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{"created":"2022-01-31T12:27:26.082183+00:00","id":"lit4219","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wenzel, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 10: 431-484","fulltext":[{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\nVon\nAlfred Wenzel.\nI. lieber die Aufgaben und den Werth einer Methodologie der Socialwirthschaftslehre.\ndie gl\u00e4nzenden Arbeiten der gro\u00dfen klassischen\nTheoretiker der Volkswirtschaftslehre, eines A. Smith, Ricardo, Marx, Rodbertus u. A. ohne klarbewusste Einsicht in das Wesen der thats\u00e4chlich von ihnen angewandten Forschungsmethoden zu Stande gekommen sind, so w\u00fcrde es doch g\u00e4nzlich verfehlt sein, deshalb den Werth, den die Methodologie f\u00fcr die fruchtbare Weiterentwickelung einer Wissenschaft hat, gering sch\u00e4tzen zu wollen. In jeder Wissenschaft, mag sie mehr theoretischer oder mehr historischer, mehr abstracter oder mehr concreter Art sein, muss sich fr\u00fcher oder sp\u00e4ter das Bed\u00fcrfniss geltend machen, \u00fcber die Hilfsmittel, Wege und Ziele, die der Forschung ihr specifisches Gepr\u00e4ge geben, Klarheit zu gewinnen, sowie \u00fcber die Bedingungen und die Tragweite der bisher gewonnenen Erkenntnisse Rechenschaft abzulegen. Dieses Bed\u00fcrfniss ist speciell in der Volkswirthschaftslehre zu einer Zeit erwacht, wo das Bewusstsein von der Einseitigkeit oder gar v\u00f6lligen Unhaltbarkeit der axiomatischen Voraussetzungen, auf welche sich die abstracte Wirthschaftstheorie st\u00fctzt, immer f\u00fchlbarer wurde und die Forderung, mit dem Absolutismus jener Principien zu brechen, namentlich von Seiten der","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nAlfred Wenzel.\nhistorischen National\u00f6konomie immer gr\u00f6\u00dferen Nachdruck empfing1). Da mit dem Angriff auf die bisher am gesichertsten erschienenen Elemente jener Wissenschaft der ganze Aufbau der letzteren gef\u00e4hrdet schien, so war es sehr begreiflich, dass hei dem vergeblichen Bem\u00fchen nach Abh\u00fclfe das nimmer rastende Denken immer tiefer die Fehlerquellen zu verfolgen suchte und so von selbst zu erkenntnisstheoretischen Er\u00f6rterungen kam, welchen nunmehr die Gesichtspunkte, die der engumgrenzte Horizont der Fachwissenschaft darbot, unm\u00f6glich gen\u00fcgen konnten. Man wird sagen k\u00f6nnen, dass sich hier im Kleinen wiederholt hat, was in der Geschichte der Philosophie der Kan tische \u00bbKriticismus\u00ab im Gro\u00dfen zu leisten versucht hat. Wenn Kant durch Hume, diesen \u00bbKritiker des Causalit\u00e4tsbegriffs\u00ab, aus seinem \u00bbdogmatischen Schlummer\u00ab geweckt worden ist und hei dem umfassenden Werth und der fundamentalen Bedeutung, welche jener Begriff f\u00fcr die gesammte wissenschaftliche Erkenntniss hat, sich gen\u00f6thigt sah, die Bedingungen und Grenzen der letzteren einer eingehenden Untersuchung zu unterwerfen, um so auf dieser weiten erkenntnisstheoretischen Grundlage die Diagnose und die Therapie des gesammten in seinen Grundfesten ersch\u00fctterten Wissens zu unternehmen, so sehen wir hier auf volkswirtschaftlichem Gebiet aus \u00e4hnlichen Motiven die Forschung gleichfalls auf erkenntnisstheoretische Bahnen gelenkt, und kein Zweifel kann sein, dass in dieser erkenntnisstheoretischen Mission der methodologischen Forschung ihre wichtigste Aufgabe liegt.\nDie \u00bbhistorische Schule\u00ab hat das Verdienst, wie schon Dietzel hervorgehoben hat, zu der Besch\u00e4ftigung mit methodologischen Problemen die Anregung gegeben zu haben; ihre Pr\u00e4tention freilich, mittelst ihrer Kritik die Methode reformirt zu haben, muss bis jetzt wenigstens durchaus abgelehnt werden2).\n1)\tG. Schmoller, Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volks-wirthschaft. Jena 1875. Abschn. III. Wirthschaft, Sitte und Recht. S. 31. Anmerkung: \u00bbDie ganze Lehre vom Egoismus als Triebkraft der Volkswirthschaft ist nichts, als ein roher Versuch, sich mit der Begr\u00fcndung der National\u00f6konomie abzufinden\u00ab. Vergl. ferner auch die ebenso klaren wie treffenden Ausf\u00fchrungen in \u00bbVolkswirthschaft und Ethik\u00ab von Fr. Jo dl. \u00bbZeit- und Streitfragen\u00ab, herausgegeben von Holtzendorff, Jahrg. XIV, Heft 224.\n2)\tDietzel, Beitr\u00e4ge zur Methodik der Wirthschaftswissenschaft in den Jahrb\u00fcchern f\u00fcr National\u00f6konomie. Neue Folge. Bd. IX. S. 26 u. 27.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n433\nKeineswegs handelt es sich also bei diesen methodologischen Fragen \u2014 wie es von Historikern strenger Observanz wohl hingestellt wird \u2014 um die Befriedigung eines beil\u00e4ufigen, im Grunde sehr m\u00fc\u00dfigen rein theoretischen Interesses, etwa so, dass die Wirth-schaftslehre in ihren Mu\u00dfestunden die Lust an wandelte, sich den Spiegel vorzuhalten, um sich das R\u00e4derwerk ihrer Gedankenm\u00fchle einmal bei Licht anzusehen, sondern in Wahrheit handelt es sich darum, die methodischen Grundlagen vor allem der abstracten Wirthschaftstheorie einer gr\u00fcndlichen erkenntnisstheoretischen Revision zu unterziehen, da durch die Polemik von Seiten des \u00bbHistorismus\u00ab das Daseinsrecht dieser Theorie in Frage gestellt ist.\nSo erw\u00e4chst der Methodologie die Aufgabe, den negativenJgr-gebnissen jener Polemik die noth wendige positive Erg\u00e4nzung zu geben.\nWenn in der Aufgabe der historischen National\u00f6konomie mehr gesehen werden soll, als eine blo\u00dfe Beschreibung und Classificirung vergangener oder gegenw\u00e4rtiger gesellschaftlicher Zust\u00e4nde, wenn vielmehr auch hier, um mit Savigny zu reden, das h\u00f6chste Gewicht darauf liegt, dass der lebendige Zusammenhang erkannt werde, welcher die Gegenwart an die Vergangenheit kn\u00fcpft, so wird die historische National\u00f6konomie nicht umhin k\u00f6nnen, f\u00fcr die Causal-erkl\u00e4rung ihrer concreten Erscheinungen die auf deductivem Wege gefundenen Resultate der Theorie zu verwerthen. Gerade in der unmittelbaren Anwendung dieser Resultate auf die Erfahrung werden ihre wissenschaftliche Bedeutung, sowie die Bedingungen ihrer G\u00fcltigkeit erst in das richtige Licht gesetzt, erst hier hat sich zu zeigen, ob und wie weit jene Abstraktionen der Theorie Erfahrungswerth haben. Wo dieser ErfahrungsWbrth sich nicht als zureichend erweist, gibt die historische Forschung zugleich weitere Gesichtspunkte her, um die Einseitigkeiten der Theorie zu verificiren, woraus dann f\u00fcr die letztere die neue Aufgabe erw\u00e4chst, diese \u00fcberkommenen unmittelbar der Praxis entlehnten Gesichtspunkte einer systematischen Verarbeitung zu unterwerfen, so dass die lebendige F\u00fchlung zwischen Theorie und Wirklichkeit stets erhalten bleibt und das schematische Bild, welches die Theorie zu entwerfen hat, des erg\u00e4nzenden und berichtigenden Einflusses der Erfahrung niemals entbehrt. \u00bbSo sehr die Socialwissenschaft\u00ab, sagt Wundt, \u00bbf\u00fcr","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nAlfred Wenzel.\ndas V erst\u00e4ndniss gegebener Zust\u00e4nde die Kenntniss von deren historischem Werden verlangt, eben so gewiss kann sie sein, dass die Resultate ihrer Untersuchung wiederum die wichtigsten Quellen historischer Forschung sind\u00ab1).\nMan sieht also: das Anrecht der historischen Volkswirthschafts-lehre, an dem abstracten Schematismus der Theorie Kritik zu \u00fcben, kann von Niemand bestritten werden. So lange diese Kritik sich blo\u00df auf einzelne Theoreme bezieht, bewegt sie sich, wie aus der obigen Darlegung von selbst hervorgeht, in denselben normalen Verh\u00e4ltnissen, in welchen beispielsweise die Physik zur allgemeinen Mechanik steht2). Der Streit beider Richtungen mit einander ist gewisserma\u00dfen nichts anderes, als ein in der Verschiedenheit ihres Wesens begr\u00fcndeter nat\u00fcrlicher und constanter Antagonismus, der f\u00fcr das Gedeihen beider ebenso f\u00f6rderlich ist, wie etwa die Wechselwirkung der Kr\u00e4fte im lebenden menschlichen Organismus. Anders aber liegt die Sache, wenn die Angriffe auf die fundamentalen Voraussetzungen der Theorie selbst gerichtet sind, wenn die \u00bbhistorische Wirthschaftslehre\u00ab erkl\u00e4rt, mit den Ergebnissen der \u00bbTheorie\u00ab nichts mehr anfangen zu k\u00f6nnen, \u00bbnicht blo\u00df weil sie weit hinter der Erfahrung Zur\u00fcckbleiben, sondern weil sie in directem Gegensatz zu letzterer stehen\u00ab3), so dass jede Ann\u00e4herung derselben an die Erfahrung \u2014 worauf es in der That als letztes Ziel ankommt \u2014 nach der Meinung der Historiker principiell ausgeschlossen bleibt. .So ist es kein Wunder, wenn die historische Wirthschaftswissen-schaft \u2014 falls die \u00bbTheorie\u00ab nicht ihre Fundamente aufgeben will, was doch wohl nichts anderes hei\u00dft, als sich selbst aufgeben \u2014 sich berechtigt glaubt, die Theorie aufzugeben, und so den Versuch wagt, ihre eigenen Bahnen zh wandeln. Da die Lage der Dinge heute diese Spitze angenommen hat, da die \u00bbhistorische Schule\u00ab mit ihrer so pr\u00e4tenti\u00f6s auftretenden Kritik eine Lebensfrage f\u00fcr die Theorie daraus macht, so leuchtet ein, wie dringend noth wendig eine grkenntnisstheoretische Methodologie ist, welche die Funda-\n1)\tWundt, Logik. 1. Aufl. II. S. 567.\n2)\tWundt hat nachgewiesen, wie der Vergleich der abstracten Wirthschaftslehre mit der Mechanik \u00fcberall zu Ungunsten der ersteren ausf\u00e4llt, wovon hier jedoch abgesehen wird. Vergl. Wundt a. a. O. S. 590.\n3)\tVergl. Wundt, a. a. O.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirtlischaf'tslehre.\n435\nmente und den Inhalt der Wirthschaftstheorie einer eingehenden Untersuchung unterzieht.\nDer feindliche Gegensatz zwischen der \u00bbabstracten Theorie\u00ab und der \u00bbhistorischen Volkswirtschaftslehre\u00ab findet aber namentlich dadurch noch eine Versch\u00e4rfung, dass nicht blo\u00df Fragen des Seins, sondern auch Fragen des Sollens, also ethische Forderungen mit hineinspielen, und gerade diese letzteren sind es, die der Historismus auf seine Fahne geschrieben hat. Dass diese Forderungen zugleich ihre logische Spitze haben, wird Niemand leugnen k\u00f6nnen, und die historische Schule ist sich stets auch dessen sehr wohl bewusst gewesen.' \u00bbDas Sittliche\u00ab, sagt Riehl, \u00bbhat eine gemeinschaftliche Quelle mit dem Logischen: das sociale Bewusstsein. Daher ist alles Sittliche, insbesondere aber das Rechtliche nach einer Seite betrachtet, logisch\u00ab1). Und wenn derselbe Philosoph an einer anderen Stelle sagt, dass \u00bbman aus ethischen Gr\u00fcnden nicht glauben kann, was man aus wissenschaftlichen f\u00fcr falsch erkannt hat\u00ab, so wird das Umgekehrte sicherlich als nicht minder wahr gelten d\u00fcrfen. Kurz, mit der sittlichen Qualification ist \u00fcber Sein oder Nichtsein einer Wissenschaft stets das letzte Wort gesprochen. Und mit Recht macht Wundt darauf aufmerksam, dass es keineswegs zuf\u00e4llig ist, wenn die historische Wirthschaftslehre auf den ethischen Gesichtspunkt einen so hohen Werth legt, denn der Gegenstand ihrer Forschung selber bringt es mit sich, gerade dieses Moment in die sch\u00e4rfste Beleuchtung zu r\u00fccken. Handelt es sich bei diesem Gegenstand um den Zusammenhang der Wirtschafte^ erscheinungen mit der Gesammtheit der geschichtlichen Thatsachen des Cultuj^ebens \u00fcberhaupt, so ist von vornherein im Hinblick auf dieses Ganze die Stellung des Einzelnen klar bestimmt : der Einzelne sinkt in diesem gro\u00dfen Causalzusammenhange der Erscheinungen nothwendig zum Mittel herab, das den Zwecken der Gesammtheit ewig untergeordnet bleibt, er tritt ganz und gar in den Dienst dieser Gesammtheit, und sein Thun und Lassen wird insoweit bedeutungs- und inhaltslos, als die Wirkungen desselben \u00fcber die enge Sph\u00e4re des Einzellebens nicht hinausgreifen. Das Individuum aber von diesem Gesichtspunkte auffassen, hei\u00dft eben nichts\n1) Kiehl, Philosophischer Kriticistnus. Bd. IL Theil II. S. 75 Anm.","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nAlfred VVeniel.