habe, ist von Mach selbst aufgegeben worden, statt dessen hat er nach einem centralen Vorgang als dem physiologischen Parallelvorgang der Zeitwahrnehmung und damit indirect auch des Rhythmus gesucht. \u00bbMit jeder specifischen Energie des Bewusstseinsorgans\u00ab denkt sich Mach \u00bbeine besondere Energie der Zeitempfindung verbunden\u00ab, so dass keine Empfindung ohne die Mitwirkung der specifischen Zeitenergie erzeugt werden kann. Aus der Wirksamkeit dieser specifischen Zeitenergie des Centralorgans w\u00fcrde dann auch die Entstehung des Rhythmus zu begreifen sein. Diese letztere Hypothese Mach\u2019s ist schon darum abzulehnen, weil sie \u00fcberfl\u00fcssig ist, abgesehen davon, dass das Construiren specifischer Energien ungef\u00e4hr auf gleicher Stufe steht mit der Verwendung des Krafthegriffes in\n1865. 51. IL S. 133 f.; vergl. Bemerkungen \u00fcber die Accommodation des Ohres. Ebenda, S. 343 f.\n1) Genau aus demselben Grunde ist das Wort \u00bbZeitempfindung\u00ab, \u00bbRaumempfindung\u00ab zu verwerfen, wozu freilich der weitere Grund kommt, dass Zeit und Raum \u00fcberhaupt nicht den Empfindungsinhalten gleich zu setzen sind.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t269\nder \u00e4lteren Naturwissenschaft. Die einzige Annahme, zu der wir durch die Thatsache der Zeitwahmehmung gen\u00f6thigt sind, ist die, dass in unserem Bewusstsein nicht nur der einer Empfindung selbst entsprechende Erregungsvorgang, sondern auch die Verh\u00e4ltnisse des Verlaufes der Erregung zum Bewusstsein kommen, dass also neben jeder Empfindung auch die Dauer ihrer Erregung, die Schnelligkeit, mit der sie durch eine andere verdr\u00e4ngt wird, wahrgenommen werden kann. Indem wir diese Wahrnehmung zum gesonderten Gegenst\u00e4nde einer Aussage machen, f\u00e4llen wir Zeiturtheile.\nDie beiden Theorien Mach\u2019s bezeichnen je einen Theil der Aufgabe einer physiologischen Theorie des Rhythmus. Eine solche wird zu sondern haben zwischen denjenigen Bestandtheilen eines rhythmischen Schall- oder Tonwechsels, die aus dem blo\u00dfen Empfindungswechsel (den Qualit\u00e4ts-, Intensit\u00e4ts- und Zeitverh\u00e4ltnissen der Empfindungen) abzuleiten sind, und zwischen den centralen, den associativen und apperceptiven Factoren. Zugleich tritt hier sehr deutlich hervor, wie die physiologische Erkl\u00e4rung auf jedem Schritt abh\u00e4ngig ist von der vorausgegangenen psychischen Analyse. Es fehlt ihr an jedem leitenden Gesichtspunkt daf\u00fcr, wo und wie der physische Begleitvorgang der centralen Factoren des Rhythmus zu suchen ist, wenn nicht die ersch\u00f6pfende Beschreibung der sehr complicirten inneren Erlebnisse, die bei den Schall- oder Tontakten stattfinden, vorausgegangen ist.\n\u00a7 5.\nMan muss aber allgemein die Frage er\u00f6rtern, was die organischen Ver\u00e4nderungen, von denen die Wahrnehmung rhythmisch geordneter Empfindungen best\u00e4ndig begleitet zu werden scheint, f\u00fcr das Zustandekommen des ganzen Ph\u00e4nomens f\u00fcr eine Bedeutung haben, bez. wie weit die psychologische Analyse und die physiologisch-psychologische Erkl\u00e4rung mit ihnen zu rechnen hat. Die Thatsachen, auf die man dabei hin weisen kann, sind die folgenden. Es ist von jeher bemerkt worden, dass alles Anh\u00f6ren rhythmisch geordneter Schalleindr\u00fccke von ausgepr\u00e4gten Gef\u00fchlszust\u00e4nden begleitet wird. Sodann bringt die Rhythmuswahrnehmung die oft unwiderstehliche Neigung zu begleitenden Taktirbewegungen mit sich. Endlich hat ganz neuerdings Hr. P. Mentz den experimen-","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"/\t270\nErnst Menmann.\nteilen Nachweis geliefert, dass Athem und Herzschlag (Puls) durch das Anh\u00f6ren von Schalltakten beeinflusst werden, indem sich die Pulsfrequenz ver\u00e4ndert, und die Athemgipfel (oder auch die Th\u00e4ler) der pneumographischen Curve die Tendenz zeigen, mit den rhythmischen Z\u00e4hlzeiten zusammen zu fallen. Es best\u00e4tigten sich in diesen Versuchen von Mentz theilweise fr\u00fchere Beobachtungen von E. Leumann (Phil. Stud. V, S. 618 ff.), die Experimente von Dogiel (Pfl\u00fcg. Arch. f. Physiol. 1880. S. 416 ff.) und ganz neuerdings hat Bolton (Amer. Journal of Psych. Vol. VL S. 202) wiederum auf dem Wege der blo\u00dfen Beobachtung die Einstellung von Athem und Puls nach dem geh\u00f6rten Schallrhythmus innerhalb gewisser Grenzen von einer gr\u00f6\u00dferen Zahl von Beobachtern festgestellt1). Zudem weisen zahlreiche anatomische und physiologische Thatsachen auf die Verbindung zwischen Geh\u00f6rorgan und Athem- und vielleicht auch Gef\u00e4\u00dfcentren einerseits und speciell zwischen dem Bogenlabyrinth des Ohres und dem Tonus unserer willk\u00fcrlichen Muskulatur andrerseits hin. Es ist ja sehr leicht m\u00f6glich, gerade auf die von R. Ewald2) neuerdings wahrscheinlich gemachte Thatsache (die freilich von Breuer wiederum bezweifelt worden ist), dass der Muskeltonus unserer willk\u00fcrlichen Muskulatur, ganz besonders, so weit sie der feineren Beweglichkeit des K\u00f6rpers dient, einer best\u00e4ndigen Regulirung durch das Bogenlabyrinth des Ohres unterliegt, Hypothesen zu begr\u00fcnden, die dem Zusammenhang der Perception von Schalltakten mit begleitenden Bewegungen unserer willk\u00fcrlichen Muskulatur eine bestimmte anatomische Grundlage geben. St\u00e4rkere, vielleicht ganz besonders periodische Ersch\u00fctterungen des inneren Ohres k\u00f6nnten ja die Endolymphe der Bogeng\u00e4nge in Mitleidenschaft ziehen und hierdurch den oft unwiderstehlichen Drang zu rhythmischer Bewegung der K\u00f6rpermuskulatur bedingen, noch mehr, die von den Bogeng\u00e4ngen ausgehende Reflexerregung bezieht sich jedenfalls ganz besonders auf die Kopf- und Halsmuskulatur, und die Halsmuskulatur wird auch ganz besonders leicht f\u00fcr die rhythmischen Bewegungen in Anspruch genommen.\n1)\tAuch Dutczinsky, Beurtheilung und Begriffsbildung der Zeitintervalle\u00ab (Leipzig 1894), theilt eine Anzahl \u00e4hnlicher Beobachtungen mit.\n2)\tYergl. R. Ewald, Untersuchungen \u00fcber das Endorgan des N. octavus. S. 294. Ferner Breuer\u2019s Referat \u00fcber diese Schrift: Zeitschr. f. Psychol, und Physiol, d. Sinnesorg. Bd. VII, S. 55.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t271\nEs kommt f\u00fcr unseren Zusammenhang nicht darauf an, zu erw\u00e4gen, wie weit bestimmte Hypothesen dieser Art den Vorzug verdienen. Die Frage l\u00e4sst sich ganz allgemein beantworten ; was aus physiologischen Vorg\u00e4ngen wie den Ver\u00e4nderungen der Gef\u00e4\u00dfth\u00e4tig-keit, oder, den Aenderungen der Gr\u00f6\u00dfe und Frequenz der Herz-contractionen, oder der Eegulirung der Athemth\u00e4tigkeit zur Erkl\u00e4rung des Rhythmus geleistet werden kann. Die M\u00f6glichkeit nun, bestimmte rhythmische Formen der Musik oder der Poesie irgendwie aus jenen physiologischen Vorg\u00e4ngen ableiten zu wollen, muss selbstverst\u00e4ndlich von vornherein abgewiesen werden; diese sind s\u00e4mmtlich Kunstproducte, die nur aus einer willk\u00fcrlichen Weiterbildung rhythmischer Elemente im Laufe einer langen Entwickelung entstehen konnten; und auch das ist unzweifelhaft, dass intellectuelle Processe h\u00f6herer Art, Reproductionen, zusammenfassendes Gruppiren der Eindr\u00fccke, zum Theil sogar bewusstes Vergleichen bei allen entwickelten Rhythmusformen die Hauptrolle spielen. Man kann h\u00f6chstens danach fragen, ob 1) organische Ver\u00e4nderungen dieser Art das specifisch Rhythmische, das bei rhythmischer Ordnung unserer Empfindungen zu der einfachen Succession hinzukommt, ausmachen; oder ob sie 2) blo\u00df Begleiterscheinungen einer Rhythmuswahrnehmung, also eines wesentlich in-tellectuellen Processes sind. Die unter 1) erwogene M\u00f6glichkeit kann wiederum von vornherein abgewiesen werden. Der Empfindungswechsel wird nur unter der Bedingung zu dem subjectiven Erlebniss eines rhythmischen Empfindungswechsels gesteigert, dass die intellectuelle Arbeit des Zusammenfassens und Ordnens der auf einander folgenden Eindr\u00fccke diese aus ihrer Isolirung als vereinzelte Schalleindr\u00fccke heraushebt. Die systematische Selbstbeobachtung, zu welcher ich eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl gut geschulter Beobachter bei sorgf\u00e4ltiger Herstellung der einfachsten F\u00e4lle von Schalltakten veranlasste, ergaben mir stets das Resultat, dassj\u00e4ine subjective Zusammenfassung der Eindr\u00fccke zu einem Ganzen unzertrennlich mit den einfachsten F\u00e4llen der Rhythmuswahrnehmung verbunden ist. Die Beobachtungen, welche M\u00fcller und Schumann bei ihren Ged\u00e4chtnissversuchen gemacht haben, und die um so unverd\u00e4chtiger sind, als es ihnen f\u00fcr ihre Zwecke nicht darauf ankam, im Interesse irgend einer Theorie des Rhythmus zu","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nErnst Menmami.\narbeiten, zeigen dasselbe: eine \u00bbinnerliche Zusammenfassung \u00ab der von ihnen auswendig gelernten unwillk\u00fcrlich rhythmisch geordneten sinnlosen Silben war das stete Merkmal der Rhythmusbildung. Ebenso fanden die 30 Beobachter von Bolton in dem \u00bbgrouping\u00ab das erste und unerl\u00e4ssliche Merkmal aller subjectiven Rhythmi-sirung. Die Auffassung der gerade gegenw\u00e4rtigen Empfindung als Wiederholung der vergangenen und Vorbereitung der folgenden, die f\u00fcr alle Rhythmusw'ahrnehmung charakteristisch ist (vgl. Wundt, Phys. Psych. II, S. 84), weist ebenfalls auf die nie fehlende Betheiligung h\u00f6herer intellectueller Processe an der Rhythmusbildung hin. Es erscheint daher undenkbar, dass organische Begleiterscheinungen bez. die immer sehr unbestimmten Empfindungselemente derselben oder gar das zugleich mit ihnen auftretende Gef\u00fchlselement dasjenige sei, was die rhythmische Ordnung der Schalleindr\u00fccke ausmache.\nEs gibt endlich eine Anzahl Beobachtungen, die aufs Bestimmteste darauf hinweisen, dass die bezeichneten intellectuellen Processe das Prius iii der ganzen Rhythmusperception sind. 1) Die subjective Rhythmisirung von Schalleindr\u00fccken wird stets damit ein-geleitet, dass regelm\u00e4\u00dfig wiederkehrende scheinbare Intensit\u00e4tsunterschiede auftreten, die eine Subordination der schw\u00e4cheren Eindr\u00fccke unter die st\u00e4rkeren, eine Coordination der letzteren bedingen, dass die schw\u00e4cheren und st\u00e4rkeren Eindr\u00fccke innerlich zusammengefasst werden u. s. w. 2) Diese intellectuellen Processe sind h\u00e4ufig vorhanden, ohne dass eine bestimmte Gef\u00fchlswirkung ihnen zur Seite ginge (wir gruppiren, subordiniren, betonen innerlich auch bei indifferenten Takten), und sie sind von der Gef\u00fchlsver\u00e4nderung unabh\u00e4ngig. 3) Die gr\u00f6\u00dfte Energie der inneren Zusammenfassung findet gerade dann statt, wenn (bei sehr langsamen Rhythmen) eine sehr geringe Gef\u00fchlswirkung da ist. 4) Bei subjectiver Rhythmisirung ist eine willk\u00fcrliche Aenderung des Rhythmus m\u00f6glich, die einfach mittels eines vorgestellten Rhythmus eingeleitet wird und die dann eine entsprechende Aenderung wenigstens der Athemth\u00e4tig-keit, wie ich mich durch eigene Versuche \u00fcberzeugte, nach sich zieht.\nWenn man nun aber auch annimmt, dass das specifisch Rhythmische im Wesentlichen in intellectuellen Acten besteht, zu denen uns unter noch n\u00e4her festzustellenden Bedingungen eine schnelle","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t273\nSuccession bestimmter Empfindungen Anlass gibt, so bleibt man f\u00fcr die thats\u00e4chlich constatirten motorischen Begleiterscheinungen, Gef\u00fchlswirkungen und organischen Ver\u00e4nderungen noch die Erkl\u00e4rung schuldig. Dass jene intellectuelle Arbeit, die sich im Wesentlichen als eine ordnende und zusammenfassende, nach Art aller \u00bbVer-standesth\u00e4tigkeit\u00ab zeigt, \u00e4sthetische Lustgef\u00fchle mit sich bringen kann, ist ohne Weiteres verst\u00e4ndlich. Neben dieser intellectuelle \u00e4sthetischen Seite des Ph\u00e4nomens geht nun nach meiner Auffassung die ganze Summe der sinnlichen Gef\u00fchlswirkungen u. s. w. nebenher und es ist nicht undenkbar, dass sie rein von dem Empfindungswechsel als solchem eingeleitet werden. Die Entscheidung der verschiedenen Erkl\u00e4rungsm\u00f6glichkeiten der verwickelten Causalzu-sammenh\u00e4nge, die sich auf diesem Gebiete darstellen, wird erst der experimentellen Forschung m\u00f6glich sein.\nBevor ich zu den psychologischen Theorien des Rhythmus \u00fcbergehe, fasse ich den Ertrag der bisherigen Er\u00f6rterung kurz zusammen-Aus den teleologischen Theorien konnte ich den brauchbaren Gedanken entnehmen, dass zu einer vollst\u00e4ndigen Theorie des Rhythmus auch die Feststellung der Beziehungen der rhythmischen Ordnung unserer Empfindungen zu den \u00fcbrigen psychischen Ph\u00e4nomenen, insbesondere zum Ged\u00e4chtniss, geh\u00f6rt. Aus den rein \u00e4sthetischen Theorien ergab sich die Nothwendigkeit, nach einer neuen Basis f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der \u00e4sthetischen Wirkung des Rhythmus zu suchen; sie konnte nur gefunden werden in dem psychischen Mechanismus der Rhythmusperception selbst. Aus den physiologischen Theorien konnte das Vorhandensein organischer Begleiterscheinungen bei aller Rhythmuswahrnehmung gefolgert werden, in den bisherigen Experimenten \u00fcber Gef\u00fchle und ihre organischen Begleiterscheinungen ist vielleicht der Weg zur weiteren experimentellen Erforschung dieser Thatsachen gegeben. Was uns nun vor allen Dingen noch fehlt, ist eine ersch\u00f6pfende Beschreibung des psychischen Thatbestandes der inneren Erlebnisse, welche wir als die specifisch rhythmischen bezeichnen, und eine Zur\u00fcckf\u00fchrung desselben auf die Wirksamkeit allgemeiner psychischer Factoren, sowie die Aufsuchung der Bedingungen, unter denen das specifisch Rhythmische entsteht. Die Erf\u00fcllung dieser Forderung haben wir von den psychologischen Theorien des Rhythmus zu erwarten. Zu diesen wende ich mich jetzt.","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nErnst Meumann.\n\u00a7 6.\nDer erste, der eine psychologische Erkl\u00e4rung der Thatsachen des Rhythmus versucht hat, ist Herbart') (\u00bbHeber die urspr\u00fcngliche Auffassung eines Zeitma\u00dfes\u00ab). Herbart begreift die rhythmischen Erscheinungen als Specialf\u00e4lle der unmittelbaren Zeitwahrnehmung. Er schickt deshalb seiner Theorie des Rhythmus eine Art Psychologie des Zeitsinns voraus. Es gibt nach Herbart eine unmittelbare Zeitauffassung, die von ihm, ganz den Ergebnissen der experimentellen Untersuchung entsprechend, auf eine geringe Zone kleiner Zeitintervalle beschr\u00e4nkt wird. Er unterscheidet eine mittlere Zeitl\u00e4nge, die unserer unmittelbaren Auffassung am \u00bbbequemsten\u00ab ist, von k\u00fcrzeren Zeiten, die uns als schnell, und l\u00e4ngeren, die uns als langsam erscheinen, und findet nach Versuchen an der Secunden-uhr, dass etwa 1 Secunde ein bequemes Zeitma\u00df abg\u00e4be. Diese That-sache scheint ihm die \u00bballerwichtigste in dieser ganzen Untersuchung\u00ab. Er stellt ferner fest, dass jede Art succedirender Bewusstseinszust\u00e4nde (Empfindungen, Vorstellungen u. s. w.) im Stande sind, uns als Anhaltspunkte zur Zeitwahrnehmung zu dienen, und behauptet, ohne einen Beweis daf\u00fcr zu erbringen, dass leere Zeiten, durch kurze Eindr\u00fccke irgend eines Sinnesgebietes abgegrenzt, die bequemste und sicherste Art der Zeitmessung abg\u00e4ben. Zum genaueren Zeitma\u00df sei nur erforderlich, dass die Empfindungen \u00bbso nahe als m\u00f6glich momentan\u00ab seien.\nEin gro\u00dfer Th eil der Abhandlung dient sodann dem Versuch, aus den \u00bbPrincipien der Mechanik des Geistes\u00ab die M\u00f6glichkeit des Vergleichens von Zeitintervallen zu deduciren. Indem ich diesen Versuch \u00fcbergehe, stelle ich nur einige Beobachtungen Herbart\u2019s zusammen, die f\u00fcr die Erkl\u00e4rung des Rhythmus und seiner \u00e4sthetischen Wirkungen wichtig sind. Herbart hat beobachtet, dass die langsamen Takte mit einem Gef\u00fchl des Aufschiebens und des Wartens, die schnellen mit einem Gef\u00fchl der Erregung verbunden seien, und die Ursache hierf\u00fcr findet er darin, dass wir bei dem ersten Falle den kommenden Schall immer schon \u00bbinnerlich vor-\n1) Herbart, Psychologische Untersuchungen. S. W., herausgegeben von Hartenstein. Bd. VII. S.291ff.