\nanderes, als es unter ethische Kriterien stellen, und ganz allgemein wird man sagen d\u00fcrfen, dass \u00fcberall da, wo es sich um Relationen handelt zwischen dem Einzelnen und der Gesammtheit, der ethische Standpunkt von selbst gegeben ist. Anders, wenn nicht entgegen-r gesetzt sind die Gesichtspunkte, mit denen die abstracte Theorie an die Wirthschaftserscheinungen herantritt. War dort der universalistische Standpunkt den Aufgaben und Zielen der wissenschaftlichen Forschung allein entsprechend, so ist es hier der individualistische, der allein zum Ziele zu f\u00fchren scheint. Die Intelligenz in den Dienst des Egojgmus gestellt und zugleich das Mittel, um diesen wirksam zu machen; der freie schrankenlose Wettkampf der pers\u00f6nlichen Interessen, sind Forderungen, die, mit den Augen des Historikers gesehen, den ethischen Standpunkt im Princip zu verneinen scheinen. Es kann nun hier nicht der Ort sein zu untersuchen, ob und wie weit jener Vorwurf der historischen Schule sachlich gerechtfertigt ist oder nicht, das formale Recht jedenfalls auf Grund solchen Vorwurfs die fundamentalen Voraussetzungen der Theorie, gegen welche er sich richtet, zu bem\u00e4ngeln, kann dem Historismus nicht abgesprochen werden. Aber auch hier wieder wird in erster Linie die Methodologie unparteiische Richterin sein k\u00f6nnen. Wo sie logische Werthe findet, wird sie zugleich nachzuweisen haben, dass sie sittliche Werthe, wenn nicht gefunden, so doch sicherlich nicht aufgehoben hat; denn wie gesagt: wie zwischen Denken und Sein, so kann auch zwischen Denken und Sollen ein Widerspruch niemals aufrecht erhalten werden1). \u00bbKein m\u00fcheloses Geschenk einer sich von selbst entwickelnden Natur\u00ab, sagt Sigwart2), \u00bbnoch ein zuf\u00e4lliger Neben-Erwerb bei der durch die Noth uns abgerungenen Befriedigung unserer Bed\u00fcrfnisse ist jene allumfassende Erkenntniss des Gegebenen, welche wir suchen; sie ist ein frei gewollter Zweck, den wir unserer bewussten und planm\u00e4\u00dfigen Th\u00e4tigkeit setzen, und das Recht, diesen Zweck f\u00fcr\n1)\tMenger, Untersuchungen etc., Anhang IX, S. 290, scheint anderer Ansicht zu sein. Er sagt dort: \u00bbdie sog. ethische Richtung der politischen Oekonomie ist . .. sowohl in R\u00fccksicht auf die theoretischen als auch auf die praktischen Aufgaben der letzteren ein dunkles, jedes tieferen Sinnes entbehrendes Postulat, eine Verirrung der Forschung\u00ab u. s. w.\n2)\tSigwart, Logik. II. S. 19. \u00a761.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n437\nuns aufzustellen und zu verfolgen, flie\u00dft zuletzt aus der G\u00fcltigkeit des sittlichen Ideals, als dessen Theil die umfassende Erkenntnis gedacht wird, und das Denkenwollen, das die Logik voraussetzt, muss in seiner concreten Gestalt, in der Richtung auf einen bestimmten f\u00fcr alle g\u00fcltigen Zweck, als enthalten in der allgemeinen Bestimmung des Menschen, als nothwendiges Ziel seiner gemeinschaftlichen Th\u00e4tigkeit vorausgesetzt werden\u00ab.\nErgibt die n\u00e4here Pr\u00fcfung die Nothwendigkeit, trotz der Vernichtungskritik des \u00bbHistorismus\u00ab die Fundamente der \u00bbabstracten Wirthschaftstheori\u00e9\u00ab aufrecht zu erhalten, so werden die Gr\u00fcnde dargelegt werden m\u00fcssen, welche das Festhalten an den alten aromatischen Voraussetzungei^ der Theorie logisch rechtfertigen. Und die andere nicht minder wichtige Forderung gesellt sich hinzu: diesen Gr\u00fcnden wird man zugleich die Gesichtspunkte zu entnehmen haben, nach welchen die reale Bedeutung, d. h. der Er-kenntnisswerth der auf Grund jener Voraussetzungen gewonnenen Resultate zu beurtheilen ist, um so zu verh\u00fcten, dass der Tragweite ihrer Erkenntnisse widerrechtlich eine Bedeutung zugemessen werde, welche sie der Natur ihres Inhaltes und ihrer Aufgaben nach nie und nimmer beanspruchen k\u00f6nnen. Dass hier zugleich auch die Interessen der concreten Volkswirtschaftslehre in Frage kommen, leuchtet ein. Denn wenn es zu einem Theil der Aufgaben der letzteren geh\u00f6rt, die Resultate der \u00bbTheorie\u00ab f\u00fcr die Causalerkl\u00e4rung der concreten Wirthschaftserscheinungen zu benutzen, so muss sie wissen, welchen logischen Charakter und welchen logischen Werth diese Resultate haben, um nicht, was hier besonders nahe liegt und was auch die \u00bbTheorie\u00ab keineswegs immer vermieden hat, Theorie und Praxis, Volkswirthschaftsgeschichte und Volkswirthschaftspolitik, logische Abstraction und concr\u00e8te Wirklichkeit heillos durch einander zu mengen und so in einen v\u00f6llig naiven Begriffsrealismus zu verfallen, der, wie die Geschichte lehrt, \u00fcberall, wo er um sich greift, die Wissenschaft unaufhaltsam unterminirt und einer alles zerfressenden Skepsis rettungslos in die Arme treibt.\nMan hat nun in der, ich m\u00f6chte sagen, instinctiven Abneigung der \u00bbhistorischen Schule\u00ab gegen die abstracten Wer the der Theorie wohl auch heute noch eine Nachwirkung der Reaction gesehen, die, hervorgerufen durch den gro\u00dfartigen Aufschwung der","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nAlfred Wenzel.\nNaturwissenschaften und der Technik, bald nach Hegel\u2019s Tode auf allen Gebieten des geistigen Lebens gegen den \u00bbspeculativen Idealismus\u00ab der deutschen Philosophie deutlich hervortrat1). So zweifellos hier ganz andere Impulse weit mehr in Rechnung kommen und so sicher jene Abneigung eine sehr schlechte Erkl\u00e4rung findet, wenn man sie allein auf blo\u00dfe Instincte zur\u00fcckf\u00fchrt, so d\u00fcrfte immerhin jenes psychologische Motiv als beil\u00e4ufiges Moment auch hier in Betracht kommen. Wie uns heute sehr begreiflich erscheint, hatte jene Reaction in der Wissenschaft nicht weniger wie in Kunst und Dichtung \u00fcberall eine Wendung zum Naturalismus und Materialismus gezeitigt2 3); sie hat auf die Philosophie selbst, gegen welche sie urspr\u00fcnglich gerichtet war, eine Zeit lang v\u00f6llig paralysirend gewirkt, sie hat ihre Wellen auch in den Bereich der Wirtschaftswissenschaft geworfen, die, wie man nicht leugnen wird, in die Gefahr kam, ihr Gebiet v\u00f6llig der descriptiven Geschichtschreibung zu \u00fcberlassen und so alle Selbst\u00e4ndigkeit einzub\u00fc\u00dfen. Sicherlich blieb diese Reaction segensreich, so lange sie sich allein gegen den \u00bbApriorismus\u00ab und die \u00bbConstructionenphanta-stik\u00ab 3) einer hochm\u00fcthigen, alle Erfahrung mit Verachtung strafenden Philosophie richtete, sie musste jedoch f\u00fcr den geistigen Fortschritt ein Hemmniss werden, sobald sie sich gewisserma\u00dfen zur Marotte verh\u00e4rtete und gegen den Wandel der Anschauungen in der Philosophie blind wurde.\nAber hat man denn wirklich heute immer noch n\u00f6thig, darauf hinzuweisen, wie weit die moderne auf der H\u00f6he der Zeit stehende Philosophie davon entfernt ist, den unermesslichen Werth der Erfahrung zu verkennen? Soll sie denn wirklich immer von neuem wiederholen und immer wieder beweisen, dass der Glaube an eine \u00bbgeneratio aequivoca\u00ab der Begriffe, dieses Grunddogma des l\u00e4ngst historisch gewordenen \u00bbspeculativen Idealismus\u00ab f\u00fcr immer in der Wissenschaft seine Rolle ausgespielt hat? Man sollte freilich\n1)\tVergl. die Einleitung des Buches von Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857.\n2)\tEs ist interessant, dass der am meisten von der Philosophie des speculativen Idealismus beeinflusste Mann, K. Marx, den krassesten \u00f6konomischen Materialismus vertheidigt.\n3)\tEin Ausdruck D\u00fchring\u2019s.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftsiehre.\n439\nerwarten, dass, nachdem die Voraussetzungen hinf\u00e4llig geworden, unter welchen der Hass gegen alles, was irgendwie nach Philosophie schmeckte, seinen guten Sinn hatte, der Credit der letzteren steigen m\u00fcsste. Dass die Philosophie, nachdem sie sich zur Pflicht gemacht hat, sich in der Schule der Einzelwissenschaften zu bilden, nunmehr auch das Recht erworben hat, voll und ganz als Wissenschaft zu gelten, um mit allem, was diesen Namen gleichfalls f\u00fchrt, in lebendigen Zusammenhang und in innigste Wechselwirkung zu treten, wird niemand leugnen k\u00f6nnen. Solche enge F\u00fchlung der Einzelwissenschaften mit der Philosophie wird aber mit der wachsenden Specialisirung der wissenschaftlichen Forschung und der darin liegenden Gefahr einer geistigen Zersplitterung immer nothwendiger und w\u00fcnschenswerther, und im allgemeinen appellirt jene Forderung doch nur an jenes Gesetz der Correlation, das \u00fcberall auf geistigem Gebiete uns entgegentritt und das bei der fortschreitenden Arbeits-theilung in der Wissenschaft an Bedeutung nichts einb\u00fc\u00dft.\nWie schon angedeutet, soll keineswegs gesagt sein, dass das oben dargelegte Motiv allein zu der heutigen Polemik gegen die abstracte Wirthschaftstheorie den Anlass gegeben hat. F\u00fcr die letztere erw\u00e4chst jedenfalls daraus eine Verpflichtung mehr, \u00fcber die Stellung, die sie der Erfahrung gegen\u00fcber einnimmt, unumwunden Auskunft zu geben, und allein die Methodologie kann im Stande sein, dieses zu leisten.\nIch geh\u00f6re, um es sogleich zu bekennen, nicht zu denen, die die Kritik der \u00bbhistorischen Schule\u00ab f\u00fcr so nichtig halten, dass sie ihr nicht eine gro\u00dfe, auch vor dem Forum der erkenntnisstheoreti-schen Methodologie fortbestehende Berechtigung zuerkennen. Sicherlich lehrt diese Kritik, dass die \u00bbTheorie\u00ab, um den ver\u00e4nderten Anspr\u00fcchen der Wirklichkeit zu gen\u00fcgen, einer Weiterentwickelung dringend bed\u00fcrftig ist. Das \u00bbWie\u00ab freilich d\u00fcrfte vielleicht weniger in der Hand der Wirthschaftstheoretiker selber liegen, als vielmehr abh\u00e4ngig sein von den noch zu erwartenden Fortschritten der Psychologie und Ethik. Man lese aber nur die den Standpunkt der abstracten Theorie vertheidigende Schrift Dietzel\u2019s, \u00bbBeitr\u00e4ge zur Methodologie der Wirthschaftswissenschaft\u00ab, um sofort zu sehen, welche zahlreichen, fast unglaublichen Irrth\u00fcmer, Missverst\u00e4ndnisse und Schiefheiten der Auffassung seitens jener Kritik der \u00bbhistorischen Schule\u00ab","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nAlfred Wenzel.