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t275\ngebildet haben, dass dagegen im letzteren Falle der schnell eintretende Schlag immer die Reproduction des vorigen in abnormer Weise beschleunige. Der Charakter des Langsamen und des Schnellen, das scheint Herbart\u2019s Meinung zu sein, beruht nun auf diesem Unterschied in den Vorg\u00e4ngen der Reproduction des vorangehenden Schalles und der durch sie bedingten Gef\u00fchlswirkung. Hierin liegt wenigstens die Andeutung eines Weges f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der \u00e4sthetischen Wirkung rhythmischer Schalleindr\u00fccke, indem der Re-productionsmechanismus der Zeitwahrnehmung selbst als Ursache bestimmter Gef\u00fchlswirkungen betrachtet wird. F\u00fcr eine eigentliche Theorie des Rhythmus, d. h. eine bestimmte Anschauung dar\u00fcber, was zur Wahrnehmung einer blo\u00dfen Succession von Empfindungen hinzukommen muss, sind bei Herbart h\u00f6chstens Ans\u00e4tze vorhanden. Seine Aussagen \u00fcber Zeitwahrnehmung und Rhythmuswahrnehmung gehen best\u00e4ndig in einander \u00fcber. Daf\u00fcr finden wir eine gro\u00dfe Menge mehr oder minder werthvoller gelegentlicher Bemerkungen \u00fcber Rhythmus und Takt. Die M\u00f6glichkeit einer Taktwahrnehmung will Herbart zur\u00fcckf\u00fchren auf die Grenzen der unmittelbaren Zeitwahrnehmung, damit legt er wenigstens die objective Bedingung aller Rhythmusbildung nahe: eine gewisse Geschwindigkeit der Eindr\u00fccke. Er dringt auf die M\u00f6glichkeit, die Gleichheit und Ungleichheit rhythmischer und metrischer Einheiten unmittelbar empfinden zu k\u00f6nnen, w\u00e4hrend die Aufmerksamkeit mit dem Inhalt des Tonst\u00fcckes oder Gedichtes besch\u00e4ftigt sei. Damit streift er den wichtigen Unterschied zwischen unmittelbarem Erleben zeitlicher Verh\u00e4ltnisse und einer bewussten Sch\u00e4tzung derselben, und es ist nur ein Schritt bis zu dem f\u00fcr die ganze Rhythmustheorie wichtigen Problem: wie kann eine Perception complicirter rhythmischer Verh\u00e4ltnisse, kunstvoller Zeiteintheilungen stattfinden, wenn die Aufmerksamkeit bei den meisten k\u00fcnstlerischen Verwendungen des Rhythmus nur in secund\u00e4rer Weise mit dem Rhythmus als solchem besch\u00e4ftigt sein kann? Wir haben es augenscheinlich bei der meisten Rhythmuswahrnehmung mit einem ganz besonderen Fall von Wahrnehmung zeitlicher Verh\u00e4ltnisse zu thun, der zu dem bewussten Vergleichen verschieden langer Zeitstrecken, wie es beim Zeitsinnversuch stattfindet, und stets in einem Urtheil \u00bbgr\u00f6\u00dfer\u00ab oder \u00bbkleiner\u00ab endigt, etwa in demselben Verh\u00e4ltnisse steht, wie das unmittelbare","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nErnst Meumann.\nErleben eines Empfindungsunterschiedes zum bewussten Vergleichen zweier verschiedener Empfindungen.\nHerbart beachtete ferner, dass mit gewissen Verh\u00e4ltnissen der blo\u00df zeitlichen Ordnung der Eindr\u00fccke objective Anl\u00e4sse (Reize) zur subjectiven Accentuirung der Eindr\u00fccke nothwendig gegeben sind, indem er darauf hinweist, dass im 4/4-Takt das erste und dritte Taktglied sich mehr hervorhebe, er weist damit auf eine den Musikern bekannte Erscheinung hin, die in ihrer principiellen Bedeutung noch nicht gew\u00fcrdigt worden ist ; es liegt in ihr eine Andeutung der Thatsache, dass zwischen den einzelnen Elementen der Rhythmusbildung gesetzm\u00e4\u00dfige Beziehungen bestehen, dass sich Zeitordnung und Betonung, Motiv und Betonung, Motiv und zeitliche Ordnung der Eindr\u00fccke keineswegs gleichg\u00fcltig zu einander verhalten. Zu einem wirklichen Verst\u00e4ndniss der musikalischen Rhythmen wird eine specielle Untersuchung dieses Punktes unerl\u00e4sslich sein.\nLotze gibt die Meinung Herbart\u2019s folgenderma\u00dfen wieder: \u00bb... da durch die regelm\u00e4\u00dfige oder unregelm\u00e4\u00dfige Wiederkehr der Tactschl\u00e4ge eine Erwartung in uns entweder befriedigt oder get\u00e4uscht w\u00fcrde, so erg\u00e4be sich zugleich ein Grund des Wohlgefallens und der Unlust, welche diese beiden F\u00e4lle uns erregen\u00ab. Offenbar ist hier ein ganz neuer Gedanke eingeschoben, n\u00e4mlich der einer Erwartung, aus welcher wieder zwei verschiedene Gef\u00fchlszust\u00e4nde entspringen k\u00f6nnen, je nachdem sie befriedigt oder entt\u00e4uscht wird; im letztgenannten Falle kann wiederum entweder durch zu fr\u00fches Eintreten des erwarteten Schalleindruckes der Affect der Ueberraschung oder durch den zu sp\u00e4t erfolgenden Eintritt jenes eigenth\u00fcmliche Gef\u00fchl der Verz\u00f6gerung hervorge-rufen werden1). Die von Herbart bezeichnete \u00bbAufregung\u00ab und \u00bbSpannung\u00ab ist mehr an l\u00e4ngere Successionen von Schalleindr\u00fccken gebunden, insbesondere an Beschleunigungen und Verlangsamungen des Tempos, die von Lotze hervorgehobenen Affectzust\u00e4nde kn\u00fcpfen sich mehr an den einmaligen Wechsel der Succession oder der Dauer einer einzelnen Note.\nEs muss auffallen, dass Lotze, obgleich er in unmittelbarem\n1) Vergl. Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. IL S. 280.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n277\nAnschluss an eine Darstellung der Herb art\u2019sehen Theorie seine eigene Ansicht wiedergibt, die Wege seines Vorg\u00e4ngers insofern verlassen hat, als er keinerlei Ausf\u00fchrungen dar\u00fcber gibt, in welchem Zusammenh\u00e4nge Rhythmus und Zeitwahrnehmung stehen; da er sich vielmehr mit den metrischen Verh\u00e4ltnissen oder, richtiger gesagt, mit dem Versrhythmus besch\u00e4ftigt, so kann ich auf diesen Punkt seiner Theorie erst sp\u00e4ter eingehen. Wohl aber geh\u00f6rt in unseren jetzigen Zusammenhang eine Andeutung, die Lotze \u00fcber die Ursachen der sinnlichen Gef\u00fchlswirkung rhythmischer Schalleindr\u00fccke macht. Er bemerkt zun\u00e4chst, es g\u00e4be \u00bbeine That-sache, auf der alle weiterbauen, ohne sie selbst unumwunden auszusprechen : gleiche Zeitabschnitte wirken f\u00fcr sich allein blo\u00df qu\u00e4lend und; spannend gleich intermittirenden R\u00e8izen, \u00e4sthetisch verwendbare Takte werden sie erst, sobald jeder von ihnen eine Mehrheit ungleichartiger Glieder zu einer kleinen Periode zusammenfasst\u00ab lj. Was in dieser Stelle f\u00fcr mich in Betracht kommt, ist der Hinweis auf die Wirkung intermittirender Reize. Schnell aufeinanderfolgende Eindr\u00fccke w\u00fcrden danach \u00e4hnlich wie inter-mittirende Reize Unlust erregend wirken, und damit wenigstens ein negativer Erkl\u00e4rungsgrund f\u00fcr den Lustwerth ihrer Aufl\u00f6sung in ein Spiel regelm\u00e4\u00dfig wiederkehrender abwechselnd schwacher und starker Reizungen gegeben sein. Eine fruchtbare positive Erkl\u00e4rung der m\u00e4chtigen Gef\u00fchlswirkung, die den rhythmischen Reizen eigen ist, ist damit freilich nicht gegeben, wohl aber ein Hinweis darauf, dass der Antheil an der Gef\u00fchlswirkung des Rhythmus, der dem Empfindungswechsel als solchem zukommt, vielleicht in der Art der Summation der Erregungen zu suchen ist.\nEin zweiter Forscher, der im engen Anschluss an Herb art seine Ansichten \u00fcber den Rhythmus gebildet hat, ist Robert Zimmermann1 2). Zwei Zeitdistanzen sind nach den Voraussetzungen Zimmermann\u2019s schon einfach dadurch, dass sie zwei bestimmte Distanzen darstellen und als solche Objecte unserer vergleichenden Th\u00e4tigkeit werden, auch Objecte der \u00e4sthetischen Beurtheilung, \u00bbein lineares Sch\u00f6nes, obgleich der einfachsten Art.\n1)\tLotze, Geschichte der Aesthetik. S. 296f.\n2)\tK. Zimmermann, Aesthetik als Formwissenschaft. 1865. \u00df. 196, 223ff.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nErnst Meumann.\nund es ist nun die Frage, wodurch diese als St\u00fccke der Zeitgeraden schon wohlgef\u00e4lligen Zeitdistanzen auch metrisch wohlgef\u00e4llig werden k\u00f6nnen.\u00ab Nun hatte Zimmermann fr\u00fcher die \u00bbSch\u00f6nheit des Linearen\u00ab durch folgende Pr\u00e4dicate bestimmt: Vollkommenheit, Einklang, Correctheit und Beseeltheit. Eine eingetheilte Zeitlinie, welche diese Pr\u00e4dicate erf\u00fcllt, ist sch\u00f6n, \u00bbdas Bild eines solchen Vorbildes im Vorstellen ist ein absolut wohlgef\u00e4lliges, chronometrisches Vorstellen\u00ab. Die vier obigen Merkmale werden nun n\u00e4her interpretirt und zwar in einer Weise, die uns sehr wenig interessiren kann; bemerkenswerth ist nur dies, dass Zi mm ermann den entscheidenden Werth des Rhythmischen nicht in die metrischen Verh\u00e4ltnisse setzt, \u00bbals metrisch Sch\u00f6nes gef\u00e4llt der Takt nicht\u00ab, er werde leicht langweilig, man unterbreche ihn deshalb und stelle ihn wieder her. Es scheint demnach, jdass die \u00e4sthetische Wirkung des Rhythmus einerseits in dem linear sch\u00f6nen der Zeitlinie, andererseits in j dem best\u00e4ndigen Aufheben und Wiederherstellen proportionaler Zeiteintheilungen zu suchen ist.\nEs mag noch bemerkt werden, dass auch Zimmer mann die Symmetrie im Rhythmus nicht anerkennt. \u00bbVon Symmetrie kann hier nicht die Rede sein, da die Richtung stets ein und dieselbe ist, w\u00e4hrend die Form des Symmetrischen entgegengesetzte Richtungen bedingt. \u00ab Die Darstellung Zimmer mann\u2019s wird durch die Einf\u00fchrung lauter heterogener Gesichtspunkte den rhythmischen Erscheinungen in keinerlei Weise gerecht. Die unheilvolle Parallele mit dem r\u00e4umlich Linearen bewirkt, dass unser Autor die Eigenth\u00fcmlichkeit des Wohlgef\u00e4lligen der Succession vollst\u00e4ndig \u00fcbersieht. Die Erkl\u00e4rung, dass der Rhythmus \u00bbchronometrisch sch\u00f6nes Vorstellen\u00ab sei, ist weiter nichts als eine geschmacklose Wortbildung; der Bedeutung des Accentwechsels f\u00fcr den Rhythmus wird Zimmermann nicht gerecht. Die Angabe der inneren Vorg\u00e4nge, welche periodisch wiederkehrende Eindr\u00fccke in uns anregen, ist unvollst\u00e4ndig und ungenau.\nAehnlich wie Herb art mehr durch seine gelegentlichen Bemerkungen \u00fcber den Rhythmus zur psychologischen Erkl\u00e4rung desselben beigetragen hat, so haben vereinzelte Beobachtungen eines schon vorhererw\u00e4hnten Forschers eine selbst\u00e4ndige Bedeutung, und ich gehe daher auf sie im Zusammenh\u00e4nge dieser psychologischen","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n279\nEr\u00f6rterung ein, ich meine die Beobachtungen von Mach, die von ihm mitgetheilt werden in den \u00bb Beitr\u00e4gen zur Psychologie der Sinnesorgane\u00ab1). Mach beobachtete, dass bei den relativ gleichm\u00e4\u00dfigen Schl\u00e4gen des Metronoms und einer Pendeluhr die Schalleindr\u00fccke nach einiger Zeit unwillk\u00fcrlich rhythmisch geh\u00f6rt werden mussten, dass dieses rhythmische H\u00f6ren der Schalleindr\u00fccke die Zeitsch\u00e4tzung betr\u00e4chtlich beeinflusste, dass an einzelnen Beobachtungstagen die Vorliebe f\u00fcr bestimmte Takte bei den Beobachtern \u00fcberwog, worin eine Abh\u00e4ngigkeit der suhjectiv gew\u00e4hlten Rhythmen von der Disposition des Beobachters zum Ausdruck zu kommen scheint. Hiermit ist die wichtige Thatsache des unwillk\u00fcrlichen Takth\u00f6rens bei einer Reihe schnell auf einander folgender Eindr\u00fccke wohl zum ersten Mal genauer beschrieben worden. Mach hat sich ferner ausgesprochen \u00fcber das Vorhandensein eines symmetrischen Eindruckes im Rhythmus. Nach seiner Meinung gibt es im Gebiet des Rhythmus und in der Zeit \u00fcberhaupt keine Symmetrie. Zwei Takte, \u00bbwelche f\u00fcr das Auge und den. Verstand eine Symmetrie darbieten, zeigen nichts derartiges in Bezug auf die Zeitempfindung.\u00ab Wir w\u00fcrden sagen, sie haben trotzdem einen ganz verschiedenartigen rhythmischen Charakter. Es ist in der That merkw\u00fcrdig, dass es im Gebiet des rhyth-mischaa, Eindruckes auch nichts der Symmetrie nur Aehnliches\ngibt. Die angenehme Gef\u00fchlswirkung einer gr\u00f6\u00dferen rhythmischen Periode erfordert wohl eine Wiederholung ungleicher Zeit- und Betonungsverh\u00e4ltnisse in gleicher Reihenfolge, aber die Umkehrung der Aneinanderreihung entsprechender Taktglieder, wie sie f\u00fcr das Auge symmetrisch wirkt, macht als Rhythmus einen total anderen Eindruck. Diese Bemerkung ist wichtig, weil sie zeigt, wie gef\u00e4hrlich es ist, die Kategorien eines \u00e4sthetischen Gebietes in ein anderes zu \u00fcbertragen; sodann aber zeigt sie die absolute Gebundenheit des Rhythmus an die Succession. Der Schein, dass beim H\u00f6ren einer Notenreihe\nwie dieser j\u00bb *\t|* j* * f j5, etwas Symmetrisches vernommen\nwerde, kommt wohl nur von den associirten Gesichtsbildern der\n1) VergL \u00bbBeitr\u00e4ge\u00ab. S. 104 ff,, ferner S. 108.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nErnst Menmann.\nNoten her; wir m\u00fcssten ja, um die Symmetrie zu h\u00f6ren, die Associationskette in umgekehrter Ordnung durchlaufen, ohne dass die Art der Succession eine andere w\u00fcrde, was der Natur der Sache nach unm\u00f6glich ist. Der Eindruck der Symmetrie ist ebenso exclusiv eine \u00e4sthetische Thatsache der Raumwahrnehmung, wie der Rhythmus ausschlie\u00dflich eine \u00e4sthetische Thatsache der Zeitwahrnehmung ist.\nEine weitere beachtenswerthe Beobachtung von Mach ist die, \u00bbdass derselbe physikalische Rhythmus physiologisch sehr verschieden sein kann\u00ab. Es h\u00e4nge dies damit zusammen, \u00bbdass die Aufmerksamkeit, durch die Betonung geleitet, bei ein und derselben Taktreihe verschieden einsetzen\u00ab und damit den Eindruck des Rhythmus ver\u00e4ndern k\u00f6nne. Es ist darin die Thatsache ausgesprochen, dass der rhythmische Eindruck sowohl durch die Zeitordnung wie durch die Betonung als durch zwei selbst\u00e4ndige, vielleicht sogar gleichwerthige Factoren bestimmt wird, und vielleicht auch die weitere, dass der Charakter des Rhythmus ein v\u00f6llig anderer wird, je nachdem die betonte Note Anfang, Ende oder Mitte eines rhythmischen Ganzen einzunehmen scheint. Der erste Theil dieser Behauptung hat nichts Ueberraschendes f\u00fcr den, der sich die m\u00f6glichen Ursachen und die s\u00e4mmtlichen subjectiven Elemente der Tonrhythmen sowie ihre gegenseitige Beziehung klar zu machen sucht. Eine ersch\u00f6pfende Darstellung des rhythmischen Thatbe-standes w\u00fcrde jedenfalls Zeitelemente, Betonungselemente, intellectuelle Processe associativer und apperceptiver Art, emotionelle That-sachen, organische und motorische Begleiterscheinungen zu unterscheiden und ihr gegenseitiges Verh\u00e4ltniss festzustellen haben. Eine Theorie des Rhythmus, die diese Forderungen erf\u00fcllt, ist bisher noch nicht gegeben worden.\nIch gehe nunmehr \u00fcber zur Darstellung eines anderen Forschers, die zwar nicht sehr geeignet ist, das Verst\u00e4ndniss der rhythmischen Erscheinungen zu f\u00f6rdern, die aber ihrer Originalit\u00e4t wegen Erw\u00e4hnung verdient. Adolf Horwicz1) bringt ebenfalls den Rhythmus in Zusammenhang mit dem Zeitbewusstsein und zwar ist ihm der Rhythmus unser nat\u00fcrliches Mittel, bestimmte Zeitgr\u00f6\u00dfen zu\n1) A. Horwicz, Psychologische Analysen. II, 2. S. 137ff.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n281\nmessen. Der richtige Gedanke, der hierin liegt, wird nun aber dadurch abgeschw\u00e4cht, dass Horwicz behauptet: \u00bbes gibt kein anderes Zeitma\u00df als den Rhythmus\u00ab. Thats\u00e4chlich ist, wie die einfachste Beobachtung lehren kann, auch an ganz unregelm\u00e4\u00dfig verlaufenden Empfindungen eine sehr genaue Vergleichung ihrer Successions-geschwindigkeit und Dauer m\u00f6glich. Aber Horwicz verwechselt hier zwei Thatsachen, die wohl aus einander zu halten sind; indem er behauptet : \u00bb Ganz unregelm\u00e4\u00dfig verlaufende Empfindungen lassen sich nicht messen, gew\u00e4hren keine einheitliche Auffassung, keine Vergleichung\u00ab, deutet er den richtigen Gedanken an, dass, wenn es in einem psychischen Leben gar keine Wiederholung g\u00e4be, jeder Moment einem so gearteten Wesen etwas v\u00f6llig Neues br\u00e4chte, eine Vergleichung auf einander folgender Bewusstseinszust\u00e4nde in der That unm\u00f6glich w\u00e4re. Alle Vergleichung in qualitativer, intensiver, zeitlicher, r\u00e4umlicher Hinsicht, so will Horwicz sagen, gesch\u00e4he durch irgend welche gleichen Bestandtheile und werde nur durch diese m\u00f6glich. Das ist aber ganz etwas anderes wie die Behauptung, dass Zeitintervalle, die ganz unregelm\u00e4\u00dfig auf einander folgen, unvergleichbar seien. Sie sind darum sehr wohl vergleichbar, weil in ihnen das gemeinsame zeitliche Element vorhanden ist. Damit d\u00fcrfte die Behauptung Horwicz\u2019s, dass \u00bbder Rhythmus das Ma\u00df der Zeit\u00ab sei, abgewiesen sein.\nDie Ausf\u00fchrungen von Horwicz gewinnen nun dadurch noch einiges Interesse, dass er versucht, unter Polemik gegen Wundt, die Gef\u00fchlswirkung des Rhythmus zu erkl\u00e4ren, und dabei sogar die Entstehung einer rhythmischen Ordnung auf einander folgender Empfindungen physiologisch zu erkl\u00e4ren unternimmt. Wundt habe, so meint Horwicz, die Ursache des Wohlgefallens an Takten in einem rein intellectuellen Factor gesucht, n\u00e4mlich in der Erleichterung, die unserer Auffassung der Empfindungen und ihrer Zeitverh\u00e4ltnisse durch die rhythmische Ordnung geboten werde ; \u00bboffenbar aber ist unser Wohlgefallen am Rhythmus ganz unabh\u00e4ngig von jedem Vorstellungsinhalte\u00ab. Offenbar sieht Horwicz nicht, dass es \u00fcberhaupt keinen rhythmischen Eindruck geben kann, bei dem wir nicht vorstellend th\u00e4tig sind, denn das innere Zusammenfassen der Eindr\u00fccke zu geordneten Gruppen findet schon die Selbstbeobachtung selbst in den primitivsten F\u00e4llen von Rhytli-Wundt, Philos. Studien. X.