\nzum Vorschein kommen, sobald auch nur ein Strahl einer erkenntniss-theoretischen Beleuchtung auf sie f\u00e4llt! Deutlicher vielleicht - als sonstwo tritt zugleich hei den methodologischen Er\u00f6rterungen der Historiker zu Tage, wie folgenschwer es ist, wenn die Einzelwissenschaft die Resultate der auf der H\u00f6he der Zeit stehenden Philosophie vornehm zu vernachl\u00e4ssigen sich unterf\u00e4ngt, und wie * un\u00f6konomisch\u00ab es ist, wenn die Fach\u00f6konomen, statt den vielfach epochemachenden Anschauungen eines Sigwart und Wundt sich anzuschlie\u00dfen, allein der Philosophie ihres gesunden Oekonomen-verstandes vertrauen! Nur so ist es erkl\u00e4rlich, dass die in den Lehrb\u00fcchern der National\u00f6konomie dargelegten methodologischen Anschauungen vielfach noch immer in den ausgetretenen und veralteten Irrwegen einer rein formalistischen Logik lustwandeln, und dass die ebenfalls in vieler Hinsicht l\u00e4ngst anachronistisch gewordenen Lehren eines Bacon und Mill ihnen als h\u00f6chste Autorit\u00e4ten vorschweben.\nWie die Grundgesetze und Normen des Denkens \u00fcberall, wo es sich um wissenschaftliches Erkennen handelt, selbstverst\u00e4ndlich ' die gleichen sind, so werden auch gewisse auf jenen Gesetzen und Normen basirende Grundformen der Methode in allen Wissenschaften wiederkehren m\u00fcssen, ln der That lassen sich zerlegende und zusammenfassende, inductive und deductive, ahstrahirende und de-terminirende Geistesth\u00e4tigkeiten als typische H\u00fclfsmittel exacter Untersuchungsmethoden \u00fcberall nachweisen. Das schlie\u00dft nat\u00fcrlich nicht aus, dass diese verschiedenen Operationen durch den besonderen Inhalt der Einzelwissenschaft, welcher sie dienstbar sind, ein specifisches Gepr\u00e4ge erhalten, und dass ihre Stellung und ihre Bedeutung im Einzelnen f\u00fcr jedes Wissensgebiet sich verschieden gestaltet. Diese letztere Thatsache begr\u00fcndet somit die Nothwendigkeit einer besonderen Methodologie der verschiedenen Wissensgebiete, und es liegt darin zugleich der Hinweis, dass jede besondere Methode einer Wissenschaft vom Inhalte der letzteren unzertrennlich ist. Man wird aber weiter gehen k\u00f6nnen und sagen: jede besondere Methode ist zugleich organisch verwachsen mit diesem Inhalt; sie ist die Triebkraft, so zu sagen, die ihn selbstsch\u00f6pferisch vermehrt und bereichert. Denn nicht blo\u00df den eigenen Inhalt entnimmt die Methodenlehre einer Einzelwissenschaft dem Wissensbestand der","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslelire.\n441\nletzteren: sie ihrerseits wieder wird f\u00fcr die logische Durchbildung einer Wissenschaft kl\u00e4rende und vertiefende Gesichtspunkte ihr \u00fcbermitteln und so namentlich an der sch\u00e4rferen Auspr\u00e4gung ihrer Grundbegriffe selbstth\u00e4tig mitarbeiten helfen.\nVon einer mechanischen Anwendung irgend welcher methodischer Regeln freilich wird hier nie und nimmer die Rede sein d\u00fcrfen. Wer von der Ethik, der Erkenntnisslehre und Methodenlehre Recepte verlangt, um sittlicher zu sein, richtiger denken und neue Wahrheiten finden zu k\u00f6nnen, wird, falls niemand ihm auf diese sch\u00f6nen Hoffnungen hin Credit gew\u00e4hren will, sich jedenfalls nicht wundern d\u00fcrfen. \u00bbDer Nutzen der logischen Erkenntnisse kann\u00ab, mit Schuppe zu reden, \u00bbniemals die Application einer Regel sein, welche im gegebenen Fall zu weiteren Specialerkenntnissen verh\u00fclfe. \u00ab... Vielmehr besteht der Nutzen der Logik \u00bbin der Erkenntniss des ganzen Denkvorganges selbst, welcher man nat\u00fcrlich nicht die Specialerkenntnisse entgegensetzen muss, als wenn jene ohne diese m\u00f6glich w\u00e4re. Er kann nur an den Specialerkenntnissen begriffen werden, ist er aber in ihnen begriffen, so m\u00fcssen die so begriffenen Begriffe derselben erheblich an Durchsichtigkeit und Klarheit gewinnen, und dann wird die einmal klar gewonnene Erkenntniss zur Methode des Denkens, welche sich nicht wie eine Regel auf Gedanken, die auf anderem Wege gewonnen sind, appliciren kann, sondern welche unvermerkt an Stelle jedes anderen Weges tritt.\u00ab1)\n\u00bbWas das Bilden und Gestalten in der Kunst bedeutet\u00ab, sagt Riehl, \u00bbist in der Wissenschaft das methodische Verfahren .... Die Entdeckung eines neuen Verfahrens leistet mit einem Male und im Ganzen, was die Bereicherung des wissenschaftlichen Materials, geleitet von der Methode, nur nach und nach und im Einzelnen leisten kann. Von der Einf\u00fchrung neuer Principien und Methoden beginnt daher in der Wissenschaft eine Epoche. Bed\u00fcrfte dieser Satz erst des Beweises, so sei auf die Methode der Analysis hingewiesen\u00ab2).\n1)\tSchuppe, Erkenntnisstheoretische Logik. Bonn 1878. S. 106 f.\n2)\t.Riehl, Philosophischer Kriticismus. Bd. I. S. 202f. Mit der \u00bbMethode der Analysis\u00ab ist das von Descartes entdeckte analytische Verfahren der Mathematik gemeint.\nWundt, Philos. Studien. X.\n29","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nAlfred Wenzel.\nKein Zweifel kann sein, dass aller Methodik wirklich diese Bedeutung zukommt.\nMan hat den \u00e4sthetischen Genuss, den ein Kunstwerk erregt, wohl darin gesehen, dass wir die sch\u00f6pferische Th\u00e4tigkeit des K\u00fcnstlers hei der Betrachtung seines Werkes v\u00f6llig spontan in uns nacherzeugen, so dass das Leben, das aus dem Kunstwerk zu entspringen scheint, unmittelbar als unser eigenes empfunden wird und so, aus einem einzigen verborgenen Quell heraus in die ganze Enge unseres Bewusstseins sich ergie\u00dfend, hier zu klarer und m\u00e4chtiger Entfaltung kommt. Auch die Methodologie, wie man im Anschluss hieran wohl sagen d\u00fcrfte, hat die gleichfalls k\u00fcnstlerische Aufgabe solcher Nacherzeugung. Was sie nacherzeugt, ist hier ebenso, wie auf dem Gebiete der Kunst, etwas Organisches, und hier wie dort ist die lebendig gewordene Kenntniss, d. h. das unmittelbare Verstehen, die Vergeistigung des Materials, welches sie verarbeitet, die unumg\u00e4ngliche Bedingung allen Erfolges. Zum Objecte hat die Methodenlehre einer Wissenschaft die logische Structur des Zusammenhanges ihrer Erkenntnisse, wie sie sich in der Systematik der Darstellung in idealisirter Form widerspiegelt. Wenn sich auch immer wieder diese Structur in bestimmten typischen Formen bewegt, wenn auch immer wieder gewisse Denkoperationen in ihr ohjectivirt erscheinen, so ist, wie schon erw\u00e4hnt wurde, dennoch die Complication all dieser Elemente in jedem Er-kenntnissgebiet eine durchaus eigenth\u00fcmliche.\nAlles wissenschaftliche d. h. logische Denken ist eine Organisation von Vorstellungsmassen1), und wie alle Organisirung in dem Process best\u00e4ndiger Differenzirung und Integrirung v\u00f6llig gesetzm\u00e4\u00dfige Gestaltungen durchl\u00e4uft, so auch das Denken. Spontaneit\u00e4t und Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit kommen dem Denken in gleicher Weise als charakteristische Merkmale zu, und jenes muss als ein subjectives, dieses als ein objectives Kriterium gelten, wodurch sich das Denken\n1) So sagt Paulsen, \u00bbEinleitung in die Philosophie\u00ab. Berlin 1892. S. 122 in Uebereinstimmung mit den Lehren Sigwart\u2019s und Wundt\u2019s: \u00bbDas Wesen des begrifflichen Denkens beruht auf der Aufl\u00f6sung der Anschauungscomplexe ; es besteht in der inneren Organisirung der Anschauung; Analysis und Synthesis sind die beiden Seiten des Processes.\u00ab","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Sociaiwirthschaftslehre.\n443\nvon den anderen psychischen Th\u00e4tigkeiten unseres Bewusstseins unterscheidet. Weil alles logische (wissenschaftliche) Denken gesetzm\u00e4\u00dfig verl\u00e4uft, darum ist es auch stets methodisch. Aus dieser Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit ergibt sich also, wie man sieht, zugleich die Existenzberechtigung der Methodologie, denn was sollte es f\u00fcr einen Sinn haben, durch ein Denken ein zweites Denken nacherzeugen zu wollen, wenn das eine oder das andere nichts w\u00e4re, als ein Spiel der Laune und Willk\u00fcr? Insofern aber die strenge Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit des Denkens die freie Selbstbestimmung des Wollens keineswegs ausschlie\u00dft, sondern unbedingt fordert und voraussetzt, erh\u00e4lt alles Denken erst im Lichte eines Zwecke setzenden und Zwecke realisirenden Willens Sinn und Bedeutung und strebt so mit Noth-wendigkeit einem idealen Erkenntnissziele zu, das f\u00fcr die Methodenlehre einer Wissenschaft den Leitfaden hergibt, nach welchem sie den Thatbestand des Wissens pr\u00fcft und beurtheilt.\nSo finden vom Gesichtspunkte dieser Gedankenreihen aus, wie ich glaube, die obigen S\u00e4tze Riehl\u2019s ihre volle Best\u00e4tigung. Dennoch k\u00f6nnte man vielleicht fragen: Hat die Methode wirklich solche Bedeutung f\u00fcr unser Erkennen? Sollten die \u00bbzuf\u00e4lligen Impulse der Wahrnehmung\u00ab, die einem Newton zur Entdeckung des Gravitationsgesetzes verholfen haben, und die genialen Intuitionen, die einem Kant und Laplace ein Phantasiebild von der Entstehung der Weltsysteme eingegeben haben, sollten sie nicht ebenso oft und \u00f6fter epochemachend f\u00fcr die Wissenschaft gewesen sein, als der zwar dornige aber klare Weg einer zielbewussten Methodik?1) So erw\u00e4hnt Herbert Spencer einmal den Gedanken, dass eine Intuition keineswegs gering anzuschlagen sei, wenn man die ungeheure Aufspeicherung von Erfahrungen bedenkt, durch welche die Gedanken des modernen Menschen zum Einklang mit den Dingen geformt sind2). Aber dieser Gedanke Spencer\u2019s enth\u00e4lt auch zugleich die Widerlegung des obigen Einwandes. So hohen Werth feiner Sp\u00fcrsinn, geistvolle Intuition und rasche Combinationsf\u00e4hig-\n1)\tHelmholtz neigt zu dieser Annahme: Popul\u00e4re wissenschaftliche Vortr\u00e4ge. I. S. 16. Man sehe aber, was Wundt ihm erwidert: Logik. II. 1. Aufl. S. 518.\n2)\tH. Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, \u00fcbersetzt von Marquardson. Leipzig 1875. Theil IL S. 196.\n29*","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nAlfred Wenzel.\nkeit f\u00fcr die Gewinnung neuer werthvoller Orientirungspunkte in dem so unermesslich mannigfaltigen Gebiete des geistigen Geschehens haben m\u00f6gen, so darf man doch nicht \u00fcbersehen, dass in allen diesen F\u00e4higkeiten, eben weil sie Producte vergangener methodisch erworbener Erfahrungen sind und jedenfalls nur, wenn sie wirklich dergleichen sind, eine Methodik so zu sagen latent, pr\u00e4-formirt liegt. Erst wenn diese letztere wieder fl\u00fcssig gemacht ist, erst wenn sie zu neuer actueller Energie sich erhebt, erst wenn die Intuition, um mich so auszudr\u00fccken, in den Aggregatzustand des Denkens gehoben ist, kann von wissenschaftlichen Werthen \u00fcberhaupt die Rede sein. Gef\u00fchl mag \u00bballes\u00ab sein, in der Wissenschaft aber wird es jedenfalls erst zu beweisen haben, dass es \u00bballes\u00ab ist. Oder mit anderen Worten: alles, was durch jene F\u00e4higkeiten erreicht wird, gewinnt erst dann wissenschaftlichen Charakter und eine wissenschaftliche heuristische Bedeutung, sobald es eingereiht wird in den methodischen Zusammenhang methodisch gewonnener Erkenntnisse. Zuf\u00e4llige Impulse aber sind rein \u00e4u\u00dfere Momente, die ohne jeden wissenschaftlichen Werth bleiben, wenn sie sich nicht nothwendig mit jenen F\u00e4higkeiten verbinden.\nAus gewissen hiermit in Zusammenhang stehenden Gr\u00fcnden scheint es mir nun sehr oberfl\u00e4chlich zu sein, dass man z. B. mit Bezug auf Lassalle und Marx von einer \u00bbMethode des Socialismus\u00ab gesprochen hat, in der Meinung, dass die Ideen, welche wir diesen M\u00e4nnern verdanken, ein wirkliches Product angeblich der von Fichte und Hegel \u00fcberkommenen \u00bbdialektischen Methode\u00ab seien. Abgesehen davon, dass Marx selber ausdr\u00fccklich sich dagegen verwahrt, seine Methode f\u00fcr die Hegel\u2019sche Dialektik zu halten (obschon er gleichwohl in der \u00bbmystischen H\u00fclle\u00ab derselben einen \u00bbrationellen Kern\u00ab sieht)J), so wissen wir heute doch besser,\n1) Marx, Capital. 4. Aufl. Vorwort. S. XVII: \u00bbMeine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegel\u2019schen nicht nur verschieden, sondern ihr directes Gegentheil. F\u00fcr Hegel ist der Denkproeess, den er sogar unter dem IS amen Idee in ein selbst\u00e4ndiges Subject verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine \u00e4u\u00dfere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideale nichts anderes, als das im Menschenkopf umgesetzte und \u00fcbersetzte Materielle.\u00ab Ferner: \u00bbDie Hegel\u2019sche Dialektik .... muss man umst\u00fclpen, um den rationellen Kern in der mystischen H\u00fclle zu entdecken.\u00ab Wie solche \u00bbUmst\u00fclpung\u00ab m\u00f6glich sein soll, d\u00fcrfte freilich schwer einzusehen sein.","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Soeialwirthschaflslehre.\n445\nwelche Bewandtniss es mit dem \u00f6den Formalismus dieser Methode hat, als dass wir an das Wunder glauben k\u00f6nnten, es seien auf dem saft- und kraftlosen Baum solcher Dialektik irgend welche Ideenfr\u00fcchte gewachsen. Unter der harten, anorganischen Kruste der \u00bbdialektischen Methode\u00ab wird man also bei Fichte und Hegel nicht minder wie hei Lassalle und Marx (falls man \u00fcberhaupt bei letzteren von solcher Methode sprechen will) eine andere, organischere Structur suchen m\u00fcssen, denn nur da beth\u00e4tigt sich ein lebendiger Geist, wo eine lebendige Form ihn greifbar macht.\nAls selbstverst\u00e4ndlich wird gelten d\u00fcrfen, dass bei der ungeheuren F\u00fclle methodologisch-erkenntnisstheoretischer Probleme, die sich aus den vorangegangenen Ausf\u00fchrungen ergeben, der Versuch einer auch nur ann\u00e4hernd ersch\u00f6pfenden L\u00f6sung derselben etwa gar im Rahmen dieser Abhandlung von vornherein g\u00e4nzlich ausgeschlossen ist. Auch wird man f\u00fcr den weiteren Inhalt der letzteren in jenen Ausf\u00fchrungen ein verpflichtendes Programm nicht zu sehen haben. Der n\u00e4chstliegende Zweck, dieser Arbeit ist vielmehr lediglich die Er\u00f6rterung gewisser nunmehr n\u00e4her zu bezeichnender erkenntnisstheoretischer Grundfragen der Socialwirth-schaftslehre, f\u00fcr welche jene einleitenden Bemerkungen feste Gesichtspunkte bezeichnen sollten.\nII. Ueber die Stellung der Socialwirthschaftslehre im System der Wissenschaften und den allgemeinen Charakter ihres Gegenstandes.\nDie Fragen, um welche es sich hier handeln soll, betreifen den allgemeinen Charakter des Objectes der Socialwirthschaftslehre, die Stellung der letzteren im System der Wissenschaften und die besondere Art ihrer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit. Alle diese Fragen weisen zugleich auf fundamentale Ausgangspunkte der Forschung \u00fcberhaupt hin, und da sie aufs innigste mit einander Zusammenh\u00e4ngen und namentlich f\u00fcr die speciellere Bestimmung der Aufgaben und Ziele der Wirthschaftslehre von prop\u00e4deutischem Werth sein d\u00fcrften, so glaube ich ein Recht zu haben, sie im Rahmen dieser Abhandlung zu vereinigen.\nIst das Object der Wirthschaftslehre das Zweckgebiet der Wirth-schaftserscheinungen, so wird als Ausgangspunkt f\u00fcr die begriffliche","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nAlfred Wenzel.\nAbgrenzung dieses Objects ohne Zweifel die wirthschaftlicheJTand-Jjmg angesehen werden m\u00fcssen '). Denn wie wir auch den Begriff \u00bbWirtschaft\u00ab n\u00e4her bestimmen m\u00f6gen, irgendwie wird sich darin die menschliche Th\u00e4tigkeit insofern spiegeln m\u00fcssen, als Einzelhandlungen, also Handlungen von Individuen als Componenten darin aufgehen, da ja nur in diesen Componenten die Gesammt-th\u00e4tigkeit der Menschen in der Erfahrung sich offenbart. Mag die Wirthschaft, als Ganzes genommen, sein was sie will, jedenfalls nimmt sie nur in den individuellen Handlungen des Menschen concrete Gestaltung an, und so weit die Zwecke dieser Handlungen auch \u00fcber das Individualbewusstsein hinausgreifen und hinausreifen m\u00f6gen, immer wieder wird nur einzig und allein die Manifestation derselben im Geiste des Einzelnen \u00fcber ihren Inhalt Auskunft geben k\u00f6nnen.\nInsofern nun auf Grund einer Definition der wirtschaftlichen Handlung das Object der Wirthschaftslehre definirt werden kann als Inbegriff der wirthschaftlichen Handlungen, bleibt die Frage offen, was nunmehr unter diesem Inbegriff zu verstehen sei, und die Antwort lautet: ein Organismus. Somit wird es also darauf ankommen, die Wirthschaftserscheinungen als Formen organischer Gestaltungen zu bestimmen, und \u00bbda\u00ab, wie Sigwart sagt1 2), \u00bbjede bestimmte nicht blo\u00df zuf\u00e4llig von au\u00dfen herangebrachte Form auf Beziehung ihrer Theile zu einander hinweist, so wird f\u00fcr die Synthese dieser im Begriff ein Princip seiner Beziehungen gesucht werden m\u00fcssen\u00ab. Dieses Princip kann auch f\u00fcr die Wirthschaftserscheinungen nur der Zweck sein. Damit ist aber zugleich die Pr\u00e4ponderanz der Zweckerkl\u00e4rung in der National\u00f6konomie in ihr Recht eingesetzt, und in der damit zugestandenen Nothwendigkeit psychologischer Interpretation tritt\u2018der Charakter der Wirtschaftswissenschaft als Geisteswissenschaft\u2019 klar zu Tage.\nWird die Definition der wirthschaftlichen Handlung den Zweckinhalt derselben anzugeben haben und insofern eine materiale sein m\u00fcssen, so ist die Bestimmung des Inbegriffs der wirthschaftlichen Handlungen als eines Organismus zun\u00e4chst lediglich rein formaler Natur.\n1) Dietzel, Der Ausgangspunkt der Socialwirthschaftslehre etc. Zeitschr.\nf. d. ges. Staatsw. 1883. S. 18.\t2) Logik. II. 1. Aufl. S. 210 f.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"447\nBeitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\nNur die Discussion dieser letzteren Aufgabe liegt in dem Auf-gabenkreis dieser Abhandlung eingeschlossen. Das schwierige Problem der Definition der wirthschaftlichen Handlung selbst, das urspr\u00fcnglich mit ins Auge gefasst war, musste, da es sich, wie ich mich schlie\u00dflich \u00fcberzeugte, in endlose Gedankenreihen verschlang, hier uner\u00f6rtert bleiben. Doch hoffe ich, dass die gegebenen Ausf\u00fchrungen Gesichtspunkte nahe legen werden, die f\u00fcr die Zwecke dieser Definition von bleibendem regulativen Werthe sind.\nMan k\u00f6nnte nun vielleicht folgende Frage aufwerfen: Wird man nicht gen\u00f6thigt sein, von zwei Objecten der Wirthschaftslehre zu sprechen? Hat es auf Grund des schon in der Einleitung betonten Gegensatzes zwischen abstracter Theorie und con\u00e7jeter Wirthschaftslehre einen Sinn, blo\u00df von einem Objecte zu sprechen?\nEs sei mir gestattet zun\u00e4chst diesen Gegensatz, soweit er f\u00fcr meine Zwecke hier ma\u00dfgebend ist, kurz zu charakterisiren.\nZwei Thatsachen werden hier vor allem in Betracht kommen m\u00fcssen. Einmal sind die fundamentalen Voraussetzungen, auf welche die \u00bbTheorie\u00ab sich st\u00fctzt, theilweise nur unvollkommen, theilweise aber gar nicht in den concreten Erscheinungen des Wirthschaftslebens verwirklicht, und ferper ist es aus logischen und erkenntnisstheoretischen Gr\u00fcnden ausgeschlossen, diese Erfahrungsl\u00fccke etwa durch Hinzuf\u00fcgung anderer empirischer Bestimmungen auszuf\u00fcllen. Weshalb dieses ausgeschlossen ist, d\u00fcrfte am besten durch den Hinweis auf die allgemeine Mechanik einzusehen sein, die ja, wie man oft hervorgehoben hat, zur speciellen Physik in einem \u00e4hnlichen Verh\u00e4ltniss steht, wie die theoretische Wirthschaftslehre zur praktischen. Die Begriffe der \u00bbMasse\u00ab, der \u00bbSchwerkraft\u00ab, des \u00bbmateriellen Punktes\u00ab, der \u00bbBeschleunigung\u00ab u. s. w., welche die Mechanik anwendet, sind Abstractionen rein formaler Natur, die insofern, als alle qualitativen Bestimmungen der Wirklichkeit hier v\u00f6llig eliminirt sind, nunmehr die Feststellung und Untersuchung rein quantitativer Relationen erm\u00f6glichen, denen die sp\u00e4ter hinzukommende Beobachtung die qualitativen Determinationen ohne weiteres hinzuf\u00fcgen kann. Zwar sind jene Relationen selbstverst\u00e4ndlich durchgehends aus der empirischen Beobachtung gesch\u00f6pft ; sie selber aber tragen doch insofern transempirischen Charakter, als ihnen der qualitativ concrete Inhalt fehlt, durch den sie erst","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nAlfred Wenzel.\nempirische Bedeutung gewinnen. Die Axiome der Mechanik, wie das Princip der Tr\u00e4gheit, die Erhaltung der Energie u. s. w., sind von derselben 'rein formalen und homogenen Beschaffenheit\u2019 wie die aus ihnen abgeleiteten Deductionen. Wo die letzteren hinter der Erfahrung Zur\u00fcckbleiben, kann es daher keine Schwierigkeiten darbieten, diesen Mangel durch Hinzuf\u00fcgung weiterer Determina-nationen auszugleichen, denn immer handelt es sich darum, so zu f sagen ein rein abstract-formales Schema einem bestimmten con-creten Inhalt conform zu machen, und stets bleibt den Voraussetzungen, unter welchen dies geschieht, ihre rein formale Natur erhalten. Wesentlich verschieden ist das Bild, welches die ab-stracte Theorie der Wirthschaftslehre darbietet. Hier enthalten die axiomatischen Voraussetzungen, da sie theilweise psychologischer Natur sind, selber bereits qualitative Elemente; sie deuten damit unmittelbar auf wirkliche^.Thatsachen hin; weil diesen letzteren aber nothwendig die Allgemeing\u00fcltigkeit rein formaler Bestimmungen fehlt, kann es kein Wunder nehmen, wenn sie mitsammt den aus ihnen gewonnenen Resultaten der Singularit\u00e4t des realen Geschehens sich nicht anschmiegen. Den Axiomen und S\u00e4tzen der Mechanik konnten qualitative Bestimmungen beliebiger Art willk\u00fcrlich hinzugef\u00fcgt werden, weil sie selber rein formalen Charakter besitzen; die Axiome der Wirthschaftstheorie bleiben vorwiegend qualitative Bestimmungen, welche, obschon sie in der Wirklichkeit theils unvollkommen, theils gar nicht wirksam sind, dennoch ihrer methodischen Bedeutung nach bestimmte Thatsachen der Wirklichkeit allgemeing\u00fcltig repr\u00e4sentiren sollen. Die Unm\u00f6glichkeit, diese Discrepanz mit der Erfahrung auszugleichen, liegt auf der Hand : subjective der inneren Wahrnehmung entnommene Bedingungen, wie sie die Axiome der Theorie fordern, k\u00f6nnen niemals objekiven allgemeing\u00fcltigen Werth haben. Nicht weil diese Axiome \u00fcberhaupt Ahstractionen aus der Wirklichkeit sind, sondern weil sie in nicht hinreichendem Grade Ahstractionen sind, muss ihnen lediglich nur ein hypothetischer^Werth heigemessen werden. Es liegt ja nun nahe, wie Fourier und Andere1) es versucht haben,\n1) So neuerdings auch Dargun (Egoismus und Altruismus in der National\u00f6konomie. Leipzig 1885), doch, wie ich glaube, mit sehr schwachem Erfolge. Auch A. Wagner ist hierher zu rechnen.