\t19","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nErnst Meumann.\nmuswahmehmung als nie fehlendes Element. Wenn aber Horwicz darauf dringt, f\u00fcr die Lust am Rhythmus sei eine mehr elementare Basis zu suchen, so liegt darin der richtige Gedanke, dass wir au\u00dfer dem \u00e4sthetischen Effect des Rhythmus noch eine Summe rein sinnlicher Lust- und Unlustursachen anzunehmen haben, wie sie z. B. die Versuche von Mentz zweifellos nahe legen. Ein n\u00e4heres Eingehen auf die physiologische Theorie des Rhythmus, die Horwicz sodann entwickelt, kann ich mir ersparen, da der Verfasser mit ganz unhaltbaren Ansichten \u00fcber die Natur unserer Nervenvorg\u00e4nge arbeitet (vergl. inshes. a. a. O. S. 144 f.).\nNachdem wir die bisherigen Versuche einer physiologisch-psychologischen Theorie des Rhythmus s\u00e4mmtlich mehr als l\u00fcckenhafte Anf\u00e4nge zu einer Theorie kennen gelernt haben, k\u00f6nnen wir in der Theorie Wundt\u2019s zum ersten Mal eine Darstellung des Rhythmus nachweisen, die allen Anforderungen der wissenschaftlichen Behandlung gen\u00fcgt; doch glaube ich, dass dieselbe, wie es ja dem Zusammenhang der Darstellung in- einer allgemeinen Psychologie entspricht, vom Standpunkte der monographischen Forschung mehr als ein Programm zur Ausf\u00fchrung einer Theorie des Rhythmus f\u00fcr die einzelnen rhythmischen Gebiete anzusehen ist. Ich werde die Wundt\u2019sehe Theorie nach drei Gesichtspunkten ordnen, indem ich\n1)\tden Zusammenhang der rhythmischen Ph\u00e4nomene mit den allgemeinen Erscheinungen des Bewusstseins darstelle, als deren Specialf\u00e4lle sie aufgefasst werden k\u00f6nnen. Darauf soll folgen\n2)\tdie Entwickelung der einzelnen rhythmischen Formen und\n3)\tdie Begr\u00fcndung ihrer \u00e4sthetischen Wirkungen.\nIn Betreff des ersten Punktes erf\u00fcllt die Wundt\u2019sehe Theorie die Anforderungen wissenschaftlicher Behandlungsweise, indem sie 1) die Gesammtheit der rhythmischen Erscheinungen in Zusammenhang bringt mit einer allgemeinen psychischen Function : der Ordnung succedirender Empfindungen zu Vorstellungen, durch welche die Reihe unzusammenh\u00e4ngender Schalleindr\u00fccke oder T\u00f6ne zu einem leicht \u00fcberschaubaren Ganzen wird; und indem sie 2) das specielle Gebiet bezeichnet, in welchem sich die ordnende Kraft des Bewusstseins beim Zustandekommen der rhythmischen Erscheinungen beth\u00e4tigt; es ist das Gebiet der unmittelbaren und mittelbaren","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t283\nZeitvorstellungen. Bei aller Rhythmuswahrnehmung fassen wir die isolirten Schallempfindungen zu mehr oder weniger complicirten Systemen von zeitlich geordneten Vorstellungsgruppen zusammen. So weit wir nun im Stande sind, die zu einem Taktganzen geordneten Vorstellungen noch zu einer Gesammtvorstellung zusammenzufassen, ohne dass der Umfang des Bewusstseins \u00fcberschritten wird, f\u00e4llt die Taktperception in den Bereich einer unmittelbaren Zeitvorstellung ; so weit die gr\u00f6\u00dfere Complicirtheit der rhythmischen Gebilde unseren Bewusstseinsumfang \u00fcberschreitet und uns zwingt, die Reproduction fr\u00fcherer Eindr\u00fccke zu H\u00fclfe zu nehmen, wenn wir noch im Stande sein sollen, das rhythmische Gebilde als ein Ganzes aufzufassen, wird der Rhythmus Object mittelbarer Zeitvorstellungen (vergl. Physiologische Psychologie II, S. 87 ff., 288 ff., 417). Die rhythmische Gliederung der Eindr\u00fccke verrichtet dabei, wie die Versuche \u00fcber den Bewusstseinsumfang zeigen, die Function einer sehr bedeutenden Erweiterung des Bewusstseinsumfanges und einer Erleichterung der Zeitsch\u00e4tzung. Die obere Grenze des numerischen Umfanges einer rhythmischen Einheit wird durch den relativ beschr\u00e4nkten Umfang unserer unmittelbaren Zeitwahrnehmung bestimmt; die obere Grenze einer Vereinigung von Takten zu einer rhythmischen Reihe oder Periode \u00bbdurch die zeitlichen Bedingungen der leicht und sicher auftretenden Erneuerung einer eben abgelaufenen Vorstellung\u00ab.\nDie speciellen Anhaltspunkte, die unserer zeitlich ordnenden Bewusstseinsth\u00e4tigkeit f\u00fcr die rhythmische Zusammenfassung zu geordneten Vorstellungen dargeboten werden, sind ganz besonders in den Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnissen der Empfindungen, dann aber auch in ihrer qualitativen Verschiedenheit und in den objectiv hergestellten Unterschieden ihrer zeitlichen Succession zu suchen und zwar sowohl in den absoluten wie in den relativen Zeitverh\u00e4ltnissen derselben. Dass unter allen diesen Anl\u00e4ssen zur rhythmischen Gliederung der Eindr\u00fccke der intensive Klangwechsel die Hauptrolle spielt, zeigt sich auch darin, dass wir geneigt sind: \u00bbdie Hebungen und Senkungen der Betonung, durch welche die Gliederung des Taktes vermittelt wird, selbst da anzubringen, wo sie in den ohjectiven Eindr\u00fccken nicht vorhanden sind.\u00ab Die allgemeine Bedingung der rhythmisirenden Wirkung der Empfin-\n19*","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nErnst Meumann.\ndungs- und Zeitunterschiede ist nun aber die regelm\u00e4\u00dfige Wiederholung derselben. Mit Recht hebt Wundt hervor, dass die subjective Wirkung der regelm\u00e4\u00dfigen Wiederholung die ist, dass die Eindr\u00fccke auch subjectiv als wiederholte aufgefasst werden. Hierdurch entsteht jenes Spiel intellectueller Th\u00e4tigkeiten, das ich gerade als das charakteristische Plus bezeichnen m\u00f6chte, welches zu dem blo\u00dfen Empfindungswechsel hinzukommt, wenn er ein rhythmischer wird. Selbst innerhalb der einfachen rhythmischen Einheit erscheint das nachfolgende Glied auch subjectiv als Wiederholung des ersten, das voraufgehende als Vorbereitung des folgenden \u2014 eine Beobachtung, die unter den Musiktheoretikern Riemann in ihrer Bedeutung f\u00fcr den Rhythmus gew\u00fcrdigt hat1). H\u00f6re ich zwei ganz gleiche T\u00f6ne an, so habe ich keine Veranlassung sie auf einander zu beziehen, ist der erste betr\u00e4chtlich st\u00e4rker als der zweite (der ihm in recht kurzer Zeit nachfolgt), so bilden sie sofort eine Einheit, der zweite ist die schw\u00e4chere Wiederholung des ersten, der erste die kr\u00e4ftigere Vorbereitung des zweiten. Diese Auffassung aller Taktglieder als Wiederholung der vorangegangenen, als Vorbereitung der nachfolgenden erstreckt sich nun in gleicher Weise auf die complicirteren rhythmischen Verh\u00e4ltnisse, die dadurch wieder alle zu einander in Beziehung treten, sei es im Sinne bewusster Reproduction und directen Vergleichens, sei es im Sinne einer unmittelbaren Nachwirkung des fr\u00fcheren, auf Grund deren das Gegenw\u00e4rtige nicht als das isolirt Gegenw\u00e4rtige, sondern als das ver\u00e4nderte Fr\u00fchere erlebt wird. Nur eine unmittelbare Folge von dieser Auffassung der Taktglieder im Sinne der Wiederholung und Vorbereitung ist eine zweite Summe von intellectuellen und Gef\u00fchlsprocessen, die immer dann vorhanden ist, wenn der Aufbau der Taktformen mit einer gewissen numerischen und zeitlichen Regelm\u00e4\u00dfigkeit erfolgt. In diesem Falle macht sich best\u00e4ndig die Erwartung geltend, dass das Folgende nach Analogie des Voraufgehenden gestaltet sei, und sobald nun regelm\u00e4\u00dfige mit unregelm\u00e4\u00dfigen Bildungen wechseln, wird die Erwartung bald befriedigt, bald steigert sie sich zu dem peinlichen Gef\u00fchl der Verz\u00f6gerung, bald macht sie der.* Ueberraschung Platz \u2014 Thatsachen, auf die\n1) H. Riemann, Musik-Lexikon. 4. Aufl. 1894. S. 683.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n285\nschon Lotze hingewiesen hat (vergl. S. 276f. d. Abhdlg. u. Wundt, Phys. Psych. II, S. 280 f.).\nDie Entwickelung der einzelnen Taktformen geschieht nun auf Grund der vorausgegangenen Er\u00f6rterungen folgenderma\u00dfen : Das einfachste rhythmische Gebilde, \u00bbwelches aus einer gewissen Zahl wohl \u00fcberschaubarer Hebungen und Senkungen des Klanges besteht\u00ab, ist ein zweigliedriger Takt. Da wir sahen, dass der rhythmische Eindruck in der einfachsten Weise durch den Intensit\u00e4tswechsel zu Stande kommt, so bedeutet das zugleich, dass diese zweigliedrige rhythmische Einheit einen Intensit\u00e4tsunterschied hez.\neine Hebung besitzt. Ist also die rhythmische Einheit so gestaltet sich die Einf\u00fchrung einer zweiten Betonungsstufe zu einem rhythmischen Gebilde von der Form c/ir- Auf diese Weise erhalten wir einen ersten Gesichtspunkt f\u00fcr die Bildung zusammengesetzter Taktformen, n\u00e4mlich die Zahl der vorkommenden Hebungsstufen.\nNeben der hier vorausgesetzten einfachsten rhythmischen Einheit, der zweigliedrigen, steht nun als dieser coordinirt der dreigliedrige Takt. Auf Grund des dreigliedrigen Schemas lassen sich in leicht auszuf\u00fchrender Weise, wiederum unter dem Gesichtspunkt der Zahl der vorkommenden Betonungsstufen, weitere Taktformen entwickeln. Die Vertheilung der Hebung und Senkung bei dem dreigliedrigen Takt denkt Wundt am nat\u00fcrlichsten so entstanden, dass eine Hebung sowohl durch eine vorausgehende als durch eine nachfolgende Senkung als Hebung charakterisirt wird, so dass die nat\u00fcrliche\nBetonungsform des dreigliedrigen Taktes diese ist US\nr r r- Nicht\nmehr gleich elementar, vielmehr aus der Combination der beiden Elementarformen entstanden ist die gemischte Form, deren einfachstes Schema demnach ist ILlT\u00dc\noder J fj* rr r I, ebenso\nerscheint Wundt im Unterschiede von Hauptmann die viergliedrige Bildung lerer] als aus zwei zweigliedrigen zusammengesetzt.\nDass die Vertheilung der Betonung in der musikalischen Taktschreibung stets so gedacht wird, dass die erste Note die betonte ist, ist nach Wundt rein conventionell. In der That l\u00e4sst sich","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nErnst Meumann.\npsychologisch ebensowohl die Betonung auf dem ersten wie auf dem letzten Gliede (bez. beim dreigliedrigen Takt auf dem mittleren) begr\u00fcnden ; die Betonung des zweiten Taktgliedes wird speciell von Eiemann aus dem mehrfach erw\u00e4hnten Princip der Wiederholung abgeleitet; der genannte Autor schreibt die rhythmische Einheit:\nJ | J. Dass die Wiederholung eine Steigerung des rhythmischen Eindruckes bewirkt, ist keine Frage. Es erscheint darum von diesem Gesichtspunkt aus nat\u00fcrlicher, den Takt so zu schreiben, wie Rie-mann vorschl\u00e4gt. Dem steht aber entgegen die andere Beobachtung, dass die Einleitung der rhythmischen Einheit durch die betonte Note der psychologisch einfachere Fall zu sein scheint. Man kann sich davon durch zwei leicht ausf\u00fchrbare Experimente \u00fcberzeugen. Schaltet man in eine Reihe von Schalleindr\u00fccken des Schallhammers, die in immer gleichen Zeitintervallen auf einander folgen, nach einer gleichen Zahl von schw\u00e4cheren Eindr\u00fccken einen st\u00e4rkeren Schlag ein, so kann diese Reihe nat\u00fcrlich von dem Beobachter willk\u00fcrlich so geh\u00f6rt werden, dass der betonte Schall immer den Takt beginnt oder abschlie\u00dft. Regelm\u00e4\u00dfig wird nun das erstere geh\u00f6rt. L\u00e4sst man zweitens l\u00e4ngere Zeit auf dem Taster einen\nt\ndreigliedrigen Takt von der Form 12 3 klopfen, so verwandelt sich derselbe unwillk\u00fcrlich nach einiger Zeit in den umgekehrten\nf\n12 3, vorausgesetzt, dass man lange genug mit dem Klopfen fortf\u00e4hrt. Es scheint mir aus dieser und einer Anzahl \u00e4hnlicher Beobachtungen \u00fcber unwillk\u00fcrliche Rhythmuswahrnehmung (Rhythmusherstellung) hervorzugehen, dass wir eine nat\u00fcrliche Neigung besitzen, den betonten Schall als den taktb eg in nenden zu h\u00f6ren, und ich sehe darin nicht etwa eine Eigenth\u00fcmlicheit der deutschen Nationalit\u00e4t, wie M\u00fcller und Schumann, \u00fcbrigens auch sehr viele Metriker, zu vermuthen scheinen, wie ich daraus folgern muss, dass ich an sechs verschiedenen Ausl\u00e4ndern dieselbe Erscheinung fand wie an deutschen Beobachtern. Ueberdies hat Bolton (Americ. Journ. of Psychol. Bd. VI. S. 186 If.) an 30 Beobachtern fast ausnahmslos die nat\u00fcrliche Bevorzugung der Betonung des ersten Taktgliedes in der subjectiven Rhythmisirung- einfacher Schalleindr\u00fccke feststellen k\u00f6nnen. Was endlich die Erkl\u00e4rung der \u00e4sthetischen Wirkungen des Rhythmus angeht, so habe ich schon oben","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t287\nangedeutet, in welcher Weise sie Wundt mit dem Mechanismus der psychologischen Vorg\u00e4nge der Rhythmuswahrnehmungen selbst in Zusammenhang bringt. Es ist einerseits der Wechsel der verschiedenen Zust\u00e4nde befriedigter oder get\u00e4uschter Erwartung, der sich an den Reproductionsmechanismus der Rhythmusperception ankn\u00fcpft, anderseits bedingt nat\u00fcrlich die Ordnung des Empfindungsmaterials zu mehr oder weniger complicirten rhythmischen Formen eine Summe h\u00f6herer \u00e4sthetischer Gef\u00fchle, deren genauere Beschreibung Aufgabe der Aesthetik ist.\nIndem ich hier die Grundgedanken der Wundt\u2019schen Rhythmustheorie wiedergebe, will ich nicht unterlassen, zugleich die Punkte zu bezeichnen, in denen \u00fcber dieselbe hinaus gegangen werden muss. Sofern sich f\u00fcr die Einzelforschung gerade innerhalb des Gebietes des Rhythmus eine gro\u00dfe F\u00fclle von Fragen darbietet, die naturgem\u00e4\u00df nur in monographischer Behandlung erledigt werden k\u00f6nnen, wird die Wundt\u2019sehe Theorie zu erg\u00e4nzen sein. Sodann aber verwendet Wundt eine Anzahl psychologischer Allgemeinbegriffe, wie \u00bbBewusstseinsumfang\u00ab, \u00bbAufmerksamkeit\u00ab, \u00bbordnende Th\u00e4tigkeit des Bewusstseins\u00ab etc., die im Sinne zusammenfassender Namen unentbehrlich sind, die aber ihre Bedeutung naturgem\u00e4\u00df wandeln mit dem Fortschritt der Specialforschung, mit unserem wachsenden Verst\u00e4ndniss der Einzelthatsachen. In diesem Sinne m\u00f6chte ich die mannigfachen eigenen Versuche einer Weiterbildung der Wundt\u2019schen Rhythmustheorie aufgefasst wissen.\nZweites Capitel.\nBeitr\u00e4ge von Seiten der Musiktheoretiker.\n\u00a7 1.\nZu der nunmehr noch fehlenden Analyse der einzelnen rhythmischen Gebiete geben mir zun\u00e4chst Veranlassung die Beitr\u00e4ge, welche von Seiten der Musiktheoretiker zu der psychologischen Erkl\u00e4rung des Rhythmus geliefert worden sind. Es ist eine Eigenth\u00fcmlichkeit der ersteren, dass sie der psychologischen Betrachtungsweise durchweg abgeneigt sind, in Folge dessen vernachl\u00e4ssigen sie die Analyse des rhythmischen Eindruckes in","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nErnst Meumann.\ndem h\u00f6renden Subject, und es \u00fcberwiegen bei ihnen Discussionen \u00fcber die metrischen Bestimmungen, \u00fcber den Aufbau der geschriebenen Takte etc. Was wir von den Specialforschern vor allem erwarten m\u00fcssten \u2014 eine bestimmte Bezeichnung des ihrem rhythmischen Gebiete Eigenth\u00fcmlichen \u2014 suchen wir in der Regel vergebens.\nEine \u00e4ltere speculative Betrachtungsweise der musikalischen Rhythmik wird repr\u00e4sentirt durch den von der He ge 1\u2019sehen Philosophie beeinflussten Hauptmann. Hauptmann\u2019s Methode, die rhythmischen Einheiten zu construiren und die Taktformen abzuleiten, schlie\u00dft eine Benutzung seiner Lehren f\u00fcr den Psychologen fast vollst\u00e4ndig aus1). Er definirt die rhythmisch-metrischen Grundbegriffe so: \u00bbMetrum wollen wir das stetige Ma\u00df nennen, wonach die Zeitmessung geschieht, Rhythmus die Art der Bewegung in diesem Ma\u00dfe\u00ab (S. 223). Diese unbestimmte Erkl\u00e4rung wird nicht gerade verbessert, wenn Hauptmann nun weiter \u00bbdie ganze Entwickelung\u00ab der einzelnen metrischen Gesetze mittels best\u00e4ndiger Analogien zwischen den metrischen und harmonischen Verh\u00e4ltnissen gibt. \u00bbWir werden aber hier denselben Begriffsmomenten wieder begegnen, die uns das Wesen des Dreiklangs erkl\u00e4rt haben, n\u00e4mlich dem der Octav, der Quint und der Terz, diese Intervalle in ihrer abstracten Bedeutung genommen, d. i. dem der Einheit des Gegensatzes und des geeinten Gegensatzes\u00ab. Die Entwickelung der metrischen Verh\u00e4ltnisse beginnt mit einer Deduction, die aus einer Verwechselung des Begriffs der Dauer zweier T\u00f6ne und des Zeitintervalles zwischen zwei T\u00f6nen hervorgegangen zu sein scheint (S. 224ff.). Sodann wird mit einer h\u00f6chst gewaltsamen Construction rein begrifflich entwickelt, dass es ein 2-, 3- und 4-theiliges Metrum g\u00e4be (im Gegensatz zu Wundt vgl. S. 285f. d. A.). V\u00f6llig von dem rhythmischen Eindruck und seiner \u00e4sthetischen Verwerthbarkeit absehend ist die Begr\u00fcndung, weshalb es keine f\u00fcnf- und siebenzeitigen metrischen Einheiten gebe. Indem ferner die metrischen Einheiten h\u00f6herer Ordnung durch Multiplication der niederen entwickelt werden, fragt man vergebens, weshalb denselben eine obere Grenze gesetzt ist, und wo diese stattfindet'? Die ganze Werth-\n1) M. Hauptmann, Haimenik und Metrik. Leipzig 1853.