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n449\ndie axiomatischen Voraussetzungen der Theorie durch andere bessere zu ersetzen oder zu erg\u00e4nzen; aber einerseits bringt der Charakter der Wirthschaftslehre als einer Geisteswissenschaft es mit sich, dass die Voraussetzungen, auf welchen sie sich aufbaut, immer wieder psychologischer, also rein qualitativer Art sind, und ferner sind gerade die bestehenden Axiome keineswegs^, willk\u00fcrlich gew\u00e4hlt: sie sind vielmehr nothwendige^logische Postulate, die durchaus solidarisch sind mit der Existenz der Wirthschaftstheorie \u00fcberhaupt. Um es kurz zu sagen: sie sind wichtige, unersetzbare Gesichtspunkte, die, soweit es eben im Rahmen einer Geisteswissenschaft m\u00f6glich ist, \u00a3in relativ h\u00f6chstem Ma\u00dfe* das erreichen, was die mathematische Mechanik \u2014 abgesehen von der Unvollkommenheit unseres Erkennens im Ganzen \u2014 eim absolut h\u00f6chsten Ma\u00dfe* erm\u00f6glicht, n\u00e4mlich die formalen^Beziehungen, die die Wirthschaftslehre gem\u00e4\u00df der quantitativen Beschaffenheit ihrer Begriffe zul\u00e4sst, wie Preis, Werth, Production, Consumtion etc., auf Grund einfachster Bedingungen auf den denkbar h\u00f6chsten quantitativen und constanten Ausdruck zu bringen.\nDie wissenschaftliche Methodologie wird die Aufgabe haben, wie schon in der Einleitung erw\u00e4hnt wurde, f\u00fcr diese methodische Sanction der subjectiven Voraussetzungen der \u00bbTheorie\u00ab die er-kenntnisstheoretische Begr\u00fcndung zu gehen1): hier muss auf einen derartigen Versuch verzichtet werden. Wie verh\u00e4lt es sich nun mit dem vorhin ber\u00fchrten Einwand? Hat es auf Grund der obigen Darlegungen noch einen Sinn von einem einzigen Objecte der Wirthschaftslehre zu sprechen?\nIch glaube hierauf antworten zu d\u00fcrfen: Ja oder nein; lediglich auf den Gesichtspunkt wird es ankommen, der auf Grund der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der specielleren Betrachtung gr\u00f6\u00dfere oder geringere Sanction erh\u00e4lt2). Ist denn das Socialgebilde der Wirthschafts-\n1)\tVon einem Versuch dieser Art ist bei Menger z. B. keine Spur zu entdecken. Meines Wissens hat diese Aufgabe von den Fach\u00f6konomen allein Dietzel erkannt, aber ich glaube, dass hier noch sehr viel zu thun \u00fcbrig bleibt.\n2)\tWenn daher B\u00fccher z. B. sagt (Entstehung der Volkswirthschaft. T\u00fcbingen 1893. S. 8): \u00bbEs handelt sich ausschlie\u00dflich um diese Verschiedenheit der Objecte, w\u00e4hrend die verschiedenen Erkenntnissmittel beiden Eichtungen gemeinsam sind\u00ab, so bleibt dieses unangetastet. Ja, im Hinblick auf gewisse","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nAlfred Wenzel.\nerscheinungen, so allgemein genommen, nicht thats\u00e4chlich ebenso f\u00fcr die abstracte Wirthschaftstheorie Object der Untersuchung, wie f\u00fcr die historische Wirthschaftslehre?\nDamit soll nun aber keineswegs geleugnet werden, was oben behauptet worden ist: der logische Gegensatz zwischen der ab-stracten Theorie und der concreten Volkswirtschaftslehre bleibt voll und ganz bestehen; es muss jedoch gestattet sein, ja es muss ausdr\u00fccklich als geboten erscheinen, da, wo der Denkzusammenhang es verlangt, in jenem logischen Gegensatz keinen Gegensatz der Objecte, sondern einen solchen der Gesichtspunkte und Voraussetzungen zu sehen, mit welchem Theorie und Praxis an ein und dasselbe Object herantreten. Die Sache l\u00e4uft ja doch wohl schlie\u00dflich auf eine Trivialit\u00e4t hinaus, aber es verbarg sich eine Unklarheit darin. Wir bed\u00fcrfen schlechthin eines Begriffs, der auf denjenigen Ausgangspunkt hinweist, den Theorie und Volkswirtschaftslehre in der Wirklichkeit gemeinsam haben. Schon die Beziehung, in welche wir trotz ihres logischen Gegensatzes diese beiden Disciplinen zu bringen gen\u00f6thigt sind, fordert die Coincidenz ihrer Objecte. Ich glaube es daher verantworten zu k\u00f6nnen, wenn ich in den folgenden Ausf\u00fchrungen von einer Wirthschaftslehre und von einem Gegenstand der Wirthschaftslehre spreche: es sind Begriffe, die in dieser Allgemeinheit zun\u00e4chst lediglich nur einen Revers enthalten auf die sp\u00e4ter hinzukommenden methodischen Gesichtspunkte speciellerer Art.\nNicht hoch genug kann es gesch\u00e4tzt werden, dass A. Comte zum ersten Male im gro\u00dfen Stil den Versuch einer Classification der gesammten Wissenschaften gewagt hat* 1). Ein Eintheilungsprincip f\u00fcr dieselben glaubte Comte in dem mehr oder weniger von\nfalsche methodische Praktiken \u2014 ich denke namentlich an die Begriffshypostasirungen, deren sich die National\u00f6konomen oft schuldig gemacht haben \u2014 d\u00fcrfte gerade der von B\u00fccher betonte Gesichtspunkt von besonderem Werthe sein.\n1) Baco, d\u2019Alembert, Linn\u00e9, Bentham, Amp\u00e8re sind mit derartigen theils mehr, theils weniger umfassenden Versuchen vorangegangen. \"Comte kann aber f\u00fcr diese Zwecke hier allein in Betracht kommen, da seine Classification zuerst die rein \u00e4u\u00dferlichen Gesichtspunkte der anderen beseitigte.","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n451\nAbstraction, die jede Wissenschaft enth\u00e4lt, gefunden zu haben. Dieses Princip erm\u00f6glichte die Aufstellung einer \u00bbHierarchie der Wissenschaften\u00ab, die nach der quantitativen Abstufung der in ihnen vorkommenden Abstractionen in einer Art linearer Anordnung von den abstractesten Wissenschaften zu immer concreteren Formen derselben fortschreiten sollten. Der Fehler aber, welchen Comte r beging, lag darin, dass er in dieser Abstufung der Abstraction nur quantitative, nicht aber qualitative Unterschiede erkannte, was zur Folge hatte, dass er das ganze gro\u00dfe Gebiet der Geisteswissenschaften eigentlich g\u00e4nzlich ignorirte. Wenn Herbert Spencer1) nun diese Auffassungen Comte\u2019s theilweise verbessert hat, so muss es doch erst als eine Errungenschaft der neuesten Zeit, n\u00e4mlich als das Verdienst Wundt\u2019s gelten, die erkenntnisstheoretischen Einseitigkeiten und Unklarheiten, die allen fr\u00fcheren Classificationen zu Grunde lagen, vollst\u00e4ndig beseitigt und berichtigt zu haben2).\nWelchen allgemeinen Charakter hat nun die Wirtschaftswissenschaft hiernach? Welche Stellung im System der Gesammt-wissenschaften kommt ihr zu?\nDie Wirthschaftswissenschaft ist eine Geisteswjssenschaft ; spe-cieller bezeichnet also eine Wissenschaft von geistigen Erzeugnissen.\nMan k\u00f6nnte fragen: Handelt es sich denn wirklich hier um \u00bbgeistige Erzeugnisse\u00ab? Hat es die National\u00f6konomie nicht vielmehr allein mit materiellen G\u00fctern zu thun, und entspringt das wirtschaftliche Leben des Menschen nicht ausschlie\u00dflich der materiellen Bed\u00fcrfnissbefriedigung? Sehen wir nicht durchweg das wirtschaftliche Leben von Natureinfl\u00fcssen abh\u00e4ngig, die, bald f\u00f6rdernd, bald hemmend eingreifend, ihm einen best\u00e4ndig wechselnden Inhalt gehen? Gewiss. So sagt z. B. Eodbertus (Zur Erkenntniss unserer staatswirthschaftlichen Zust\u00e4nde, S. lf.): \u00bbJeder Volks-wirthschaftslehrer zieht im Grunde nur materielle G\u00fcter in das\n1)\tSiehe die Abhandlung Spencer\u2019s: \u00bbDie Genesis der Wissenschaft\u00ab, Essays. Vol. I., sowie die Kritik Littr\u00e9\u2019s in seinem Buche \u00bbAuguste Comte et la Philosophie Positive\u00ab. Paris 1877.\n2)\tN\u00e4her kann hier auf diese Dinge selbstverst\u00e4ndlich nicht eingegangen werden. Vergl. Wundt, Phil. Stud. Y, 1889. Ueber die Eintheilung der Wissenschaften. S. Iff. und \u00bbSystem der Philosophie\u00ab. S. 23ff.","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nAlfred Wenzel.\nReich der Wirthschaft, und wenn er auch im Anf\u00e4nge seines Werkes beweisen will, dass immaterielle G\u00fcter dazu geh\u00f6ren, so ist doch im Verlaufe desselben von diesen nicht mehr die Rede\u00ab1).\nSo zweifellos nun dieses auch wahr sein mag, so lehrt doch eine einfache Ueberlegung, dass diese wirthschaftlichen materiellen G\u00fcter und das ganze auf sie gegr\u00fcndete wirthschaftliche Leben unter ganz andere Gesichtspunkte treten und demnach auch f\u00fcr unsere Auffassung einen ganz anderen Charakter haben als die Naturobjecte und die Naturvorg\u00e4nge, welche die Naturwissenschaft in ihr Untersuchungsgebiet aufnimmt.\nIn jedem wirthschaftlichen Gut ist stets eine bestimmte Menge Arbeit immobilisirt. Diese Arbeit hat sich, bevor sie solch ein Gut hervorbrachte, in den Dienst eines planvollen und zielbewussten Widens gestellt; die Intelligenz, die der k\u00f6rperlichen Arbeit ihre Directiven gab, hat jedem wirthschaftlichen Gut sein individuelles wirthschaftliches Gepr\u00e4ge gegeben, und der Weg der arbeitstheiligen Production, den es m\u00f6glicherweise durchlaufen musste, um dieses Gepr\u00e4ge zu erhalten, hat die Einheit des letzten Zweckes, es einem pers\u00f6nlichen Bed\u00fcrfnis dienstbar zu machen, doch wahrlich nicht aufgehoben. Kurz, die materiellen G\u00fcter der Wirthschaftslehre sind von dem stetigen Zweckstreben des Menschen, die Objecte der Au\u00dfenwelt unter die Herrschaft der Intelligenz zu zwingen, untrennbar. Von dem wirthschaftlichen Leben als Ganzem aber gilt das um so mehr, je mehr es einerseits selbst organische Gestaltung zeigt, und je mehr es anderseits mit den anderen geistigen Lebens\u00e4u\u00dferungen zum engsten organischen Zusammenh\u00e4nge verwachsen ist. Gewiss soll nicht etwa die Absurdit\u00e4t behauptet werden, dass der Mensch der Erzeuger des materiellenjSubstrates sei, das, um mit Marx zu reden, \u00bb\u00fcbrig bleibt, wenn man die Gesammtsumme aller verschiedenen n\u00fctzlichen Arbeiten, die in Rock, Leinwand u. s. w. stecken, abzieht\u00ab. Dieses Substrat wissenschaftlich zu untersuchen, ist Aufgabe der Technologie, Chemie u. s. w. F\u00fcr die Wirthschaftslehre kommt es nur soweit in Betracht, als es Product einer in den Dienst des menschlichen Willens getretenen\n1) Die gleiche Ansicht vertritt auch z. B. Sch\u00e4ffle.","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslelire.\n453\nArbeit ist. Diese 'wirtschaftliche Arbeit\u2019 wird aber, um irgendwelche Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit im Wirthschaftsleben zu erkennen, niemals getrennt aufgefasst werden k\u00f6nnen von der 'gesellschaftlichen Organisation der Arbeit\u2019 und dem gesammten socialwirthschaftlichen Organismus \u00fcberhaupt; nur im Zusammenhang mit diesem kann ein Sachobject, dem irgendwelche Arbeit anhaftet, wirtschaftliche Bedeutung gewinnen und damit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden.\nIst aber demnach der eigentliche Gegenstand der Wirthschafts-lehre ein Organismus, so kann Niemand im Ernst leugnen wollen, dass dieser im eminenten Sinne das ist, was wir ein \u00bbgeistiges Erzeugnisse nennen.\nDa der Begriff des Organismus zun\u00e4chst nur f\u00fcr den Menschen-und Thierk\u00f6rper Geltung hat, so hat man freilich in der Ueber-tragung dieses Begriffs auf den Socialzusammenhang der Wirtschaftsgemeinschaft lediglich nur ein mystisches Spiel mit Analogien gesehen; man hat geleugnet, dass jener Gemeinschaft. \u00fcberhaupt wahre Realit\u00e4t zukommt; man hat die Zweckth\u00e4tigkeit, dieses wichtigste Agens aller organischen Bildungen, von dem Einzelwesen nicht trennen wollen, da sie ja empirisch stets nur an ein individuelles Bewusstsein gebunden erscheint. Aher auf der anderen Seite ist man zugleich in ein anderes Extrem gefallen: man hat sich nicht gescheut, von jener Begriffs\u00fcberfragung r\u00fccksichtslos den weitesten Gebrauch zu machen, man hielt sich f\u00fcr befugt, den socialen K\u00f6rper mit dem physischen K\u00f6rper v\u00f6llig zu identificiren ; er erhielt so \u2014 man verzeihe den Vergleich \u2014 gewisserma\u00dfen die grotesken Formen konischer Spiegelbilder, es wurde ein Wesen daraus, dem Mund, Nase, Augen und Ohren ganz so zukamen, wie dem menschlichen und thierischen Organismus.\nIn Wahrheit werden beide Extreme, als gleich unzul\u00e4ssig angesehen werden m\u00fcssen. Was das erstere Extrem anbetrifft, so d\u00fcrfte sich die \u00bbMystik\u00ab, welche man in der Anwendung jenes Begriffs auf das sociale Ganze wittert, sehr bald in die Klarheit wissenschaftlicher Anschauungen aufl\u00f6sen, sobald man erstens einmal die dem Begriff eines Organismus wesentlichen Merkmale scheidet von den unwesentlichen, und zweitens \u2014 was mit dem ersteren zusammenh\u00e4ngt \u2014 sich stets der Grenzen bewusst bleibt,","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nAlfred Wenzel.\nwo der logische Zwang wissenschaftlicher Begriffsanwendung sich scheidet von der Willk\u00fcr vager Analogienbildung. Wenn der Begriff des Organismus logische Merkmale enth\u00e4lt, die in der Anwendung auf das wirtschaftliche Gemeinschaftslehen uns empirische Thatsachen desselben verst\u00e4ndlich machen und zugleich Nvissen-schaftlich-heuristischen Werth5 unverkennbar offenbaren, so wird man die Richtigkeit dieses Begriffs nicht leugnen k\u00f6nnen: sobald er seinen Erkenntniss-, d. h. seinen Erfahrungswerth documentirt hat, h\u00f6rt er von selbst auf, eine blo\u00dfe Analogie zu sein und wird Instrument des Denkens. Nun kann aber schon die thats\u00e4chliche Verschiedenheit der Objecte, um welche es sich handelt, es unm\u00f6glich rechtfertigen, dass alle Einzelmerkmale, die dem tierischen und menschlichen Organismus zukommen, ohne weiteres in Bausch und Bogen auf das Socialgebilde des Wirt schaftsganzen \u00fcbertragen werden; vielmehr werden, wie gesagt, die unwesentlichen, d. h. die willk\u00fcrlich \u00fcbertragenen Merkmale, sorgf\u00e4ltig auszuscheiden sein von dem, .was hier wie dort 'als gemeinsame Eigent\u00fcmlichkeit deutlich zu Tage tritt. So geistvoll z. B. Sch\u00e4ffle die Analogie im weitesten Sinne durchzuf\u00fchren versucht hat, so wird doch gesagt werden m\u00fcssen, dass die Uebertragung von Ausdr\u00fccken wie \u00bbGewebe des Gesellschaftsk\u00f6rpers\u00ab, \u00bbgewebliche Verwachsung\u00ab, \u00bbsociale Gewebezellen\u00ab (270), \u00bbsociale Wahrnehmungs- und Sinnesth\u00e4tigkeit\u00ab (468), \u00bbsociale Erkenntniss-, Gef\u00fchls- und Willensth\u00e4tigkeit\u00ab (467), \u00bbpathologische social-psychiatrische Erscheinungen\u00ab (461), \u00bbBindegewebe des socialen K\u00f6rpers\u00ab (287) ') u. s. w. Gesichtspunkte darbieten, denen unm\u00f6glich eine wissenschaftlich-heuristische Bedeutung zugeschrieben werden kann. Diese heuristische Bedeutung kann trotzdem den Gesammtausf\u00fchrungen Sch\u00e4ffle\u2019s nicht abgesprochen werden, und schon dieses deutet darauf hin, dass der Begriff des socialen Organismus Merkmale enth\u00e4lt, die den Werth vager und \u00e4u\u00dferlicher Analogiebildung weit \u00fcberschreiten. Welches sind diese Merkmale?\nGeht man vom menschlichen Einzelorganismus aus, so tritt als wichtigstes Kriterium vor allem die Gliederung der Organe hervor, die dadurch, dass sie in innigster Wechselbeziehung zu einander\n1) Sch\u00e4ffle, Bau und Leben des socialen K\u00f6rpers. T\u00fcbingen 187\u00bb. Bd. I.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n455\nstehen, zugleich coordinate Theile eines selbst\u00e4ndigen Ganzen sind1). Diese Gliederung geschieht in der Weise, dass jedes Einzelorgan eine bestimmte Arbeit leistet, die im Dienste der Zweckth\u00e4tigkeit des Ganzen steht; von diesem Ganzen aus erh\u00e4lt es stets seine Directiven, und indem es durch Uebung seine Zweckth\u00e4tigkeit erh\u00f6ht, nimmt es an Zwecken Theil, die nicht von ihm selber ausgingen, sondern in der organischen Einheit des Ganzen ihren alleinigen Ursprung haben.\nIndem es im folgenden zun\u00e4chst meine Aufgabe sein soll, diese Bestimmungen, dierim allgemeinen das begriffliche Wesen des Organismus\u2019 ersch\u00f6pfen, an dem Beispiel der historischen Entwickelung des volkswirthschaftlichen Lebens kurz darzulegen, freue ich mich, hier ganz den Ausf\u00fchrungen Karl B\u00fcch er\u2019s beitreten zu k\u00f6nnen, da sie hinsichtlich derjenigen Punkte, die f\u00fcr meine Zwecke die wichtigsten sind, n\u00e4mlich der Aufstellung der \u00bbStufen der Wiithschaft\u00ab und der Darlegung der inneren^Structur ihrer Entwickelung, Gesichtspunkte darbieten, die aus der unermesslichen und schier verwirrenden F\u00fclle der Lebensformen der Wirthschaft \u00fcberall die typischen Erscheinungen in scharfen Umrissen klar hervorleuchten lassen, so dass hiermitc die geistlosen Aeu\u00dferlich-keiten aller fr\u00fcheren gleichgerichteten Classificationsversuche\u2019meines Erachtens endg\u00fcltig beseitigt sein d\u00fcrften2).\nSo lange wir, wie zur Zeit der \u00bbgeschlossenen Haus wirthschaft\u00ab, Production und Consumtion noch ganz innerhalb der Grenzen einer Individualwirthschaft sich abspielen sehen, jede Einzelwirthschaft also die Producte, die sie brauchte, selbst herstellte und selbst verzehrte, und keinerlei Interesse vorhanden war, mehr herzustellen, als der pers\u00f6nliche Lebenshedarf vorschrieb, tritt keine dieser Wirthschaften als Organ in den Dienst eines gr\u00f6\u00dferen Ganzen. S\u00e4mmtliche Wirthschaftshandlungen bleiben hier acta domestica,\n1)\tSiehe zu diesem ganzen Abschnitt: Wundt\u2019s System der Philosophie. S. 596 ff.\n2)\tYergl. Karl B\u00fccher, Die Entstehung der Volkswirthschaft. 6 Vortr\u00e4ge. T\u00fcbingen 1893, sowie den aus der Feder desselben Verfassers stammenden Artikel \u00bbGewerbe\u00ab im \u00bbHandw\u00f6rterbuch der Staatswissenschaften\u00ab. \u2014 Da im Rahmen der vorliegenden Abhandlung geschichtliche Ausf\u00fchrungen nur skizzenhaft sein k\u00f6nnen, muss ich ausdr\u00fccklich auf die genannten einschl\u00e4gigen Arbeiten verweisen.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nAlfred Wenzel.\ndie ebenso wenig in ihren Wirkungen \u00fcber die enge Sph\u00e4re der Einzelwirthschaft hinausgreifen, als sie durch Einfl\u00fcsse, welche von au\u00dfen her an sie herantreten, von der urspr\u00fcnglichen Richtung ihrer Zwecke abgelenkt werden. M\u00f6gen auch diese Wirthschafts-complexe in ethnologischer oder politischer Hinsicht von anderen socialen Gruppen sich aufs sch\u00e4rfste abgrenzen und tausenderlei sonstige Interessen sie zu einer Culturgemeinschaft aufs innigste organisch verbinden, in rein wirtschaftlicher Hinsicht werden sie lediglich als Aggregate lose an einander gereihter Wirtschaftseinheiten aufzufassen sein, bei welchen auf Grund der Zwecke, die sie verfolgen, eine Wechselbeziehung unter einander ausgeschlossen ist.\nArbeitsteilung ist zwar auf dieser Stufe der Wirthschaft vielfach sogar in raffinirtester Form vorhanden \u2014 man denke z. B. an die gro\u00dfen Sclavenwirthschaften, wie sie uns Rodbertus im Bilde des r\u00f6mischen Oikos vorgef\u00fchrt hat \u2014 dieselbe hat aber keine volkswirtschaftliche, sondern eine rein privatwirthschaftliche Bedeutung; denn wenn auch die Rohproducte solcher Wirtschaften zum Zwecke der Veredelung durch noch so zahlreiche arbeitende H\u00e4nde hindurchgehen, so erhalten sie auf diesem Wege doch niemals den Charakter von Tauschg\u00fctern oder gar Waaren, sondern bleiben subjective Gebrauchswerte ein und derselben Wirthschaft. Mit anderen Worten: die Arbeitsteilung dient hier lediglich dem Vorteil des Sclavenherrn, dem pater familias; Umfang und Richtung der Production erhalten von ihm aus ihre Directiven, der ganze Ertrag der Wirthschaft, wie B\u00fccher sagt, flie\u00dft in seinen H\u00e4nden zusammen, und in ihm ist die Willenseinheit der Hauswirtschaft verk\u00f6rpert.\nIn erster Reihe kommt f\u00fcr diese Wirthschaftsstufe das Fehlen des Tauschverkehrs in Betracht, und hier tritt die Wesensverschiedenheit derselben von modernen Zust\u00e4nden am deutlichsten zu Tage. Muss doch der Tauschverkehr \u00fcberhaupt erst als das eigentliche Element angesehen werden, in welchem der Organismus der Volkswirtschaft lebensf\u00e4hig wird. Denn subjectiv geht mit der wachsenden Ausdehnung und Complication der Tauschbeziehungen eine immer gr\u00f6\u00dfer werdende Bed\u00fcrftigkeit, objectiv eine immer gr\u00f6\u00dfer werdende Unf\u00e4higkeit des Einzelnen Hand in Hand, selb-","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Sociahvirthschaftslehre.\n457\nst\u00e4ndig diese Bed\u00fcrftigkeit zu befriedigen. Je mehr diese Momente im Gemeinschaftsleben der Individuen sich bemerkbar machen, um so abh\u00e4ngiger muss jeder vom anderen erscheinen, und um so inniger wird die Wechselbeziehung der Kr\u00e4fte sein m\u00fcssen, welche die Zwecke des wirthschaftlichen Lebens verwirklichen.\nDas ganze Alterthum jedoch und zum gr\u00f6\u00dften Theil selbst das Mittelalter hasste den Tausch. \u00bbDer Tausch\u00ab, sagt B\u00fccher, \u00bbist urspr\u00fcnglich ganz unbekannt. Der primitive Mensch, weit entfernt, eine angeborene Neigung zum Tauschen zu besitzen, hat im Gegentheil eine Abneigung gegen dasselbe. Tausch und t\u00e4uschen ist in der \u00e4lteren Sprache eins. Es gibt keinen allgemein anerkannten Werthma\u00dfstab. Man muss deshalb f\u00fcrchten, im Tausche betrogen zu werden. Au\u00dferdem ist das Arbeitsproduct sozusagen ein Theil des Menschen, der es erzeugt hat. Wer es einem anderen \u00fcberl\u00e4sst, ent\u00e4u\u00dfert sich eines Theiles seiner selbst und gibt den b\u00f6sen M\u00e4chten Gewalt \u00fcber sich. Bis tief in das Mittelalter hinein ist der Tausch unter den Schutz der OefFentlichkeit, des Abschlusses vor Zeugen, der Anwendung symbolischer Formeln gestellt\u00ab1).\nNun kann freilich kein Zweifel sein, dass da, wo die ungleiche Vertheilung des Grundbesitzes und die Unstetigkeit der Productions-bedingungen \u2014 Dinge, die ja nie und nirgends gefehlt haben \u2014 in der einen Wirthschaft Ertrags\u00fcbersch\u00fcsse, in der anderen Mangel hervorriefen, das Bed\u00fcrfniss des Austausches sehr fr\u00fch sich eingestellt haben muss, was schon aus rein psychologischen Gr\u00fcnden sehr einleuchtend ist. Gerade die Thatsache aber, dass der erste Tauschverkehr lediglich aus dem Bed\u00fcrfniss eines derartigen Ausgleichs von Mangel und Ueberfluss entsprang, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass er mit den urspr\u00fcnglichen Zwecken jenes primitiven Wirthschaftssystems nichts gemein hat, und die factische Bedeutung, welche der Tausch f\u00fcr die Periode der \u00bbgeschlossenen Hauswirth-schaft\u00ab gehabt hat, best\u00e4tigt diese Auffassung vollkommen.