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n289\nlosigkeit dieser logischen Begr\u00fcndung tritt aber erst hervor in der Lehre vom Accent: \u00bbEin erstes Zeitmoment, wie es metrisch allezeit nur das erste eines zweiten, ihm gleichen sein kann, ist f\u00fcr sein zweites das Bestimmende, dieses zweite ist das Bestimmte. Es hat ein Erstes gegen sein Zweites die Energie des Anfanges und damit den metrischen Accent\u00ab (S. 241). Genau mit demselben Rechte l\u00e4sst sich logisch begr\u00fcnden : Es hat ein Letztes gegen sein Erstes die Energie des Schlusses und damit den Accent; oder: Es hat ein Mittleres gegen sein Erstes und Letztes die Energie der Mitte und damit den Accent.\nEs hat f\u00fcr das Studium der Psychologie des Rhythmus bei der rein logischen Methode Hauptmann\u2019s und dem Ueberwiegen des metrischen Gesichtspunktes auch in seinen Bestimmungen des spe-cifisch Rythmischen (vgl. S. 293 ff.) kein Interesse seine Ausf\u00fchrungen weiter zu verfolgen. Etwas bestimmter, aber auch eins\u00e8itiger ist in allen seinen Ausf\u00fchrungen \u00fcber die rhythmischen Grundbegriffe Rud. Westphal1). Mit den philologisch-historischen Anschauungen Westphal\u2019s, insbesondere mit der Frage, ob die metrischen Vorschriften des Aristoxenos noch f\u00fcr die Takte unserer heutigen Musik gelten, besch\u00e4ftige ich mich nicht, wohl aber mit seiner Behauptung der Identit\u00e4t der Versrhythmik und musikalischen Rhythmik und seinen allgemeinen Aufstellungen \u00fcber das Wesen des Rhythmus. \u00bbMetrik\u00ab, so sagt Westphal, \u00bbist dasselbe wie Rhythmik, nur ist Metrik das speciellere, da sie blo\u00df die rhythmische Form des poetischen Textes behandelt. Rhythmik ist das Allgemeinere, da sie sich auf poetische Texte wie auf Musik bezieht\u00ab. Westphal ist sich wohl bewusst, dass die \u00bbRhythmizomena\u00ab d. h. \u00bbdie nach den Gesetzen des Rhythmus geformten Bewegungsstoffe\u00ab in Poesie und Musik verschieden sind, das eine Mal die T\u00f6ne, das andere Mal die Sprache. Aber hierdurch sollen nur \u00bbgewisse Verschiedenheiten in der rhythmischen Formation\u00ab ber\u00fchrt werden, und es ist nicht das Wesen des Rhythmus, das durch diese Verschiedenheiten betroffen wird, \u00bbvielmehr sind die rhythmischen Gesetze f\u00fcr verschiedene Rhythmizomena dieselben \u2014 einerlei ob die\n1) R. Westphal, Allgemeine Theorie der musikalischen Rhythmik. Leipzig,\n1880.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nErnst Meumann.\nSprache der Poesie die alte griechische oder lateinische oder eine moderne ist \u2014 einerlei, ob sie eine zur Lectiire oder zur Declamation bestimmte, oder ob sie eine gesungene ist, \u2014 einerlei auch, ob die T\u00f6ne der Vocal- oder Instrumentalmusik angeh\u00f6ren\u00ab. Bei dieser weiten Fassung des Begriffs des Rhythmus muss uns die Definition desselben besonders interessiren. Westphal definirt: \u00bb Das Wesen des Rhythmus besteht in einer dem Zuh\u00f6rer vernehmbaren Gliederung der Zeit, welche das demselben vorgef\u00fchrte poetische oder musikalische Kunstwerk einnimmt\u00ab. Zweierlei ist an dieser Definition bemerkenswerth: 1) dass Westphal in der Zeitgliederung das Wesen aller Rhythmik sieht; 2) dass diese Zeitgliederung vom Standpunkte des H\u00f6renden aus beurtheilt wird, dass Westphal also den Rhythmus definirt im Sinne einer Beschreibung des rhythmischen Eindrucks. Der rhythmische Eindruck muss zerlegt werden, wenn man die rhythmischen Formen finden will, und nicht etwa das metrische Schema der Takte, mit welchem der Componist dem Spielenden eines unter vielen Mitteln an die Hand gibt, um den von ihnen beabsichtigten Rhythmus zu erkennen. Eine Analyse des rhythmischen Eindruckes f\u00fchrt aber nothwendig nicht zum 3/o 4/4_j 6/s- u- s- w- Takt, oder zu den metrischen Einheiten, sondern zu den f\u00fcr den H\u00f6renden durch Abschnitte kenntlich gemachten Gruppen (Phrasen), und ganz consequent sieht Westphal die rhythmischen Abschnitte als das aller Rhythmusbildung Gemeinsame an, \u00bb sie sind es, welche bei den verschiedenen Rhythmizomena trotz deren verschiedener Natur identisch sind\u00ab. So sehr ich der Behauptung Westphal\u2019s beistimmen muss, dass es sich vom Standpunkte des H\u00f6renden in der Poesie wie in djer Musik immer um Modificationen derselben Erscheinung, des Rhythmus, handelt, und dass nothwendig in beiden Gebieten gemeinsame rhythmische Elemente wirksam werden und analoge Formen Vorkommen m\u00fcssen, so wenig kann ich seiner Auffassung des Metrischen beistimmen. Jedes rhythmische Gebiet, einerlei, ob es sich um die Rhythmisirung einfacher Schallempfindungen (Trommeln) oder um die rhythmischen Formen der Musik bezw. des gesprochenen Verses handelt, l\u00e4sst eine metrische Betrachtungsweise zu und enth\u00e4lt metrische Bestimmungen ; \u00fcber den Zweck und Sinn derselben verweise ich auf \u00a7 5 d. A.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t291\nAber auch dem Wesen des Rhythmus selbst wird Westphal nicht ganz gerecht, indem er die relativ selbst\u00e4ndige Bedeutung des Betonungselementes nicht zu w\u00fcrdigen wei\u00df. In Folge dessen ger\u00e4th er gegen\u00fcber dem Rhythmus der Poesie in Verlegenheit, weil diesem scheinbar das wesentliche Element des Rhythmus fehlt, n\u00e4mlich die Gleichheit der Zeitabschnitte (vgl. a. a. O. S. 321F.). Andererseits wird in Folge der Verkennung des metrischen Gesichtspunktes dem Versfu\u00df eine viel, zu gro\u00dfe Bedeutung beigelegt; sowohl der Versfu\u00df wie die Takteinheit ist f\u00fcr den rhythmischen Eindruck des H\u00f6renden nicht nothwendig vorhanden, sondern er kann bald in der kleinsten geh\u00f6rten rhythmischen Gruppe verschwinden, bald sich mit ihr decken.\nN\u00e4chst den allgemeineren Ausf\u00fchrungen Wundt\u2019s kommen f\u00fcr unseren gegenw\u00e4rtigen Zweck noch einige gelegentliche Bemerkungen in Betracht, ich erw\u00e4hne z. B. den Hinweis darauf, dass der Componist dem aus\u00fcbenden Musiker verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig wenig Vorschriften \u00fcber den Rhythmus zu geben pflege, und dass auf Grund eines \u00bbnat\u00fcrlichen rhythmischen Gef\u00fchls\u00ab die Betonung demnach richtig aus dem Motiv errathen werden k\u00f6nne; ferner, dass der Zuh\u00f6rer sie vernehme, auch wenn die Betonungsunterschiede \u00bbauf das leiseste durch ein h\u00f6chst discretes Markiren der Hebungen angedeutet werden\u00ab; sodann, dass wir auch auf Instrumenten, die thats\u00e4chlich keinerlei Betonung ausf\u00fchren k\u00f6nnen, etwas dem Analoges zu h\u00f6ren glauben. \u00bbDas rhythmische Gef\u00fchl ist es auch, dass man auf der Orgel, wo es unm\u00f6glich ist, auch nur einen einzigen schweren Takttheil durch st\u00e4rkere Intension vor den \u00fcbrigen hervorzuheben, den Rhythmus, in welchem sich der Componist das Musikst\u00fcck gedacht hat, schon nach wenig T\u00f6nen erkennen kann\u00ab (S. 177). Hier werden drei f\u00fcr das psychologische Verst\u00e4ndnis des Rhythmus wichtige Thatsachen angedeutet: die Betonung wird nicht nur durch den Intensit\u00e4tswechsel, sondern auch durch das Motiv, d. h. durch den Qualit\u00e4tsWechsel der T\u00f6ne und die Auffassung, die wir ihnen geben, bestimmt. Daraus ergibt sich die wichtige Frage: Woher stammt diese Beziehung zwischen dem Qualit\u00e4tswechsel der T\u00f6ne und ihrer Betonung? Die zweite Thatsache ist die, dass wir thats\u00e4chlich beim Anh\u00f6ren eines Musikst\u00fcckes eine Menge von Accentuirungen in das Motiv hinein-","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nErnst Meumann.\nh\u00f6ren, die nicht durch den st\u00e4rkeren Anschlag veranlasst sind. Diese unwillk\u00fcrliche, auf rein subjectiver Zuthat beruhende Rhyth-misirung der T\u00f6ne bedarf noch durchaus der n\u00e4heren Untersuchung, ganz besonders auch darum, weil sie ein weiterer Hinweis darauf ist, dass der rhythmische Eindruck sich durchaus nicht ohne weiteres aus der Summe seiner objectiven Ursachen arbeiten l\u00e4sst. Nur eine Best\u00e4tigung dieser Thatsache ist die dritte Beobachtung. Wir m\u00fcssten ja einen ganz andersartigen Rhythmus zu h\u00f6ren glauben, wenn nicht bei Instrumenten wie der Orgel die zeitliche Gruppirung der Eindr\u00fccke, die Betonung durch st\u00e4rkeren Anschlag wirklich bis zu einem gewissen Grade zu. ersetzen verm\u00f6chte. Es best\u00e4tigt sich hier das von mir fr\u00fcher schon angedeutete Prin-cip der rhythmischen Stellvertretung1), nach welchem die einzelnen Ursachen der Rhythmusbildung theilweise einander ersetzen k\u00f6nnen.\nIch schlie\u00dfe unmittelbar an die Darstellung der Ansichten von Hauptmann und Westphal die entsprechenden Ausf\u00fchrungen von Lobe und Riemann. Bei Lobe \u00fcberwiegt wiederum best\u00e4ndig der metrische Gesichtspunkt. Lobe definirt den Rhythmus als: \u00bbden Inbegriff der Mittel, wodurch die in mannigfaltigen L\u00e4ngen und K\u00fcrzen (Geltungen) aufeinanderfolgenden T\u00f6ne in gewisse Zeitformen gebracht und dadurch f\u00fcr Ohr und Geist fassbar gemacht werden\u00ab2). Rhythmus ist also f\u00fcr Lobe der allgemeinste Begriff, unter den er alle einzelnen rhythmischen Mittel unterordnen will. W\u00e4hrend hierbei der rhythmische Eindruck des H\u00f6renden der ma\u00dfgebende Gesichtspunkt ist, wird die Lehre vom Takt halb unter dem metrischen halb unter dem rhythmischen Gesichtspunkt entwickelt. Lohe definirt den Takt als: \u00bbdie Eintheilung der aufeinanderfolgenden T\u00f6ne in kleine gleiche Zeitgrenzen\u00ab, und ausdr\u00fccklich wird hinzugef\u00fcgt, dass diese Zeitgrenzen dem Auge anschaulich gemacht werden durch die Taktstriche. Der Begriff des Taktes wird also von Lobe als gleichbedeutend gesetzt mit dem Zeitganzen, das innerhalb zweier Taktstriche f\u00e4llt, d. h. der Takt hat zun\u00e4chst rein metrische Bedeutung, und wir m\u00fcssen also weiter nach einer Definition der specifisch-rhythmischen Einheit fragen.\n1)\tVergl. Phil. Stud. IX, S. 303 ff.\n2)\tLobe, Katechismus der Musik. 25. Aufi. Leipzig 1893. S. 4.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t293\nAber hier l\u00e4sst uns unser Autor im Stich. Wir erfahren nur, dass die gleichm\u00e4\u00dfig wiederkehrende Takteintheilung \u00bbdurch die accen-tuirten und unaccentuirten T\u00f6ne\u00ab f\u00fcr das Ohr des H\u00f6rers kenntlich gemacht wird. Damit ist allerdings die rhythmische Einheit dann mit bezeichnet, wenn zuf\u00e4llig die kleinste rhythmische Gruppe best\u00e4ndig mit den in immer gleicher Weise gegliederten Notenreihen der Takteinheit zusammenf\u00e4llt und also in diesem Sinne rhythmische und metrische Einheit sich decken, wie es \u00fcbrigens nur in der gemeinsten Gattung von Tanzmelodien der Fall ist. Es hat einiges Interesse, an diese Bemerkung Lobe\u2019s die Bemerkung Westphal\u2019s zu schlie\u00dfen: \u00bbfast niemals ist der Taktstrich von dem Componisten in der Bedeutung einer rhythmischen Grenze gesetzt worden. Hat mein Buch auch nur das eine erreicht, dass jener Irrthum als Irrthum erkannt wird, so ist es nicht umsonst geschrieben\u00ab (a. a. O. S. 298).\nEs mag noch bemerkt werd\u00e9n, dass auch Lobe auf die Bedeutung der rein subjectiven Accentuirung aufmerksam geworden ist, er definirt deshalb die accentuirten T\u00f6ne als solche, \u00bbdie sich dem Gef\u00fchl mit einem gewissen Nachdruck bemerkbar machen\u00ab. In Folge dessen ist ihm Accent nicht gleichbedeutend mit st\u00e4rkerer Betonung: \u00bbZwei T\u00f6ne k\u00f6nnen in ganz gleichem Verh\u00e4ltniss der St\u00e4rke oder Schw\u00e4che angegeben werden, und ein feines Taktgef\u00fchl findet doch an dem einen den Accent, an dem anderen keinen\u00ab. Er macht ferner darauf aufmerksam (\u00e4hnlich auch Haupt mann), dass es die Stelle einer Note im Takt ist, welche den Grad ihrer Accentuirung bedingt. Es ist unzweifelhaft, dass die zeitliche Anordnung der T\u00f6ne f\u00fcr sich allein schon im Stande ist, gewisse scheinbare Betonungen der T\u00f6ne gesetzm\u00e4\u00dfig zu bedingen. Diese Thatsache weist noch auf etwas Anderes hin als auf die mehrfach hervorgehobene subjective Bhythmisirung, n\u00e4mlich darauf, dass die einzelnen den rhythmischen Eindruck constituirenden Elemente in gewissen gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen zu einander stehen, dass in einer rhythmischen Gruppe weder die Zeitfactoren, noch die Betonungsstufen, noch der Tonwechsel, noch die Zahl der T\u00f6ne ver\u00e4ndert werden k\u00f6nnen, ohne dass der rhythmische Gesammtein-druck oder die rhythmische Bedeutung der einzelnen Elemente in Mitleidenschaft gezogen werden. Nur die Harmonisirung scheint","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nden Rhythmus weniger zu ber\u00fchren. Bestimmtere Aufstellungen \u00fcber die hier angedeutete Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit lassen sich nur durch ' das Experiment gewinnen. Es scheint mir aber unerl\u00e4sslich bei der gro\u00dfen Complicirtheit der Rhythmuswahrnehmung der experimentellen Forschung eine ausf\u00fchrliche Beschreibung aller derjenigen Elemente der Rhythmusbildung voranzuschicken, welche sich mittelst systematischer Selbstbeobachtung feststellen lassen. Eine solche Beschreibung der rhythmischen Elemente, die in der Musik zur Wirksamkeit kommen, h\u00e4tte die erste Aufgabe der Musiktheoretiker sein m\u00fcssen. Wir finden diese Forderung ebensowenig erf\u00fcllt wie eine andere, gleich unerl\u00e4ssliche, die klare Scheidung der verschiedenen m\u00f6glichen Gesichtspunkte der Betrachtung. Der rhythmische Thatbestand l\u00e4sst sich betrachten vom Standpunkt des H\u00f6renden aus \u2014 auf diese Weise gelangt man zu einer Psychologie und Aesthetik des rhythmischen Eindrucks; er l\u00e4sst sich betrachten vom Standpunkt des Spielenden aus \u2014 das f\u00fchrt zu einer Messung der objectiven Leistungen des Takte herstellenden Subjectes; er l\u00e4sst sich endlich betrachten vom Standpunkte des Componisten bezw. des Musiktheoretikers aus \u2014 das f\u00fchrt zu einem metrischen System von Symbolen f\u00fcr die sinnf\u00e4llige Wiedergabe der Mittel, die dem Spieler zur Verf\u00fcgung stehen, um den von dem Componisten beabsichtigten rhythmischen Eindruck herzustellen, sowie zur Angabe einer Anzahl absoluter Ma\u00dfe, die die objective Leistung des Spielenden feststellen wollen, von diesem aber in freier Weise unter dem \u00e4sthetischen Eindruck des Motives ge\u00e4ndert werden k\u00f6nnen.\n\u00a7 2.\nAm meisten erf\u00fcllt unter den modernen Musikschriftstellern die Anforderungen einer psychologischen Auffassung des Rhythmus Hugo Riemann1). Der Begriff des Rhythmus wird von Rie-mann in einem doppelten Sinne gebraucht. Einmal \u00e4hnlich wie\n1) H. Riemann, Musiklexikon. 4. Aufl. Leipzig 1894. Katechismus der Musik. Leipzig 1888. Geschichte der Notenschrift. Leipzig 1878. Musikalische Dynamik und Agogik. Hamburg 1884. Compositionslehre. Leipzig 1889.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t295\nbei Lobe als der Allgemeinbegriff, der die Thatsachen der Rhyth-misirung der T\u00f6ne \u00fcberhaupt umfasst, Rhythmus ist die \u00bb Ordnung der Tonst\u00e4rke\u00e4nderungen und der Ver\u00e4nderung der Geschwindigkeit der Tonfolge mittelst Einhaltung einer leicht verfolgbaren Gliederung der Zeit in gleiche Abschnitte.\u00ab (Katech. d. M. S. 1.) Der Vorzug dieser Definition vor allen bisher genannten besteht darin, dass hier die beiden Hauptmittel der musikalischen Rhythmik, Tonst\u00e4rkever\u00e4nderungen und Ver\u00e4nderungen der Geschwindigkeit der Tonfolge, richtig bezeichnet werden; die zeitliche Gliederung der T\u00f6ne ist nur dann eine rhythmische, wenn sie leicht verfolgbar ist. Mit der letzteren Angabe wird zugleich auf die relativ sehr engen Grenzen hingewiesen, die unserer Rhythmuswahrnehmung durch die Beschr\u00e4nktheit unserer Zeitauffassung und unseres Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr aufeinanderfolgende Eindr\u00fccke gesetzt sind. Daneben hat aber das Wort Rhythmus bei Riemann eine engere Bedeutung (vgl. Mus. Lex. S. 683 und 886, Katech. d. M. S. 79 ff.), die weniger zu billigen ist. Indem Riemann n\u00e4mlich die Taktformen s\u00e4mmtlich als Entwickelungen oder Umgestaltungen des einfachen zweiz\u00e4hligen oder dreiz\u00e4hligen Taktes1) darstellt, bezeichnet er diejenigen Umformungen der Takte, aus denen sich \u00bbWerthe von ungleicher Zeitdauer\u00ab ergeben, als rhythmische: \u00bbAlle eigentlich rhythmischen Bildungen entstehen durch Zusammenziehungen oder Untertheilungen von Z\u00e4hlzeiten, besonders sofern dadurch nicht gleiche sondern ungleiche Werthe erzielt werden, und durch abwechselnde Theilung zusammengezogener oder abwechselnde Zusammenziehung untergetheilter Z\u00e4hlzeiten. \u00ab Es ist also z. B. die \u00bbGrundform des dreitheiligen Taktes: J | J, sofern sie Werthe von ungleicher Dauer neben einander stellt, eine rhythmische Bildung\u00ab (Katech. d. M. S. 79). Metrische Bildungen sind dagegen alle diejenigen Bestimmungen, welche das verschiedene \u00bbGewicht, d. h. die gr\u00f6\u00dfere oder geringere Schlussf\u00e4higkeit der T\u00f6ne\u00ab betreffen. Diese Unterscheidung ist nat\u00fcrlich eine ganz willk\u00fcrliche, weil der rhythmische Eindruck durchaus nicht nur von der \u00bbMischung verschiedener Zeitdauerwerthe \u00ab bestimmt wird, sondern ebensowohl durch das verschiedene Gewicht derT\u00f6ne.\n1) Riemann rechnet die Takte nach Z\u00e4hlzeiten. Vergl. S. 286 d. A.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nErnst Meumann.\nEntscheidend f\u00fcr die Ansichten, die ein Musikschriftsteller \u00fcber speciellere Fragen der Rhythmik besitzt, muss immer seine Lehre vom Aufbau der rhythmischen Formen aus den rhythmischen Elementen bez. Einheiten sein. Die Bestimmungen Riemann\u2019s \u00fcber den Aufbau der complicirteren Taktformen aus ihren Grundformen w\u00fcrden wir von unserer Auffassung des metrischen Gesichtspunktes s\u00e4mmtlich als metrische bezeichnen, und da der Begriff des \u00bbTaktes\u00ab f\u00fcr mich ein rein metrischer ist, so kann ich nur von der Entwickelung der Ta kt formen aus den T a k t einheiten sprechen. Es ist aber anzuerkennen, dass Riemann versucht hat, die metrischen Bestimmungen zu begr\u00fcnden auf eine vorhergegangene Analyse der rhythmischen Erlebnisse des H\u00f6renden. Das Wort Takt bezeichnet f\u00fcr Riemann sowohl die metrische Einheit als die Pro-ducte der Zusammenordnung niederer rhythmischer Einheiten zu h\u00f6heren. Im allgemeinen wird daher der Takt definirt als \u00bbdie Zusammengeh\u00f6rigkeit der Noten zu gr\u00f6\u00dferen Werthen, wie ihre Gliederung in kleinere\u00ab (n\u00e4mlich Zeitwerthe). Anderseits wird der Takt aufgefasst als \u00bbdie kleinste h\u00f6here Einheit, zu der mehrere Z\u00e4hlzeiten zusammen treten\u00ab (Kat. d. M. S. 71). F\u00fcr den Aufbau der einzelnen Taktarten greift nun Riemann auf das Princip der Wiederholung, oder wie er es mit sehr ungl\u00fccklicher Bezeichnung auch ausdr\u00fcckt, auf das \u00bbPrincip der Symmetrie\u00ab zur\u00fcck. Die Symmetrie, soll hei\u00dfen die Wiederholung entsprechender Zeitwerthe, Accente, Noten (!) bedingt die Steigerung des rhythmischen Gewichtes f\u00fcr das Folgende im Vergleich zu dem Voraufgehenden. Das Zweite hat daher immer gegen\u00fcber dem Ersten erh\u00f6hte Bedeutung, erscheint als gewichtiger, als einen Abschluss bildend, in Folge dessen ist\ndann J | J \u00bbdie Urform des zweitheiligen Taktes wie aller metrischrhythmischen Bildungen \u00fcberhaupt\u00ab. Den Begriff des gr\u00f6\u00dferen Gewichtes definirt Riemann ausdr\u00fccklich als \u00bbgr\u00f6\u00dfere Tonst\u00e4rke und l\u00e4ngere Dauer\u00ab, und mit Recht, denn sowohl eine aus der \u00fcbrigen Tonreihe herausfallende Verl\u00e4ngerung des Tones wie die gr\u00f6\u00dfere Intensit\u00e4t g\u00e4be ihm f\u00fcr die Aufmerksamkeit und damit f\u00fcr die Wahrnehmung des Fortschrittes in der Zeit gr\u00f6\u00dfere Bedeutung. Soll also in\nJ | J die zweite Note als die gewichtigere kenntlich gemacht werden, so kann das nach Riemann sowohl durch Accentuation","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t297\ngeschehen, wie durch eine gewisse minimale Verl\u00e4ngerung. Die letztere darf nicht \u00fcberschritten werden, sonst erscheint sie \u00bbmani-rirt\u00ab. \u00bbSie wird wieder wohlgef\u00e4llig, wenn die schwerere Note doppelt so lang gehalten wird als die leichtere\u00ab. Mit dieser letzten\nFormJ jj geht dann der zweitheilige in den dreitheiligen (Takt \u00fcber, \u00bbdessen Urform also eine zweiz\u00e4hlige, aber mit ungleichen Werthen ist\u00ab. \u00bbVielleicht liegt in der Unterscheidung des zwei-z\u00e4hligen und des dreiz\u00e4hligen Taktes die ganze Taktlehre inbegriffen, und alles Uebrige ist theils Sache' verschiedener Notirungs-weise, theils Sache verschiedenartiger rhythmischer Gestaltung\u00ab innerhalb der oben dargestellten Grundformen. Das Princip der musikalischen Steigerung durch Wiederholung in der Zeit findet nun weiter seine Anwendung bei der Zusammensetzung der Takteinheiten zu complicirten Gebilden. Der einem ersten Takte antwortende zweite erscheint gegen\u00fcber diesem ebenso als schwer, wie die antwortende Z \u00e4hlzeit gegen\u00fcber der erst aufgestellten als schwer erschien. So entstehen Formen wie diese\nI TTTT\"' (4A) \u00b0der | jTTpjf. (4/2), ein Princip, von dem nur ab-\ngewichen wird, wenn in der Phrase der Schwerpunkt derselben erreicht ist und nun die dynamische und agogische Abnahme beginnt.\nDas Charakteristische an dieser Taktlehre ist die cons\u00e9quente Durchf\u00fchrung der Lehre von der Steigerung des Gewichtes der Taktglieder durch die Wiederholung, oder wie Eiemann sich unrichtig ausdr\u00fcckt, durch die \u00bbSymmetrie des Nacheinander\u00ab1), auf ihr baut sich die ganze Weiterentwickelung der Taktformen und auch der Vorschriften f\u00fcr die Taktschreibung auf. Eiemann hat wiederholt versucht, seiner Lehre eine tiefere psychologische Begr\u00fcndung zu gehen, am ausf\u00fchrlichsten im Musik-Lexikon (im Artikel \u00bbMetrik\u00ab), \u00bbDie Nothwendigkeit einer fortgehenden Ma\u00dfbestimmung f\u00fcr die Zeitdauer der T\u00f6ne ist durch die Natur der musikalischen Kunst selbst gegeben, w\u00e4hrend die Werke der bildenden Kunst sich r\u00e4umlich in Mit- und Nebeneinander dem Auge des Beschauers in ihrer Totalit\u00e4t darstellen und ein allm\u00e4hliches Begreifen der Details nach zun\u00e4chst gewonnenem Totaleindruck\n1) Vergl. dazu die Ausf\u00fchrungen S. 279 d. A.\nWandt, Pinlos. Studien. X.\n20","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nEmst Meumann.\ngestatten, bauen sich alle musikalischen Kunstwerke im zeitlichen Verlauf (hach einander) vor der Phantasie des H\u00f6rers \u2014 allm\u00e4hlich aus kleinen Atomen auf, und ein Ueberschauen gr\u00f6\u00dferer Proportionen derselben ist nicht anders als mit H\u00fclfe des Ged\u00e4chtnisses m\u00f6glich, von dessen st\u00e4rkerer oder geringerer Kraft die H\u00f6he des musikalischen Kunstgenusses abh\u00e4ngt.\u00ab Hieraus folgert Riemann weiter, dass die Musik Mittel und Wege besitzen muss, um die Aneinanderreihung der T\u00f6ne in ein stetes Inbeziehungsetzen, ein Verfolgen von Analogien und Gegens\u00e4tzen zu verwandeln. Diese Mittel sind die Unterschiede in der Tonh\u00f6he, Tonst\u00e4rke und Tondauer. \u2014 In diesen Ausf\u00fchrungen haben wir also eine Ableitung des musikalischen Rhythmus aus den Bedingungen der successiven Wahrnehmung der Tonfolgen, und die rhythmischen Elemente werden als die nat\u00fcrlichen Mittel aufgefasst, durch die die Schwierigkeit des Ueber-blickens eines gr\u00f6\u00dferen Ganzen aufeinanderfolgender T\u00f6ne erleichtert wird; sie sind Ged\u00e4chtnissmittel, die dadurch, dass sie den gegen w\u00e4rti g en T\u00f6nen (Tongruppen) irgend etwas Auszeichnendes beigeben, uns erm\u00f6glichen, sie als Wiederholungen fr\u00fcherer, mit analogen Unterscheidungsmerkmalen ausgestatteter T\u00f6ne (Tongruppen) aufzufassen (vergl. die \u00e4hnliche Darstellung von Wundt, Phys. Psych. 4. Aufl. S. 84).\nAus dem Princip der Wiederholung erkl\u00e4rt sich das zunehmende Gewicht der Taktglieder in einfacher Weise auf Grund bekannter, unserem Autor freilich entgangener psychologischer Erfahrungen. Beim erstmaligen Anh\u00f6ren einer rhythmischen Figur sind wir rein auffassend und uns innerlich adaptirend th\u00e4tig, bei der Wiederholung ist die Arbeit der Auffassung vorbei, und wir k\u00f6nnen uns, nachdem die aneignende Aufmerksamkeit entlastet worden ist, dem Genuss hingeben. Es ist dabei einerseits die Lustqualit\u00e4t, die allem Bekannten anhaftet, welche in Kraft tritt, und negativ kommt f\u00fcr die Entwickelung der Gef\u00fchlswirkung des Rhythmus der bekannte Antagonismus zwischen Aufmerksamkeit und Gef\u00fchl in Betracht. Auf diesem Princip der Wiederholung beruhen ganz besonders die einfachen rhythmischen Mittel der \u00e4ltesten Poesie, wie sie uns z. B. das Accentsystem der hebr\u00e4ischen Sprache (\u00abVerbinder\u00ab und \u00bbTrenner\u00ab) und der Parallelismus der Satzglieder in der alttestament-lichen Dichtung zeigen. Aus dem Princip der centralen Adaptation","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t299\nergibt sich aber f\u00fcr die musikalische Praxis gerade die entgegengesetzte Behandlung des Tongewiehtes. da die centrale Adaptation sich um so rascher vollziehen muss, je m\u00e4chtiger die erstmalige Einf\u00fchrung eines rhythmischen Motivs ist, so wird der Componist h\u00e4ufig zu dem Mittel einer Gewichtsverst\u00e4rkung gerade der ersten Takteinheiten oder Taktglieder greifen. Es leuchtet daher wohl ohne weiteres ein, dass die Auffassung Riemann\u2019s eine Construction ist, die willk\u00fcrlich einen Fall verallgemeinert. Wenn wir thats\u00e4chlich bei rhythmischer Auffassung von T\u00f6nen jeden folgenden als Wiederholung des vorigen auffassen, so bleiben beide F\u00e4lle m\u00f6glich: der zweite kann als abgeschw\u00e4chte oder als gesteigerte Wiederholung des ersten gedacht werden. Im ersten Falle kommen wir zu\nder conventioneilen Auffassung der \u00bbUrform\u00ab des Taktes | f f |, im zweiten zu der \u00bbUrform\u00ab Eiemann\u2019s. Nun zeigen die Versuche \u00fcber subjective Betonung, dass je nach individueller Neigung und Disposition bald das eine, bald das andere bevorzugt wird, beide Urformen w\u00fcrden sich also auf einen gelegentlich vorhandenen Thatbestand st\u00fctzen, keine auf ein exclusives oder nothwendiges Verh\u00e4ltniss. Es ist daher auf alle F\u00e4lle unrichtig, eine Taktform f\u00fcr die nat\u00fcrliche und allein berechtigte zu erkl\u00e4ren. Mit Recht begr\u00fcndet daher auch Wundt seine Schreibung nur mit dem con-ventionellen Gebrauch (Phys. Psych. II. S. 86. Vergl. S. 286 d. A.).\nRiemann hat ferner, wie es scheint, rein mit H\u00fclfe der Beobachtung, eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehungen zwischen den beiden wesentlichsten Elementen der Rhythmusbildung: den Zeitverh\u00e4ltnissen und der Betonung, aufgesucht. Er hat beobachtet, dass Accentuation \u00fcberhaupt durchaus nicht blo\u00df erreicht wird durch \u00bbdynamische Accentuation\u00ab, d. h. st\u00e4rkeren Anschlag, sondern ebensowohl hergestellt werden kann \u00bbdurch geringe Dehnung der auf den Schwerpunkt fallenden Noten\u00ab. Hierin liegt die richtige Erkenntniss, dass Zeitdauer und Betonung sich in gewissem Ma\u00dfe f\u00fcr den rhythmischen Eindruck ersetzen k\u00f6nnen (vergl. meine fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen \u00fcber diesen Punkt, Wundt, Philos. Stud. IX. S. 306). Es scheint ferner, dass Riemann mit seinem \u00bbagogischen Accent\u00ab (Mus. Lex. S. 13; K. d. M. S. 33) die Thatsache andeuten will, dass mit dem st\u00e4rkeren oder schw\u00e4cheren Anschlag immer eine\n20*","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nErnst Meumann.\ngewisse Ver\u00e4nderung der Notengeltung verbunden ist. Ich werde sp\u00e4ter zeigen, dass sich diese Thatsache in einfacher Weise experimentell beweisen l\u00e4sst. Auf die weiteren Beziehungen zwischen dem dynamischen und agogischen Element, deren Aufstellung Rie-mann\u2019s Verdienst ist, komme ich ebenfalls in dem experimentellen Theil dieser Abhandlung zur\u00fcck. Die Fragen, die durch diese Beobachtungen nahe gelegt werden, enthalten nichts Geringeres als die noch v\u00f6llig unaufgekl\u00e4rte Beziehung zwischen motorischer und sensorischer Rhythmusbildung. Die Aufstfchung dieser Beziehung mit H\u00fclfe experimenteller Methoden, insbesondere durch die graphische Aufnahme einfacher mit dem Finger geklopfter Takte wird ein Hauptgegenstand der weiteren Fortsetzung dieser Abhandlung sein.\nIch weise endlich noch auf zwei Abhandlungen von Richard Wagner hin, in denen sich zwar keine psychologische Erkl\u00e4rung des Rhythmus im allgemeinen, wohl aber eine F\u00fclle un\u00fcbertrefflich feiner Beobachtungen \u00fcber einzelne die psychologische Auffassung des Rhythmus betreffende Punkte findet. (R. Wagner: Ueber das Dirigiren; Ueber eine in M\u00fcnchen zu errichtende deutsche Musikschule i).) Die Bemerkungen, die Wagner hier \u00fcber die Beziehungen zwischen Tempo und Melodie (S. 274 ff.), \u00fcber Tempo und Vortrag S. 281 ff), \u00fcber das Wechselspiel zwischen Erwartung und Ueber-raschung (S. 285), \u00fcber die Entwickelung der rhythmischen Charaktere aus einander, oder unter Benutzung rhythmischer Contraste (S. 291 ff.) macht, geben der weiteren Forschung eine Anzahl hochbedeutsamer Aufgaben.\n\u00a7 3.\nAllgemeine Analyse des musikalischen Rhythmus im Unterschiede vom Rhythmus einfacher Schallempfindungen.\nUnsere bisherigen Ausf\u00fchrungen haben es nahe gelegt, dass f\u00fcr die psychologische Behandlung des musikalischen Rhythmus in erster Linie zu fordern ist eine klare Scheidung der verschiedenen m\u00f6glichen Gesichtspunkte der Betrachtung. Die Aussagen \u00fcber den\n1) R. Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. 2. Aufl. Leipzig 1888. Bd. VIII.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t301\nRhythmus m\u00fcssen sich nat\u00fcrlich v\u00f6llig verschieden gestalten, je nachdem man ihn vom Standpunkt des H\u00f6renden oder vom Standpunkt des Spielenden, oder endlich von dem des Componisten bez. des Musiktheoretikers betrachtet. Ich versuche in der folgenden Darstellung diese Scheidung der Gesichtspunkte durchzuf\u00fchren und wende mich zuerst zu einer Analyse des rhythmischen Eindrucks des H\u00f6renden, so weit dieselbe auf Grund theoretischer Erw\u00e4gungen und einfacher Vorversuche m\u00f6glich ist. Zu diesem Zwecke werde ich zun\u00e4chst die Elemente zu bestimmen suchen, die sich auf Grund systematischer Selbstbeobachtung als die den rhythmischen Eindruck constituirenden erweisen, aus denen sich die musikalischen Rhythmusformen aufzubauen scheinen \u2014 nat\u00fcrlich nicht in dem Sinne einer Reducirung complicirter Taktformen auf die Takteinheit, sondern durch den Nachweis der Bewusstr seinsfactoren, welche die Selbstbeobachtung in den musikalischen Rhythmen findet. Damit kann zugleich eine Aufsuchung der Redingungen verbunden werden, unter denen sich allgemeinere psychische Erscheinungen (z. B. eine Succession von Schallempfindungen) zu den specifisch rhythmischen Ph\u00e4nomenen steigern. Es wird n\u00f6thig sein, zuerst einmal die Eigenth\u00fcmlichkeiten der musikalischen Rhythmen zu bestimmen. Der einfachste Weg hierzu ist ihre Unterscheidung von dem n\u00e4chst einfacheren Gebiet rhythmischer Formen, den rhythmisirten Schallempfindungen. Von der Untersuchung der rhythmischen Erscheinungen gleichg\u00fcltiger neutraler Schalleindr\u00fccke, einfacher Ger\u00e4usche, die uns als solche weiter nicht interessiren, wird sowohl die theoretische wie die experimentelle Untersuchung auszugehen haben, weil in ihnen der Rhythmus in seiner reinsten Form zu beobachten ist, w\u00e4hrend bei rhythmisch geordneten T\u00f6nen auch die Tonfolge die Aufmerksamkeit fesselt. Die rhythmische Ordnung der Eindr\u00fccke besch\u00e4ftigt bei den Schallrhythmes. so ausschlie\u00dflich die Aufmerksamkeit, dass wir die Qualit\u00e4t der Eindr\u00fccke selbst dar\u00fcber vollst\u00e4ndig vergessen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend bei T\u00f6nen von wechselnder Tonh\u00f6he das Interesse an der Tonfolge zugleich die Aufmerksamkeit mit in Anspruch nimmt.\nH\u00f6ren wir eine gleichm\u00e4\u00dfig weitergehende Reihe auf einander folgender Schalleindr\u00fccke (z. B. in Intervallen von 0,3 s), ohne","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nErnst Meumann.