\nZun\u00e4chst wird \u2022 es sich \u00fcberhaupt nur um gelegentliche wechselseitige Aush\u00fclfe gehandelt haben, wozu dann allerdings, wie B\u00fccher darlegt, wirkliche Tauschhandlungen sehr bald hinzutraten : \u00bbKorn um\n1) B\u00fccher, Entstehung der Volkswirthschaft. S. 16f. Wundt, Philos. Studien. X.\n30","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nAlfred Wenzel.\nWein, ein Pferd um Getreide, ein St\u00fcck Leinentuch um ein Paar Schafe. Dieser Tauschverkehr erweitert sich durch das beschr\u00e4nkte Vorkommen mancher Naturgaben und die \u00f6rtlich gebundene Production vielbegehrter G\u00fcter. Bestimmte Artikel dieses Verkehrs werden in oft geschilderter Weise zu allgemeinen Tauschmitteln: Pelze, Wollenzeug, Matten, Vieh, Schmuckgegenst\u00e4nde, endlich Edelmetall. Es entsteht das Geld; der Hausirhandel, die M\u00e4rkte treten auf; es zeigen sich Spuren entgeltlichen Creditverkehrs\u00ab. Aber, wie derselbe Forscher hinzuf\u00fcgt: \u00bbdie innere Structur des Wirthschaftslebens (d. h. der \u00bbgeschlossenen Hauswirthschaft\u00ab) wird dadurch nicht ber\u00fchrt. Ansto\u00df und Richtung empf\u00e4ngt jede Einzel-wirthschaft nach wie vor durch den Einzelbedarf ihrer Angeh\u00f6rigen ; was sie zur Befriedigung desselben selbst erzeugen kann, muss sie hervorbringen. Ihr einziger Regulator ist der Gebrauchswerth. .Der Landwirth taugt nichts', sagt der \u00e4ltere Plinius, ,der da kauft, was eigene Wirthschaft ihm gew\u00e4hren kann', und dieser Grundsatz ist noch viele Jahrhunderte nachher in Geltung geblieben\u00ab1).\nDasselbe, was vom directen Austausch gesagt ist, gilt auch vom Handel. Wenn er in der primitiven Form des Hausirhandels auch schon sehr fr\u00fch aufgetreten sein mag, so bleibt er doch f\u00fcr das Ganze des Wirthschaftslebens auf dieser Stufe von durchaus secund\u00e4rer Bedeutung. Die Zwecke der isolirten Hauswirthschaft gehen eben unverkennbar darauf hinaus, nur soviel zu produciren, als innerhalb des geschlossenen Kreises des Oikos verzehrt wird, und diese Zwecke zu durchbrechen ist der Zwerghandel dieser fr\u00fchen Zeit au\u00dfer Stande. Die geringe locale Ausdehnung desselben, die kleine Zahl der Objecte, auf welche er sich erstreckt, sowie die Thatsache, dass seine engherzigen Tendenzen den Productionsprocess nirgends aus der urspr\u00fcnglichen Geschlossenheit herausdr\u00e4ngen, wodurch die Autonomie der Einzelwirthschaft unversehrt erhalten bleibt, lassen ihn lediglich nur als Nebeneffect der Wirthschaft, als \u00bbL\u00fcckenb\u00fc\u00dfer\u00ab derselben erscheinen, der, auch zugestanden, dass er nie und nirgends gefehlt hat, den Charakter der Aggregation, wie er einer volkswirtschaftlichen Betrachtung dieses Wirthschaftslebens sich aufdr\u00e4ngt, keineswegs aufhebt.\n1) B\u00fccher, a. a. O. S. 36ff.","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n459\nEbenso wenig nun, wie Handelsbeziehungen, haben in dieser Periode \u00bbDienst-, Lieferungs- und Abgabenverh\u00e4ltnisse zwischen Hauswirthschaften unter einander, wie zwischen ihnen und gr\u00f6\u00dferen Gemeinschaften und Oberh\u00e4uptern\u00ab gefehlt, ich glaube aber nicht, dass dieselben, wie A. Wagner meint1), \u00bballein gen\u00fcgen, um einen Complex wirthschaftlicher Erscheinungen zu geben, der als Volks-wirthschaft aufzufassen ist\u00ab. Insofern jene \u00bbVerh\u00e4ltnisse\u00ab dem Be-d\u00fcrfniss eines Ausgleichs von Mangel und Ueberschuss entsprangen, sind sie mit den primitiven Tauschhandlungen auf eine Stufe zu stellen, insofern ihre Bedeutung aber wesentlich darauf hinausl\u00e4uft, bestimmte Solidarit\u00e4ts- und Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen zur Geltung zu bringen, tritt nicht ihre rein wirthschaftliche, sondern in erster Linie ihre politisch-rechtliche Mission in den Vordergrund, und als solche sind sie ebenso wohl im Rahmen eines Systems lose an einander gereihter Wirthschaftsaggregate denkbar, wie im Rahmen eines ausgebildeten volkswirthschaftlichen Organismus. Auch da, wo es in sp\u00e4terer Zeit sich um umfassende finanzpolitische Institutionen handelte, wie \u00bbdie Besteuerung der st\u00e4ndischen Periode, die Festsetzung von Steuercontingenten und von Ma\u00dfst\u00e4ben der Repartition auf die einzelnen St\u00e4dte und einzelnen Wirthschaften (agrarische, st\u00e4dtische u. s. w.)\u00ab2) wird aus dem blo\u00dfen Bestehen derartiger Verh\u00e4ltnisse ein Pr\u00e4judiz f\u00fcr das Vorhandensein eines ebenso umfassenden organischen Wirthschaftszusammenhanges nicht gemacht werden d\u00fcrfen. Vielmehr rechtfertigt die Existenz aller dieser Verh\u00e4ltnisse zun\u00e4chst nur h\u00f6chstens die Annahme, dass eine socialpolitische Organisation im allgemeinen Sinne vorhanden war,\n1)\tSiehe A. Wagner\u2019s Recension von B\u00fccher\u2019s \u00bbEntstehung der Volkswirtschaft\u00ab in den Preu\u00df. Jahrb. Heft III. M\u00e4rz 1894. So behauptet Wagner folgendes: \u00bbJedes noch so rohe System von Abgaben und Dienstpflichten der ,Hauswirthschaften' und ihrer Angeh\u00f6rigen, insbesondere zun\u00e4chst ihrer Herren gegen\u00fcber politischen und hierarchischen Autorit\u00e4ten bedingt begrifflich und besitzt auch historisch eine gewisse Regelung, bei welcher die einzelne Wirthschaft als Glied eines wirthschaftlichen Ganzen, eben der gr\u00f6\u00dferen und kleineren ,Volkswirthschaft\u2018 unter einer Autorit\u00e4tsherrschaft erscheint\u00ab. Ich halte nur folgenden Schluss f\u00fcr berechtigt: Nicht als Glied eines wirthschaftlichen Ganzen (einer Volkswirtschaft) erscheint auf Grund jener Regelung die einzelne Wirthschaft hier, sondern als Glied eines politischen Ganzen; ein Satz, der freilich zur billigen Weisheit wird, da er rein tautologisch ist.\n2)\tWagner, ibid.\n30*","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460\nAlfred Wenzel.\nob ein wirtschaftlicher Organismus auf Grund solcher Voraussetzung nachweisbar ist, kann einzig und allein nur die factische historische Bedeutung lehren, die der wirthschaftlichen Seite jener Erscheinungen beizumessen ist. Dass aber diese Bedeutung auf der Stufe der \u00bbgeschlossenen Hauswirthschaft\u00ab gerade das ausschlie\u00dft, worauf es ankommt, die wirthschaftliche Wechselbeziehung der Kr\u00e4fte n\u00e4mlich, die die Autonomie der Einzelwirthschaft durchbricht, und den Productionsprocess in die Bahnen eines allgemeinen Tausch Verkehrs leitet, muss, glaube ich, jeder unbefangenen Beobachtung jener primitiven Zust\u00e4nde unverkennbar einleuchten.\nWo es sich darum handelt \u2014 und das ist ja hier die Hauptfrage \u2014 welche Bedeutung eine Institution f\u00fcr das wirthschaftliche Leben eines Volkes gehabt hat, da wird man sorgf\u00e4ltig darauf bedacht sein m\u00fcssen, eben diese eine Seite der Erscheinung, auf welche es ankommt, aus dem Blickpunkt der Betrachtung niemals zu verlieren. Was wir Wirthschaftserscheinungen nennen \u2014 das Wort im strengen, sozusagen begrifflich-comprimirten Sinne genommen \u2014 f\u00fchrt, losgel\u00f6st von den anderen Lebens\u00e4u\u00dferungen der Menschen, den Formen des Hechts, der Sitte, der Sittlichkeit u. s. w. zwar nirgends in der Wirklichkeit ein isolirtes Dasein. Stets sind uns in der Erfahrung die wirthschaftlichen Vorg\u00e4nge zugleich als Thatsachen dieser anderen Lebens\u00e4u\u00dferungen gegeben, sie erhalten und bewegen sich, wie Knies einmal sagt, immer nur im organischen Zusammenh\u00e4nge mit der Gesammtentwickelung ihres allgemeingeschichtlichen Lebens; eben weil dieses aber der Fall ist, weil jedes jener Gebiete zugleich besonderen, nur ihm eigenth\u00fcmlichen Zwecken folgt, die oft genug interferiren und jedenfalls niemals in der Concretion der Erscheinungen so klar ins Bewusstsein fallen, dass es, um sie zu finden, blo\u00df eines Appells an unsere Selbstbesinnung bed\u00fcrfte, ist die Aufgabe hier eben die, alles, was als charakteristisches Merkmal den einzelnen Theil-erscheinungen nicht zukommt, aus den Wahrnehmungscomplexen reinlich auszuscheiden. Ma\u00dfgebend f\u00fcr die Wirthschaftserscheinungen hleibt hier allein das oben dargelegte Verh\u00e4ltniss von Production und Consumtion. Mit anderen Worten: Wirthschaftserscheinungen, in dem Sinn, in welchem sie f\u00fcr die Aufstellung","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n461\nder \u00bbStufen der Volkswirtschaft\u00ab, soweit dieselbe von logischen Gesichtspunkten sich beherrschen l\u00e4sst, in erster Linie in Betracht kommen, sind nichts anderes als Producte der isolirenden Abstraction, die, geleitet von zwingenden Motiven, aus den complexen Gebilden der Wahrnehmung bestimmte in gemeinsamen Merkmalen \u00fcbereinstimmende Elemente losl\u00f6st, um sie, wenigstens zeitweise, gesondert zu betrachten und mit dem Verst\u00e4ndniss ihres eigenen Charakters \u2014 immer nat\u00fcrlich auf Grund des thats\u00e4chlichen Geschehens \u2014 auch dasjenige ihres Zusammenhanges mit den anderen Erscheinungen logisch zu vermitteln.\nMit dem vorhin Gesagten ist zugleich der Auffassung Raum gegeben, dass der sociale Organismus (im weiteren Sinne) zweifellos fr\u00fcher vorhanden war, als der socialwirthschaftliche Organismus (im engeren Sinn), womit nichts anderes gesagt sein soll, als dass zur Zeit, wo das Wirthschaftsleben noch in den Formen der isolirten Hauswirthschaft, d. h. also in den Formen blo\u00dfer Aggregation, sich abspielte, Recht, Sitte, Sittlichkeit und.all die anderen Culturformen des socialen Lebens zu mehr oder weniger umfassenden organischen Zusammenh\u00e4ngen sich l\u00e4ngst aufs innigste verschlungen haben.\nHierbei kommt weiterhin namentlich folgendes in Betracht. Die Natur derartiger Zusammenh\u00e4nge ist dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihnen Zwecke ausbilden, die aus individuellen Willensbestrebungenallein nicht erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, obschon freilich diese Zwecke immer erst dadurch reale Bedeutung gewinnen, dass sie sich in letztere transformiren. Indem individuelle Strebungen weit \u00fcber ihre urspr\u00fcnglichen Ziele nach Inhalt und Umfang hinauswachsen, kommt es, dass sie ihre individualpsychologische F\u00e4rbung g\u00e4nzlich verlieren und logisch-allgemeing\u00fcltigen Charakter annehmen; was wir \u00bblogisch\u00ab nennen, ist ja \u00fcberhaupt nichts anderes, als diese dem individuellen Leben entwachsene h\u00f6here, allgemeing\u00fcltige Form des Psychologischen.\nDas Wirthschaftsleben jedoch in der Periode der \u00bbgeschlossenen Hauswirthschaft\u00ab entbehrt solcher logischen Inhalte noch ganz ; und insofern aus diesen tieferen Gr\u00fcnden hier von organischen Zusammenh\u00e4ngen nicht gesprochen werden kann, findet auch die \u00bbabstracte Wirthschaftstheorie \u00ab hier ein Aufgabenfeld nicht vor. Ich werde sp\u00e4ter auf diesen Punkt zur\u00fcckkommen. An dieser Stelle m\u00f6chte","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462\nAlfred Wenzel.