\nirgend welche Qualit\u00e4ts- oder Intensit\u00e4tsunterschiede, wie sie sich mit dem Schallhammer und dem Contactapparat des Kymographions leicht hersteilen lassen1), so findet, wie schon Dietze, G\u00f6tz Martius, Stumpf, Henle, u. a. beobachtet haben, nach kurzer Zeit eine Rhythmisirung derselben statt. Dieselbe bleibt bei normaler Aufmerksamkeit des Individuums nach meinen Erfahrungen niemals aus, wenn wir uns ihrer auch vielleicht mit Gewalt erwehren k\u00f6nnen. Ob dabei in allen F\u00e4llen eine wirkliche Verst\u00e4rkung einzelner Empfindungen stattfindet \u2014 was Stumpf bestreitet2) \u2014 werde ich sp\u00e4ter genauer er\u00f6rtern. Hier sei nur bemerkt, dass bei unwissentlichem Verfahren bei einigen Beobachtern die subjective Rhythmisirung bis zur v\u00f6lligen Illusion objectiver Sehallverst\u00e4rkung steigt3). Diese subjective Rhythmisirung bei ob-jectiv ganz gleichen Eindr\u00fccken und immer gleichen Intervallen eignet sich besonders gut als Ausgangspunkt f\u00fcr die Untersuchung, weil sie den einfachsten Fall der Rhythmusbildung durch Herstellung seiner Mindestursachen darstellt. Es lassen sich hier also objectiv die Mindestbedingungen und subjectiv vermuthlich die einfachsten Elemente aller Rhythmusbildung im Gebiete des Geh\u00f6rsinnes studiren. Als Mindestbedingungen ergeben sich f\u00fcr das Auftreten unwillk\u00fcrlicher rein subjectiver Schallrhythmen, dass 1. die Succession der Schalleindr\u00fccke eine bestimmte und zwar im Verh\u00e4ltniss zu unserer Perceptionsf\u00e4higkeit gro\u00dfe Geschwindigkeit haben muss (unter 0,4 s)4), dass 2. die Schalleindr\u00fccke intensiv und qualitativ v\u00f6llig gleich sein m\u00fcssen, da jede Unregelm\u00e4\u00dfigkeit derselben st\u00f6rend wirkt; dass 3. die Schallreihe l\u00e4ngere Zeit an geh\u00f6rt wird. Dazu kommt als subjective Bedingung 4. eine v\u00f6llig passive Hingabe an den Eindruck der Schallreihe von Seiten des Beobachters 5).\n1)\tVergl. meine fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen. Phil. Stud. IX, S. 270 ff.\n2)\tStumpf, Tonpsychologie. I. S. 375.\n3)\tBest\u00e4tigt werden diese meine Beobachtungen durch die mir nach Abfassung d. A. zugegangene Arbeit von Bolton. Amer. Journ. of Psychol. Bd. VI; vergl. insbes. S. 192, 195, 200 u. 202.\n4)\tHierin weichen die Ergebnisse meiner Versuche von denen Bolton\u2019s ab, der nicht streng genug die beiden F\u00e4lle willk\u00fcrlicher und unwillk\u00fcrlicher Rhythmisirung scheidet.\n5)\tIn dieser Hinsicht bemerkt man allerdings gro\u00dfe individuelle Unter-","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n303\nWas findet die Selbstbeobachtung in solchen F\u00e4llen als Be-standtheile der specifisch rhythmischen Bewusstseinsvorg\u00e4nge vor? Auf Grund einer Zusammenstellung der Aussagen von 17 Beobachtern, die ich nach einander gepr\u00fcft und deren Angaben ich an mir selbst controlirt habe, kann ich die folgenden Punkte zusammenfassen. Wir finden in dem Vorgang der Rhythmisirung 1. stets einen scheinbaren Betonungs- oder Gewichtswechsel der Eindr\u00fccke, der Rhythmus entsteht nicht eher, bis wir periodisch wiederkehrende Betonungs unterschiede wahrzunehmen glauben, mit diesen ist er aber auch vorhanden und zwar in aller Vollst\u00e4ndigkeit. Damit ist schon gesagt, dass 2. die periodische Wiederholung dieser Intensit\u00e4tsunterschiede geh\u00f6rt wird, d. h. das periodische Wechseln betonter und nicht betonter Eindr\u00fccke. Ob die Unterschiede in der scheinbaren Betonung identisch sind mit Intensit\u00e4tsunterschieden, dar\u00fcber gehen die Aussagen der Beobachter aus einander, sobald man mit dem wissentlichen Verfahren arbeitet, w\u00e4hrend bei streng unwissentlichem Verfahren entweder keine Betonung oder Intensit\u00e4tssteigerung geh\u00f6rt wird. Man bemerkt ferner 3., dass die Eindr\u00fccke in Gruppen zusammen geschlossen werden und zwar in der Regel so, dass die Hauptbetonungsstufe die Gruppe beginnt. Diese Gruppirung wurde mir von meinen Beobachtern wiederholt als \u00bbinnerliche Zusammenfassung\u00ab der Eindr\u00fccke bezeichnet; die einzelnen Schl\u00e4ge werden aus ihrer anf\u00e4nglichen Isolirung herausgehoben und erscheinen als zu einem Ganzen geh\u00f6rige Theile, andererseits werden die Gruppen deutlich von einander getrennt. Es ist ganz falsch, was Minor in seiner \u00bbNeuhochdeutschen Metrik\u00ab behauptet : \u00bbWas zwischen zwei solchen st\u00e4rkeren Schl\u00e4gen liegt, bildet eine rhythmische Einheit, den Takt\u00ab ^ vorausgesetzt, dass hiermit die rhythmische Einheit, die kleinste rhythmische Gruppe, die f\u00fcr das Ohr des H\u00f6renden hervortritt, gemeint ist. Vielmehr rechnen wir die rhythmische Einheit stets von der beginnenden Hebung bis zur abschlie\u00dfenden Senkung (bez. umgekehrt). Zwischen dieser und der n\u00e4chsten Hebung liegt eine rhyth-\nschiede. Es gibt ebenso wohl rhythmisch schlecht veranlagte Personen, wie es Individuen ohne musikalisches Geh\u00f6r gibt.\n1) Minor, Neuhochdeutsche Metrik. 1893. S. 7.","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nErnst Meumann.\nmisch todte Zeit, in der sich die Aufmerksamkeit gewisserma\u00dfen von der vorigen Gruppe ab und der folgenden Gruppe zu wendet. F\u00fcr manche Beobachter ist 4. die Zusammenfassung der Eindr\u00fccke stets zugleich eine zeitliche Zusammenreihung, indem die Glieder der Gruppe rascher auf einander zu folgen scheinen, w\u00e4hrend zwischen je zwei Gruppen eine Pause liegt. Es ist aber bemerkens-werth, dass diese Angabe von vielen Beobachtern nur dann gemacht wird, wenn sie nicht darauf ausgehen, die Intervalle bewusst zu vergleichen. Auch hei dieser einfachen Art der Rhythmisirung bemerkt man die steigernde Wirkung der l\u00e4ngeren Wiederholung, das Auftreten bestimmter rhythmischer Charaktere, wie des steigenden und fallenden Rhythmus, dagegen sind mir niemals amphibrachische Rhythmen angegeben worden. Es ist interessant, dass alle musikalischen Beobachter den fallenden Rhythmus bevorzugen, w\u00e4hrend die nicht musikalischen bisweilen steigenden Rhythmus h\u00f6ren *). Dabei sp\u00fcren wir die Gef\u00fchlswirkung und den \u00e4sthetischen Eindruck unter Umst\u00e4nden ebenso bestimmt, wie hei objectiv hergestellten Rhythmen, und ebenso treten die bekannten motorischen Begleiterscheinungen ein.\nDas Charakteristische an diesem ganzen Ph\u00e4nomen scheint mir die rein centrale Einleitung desselben zu sein. Man kann dabei entweder an Reproductionen bekannter Taktformen, oder besser vielleicht an die ungleiche Energievertheilung der Aufmerksamkeit denken. Es ist uns unm\u00f6glich, jedem einzelnen der in Intervallen von 0,3 s aufeinander folgenden Schl\u00e4ge auf die Dauer die gleiche Aufmerksamkeitsenergie zuzuwenden, indem wir aber eine immer gleiche Zahl von Eindr\u00fccken beachten und wieder nicht beachten, erreichen wir damit den doppelten Zweck, dem Fortschritt, der zeitlichen Succession correct, d. h. ohne Verlust eines Eindrucks folgen zu k\u00f6nnen, ohne dass wir doch jeden Zeitmoment mit der gleichen Energie beachten m\u00fcssten. Man sieht, wie nur die Periodicit\u00e4t die Garantie dieses doppelten Erfolges geben kann.\n1) Die Beobachter Bolton\u2019s h\u00f6rten hingegen fast ausschlie\u00dflich fallenden Rhythmus.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t305\nEs lassen sich, nun schrittweise die Ursachen des Schallrhythmus compliciren.\nDer n\u00e4chst complicirtere Fall ist augenscheinlich der, dass die qualitativ-intensiv gleichen Eindr\u00fccke sich in periodisch wiederkehrenden ungleichen Zeiten wiederholen. Die blo\u00dfe Wiederholung qualitativ-intensiv gleicher Eindr\u00fccke, die eine begrenzte Zahl unter sich ungleicher 'Zeitintervalle einschlie\u00dfen, kann als Ursache einer gro\u00dfen Mannigfaltigkeit ausgepr\u00e4gter rhythmischer Formen wirken. Durch geeignete Anordnung der Eindr\u00fccke l\u00e4sst sich in diesem Falle der Zwang zur Betonung so sehr steigern, dass gewisse Betonungseffecte fast v\u00f6llig durch die zeitliche Grup-pirung der Eindr\u00fccke ersetzt werden k\u00f6nnen. Die Zeitordnung tritt stellvertretend f\u00fcr die Betonung ein. Diese stellvertretende Wirkung der einzelnen Rhythmusursachen zeigt sich \u00fcberall, wo man eine von ihnen isolirt zur Anwendung bringt1). Ich habe fr\u00fcher ausgef\u00fchrt, dass Qualit\u00e4tsunterschiede der Eindr\u00fccke, Intensit\u00e4tsunterschiede, Unterschiede in der zeitlichen Anordnung oder irgend welche periodisch wiederkehrende Verschiedenheiten als eben so viele coordinirte, selbst\u00e4ndige Ursachen der Rhythmusbildung betrachtet werden k\u00f6nnen2). Die isolirte Verwendung je einer dieser Ursachen w\u00fcrde je einen einfachsten Fall einer experimentellen Untersuchung darstellen k\u00f6nnen. Ihre allm\u00e4hliche Combination bezeichnet zugleich einen Weg f\u00fcr eine Versuchsmethode , die von den einfachsten F\u00e4llen zu den immer complicirteren des Rhythmus fortschreitet. Mit jeder Aenderung und Complication der genannten Rhythmusursachen \u00e4ndern und compliciren sich auch subjectiv die constituirenden Elemente des rhythmischen Eindruckes. Auf diese Weise werden wir in dem rhythmischen Eindruck an der Hand der Ursachen zu suchen haben nach den Zeitelementen, den Betonungselementen, den Elementen, die aus dem Qualit\u00e4tsWechsel (der T\u00f6ne) stammen. Diese lassen sich s\u00e4mmtlich unter den Empfindungsfactoren3) zusammenfassen.\n1)\tWundt, Phil. Stud. IX, S. 305f.\n2)\tDie psychologische Erkl\u00e4rung dieser Thatsache lasse ich vorl\u00e4ufig dahin-gestellt. Was die Selbstbeobachtung dar\u00fcber ergibt, habe ich an der mehrfach citirten Stelle meiner fr\u00fcheren Arbeit ausgef\u00fchrt.\n3)\tIndem ich die Zeitdauer, Succession und Wiederholung in erster Linie als Empfindungsdauer-Succession und -Wiederholung in Betracht ziehe.","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nDaneben muss, wie schon die Analyse der einfachen F\u00e4lle subjectiver Khythmisirung zeigte, eine Summe h\u00f6herer intelle\u00e7tueller Factoren unterschieden werden, deren Beth\u00e4tigung wir in dem innerlichen Zusammenfassen, in den Zuthaten an subjectiver Betonung, der Abwendung und! Hinwendung der Aufmerksamkeit, dem Aufeinander-beziehen der rhythmischen Gruppen, ihrer Auffassung als Wiederholung der vorausgegangenen und Vorbereitung der folgenden Eindr\u00fccke u. s. w. suchen m\u00fcssen. Die vollst\u00e4ndige Analyse dieser Elemente ist Sache der systematischen experimentellen Untersuchung. Es muss aber schon hier nachdr\u00fccklich dem Irrthum entgegengetreten werden, wie wenn mit der Angabe irgend eines dieser Elemente, etwa gar der sogen. Taktgleichheit, das Wesen des Rhythmus angegeben werden k\u00f6nne.\nEs l\u00e4sst sich nunmehr feststellen, was die Eigent\u00fcmlichkeiten der specifisch-musikalischen Rhythmusbildung sein m\u00fcssen. Sie sind bedingt durch die Ver\u00e4nderungen des Rhythmizomenon, und zwar wird man zu unterscheiden haben : Ver\u00e4nderungen und Vermehrungen der Rhythmusbildung, welche notwendig und unmittelbar aus dem Rhythmizomenon folgen, und solche, die sich mehr daraus ergeben haben, dass das Wohlgefallen an T\u00f6nen und Harmonien Veranlassung gab zu einer reicheren k\u00fcnstlichen Entwickelung ihrer rhythmischen Verh\u00e4ltnisse. An Stelle der fr\u00fcheren Ger\u00e4uschqualit\u00e4ten tritt jetzt die Tonfolge (die Melodie und die Harmonien). Die rhythmischen Elemente, die dadurch bedingt werden, lassen sich von vornherein folgenderma\u00dfen cha-rakterisiren : 1) die Gruppirung der Eindr\u00fccke wird nicht mehr blo\u00df durch Zeit- und Intensit\u00e4tsunterschiede bedingt, sondern es tritt eine neue Art der Gruppenbildung auf, zu der der innere Zusammenhang der T\u00f6ne Veranlassung gibt. Es ist das musikalische Motiv, das hier Gruppen bildend wirksam wird (Phrasirung). 2) Es entsteht eine neue Art des Wechsels der Bedeutsamkeit der T\u00f6ne, die wiederum eigenth\u00fcmliche rhythmische Effecte bedingt. Gewisse T\u00f6ne dominiren innerhalb der Gruppe als die Culminations-punkte der musikalischen Gedankenentwickelung, denen gegen\u00fcber andere als die vorbereitenden, die \u00fcbrigen als die nachfolgenden erscheinen, die den Gedanken ausklingen lassen. Der rhythmische Effect dieser verschiedenen Bedeutung der einzelnen T\u00f6ne innerhalb","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t307\ndes Motivs f\u00fcr die Durchf\u00fchrung desselben veranlasst eine besondere Art von Unterschieden in der Accentuation, die sich schwerlich ausschlie\u00dflich auf eine scheinbare Intensit\u00e4tszunahme reduciren lassen\n\u2022 \u00ce\nwerden. Es scheint mir, wie wenn die gesteigerte Bedeutsamkeit der T\u00f6ne meist in st\u00e4rkerem Anschlag und in verlangsamtem Tempo ihren Ausdruck finde. Ueber die rhythmische Bedeutung der dynamischen Schattirungen hat ferner R. Wagner eine Anzahl musterhafter Beobachtungen mitgetheilt, \u00fcber sie d\u00fcrfte die theoretische Betrachtung des Rhythmus wohl schwerlich hinauskommen (a. a. O. S. 282 ff.).\t3) Es liegt nahe anzunehmen, dass auch der\nrein subjectiven Rhythmisirung durch den Tonwechsel ein gr\u00f6\u00dferer Spielraum gew\u00e4hrt wird, und es ist wahrscheinlich, dass hierf\u00fcr ein objectiver Anlass gegeben ist, in gewissen elementaren Beziehungen bestimmter T\u00f6ne zur scheinbaren Intensit\u00e4t. Es scheint n\u00e4mlich, dass hohe T\u00f6ne uns intensiver erscheinen als tiefe von gleicher objectiver Schallst\u00e4rke. Dies f\u00e4llt besonders ins Gewicht bei schroffen Ueberg\u00e4ngen von tiefen T\u00f6nen zu hohen und umgekehrt. Das pl\u00f6tzliche Abbrechen einer schnell gespielten Tonreihe gibt ferner dem letzten Ton einen vielleicht durch Schallsummation zu erkl\u00e4renden Accent ; ein einzelner Ton, der betr\u00e4chtlich h\u00f6her oder tiefer liegt als die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden T\u00f6ne, erscheint in seiner Bedeutung f\u00fcr die Markirung des Zeitfortschrittes gesteigert u. s. f.\n4) Im Unterschiede von den einfachen Schalleindr\u00fccken, wie sie mit den \u00fcblichen experimentellen Mitteln hergestellt werden, gestatten die T\u00f6ne ein best\u00e4ndiges Wechseln ihrer Dauer. In der wechselnden Dauer der einzelnen rhythmischen Glieder liegt aber ein \u00e4u\u00dferst wirksames rhythmisches Element (Bedeutung der Fermate), und ich muss in Erg\u00e4nzung der oben aufgef\u00fchrten Rhythmusursachen bemerken, dass die blo\u00dfe periodische Wiederholung einer begrenzten Zahl von T\u00f6nen f\u00fcr sich allein einen rhythmischen Eindruck erzeugen kann bei gleicher Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t der T\u00f6ne: f r f I f r f I r f f I r f f 1 > we*ter sind aber alle rhythmischen Effecte, die aus der sogen. Articulation der T\u00f6ne stammen (das legato und staccato), hierher zu rechnen. 5) Die h\u00f6heren intellectuellen Th\u00e4tigkeiten erhalten nat\u00fcrlich durch den Wechsel der Taktformen, der rhythmischen Motive u. s. w. eine betr\u00e4chtliche","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nErnst Meumaun.\nVermehrung. Die Arbeit der \u00bbAuffassung\u00ab, die Th\u00e4tigkeit des Ged\u00e4chtnisses, das Vergleichen der verschiedenen Partien des Tonst\u00fcckes werden betr\u00e4chtlich gesteigert, ebenso erfahren die associativen Elemente eine Bereicherung; wenn sie auch individuell sehr verschieden sein k\u00f6nnen, so hat jedenfalls doch diu Psychologie die Frage zu er\u00f6rtern, wie weit \u00fcberhaupt die Anregung einer eindeutigen associativen Interpretation von seiten des Zuh\u00f6rers wenigstens f\u00fcr die rhythmischen Wirkungen erreicht werden kann. Die Vermehrung der speciell durch die complicirtere Rhythmusbildung erregten Gef\u00fchle, Affecte, secund\u00e4ren Begleiterscheinungen will ich hier nur andeuten, ihre vollst\u00e4ndige Beschreibung kann erst durch die experimentelle Untersuchung gegeben werden. Die oben (S. 306) an zweiter Stelle erw\u00e4hnte Vermehrung der rhythmischen Formen und Figuren, zu der die T\u00f6ne mittelbar Veranlassung geben, kann ich hier ebenfalls nur ganz im allgemeinen charakterisiren. Es ist ganz besonders hervorzuheben, dass sie sich auf alle Elemente des Rhythmus erstreckt; auf die Zeitelemente, indem zu den schon erw\u00e4hnten rhythmischen Effecten, die aus der verschiedenen Dauer der T\u00f6ne stammen, die sehr mannigfachen Wirkungen der wechselnden Successionsgeschwindigkeit hinzukommen. Innerhalb der deutlich markirten rhythmischen Einheit kann die Successionsgeschwindigkeit der T\u00f6ne entweder im allgemeinen als schnellere oder langsamere Aufeinanderfolge f\u00fcr die rhythmische Wirkung in Betracht kommen, oder sie wirkt durch die Tempobeschleunigung bezw. -Verlangsamung. Damit ist schon ein weiterer Punkt angedeutet, dessen Bedeutung f\u00fcr den Rhythmus gew\u00f6hnlich \u00fcbersehen wird, ich meine das numerische Element. Es ist durchaus nicht gleichg\u00fcltig f\u00fcr den Eindruck eines rhythmischen Ganzen, wie gro\u00df die Zahl seiner Glieder ist.\nEine ganz besondere F\u00fclle rhythmischer Wirkungen muss den \u00bbleeren\u00ab nicht durch T\u00f6ne ausgef\u00fcllten Zeiten zugeschrieben werden. Sie kommen in Betracht theils als die in der Notenschrift in der Regel nicht verzeichneten Einschnitte am Schluss der Phrasen, der musikalischen Reihen und Perioden, theils als die den Musikern h\u00e4ufig gar nicht einmal bekannten kleinen \u00bbAbs\u00e4tze\u00ab, welche bisweilen ganz periodisch durch die Unterschiede und Gr\u00f6\u00dfe der Hand- und Fingerbewegungen verursacht werden. Wird z. B. in 3/4 Takten gespielt, wie in dem nebenstehenden Motiv","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n309\n-j)\t\t\u2014f-\t\t\t\t:\th\t1~^1\t-t. f\n\t\t\t\t\u25a0 \u00abU-i-\nso entsteht nach dem dritten Viertel regelm\u00e4\u00dfig eine in der Notenschrift nicht markirte kleine Zwischenzeit, die f\u00fcr den rhythmischen Eindruck nicht gleichgiltig ist. Sie vermindert sich oder verschwindet ganz, wenn statt der s/4 6/s gespielt werden, tritt dann aber in der Regel nach dem letzten Achtel ein. Ganz besonders frappant wird die rhythmische Wirkung leerer Zeiten bei den verschiedenen Arten der \u00bbPausen.\u00ab Ich verweise in dieser Hinsicht auf die vortreffliche Schilderung, die Riemann von der Wirkung der Pausen gegeben hat1). Die Ursachen dieser Wirkung der Pausen bilden ein wichtiges Object der psychologischen Untersuchung des Rhythmus. Ich m\u00f6chte sie wesentlich dem Einfluss der centralen Adaptation an den Energiewechsel der Aufmerksamkeit bez. der Adaptation an die bis zum Eintritt der Pause eingehaltene Succession der T\u00f6ne zuschreiben. Infolge derselben tritt die bestimmte Erwartung einer entsprechenden Tonfolge beim Beginn der Pause ein, und die Nichterf\u00fcllung derselben scheint den eigen-th\u00fcmlichen Reiz der Pause zu bedingen.\nN\u00e4chst den Zeitelementen erf\u00e4hrt das Betonungselement eine k\u00fcnstliche Steigerung und erweiterte Verwendung. Eine genauere Schilderung der rhythmischen Effecte, die hierdurch erreicht werden k\u00f6nnen, d\u00fcrfte weit \u00fcber unsere jetzige Aufgabe hinausgehen. Als eine Hauptaufgabe der zuk\u00fcnftigen Forschung bezeichne ich in dieser Hinsicht die Aufdeckung der gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen, die zwischen den Betonungs- und Zeitverh\u00e4ltnissen der T\u00f6ne bestehen. Es scheint, dass ein accelerando stets zugleich als \u2018crescendo, und ein ritardando als diminuendo gespielt wird; ein crescendo mit einem ritardando zu comhiniren oder ein accelerando als diminuendo zu spielen ist schwierig, ganz besonders im Beginn der betreffenden Tonreihe, f\u00fcr welche die Tempovorschrift gilt. Dass wir ferner geneigt sind die betonte Note l\u00e4nger liegen zu lassen, die unbetonte k\u00fcrzer zu spielen, erw\u00e4hnte ich schon; die Betonungen scheinen ferner unter Umst\u00e4nden eine\n1) Vergl. Katechismus der Musik. S. 84. Aehnlich schildert R. Wagner die Wirkung der Fermaten im Allegro a. a. O. S. 283.","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nErnst Meumann.\neigenth\u00fcmliche Art von C\u00e4sur zu bedingen, wie sie z. B. eintritt, wenn steigender und fallender, bezw. fallender und steigender Rhythmus unmittelbar nebeneinander treten. Eine Vermehrung der gew\u00f6hnlich sogenannten rhythmischen \u00bbCharaktere\u00ab kann durch das eigenth\u00fcmliche Rhythmizomenon der Musik wohl nicht ein-treten, es bleiben vielmehr hier dieselben Unterschiede bestehen, die wir schon bei rhythmisirten Schallempfindungen fanden, n\u00e4mlich die des steigenden, fallenden, des steigend-fallenden und des fallend-steigenden Rhythmus.\nVon keinem der vorhin aufgez\u00e4hlten rhythmischen Elemente darf man im allgemeinen sagen, dass es schlechthin das den rhythmischen Eindruck bestimmende ist, obwohl f\u00fcr den H\u00f6renden die Hauptbetonungsstufen und die Art ihrer Vertheilung in der Regel am meisten ins Gewicht fallen. Jedes dieser Elemente kann vielmehr die dominirende Rolle im Rhythmus \u00fcbernehmen, wenigstens f\u00fcr eine kurze Zeitstrecke. Darin ist zugleich ausgesprochen, dass die \u00fcbrigen Elemente in solchem Falle f\u00fcr das Bewusstsein zur\u00fccktreten, und daraus folgt wieder, dass die Ver\u00e4nderung in der Verwendung jedes einzelnen rhythmischen Elementes eine subjective Ver\u00e4nderung aller \u00fcbrigen hinsichtlich ihrer Bedeutung f\u00fcr den rhythmischen Eindruck bedingt. Die Erforschung dieses Zusammenhanges der gegenseitigen Beeinflussung der rhythmischen Elemente einerseits und die damit bedingte Aenderung des Gesammt-eindrucks andererseits scheint mir eine der Hauptaufgaben einer zuk\u00fcnftigen Analyse des musikalischen Rhythmus zu sein.\nAus der Aenderung des Rhythmizomenon folgt aber f\u00fcr die musikalische Rhythmik ferner eine vollst\u00e4ndige Umwandlung in dem Mechanismus der allgemeinen psychischen Th\u00e4tig-keiten, deren Wirksamkeit wir bei dem Anh\u00f6ren rhythmisirter Schallempfindungen annehmen m\u00fcssen. Das betrifft vor allem die Wahrnehmung der Zeitverh\u00e4ltnisse bez. die Beziehung der Aufmerksamkeit zu der zeitlichen Ordnung der Eindr\u00fccke. In dieser Hinsicht l\u00e4sst sich aus den Untersuchungen \u00fcber den Zeitsinn folgern, dass, je mehr die Tonfolge als solche die Aufmerk-keit f\u00fcr sich in Anspruch nimmt, desto weniger der H\u00f6rende im Stande ist, die zeitlichen Verh\u00e4ltnisse der Eindr\u00fccke richtig aufzufassen. Es ist danach wahrscheinlich, dass di\u00ab Wahrnehmung","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\t311\nder Zeitverli\u00e4ltnisse als solcher bei dem Anh\u00f6ren eines Musikst\u00fcckes sich immer zwischen zwei Extremen bewegt: einerseits bilden die rein rhythmischen Verh\u00e4ltnisse eine Summe von Veranstaltungen zur deutlichen Markirung des Fortschrittes in der Zeit, andrerseits lenken die T\u00f6ne die Aufmerksamkeit best\u00e4ndig von den Zeitverh\u00e4ltnissen ab; je mehr daher der Rhythmus als solcher f\u00fcr den Eindruck dominirt, desto genauer werden die Zeitverh\u00e4ltnisse wahrgenommen werden k\u00f6nnen, desto mehr muss die reine Tonwirkung zur\u00fccktreten, je mehr der Rhythmus hinter Melodie und Harmonie zur\u00fccktritt, desto ungenauer wird die Zeitwahrnehmung sein. Ferner werden die s\u00e4mmtlichen constanten und variablen Fehler, welche die Psychologie des Zeitsinns im Bereich der unmittelbaren Zeitwahrnehmung findet, und nicht minder die ganze Summe der Zeitt\u00e4uschungen (die sich als eine Art von Gegenst\u00fcck zu den optischen Raum-T\u00e4uschungen auffassen lassen) f\u00fcr die Auffassung der Zeitverh\u00e4ltnisse eines Musikst\u00fcckes in Betracht kommen. Von solchen T\u00e4uschungen des Zeitbewusstseins erw\u00e4hne ich die folgenden: Eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Schalleindr\u00fccken scheint bei gleicher objectiver Successionsgeschwindigkeit betr\u00e4chtlich schneller zu verlaufen wie zwei oder drei T\u00f6ne von gleicher Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t ; eine schneller verlaufende Tonreihe erscheint in ihrer Intensit\u00e4t gesteigert; ein einzelner intensiver Schall hat stets die Tendenz \u2014 wenn er in eine Reihe schw\u00e4cherer Schalleindr\u00fccke eingeschaltet wird \u2014 den Schein einer Zeitver\u00e4nderung hervorzubringen, in der Regel erscheint dabei die ihm nachfolgende Zeit verl\u00e4ngert, doch ist die Wirkung je nach der Stellung des intensiveren Schalles in der rhythmischen Gruppe eine sehr verschiedene (vergl. meine fr\u00fcher. Untersuch. Wundt, Phil. Stud. IX, S. 276 ff.). Wir sto\u00dfen hier auf der Seite des sensorischen Eindruckes wiederum auf die merkw\u00fcrdigen Beziehungen zwischen der Intensit\u00e4t der Schalleindr\u00fccke und ihren scheinbaren Zeitverh\u00e4ltnissen. Die hieraus stammenden T\u00e4uschungen des Zeitbewusstseins bilden eine h\u00f6chst auffallende Parallele zu den vorhin erw\u00e4hnten Beziehungen zwischen der motorischen Betonung des Spielenden und der Art und Weise, wie er die Zeitverh\u00e4ltnisse der T\u00f6ne einzuhalten scheint. Mehr noch als die bisher geschilderten T\u00e4uschungen unserer Zeitabsch\u00e4tzung","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nErnst Meumann.\nkommen die Ergebnisse der Versuche \u00fcber die ausgef\u00fcllten und leeren Zeitstrecken in Betracht. Eine mit einfachen Schalleindr\u00fccken in hinreichender Zahl ausgef\u00fcllte Zeitstrecke erscheint bedeutend gr\u00f6\u00dfer wie eine gleichlange \u00bbleere\u00ab, wenn sie derselben vorangeht, weniger, wenn sie derselben nachfolgt. Sind die ansf\u00fcllenden Eindr\u00fccke so geartet, dass sie die Aufmerksamkeit besch\u00e4ftigen, so erscheint die ausgef\u00fcllte Strecke unter allen Umst\u00e4nden k\u00fcrzer1).. Markirt man Anfang und Ende der zu vergleichenden Intervalle mit einem st\u00e4rkeren Schalleindruck, so kann das die T\u00e4uschung unter Umst\u00e4nden vermindern, aber niemals beseitigen. Es bedarf kaum des Hinweises, dass diese Thatsachen f\u00fcr die Frage der Wahrnehmung der Zeitverh\u00e4ltnisse eines Musikst\u00fcckes in Betracht kommen m\u00fcssen, doch l\u00e4sst sich erst durch die experimentelle Untersuchung entscheiden, wie weit die rhythmische Gliederung den T\u00e4uschungen unseres Zeitbewusstseins entgegen arbeiten oder sie vermehren mag.\nDie Musik muthet nun unserer Zeitsch\u00e4tzung die allergr\u00f6\u00dften Leistungen zu. Wir sollen die durch Betonung mar-kirte Taktgleichheit heraush\u00f6ren bei ganz verschiedener Ausf\u00fcllung der Takte mit Eindr\u00fccken von verschiedener Zahl, Dauer, Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t; wir sollen h\u00f6ren k\u00f6nnen, dass Pausen (leere Zeiten) den mit T\u00f6nen verschiedener Zahl und Geschwindigkeit gef\u00fcllten Takteinheiten gleich sind. Der Spielende soll im Stande sein, nach einer einzigen absoluten Zeitangabe (Tempo in \u00bbM. M.a) ungef\u00e4hr die Bruchtheile der Notengeltungen in den bestimmt vorgeschriebenen Zahlenwerthen einzuhalten, statt zweier Viertelnoten genau auf denselben Zeitwerth z. B. Triolen zu spielen u. s. w. ; er soll bei einer Successionsgeschwindigkeit, die ungef\u00e4hr an die Grenze unserer genaueren Zeitsch\u00e4tzung heranreicht, das Tempo pl\u00f6tzlich mit einem bestimmten Bruchtheil der fr\u00fcheren Geschwindigkeit nehmen; er soll innerhalb der metrischen Einheit best\u00e4ndig das Functionsverh\u00e4ltniss von Notenzahl und -Dauer richtig treffen u. s. w.\n1) Ich fand, dass beim Lesen sinnloser Silben oder sinnvoller Worte nach Art des Verfahrens bei den Ebbinghaus-M\u00fcller-Schumann\u2019schen Ged\u00e4cht-nissversuchen die Lesezeit bedeutend k\u00fcrzer schien, als eine unmittelbar folgende Strecke, w\u00e4hrend der einfach die leere Trommel fixirt wurde. Dieser Versuch setzt die Experimente \u00fcber ausgef\u00fcllte unc^leere Zeiten erst ins rechte Licht.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Acsthetik des Rhythmus.\n313\nMan steht unter diesen Umst\u00e4nden vor der Alternative : entweder stehen den Spielenden und den H\u00f6renden ganz abnorme H\u00fclfs-mittel zur Zeitsch\u00e4tzung zu Gebote, oder die zahlenm\u00e4\u00dfigen metrischen Vorschriften der Musik haben f\u00fcr den Spielenden h\u00f6chstens den Sinn unbestimmter Beschleunigungen und Verlangsamungen, Dehnungen und Verk\u00fcrzungen, und in dieser Weise werden sie auch von dem H\u00f6renden wahrgenommen.\nEs folgt aus diesen Ueberlegungen, dass die messende Untersuchung der Leistungen des Spielenden (auf die ich sp\u00e4ter S. 321 ff. zur\u00fcckkomme) auch im Interesse der rein psychologischen Untersuchung unternommen werden muss, denn auch der aus\u00fcbende Musiker ist best\u00e4ndig zeitsch\u00e4tzend th\u00e4tig, wenn ihm auch, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, eine gro\u00dfe Zahl von H\u00fclfsmitteln rein mechanischer Art zur Verf\u00fcgung stehen.\nF\u00fcr das psychologische Verst\u00e4ndniss dieser Verh\u00e4ltnisse ist aber die Beantwortung der Grundfrage unerl\u00e4sslich: Wie ist beim Anh\u00f6ren eines Musikst\u00fcckes die Richtung der Aufmerksamkeit zu denken? Die Antwort, die ich oben auf diese Frage gab, kann naturgem\u00e4\u00df nur eine vorl\u00e4ufige sein, angesichts der soeben erwogenen Schwierigkeiten der Zeitsch\u00e4tzung, nur das Experiment kann hier die Eirtscheidung bringen.\n\u00a7 4.\nEs fragt sich daher nun weiter, welchen Aufschluss wir \u00fcber Fragen der psychologischen Analyse des Rhythmus gewinnen k\u00f6nnen, wenn wir den Rhythmus unter dem zweiten der oben erw\u00e4hnten Gesichtspunkte behandeln: vom Standpunkte des Spielenden, des aus\u00fcbenden Musikers. Ein vierfaches Interesse haftet dieser Untersuchung an. Zuerst repr\u00e4sentiren uns die Leistungen des Spielenden einen Theil der objectiven Ursachen des rhythmischen Eindrucks des H\u00f6renden. Wir k\u00f6nnen hoffen, mit einer relativ einfachen Technik genau die Zeitverh\u00e4ltnisse festzustellen, welche bei k\u00fcnstlerisch freiem Vortrag wirklich eingehalten werden, und laufen nunmehr nicht Gefahr, einfach die metrischen Zeiten der geschriebenen Takte dem rhythmischen Eindruck f\u00e4lschlich zu sub-stituiren. Das gleiche gilt von den Betonungsverh\u00e4ltnissen. Da es\nWundt, Philos. Studien. X.\t21","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nErnst Meumann.\nnun aber durch die fr\u00fcheren Er\u00f6rterungen schon unzweifelhaft geworden ist, dass der rhythmische Eindruck des H\u00f6renden Vieles enthalten wird, was aus den objectiven Ursachen desselben nicht zu ersehen ist, wie die ganze Summe der Betonungszuthaten, die durch die T\u00e4uschungen des Zeitbewusstseins bedingten Ver\u00e4nderungen der objectiv constatirten Zeitverh\u00e4ltnisse, so bedarf die Untersuchung des Spielenden der Paralleluntersuchung des H\u00f6renden, kann aber dann zur Erledigung der principiellen Frage dienen, wie weit zwischen dem Eindruck des H\u00f6renden und dem Bilde, das wir uns von demselben aus der Kenntniss der Ursachen machen m\u00fcssen, eine Incongruenz besteht. Welche Bedeutung die Messung der Spielzeiten des aus\u00fcbenden Musikers daher weiter f\u00fcr die kritische Pr\u00fcfung der metrischen Verh\u00e4ltnisse der Musik gewinnt, kann erst hei der speciellen Betrachtung dieser letzteren er\u00f6rtert werden. Endlich hat aber die Untersuchung des Spielenden ein selbst\u00e4ndiges Interesse, weil wir in ihr ein besonderes Gebiet der Rhyth-musbildung der experimentellen Behandlung unterziehen, n\u00e4mlich die motorisch-rhythmischen Verh\u00e4ltnisse.\nEin ungef\u00e4hres Bild von der Leistung des aus\u00fcbenden Musikers, wenn er ohne k\u00fcnstliche H\u00fclfsmittel arbeitet, geben die folgenden einfachen Versuche.\nIch forderte mehrere, im Clavierspiel ge\u00fcbte Musiker auf, an dem neuen Wundt\u2019schen Zeitsinnapparat (vergl. Wundt, Phys. Psych. 4. Aufl. S. 424 ff. und Philos. Stud. IX. S. 270 ff.) zu einem von zwei Hammerschl\u00e4gen begrenzten, in Pausen von 2 Secunden wiederholten Intervall von 0,3, 0,4 und 0,5 Secunden Dauer, also innerhalb der Grenzen der genauesten Zeitsch\u00e4tzung, seihst ein zweites Intervall durch Verschieben der Contacte herzustellen, das einmal >/2, dann i/3, endlich i/i des unmittelbar voraufgehenden Normalintervalles betragen sollte. Der Versuch, diese Bruchtheile herzustellen, misslingt vollkommen. Die H\u00e4lfte des Normalintervalls einzustellen ist schon schwierig und leidet unter den aus den Zeitsinnversuchen bekannten Fehlern. Das Drittel und Viertel werden gew\u00f6hnlich zu klein, manchmal aber auch zu gro\u00df gemacht, das Viertel nicht selten gr\u00f6\u00dfer als das Drittel. Dabei hat der Beobachter das \u00bbGef\u00fchl\u00ab absoluter Unsicherheit, er ist sich nur bewusst, \u00fcberhaupt einen recht gro\u00dfen Unterschied einzustellen,","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n315\nvon einem Projiciren bestimmter Theile der \u00bbZeitstrecken\u00ab auf einander kann keine Rede sein, das absolut Unanscbauliche der Zeitgr\u00f6\u00dfen kann kaum besser deutlich gemacht werden, wie in diesem Versuch1). Aehnliche Versuche habe ich mit der Wiedergabe von Zeitunterschieden durch Taktiren gemacht. Sie zeigen keine gr\u00f6\u00dfere Genauigkeit, wenn man dabei die Versuchsperson zwingt, die k\u00fcnstlichen H\u00fclfen, wie z\u00e4hlen, rhythmisiren der Schl\u00e4ge u. s. w., nicht zu gebrauchen. Es ist bemerkenswerth, dass der Zwang, die Bewegungen rhythmisch zu gestalten, dabei fast unwiderstehlich ist. Gestattet man die Rhythmisirung der Bewegungen, so werden die Ergebnisse besser, bleiben aber auch jetzt noch von betr\u00e4chtlicher Ungenauigkeit (absolute Zahlenangaben kann ich erst in einer experimentellen Fortsetzung dieser Abhandlung machen).\nEin zweiter Versuch, der mehr f\u00fcr die Einhaltung des Tempos lehrreich sein kann, ist der folgende. Ich lie\u00df einen guten (Klavierspieler auf dem Telegraphentaster (dessen Doppelschlag nat\u00fcrlich\nvorher in einen einmaligen Schlag beim Niedergang ver\u00e4ndert\n' ' '\nwerden muss) irgend einen Rhythmus klopfen, z. B. 1 2 3 4 5 6... oder 1 2 3 4 5 6..., w\u00e4hrend der Schallhammer mit seinen Schl\u00e4gen die Norm angab. Der Beobachter klopfte etwa 30\u201440mal den vom Schallhammer angegebenen Rhythmus mit. Die Intervalle zwischen den einzelnen Schl\u00e4gen betrugen je 0,4 und 0,3 Secunden. Nachdem mittelst der 30\u201440maligen Wiederholung der Rhythmus gut einge\u00fcbt war, \u00f6ffnete ich pl\u00f6tzlich im Apparatzimmer den Contact-schl\u00fcssel (worauf der Beobachter nat\u00fcrlich vorbereitet sein musste) und lie\u00df den Takt ohne die Hammerschl\u00e4ge weiter klopfen. Sobald der Hammer schweigt, \u00e4ndert sich der Rhythmus der Schl\u00e4ge der Versuchsperson. Da man an dem Klimpern der Contacte auf dem Zeitsinnapparat den urspr\u00fcnglichen Rhythmus des Hammers weiter h\u00f6rt, so l\u00e4sst sich der Verlauf der Aenderung mit dem Ohre verfolgen. Genauere absolute Zeitangaben bringe ich sp\u00e4ter, hier\n1) Ich bemerke ausdr\u00fccklich, dass hei dem Schieben der Contacte jeder Einfluss der Handgeschicklichkeit der Versuchsperson ausgeschlossen ist, da die Contacte mit gr\u00f6\u00dfter Sicherheit in der Schiene laufen, und die Versuchsperson durch best\u00e4ndiges minimales Hin- und Herschieben die kleinsten Zeitnuancen herstellen kann.\n21*","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nErnst Meumann.\ngen\u00fcge die Mittheilung, dass das Tempo sich zun\u00e4chst verlangsamt, dann auch die relativen Zeitunterschiede sich \u00e4ndern, allm\u00e4hlich \u00fcbt sich die Versuchsperson gewisserma\u00dfen einen neuen Rhythmus ein, der dann ziemlich genau festgehalten wird.\nEs ist nun schon aus diesen wenigen Versuchen ersichtlich, dass dem aus\u00fcbenden Musiker H\u00fclfsmittel zur Verf\u00fcgung stehen m\u00fcssen, wenn er leisten soll, was die Taktvorschriften verlangen, und eines dieser H\u00fclfsmittel wird die Rhythmisirung der Bewegungen sein. Dazu kommt aber weiter, dass alle gleichm\u00e4\u00dfigen Bewegungen die Tendenz haben, automatisch zu werden, und dieser Automatismus unterst\u00fctzt dann das Einhalten der \u00bbTaktgleichheit\u00ab. Es findet eine centrale Adaptation an die Bewegungsfolge statt, und diese bezieht sich nat\u00fcrlich auf den ganzen Vorgang, auf die Zeit wie auf die Verh\u00e4ltnisse der Innervationsst\u00e4rke. Nun wird wahrscheinlich die rhythmische Bewegung ganz besonders leicht und schnell automatisch, so dass in der raschen Einleitung des motorischen Automatismus die unterst\u00fctzende Leistung des Rhythmus zu suchen w\u00e4re. Es ist dabei sehr wohl denkbar, dass der Automatismus in einer Hand, z. B. beim Clavierspieler, f\u00fcr die andere eintreten kann, und damit kommen wir auf ein weiteres H\u00fclfsmittel des Musikers, das Zusammenwirken der beiden H\u00e4nde. W\u00e4hrend z. B. die rechte Hand complicirtere rhythmische Figuren spielt, schreitet die linke, durch den Automatismus gest\u00fctzt, in dem urspr\u00fcnglichen Rhythmus weiter und markirt so f\u00fcr die rechte Anfang und Ende des Taktes. Dasselbe leistet das sogenannte \u00bbZ\u00e4hlen\u00ab. Der Z\u00e4hlende f\u00fchrt einfach neben der Bewegung beider H\u00e4nde einen dritten motorischen Vorgang ein und sch\u00fctzt sich, indem dieser rasch automatisch wird, vor dem aufl\u00f6senden Einfluss der rhythmischen Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten. Dasselbe leistet ferner das Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente, der Anblick der Bewegungen des Dirigenten u. s. w. Es kann endlich der rein sensorische Automatismus f\u00fcr den motorischen eintreten, indem vielleicht die Reproduction der Erinnerungsbilder der T\u00f6ne die Tonzeiten einzuhalten im Stande ist.\nDie Wirkung dieses Automatismus ist aber dann vor allem darin zu sehen, dass durch das mechanische Einhalten der rhythmischen Zeiten (und theilweise auch Betonungen) die Aufmerksamkeit","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"317\nUntersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\nentlastet wird, sie kann sich nun auf die Wirkung der T\u00f6ne concentriren, und vielleicht wird eben darin eine der Leistungen des motorischen Rhythmus zu suchen sein, dass derselbe es dem Spielenden erm\u00f6glicht, bei v\u00f6lliger Hingabe an das musikalische Element, das rhythmische nicht zu verlieren.\nDer Mechanismus der motorischen Zeitsch\u00e4tzung, wenn ich so sagen darf, scheint danach ein interessantes Untersuchungsgebiet zu sein. Es sei nur noch auf eine Beobachtung hingewiesen, auf die mich Herr Professor Sie vers hierselbst aufmerksam machte. Fordert man einen Beobachter auf, einen m\u00f6glichst wohlgef\u00e4lligen zweigliedrigen, dreigliedrigen und viergliedrigen Takt zu klopfen, so wird die Geschwindigkeit der Schl\u00e4ge von jedem unbefangenen Beobachter mit der zunehmenden Zahl der Schl\u00e4ge beschleunigt, so dass die Gesammtzeiten ungef\u00e4hr dieselben bleiben, oder doch ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig langsam wachsen. Das erinnert nun sofort daran, dass die Musik Zahl und Dauer der T\u00f6ne innerhalb eines Satzes auf die gleiche absolute L\u00e4nge der Takteinheit bezieht, und vielleicht kann die Beobachtung von Sievers dazu beitragen, diese f\u00fcr die reine Zeitsch\u00e4tzung ganz unm\u00f6gliche Leistung einmal n\u00e4her aufzukl\u00e4ren 1).\n\u00a7 5.\nDie experimentelle Untersuchung des Spielenden hatte endlich zu einem dritten Hauptgesichtspunkt unserer Betrachtung einige Beziehung: zu der metrischen Behandlung der rhythmischen Thatsachen der Musik.\nEs wird sich fragen, was sind die specifisch metrischen Bestimmungen in der Musik und wie weit ber\u00fchren sie das Interesse des Psychologen? Man kann das Entstehen einer metrischen Betrachtungsweise rhythmischer Thatsachen von mannigfachen Gesichtspunkten aus verst\u00e4ndlich machen, weil die metrischen Vorschriften verschiedenartigen Zwecken dienen und aus verschiedenen Bed\u00fcrfnissen hervorgegangen sind. Die rhythmische Betrachtung\nlj'Sehr wichtig ist die Beobachtung von Bolton, dass die L\u00e4nge des wohlgef\u00e4lligsten Rhythmus hei verschiedener Gliedzahl immer etwa 1 Secunde ist. Amer. Journ. of Psychol. Bd. VI. S. 214.","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nErnst Meumann,\n\u00ab\nist f\u00fcr mich immer die psychologisch-\u00e4sthetische Analyse der Vorg\u00e4nge im h\u00f6renden Subject. Die metrische Betrachtung hat mit diesen Vorg\u00e4ngen unmittelbar gar nichts zu thun, noch weniger mit ihrer allgemeinen psychologischen Beschaffenheit. Sie setzt eine gewisse Kenntniss derselben voraus, gibt aber unmittelbar keine Bestimmungen \u00fcber sie, sondern sie macht erstens Vorschriften \u00fcber die Mittel, die objectiven Leistungen, die der Spielende erf\u00fcllen muss, um irgend einen rhythmischen Eindruck im H\u00f6renden hervorzubringen. Das ist der Sinn metrischer Bestimmungen vom Standpunkt des Spielenden aus. Sie existiren f\u00fcr diesen nur als eine Summe von Symbolen, ein Zeichensystem, durch welches der Spielende die Mittel (aber durchaus nicht alle!) zur Verwirklichung eines bestimmten rhythmischen Eindrucks erf\u00e4hrt.\nZweitens haben sie ihre Bedeutung vom Standpunkte des Com-ponisten aus. F\u00fcr den Componisten sind die metrischen Bestimmungen ein System von technischen Regeln, durch deren Befolgung er sich \u00fcber das instinctive Schaffen rhythmischer Effecte zum bewussten k\u00fcnstlerischen Aufbau seiner rhythmischen Motive erheben kann1), und sie werden anschaulich gemacht durch ein System von Symbolen, durch die er seine Absichten, d. h. den von ihm beabsichtigten Rhythmus dem Spielenden verst\u00e4ndlich macht. In diesem Sinne sind z. B. auch die Riemann\u2019schen \u00bbPhrasirungs-bezeichnungen\u00ab in seinen \u00bbPhrasirungsausgaben\u00ab metrische Bestimmungen.\nDie metrischen Bestimmungen dienen aber drittens einem musiktheoretischen Interesse. Indem die metrischen Bestimmungen uns zum Bewusstsein bringen, was in dem rhythmischen Eindruck steckt, erlangen sie eine selbst\u00e4ndige Bedeutung. Sie werden ein System von Einheiten und von Regeln der Combination solcher Einheiten zu gr\u00f6\u00dferen Ganzen, und damit das Mittel zur Entwickelung neuer rhythmischer Formen, zur k\u00fcnstlichen Weiterbildung der Formen des rhythmischen Eindrucks.\nDarin liegt aber*auch ihre Gefahr. Indem sie, wie alle Schemata und Symbole, unvollst\u00e4ndig und vieldeutig sind, bringen sie\n1) Sie bilden als solche einen (leider etwas vernachl\u00e4ssigten) Theil der Compositionslehre.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"319\nUntersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\ndie Gefahr mit sich, dass der Spielende, indem er sich sclavisch an sie h\u00e4lt, die rhythmische Interpretation des musikalischen Motivs unterl\u00e4sst, und wenn etwa gewisse Elemente oder Charaktere des rhythmischen Eindrucks \u00fcberhaupt nicht angedeutet werden, so kann der Spielende sie g\u00e4nzlich verfehlen (vergl. dazu die Kritik, die Sievers in seiner Phonetik \u00fcber Vollst\u00e4ndigkeit der Rhythmusbezeichnung in der Musik gegeben hat1), und die unten folgenden Beispiele zur Untersuchung des Takte herstellenden Subjectes).\nDie me tri sehen Einheiten nun nenne ich \u00bbTakte\u00ab, der Begriff des \u00bbTaktes\u00ab entsteht unter dem metrischen Gesichtspunkt und damit ist sein Unterschied von dem des Rhythmus eindeutig und auf einfache Weise bestimmt, indem ich von \u00bbRhythmus\u00ab nur vom Standpunkt des H\u00f6renden rede2). Es fragt sich nun, wie weit fallen die metrischen Bestimmungen in den Kreis der psychologischen Betrachtung?\nSoweit sie ein System technischer Regeln darstellen, die in einem besonderen Gebiete der Kunst, zum planm\u00e4\u00dfigen Aufbau der Kunstwerke desselben dienen, kommen sie nicht f\u00fcr den Psychologen in Betracht. Sie setzen aber, wie alle technisch-k\u00fcnstlerischen Vorschriften, eine wenigstens partielle Analyse des spe-ciellen Thatbestandes ihres Kunstgebietes voraus, also hier des rhythmischen Eindrucks im H\u00f6renden ; die Taktregeln enthalten eine Anzahl Angaben \u00fcber die im Rhythmus wirksamen Elemente, und \u00fcber die Art ihrer Verwendung. Hieraus darf nun nat\u00fcrlich nicht gefolgert werden, dass deshalb die kritische Pr\u00fcfung der Taktregeln, etwa auf die Vollst\u00e4ndigkeit dieser Analyse hin, zur Aufgabe des Psychologen geh\u00f6re. Vielmehr hat dieser die metrischen Bestimmungen der Musik nur insofern heranzuziehen, als sie unzweifelhaft eine Anzahl Bestandtheile, Elemente des rhythmischen Eindrucks angeben und eine Summe von allgemeinen Regeln \u00fcber deren Combination und Verwendung \u00fcber den Aufbau der rythmischen Formen in ihnen enthalten ist, in denen vielleicht die Wirksamkeit bestimmter psychischer Factoren*zum Ausdruck kommt\n1)\tSievers, Phonetik. 4. Aufl. S. 218f.\n2)\tVergl. unten \u00a7 3 die analoge Ausf\u00fchrung \u00fcber den metrischen Gesichtspunkt in der Poesie.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nErnst Menmann.\n(vergl. z. B. die oben angef\u00fchrten Regeln Eiemann\u2019s \u00fcber die Verwendung der Pausen).\nEs w\u00e4re freilich eine Pedanterie, wollte man dem Psychologen verbieten, wenn er nun die von der Taktschreibung der Musik vorausgesetzte rhythmische Analyse unvollst\u00e4ndig findet, daraus die Consequenzen f\u00fcr die richtige Taktschreibung zu ziehen, obwohl damit unzweifelhaft nicht mehr der psychologischen Forschung, sondern dem Interesse des Musikers gedient ist. Solche M\u00e4ngel des musikalischen Zeichensystems, solche falsche Voraussetzungen \u00fcber die Leistungen des Spielenden und die Elemente des rhythmischen Eindrucks finden sich nun in der That. Das betrifft z. B. die Igno-rirung eines der wesentlichsten rhythmischen Elemente, der durch das musikalische Motiv, das Thema, die Entwickelung desselben u. s. w. bedingten Gruppirung der T\u00f6ne zu solchen rhythmischen Gruppen, in denen gewisserma\u00dfen der Zusammenhang der musikalischen Gedanken zum Ausdruck kommt, und die Markirung dieser Gruppen durch Zeiteinschnitte, wie sie in der Phrasirung bei verst\u00e4ndnisvollem Spiel h\u00f6rbar sein muss. Dass die Phrasirung ein wesentliches rhythmisches Element ist, dass sie aus dem Tonst\u00fcck oft nur unsicher zu erkennen ist, dass wir nicht wissen, wie die \u00e4lteren Klassiker der Musik sie gedacht haben, hat Westphal zur Gen\u00fcge klar gemacht, \u00dfiemann hat diesen Mangel erkannt und in seinen \u00bbPhrasirungsausgaben\u00ab zu beseitigen gesucht. Dazu kommen nun ferner die \u00f6fter hervorgehobenen Beziehungen zwischen Betonungs- und Zeitverh\u00e4ltnissenJ), mit ihnen rechnet das herk\u00f6mmliche Notensystem im Princip gar nicht (sondern h\u00f6chstens soweit im einzelnen Falle der K\u00fcnstler instinctiv auf sie verf\u00e4llt, zeigt die Notenschrift bisweilen diese Verh\u00e4ltnisse an), weil hier gewisse Beziehungen der rhythmischen Elemente zu einander der Beobachtung der Musiker entgangen sind, und \u00dfiemann hat in Erkenntniss dieses Mangels seinen \u00bbagogischen Accent\u00ab eingef\u00fchrt. Ferner hat Sievers (a. a. 0.) darauf aufmerksam gemacht, dass die metrischen Symbole der Musik die rhythmischen \u00bbCharaktere\u00ab nicht unterscheiden, und da meine bisherigen Messungen am Taktirenden zeigen, dass der Taktirende und vermuthlich genau so der Clavier-\n1) Vergl. S. 303, 305 u. 309 dieser Abhandlung.","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n321\nspieler sich anders verh\u00e4lt, die Zeiten anders gestaltet, die T\u00f6ne anders rhythmisch gruppirt, je nachdem er steigenden, fallenden, steigend fallenden oder fallend steigenden Rhythmus spielt, so hat jedenfalls Sievers mit seiner Voraussage recht, dass m\u00f6glicherweise die mangelhafte Bezeichnung dieser Verh\u00e4ltnisse auch eine mangelhafte Wiedergabe dieser \u00bbrhythmischen Charaktere\u00ab bedingen werde. Obgleich meine Versuche \u00fcber diesen Punkt noch nicht abgeschlossen sind, so mag doch erw\u00e4hnt werden, dass z. B. ein 1 * 3/4-Takt mit fallendem Rhythmus so taktirt wird, dass das erste Viertel beinahe doppelt so lang genommen wird, wie das zweite, w\u00e4hrend das dritte\nViertel wieder etwas verl\u00e4ngert wird. Der Anblick eines Taktes r\tr\n1 2 3 1 2 3 ... ist daher dieser in der graphischen Aufnahme auf der Kymographiontrommel :\nr\tr\nHingegen der eines Taktes 1 2 3 1 2 3..., bei dem m\u00f6glichst dieselben Zeiten eingehalten werden sollen wie im vorigen Beispiel, ist der folgende \u2019) :\nDa die Contactzeiten, wie man sieht, innerhalb gewisser Grenzen sich im Verh\u00e4ltniss der Betonungsst\u00e4rke verl\u00e4ngern und verk\u00fcrzen, so lassen sich aus diesen graphischen Aufnahmen der Bewegungen des Spielenden die Bewegungszeiten, die Tonzeiten, die Pausen und die dynamischen Verh\u00e4ltnisse bis zu einem gewissen Grade unmittelbar ablesen. Es zeigen die wenigen hier mitgetheilten Versuche schon, dass die Contr\u00f4le des Spielenden zugleich eine Kritik der metrischen Vorschriften der Musik erm\u00f6glicht. Freilich wird dabei zu ber\u00fccksichtigen sein, dass innerhalb gewisser Grenzen die fr\u00fcher erw\u00e4hnten H\u00fclfsmittel des Musikers, dann aber auch das nat\u00fcrliche Verst\u00e4ndniss des Motivs und die M\u00f6glichkeit des instinctiven Erfassens der rhythmischen Verh\u00e4ltnisse ihm \u00fcber Uncorrectheiten der bezeichneten Art hinweghelfen k\u00f6nnen. Ich habe deshalb schon\n1) Es ist nur das Verh\u00e4ltniss der Contactzeiten ziemlich correct wieder-\ngegeben; die Kymographiontrommel lief dabei mit einer Geschwindigkeit von\neiner halben Umdrehung in der Secunde. Die Curven sind nat\u00fcrlich von rechts nach links zu lesen,","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322 Ernst Meumann. Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus.\n\u00f6fter den Vorschlag gemacht, mittelst eines Contactclaviers diese graphischen Aufnahmen der Bewegungen des Spielenden weiterzuf\u00fchren und schrittweise die Takte complicirter zu gestalten, ferner zun\u00e4chst das Spielen mit einer Hand auf seine constanten und variabeln Abweichungen von der Taktvorschrift zu untersuchen, und dann durch das zweih\u00e4ndige Spiel zu controliren. Was aber den Psychologen an diesen Taktirversuchen unmittelbar interessirt, das ist die Summe beachtenswerther Gesetze der motorischen Innervation, der motorischen Zeitreproduction, der Beziehungen des Rhythmus zu derselben, insbesondere endlich eine F\u00fclle interessanter Einzelheiten \u00fcber die Bedingungen centraler Adaptation und des motorischen Automatismus, die in den Curven zum Ausdruck kommen.\nEs wird sich nun zeigen, dass im Gebiete des Versrhythmus die Untersuchung des Sprechenden die ganz analoge Bolle spielt, wie f\u00fcr die musikalische Rhythmik die Untersuchung des aus\u00fcbenden Musikers.\n(Fortsetzung folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":322}],"identifier":"lit4214","issued":"1894","language":"de","pages":"249-322","startpages":"249","title":"Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:19:21.498039+00:00"}