\nk\nich nur noch ausdr\u00fccklich hervorheben, dass der hauswirthschaft-lichen Periode der Name Volkswirthschaft ebenso wenig zugesprochen werden kann, wie der Name Socialwirthschaft. Denn die wesentliche Bestimmung dieser beiden Begriffe bleibt eben die organische Structur des wirthschaftlichen Lebens: jene bezeichnet denjenigen wirthschaftlichen Organismus, der innerhalb des Zweckgebietes der bestimmten politisch-rechtlichen Organisation eines bestimmten zut staatlichen Einheit zusammengefassten Volkes sich abspielt, diese bezeichnet den wirthschaftlichen Organismus schlechthin, d. h. unabh\u00e4ngig gedacht von allen besonderen politischen Ma\u00dfnahmen und nationalen Schranken, lediglich als das Product freien socialwirthschaftlichen Verkehrs1).\nGegen\u00fcber dem Nebeneinander der Einzelwirthschaften, die von den F\u00e4den des Handels und des directen Austausches in dieser Periode nur lose umsponnen erscheinen, tr\u00e4gt jede derselben allerdings durchaus organisches Gepr\u00e4ge. So stellt die \u00bbfamilia urban a\u00ab auf Grund ausgedehnter Arbeitstheilung bereits ein \u00fcberaus reich gegliedertes System mannigfachster Wechselwirkung dar, innerhalb dessen jeder ebenso sehr von den Leistungen des anderen abh\u00e4ngig ist, als er durch Uebernahme eines Theils der Gesammtarbeit an der Zweckth\u00e4tigkeit des Ganzen mitarbeiten hilft. Daher wird man nicht fehl gehen, wenn man diese Einzelwirthschaft mit der Zelle vergleicht, aus deren inneren Lebensbedingungen heraus der volkswirthschaftliche Organismus der sp\u00e4teren Zeit sich entwickelt hat.\nErst ganz allm\u00e4hlich, im Laufe jahrhundertelanger Umbildung, geht die \u00bbgeschlossene Hauswirthschaft\u00ab in eine neue Entwickelungsform \u00fcber, n\u00e4mlich in die der \u00bbStadtwirthschaft\u00ab (nach B\u00fccher\u2019s Bezeichnung), und damit ist in dem Fortschritt zur Volkswirthschaft eine wichtige Etappe bezeichnet. \u00bbDas Wesen dieser Wirthschaft\u00ab, sagt B\u00fccher2), \u00bbliegt darin, dass die auf den Anbau des Bodens gegr\u00fcndete Einzelwirthschaft einen Theil ihrer Selbst\u00e4ndigkeit verliert, indem sie nicht mehr im Stande ist, ihren gesammten G\u00fcter-\n1)\tVergl. hiermit die Definitionen Dietzel\u2019s in seiner Dissertation: Das Verh\u00e4ltniss der Volkswirthschaftslehre zur Socialwirthschaftslehre. Berlin 1882. Einleitung.\n2)\tEntstehung der Volkswirthschaft. S. 43.","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirtliscliaftslehre.\n463\nbedarf mit eigenen Kr\u00e4ften zu erzeugen, und dauernd und regelm\u00e4\u00dfig der Erg\u00e4nzung aus den Producten anderer Wirthschaften bedarf. Es bilden sich aber nicht sofort vom Boden losgel\u00f6ste Wirthschaften, deren Tr\u00e4ger etwa die industrielle Veredelung von Stoffen f\u00fcr Andere oder die berufsm\u00e4\u00dfige Leistung von Diensten oder die Besorgung des Austausches zur ausschlie\u00dflichen Erwerbsquelle machen. Vielmehr sucht nach wie vor ein jeder Wirth soweit als m\u00f6glich dem Boden s\u00e8inen Unterhalt abzugewinnen; hat er dar\u00fcber hinaus Bed\u00fcrfnisse, so benutzt er eine besondere Geschicklichkeit seiner Hand, einen besonderen Productionsvorth\u00e8il seines Wohnortes, der in Feld, Wald oder Wasser ihm entgegentritt, um ein specielles Erzeugnis im Ueherfluss hervorzubringen: der eine Getreide, der andere Wein, der dritte Salz, der vierte Fische, ein f\u00fcnfter Leinwand oder ein sonstiges Product des Hausflei\u00dfes. Auf diese Weise entstehen einseitig entwickelte Sonderwirthschaften, welche auf den regelm\u00e4\u00dfigen gegenseitigen Austausch ihrer Ueberschussproducte angewiesen sind. Dieser Austausch bedarf zun\u00e4chst nicht eines organi-sirten Handels. Wohl aber bedarf er leichterer Verkehrsformen, als sie das \u00e4ltere Recht bot, und diese finden sich durch die Ausbildung des Marktwesens\u00ab.\nIndem der Tausch durch die immer mehr Bedeutung gewinnende Ausbildung des Marktverkehrs, wie er mit der Entwickelung des St\u00e4dtewesens Hand in Hand geht, die Autonomie der einzelnen Wirthschaftsaggregate der fr\u00fcheren Zeit durchbricht, wird die ganze Structur des Wirthschaftsbildes von Grund aus ver\u00e4ndert. Da die Einzelwirthschaften des platten Landes die gesteigerten Bed\u00fcrfnisse ihrer Angeh\u00f6rigen nicht mehr zu befriedigen im Stande sind, und ebenso die Bewohner der Stadtmarkungen, wo nach und nach die gewerbliche Arbeit sich condensirt, auf die Producte des platten Landes angewiesen bleiben, entsteht zwischen Stadt und Land ein System regelm\u00e4\u00dfigen directen Austausches und ein Zustand best\u00e4ndiger wechselseitiger Abh\u00e4ngigkeit.\nAus der selbst\u00e4ndigen Zelle der Hauswirthschaft entfalten sich so die beiden relativ ebenfalls selbst\u00e4ndigen Wirthschaftskreise der Stadt und des platten Landes, die nun verschiedene Wirthschafts-aufgaben selbst\u00e4ndig \u00fcbernehmen, aber dadurch, dass sie, um das materielle Bed\u00fcrfnissieben des Menschen \u00fcberhaupt zu befriedigen, zu","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464\nAlfred Wenzel.\ngemeinsamen Zwecken sich verbinden, die Einheit der geschlossenen Hauswirthschaft sozusagen in h\u00f6herer, abstracterer Form wiederherstellen.\nZun\u00e4chst bleibt jedoch beachtenswerth, dass diese Wechselwirkung von Stadt und Land sich lediglich in den Formen eines rein privatwirthschaftlichen Verkehrs vollzieht, und dass erst im Laufe von Jahrhunderten diese Formen allm\u00e4hlich schwinden. \u00bbArt und Umfang der Production bestimmt noch immer der Grundbesitzer, der den Kohstoff erzeugt; er leitet auch den ganzen Pro-ductionsprocess. Der Bauer erzeugt den Roggen, drischt und reinigt ihn und gibt dann das Korn dem M\u00fcller gegen Naturallohn (Molter) zum Vermahlen; das Mehl erh\u00e4lt der B\u00e4cker und liefert gegen den Backlohn und Ersatz des Heizmaterials eine Anzahl Brotlaibe daraus. Vom Momente der Aussaat bis zum Augenblick des Brotgenusses ist das Product niemals Capital gewesen, sondern immer nur Gebrauchsgut auf dem Wege zur Genussreife. An das fertige Product heften sich keine Unternehmergewinne und Zinsenzuschl\u00e4ge oder Austauschprofite, sondern nur Arbeitsl\u00f6hne\u00ab1).\nDer Gewerbetreibende (Lohnwerker, nach B\u00fccher\u2019s Terminologie) arbeitet in dieser Wirthschaftsperiode stets f\u00fcr einen bestimmten Consumentenkreis. Die Roh- und H\u00fclfsstoffe werden ihm vom letzteren geliefert, und im Verlauf des ganzen Productions-processes wechseln sie niemals ihren Besitzer. Bald sind es die Kunden, welche den \u00bbLohnwerker\u00ab auf seinem Preisstande, auf dem Markte oder in seiner h\u00e4uslichen Betriebsst\u00e4tte aufsuchen, um gegen St\u00fccklohn ihm das unfertige Product in Arbeit zu geben, bald zieht jener mit seinem Werkzeug aufs Land, auf die St\u00f6r, wie man zu sagen pflegte, d. h. er begibt sich in die H\u00e4uslichkeit der Besteller, um gegen Wohnung und Unterhalt f\u00fcr die Zeit des Bedarfs ihnen seine Arbeitskraft und Geschicklichkeit zur Verf\u00fcgung zu stellen.\nWas dem Arbeiter zu eigen geh\u00f6rt und als Erwerbsmittel dient, ist lediglich das Werkzeug; ein anderes Betriebsmaterial als dieses besitzt er nicht. Als der lebendigste, geistigste und gleichsam pers\u00f6nlichste Theil der Sachg\u00fcterwelt der geschlossenen Hauswirth-\n1) B\u00fccher, a. a. O. S. tOO.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialvvirthschaftslehre.\n465\nschaft tritt das Werkzeug so aus dem Bannkreis derselben zuerst heraus, und indem es dem Arbeiter als Erwerbsmittel dient, wird es auf der Stufe der Stadtwirthschaft Capital; die Boh- und H\u00fclfs-stoffe jedoch gehen vorl\u00e4ufig in den Dienst des Erwerbs noch nicht ein, sondern bleiben nach wie vor rein subjective Gebrauchswerthe, d. h. Vorr\u00e4the des Hauses. Daher handelt es sich ebenso wie auf der Stufe der geschlossenen Hauswirthschaft nicht um Production von G\u00fctern, die zum Austausch bestimmt sind und sociale Gebrauchswerthe darstellen, welche ihre Consumenten erst finden sollen (Waaren)1), sondern um bestellte Arbeit, d. h. um Fabrikate, die ihre Abnehmer bereits besitzen, und die sofort nach ihrer Herstellung in die H\u00e4nde derer \u00fcbergehen, die sie bestellt haben.\nVom volkswirtschaftlichen Gesichtspunkt ist der Lohnwerker als der integrirende Theil einer geschlossenen Einzelwirtschaft nicht mehr anzusehen; bewaffnet mit dem Werkzeug, steht er iin Kampf um das Dasein auf eigenen F\u00fc\u00dfen; an die Stelle der Sclaven-und Frohnarbeit, die nur den Zwecken des Oikos- oder Frohnherrn diente, ist die Kundenproduction getreten, und so erscheint das sclavische Band, das den Arbeiter an die Scholle einer einzigen Wirtschaft fesselte, gel\u00f6st; aber der Umstand, dass er die Rohstoffe geliefert erh\u00e4lt, und dass er an die Zwecke eines bestimmten Bedarfs aufs engste gebunden bleibt, l\u00e4sst einen Theil der fr\u00fcheren individuellen Abh\u00e4ngigkeitsformen noch bestehen. Dieselben erleiden erst dadurch einen wesentlichen Abbruch, dass die Materiallieferung allm\u00e4hlich ganz von der Hand des Consumenten in die des Producenten \u00fcbergeht, und indem so der letztere sowohl Bearbeiter als Eigent\u00fcmer der Rohstoffe wird, b\u00fc\u00dft das Fabrikat den Charakter des subjectiven Gebrauchswertes ein und wird Tausch-\n1) Interessant ist, wie sich der durchaus moderne Begriff \u00bbWaare\u00ab im heutigen Rechtswesen spiegelt. F\u00fcr die juristische Praxis gilt n\u00e4mlich der Grundsatz, wie ich aus mehreren zur Entscheidung gekommenen Rechtsf\u00e4llen ersehe, dass das blo\u00dfe Aufbewahren von Sachg\u00fctern in Gesch\u00e4ftsr\u00e4umen bereits als ein Feilbieten derselben aufzufassen ist. Darin pr\u00e4gt sich deutlich die Bestimmung der Waaren aus: Sachg\u00fcter zu sein, die lediglich zum Gebrauche Anderer da sind und die Marke des objectiven Tauschwerthes sozusagen mit zur Welt bringen. In der Periode der Stadtwirthschaft ebenso wie in der geschlossenen Hauswirthschaft w\u00e4re eine derartige juristische Auffassung unm\u00f6glich gewesen.","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nAlfred Wenzel.\nobject. Damit ist der Entwickelung von der Gebrauchswerth- zur Tauschwerthproduction der Weg gebahnt.\nMit der Ausbildung des Lohnwerks (wie es soeben kurz gekennzeichnet wurde) war mit B\u00fccher\u2019s Worten \u00bbblo\u00df der Arbeiter aus der Wirthschaft des Grundeigenth\u00fcmers ausgetreten, jetzt folgen ihm auch die anderen Productionselemente\u00ab *). Es entsteht das Handwerk (Preiswerk) im eigentlichen Sinne, d. h. dasjenige gewerbliche Betriebssystem, bei welchem der Producent Eigenth\u00fcmer s\u00e4mmtlicher Betriebsmittel ist und Tausch wer the f\u00fcr einen bestimmten Kundenkreis herstellt. Damit geht, wie B\u00fccher sagt, \u00bbsozusagen ein Riss durch den wirthschaftlichen Productionsprocess. Hatte seither der Grundeigenth\u00fcmer diesen ganzen Process geleitet, wenn auch mit Zuh\u00fclfenahme fremder Lohnarbeiter, so gibt es jetzt zwei Arten von Wirthschaften, von denen jede nur einen Theil des Productionsprocesses vollzieht, die eine erzeugt das Rohproduct, die andere das Fabrikat\u00ab1 2).\nAber auch jetzt handelt es sich immer noch um directe Ber\u00fchrung zwischen Producent und Consument, denn wenn auch der vom Handwerk \u00fcbernommene Theil des Productionsvorganges aus dem Kreis der isolirten Hauswirthschaft v\u00f6llig herausgesto\u00dfen erscheint, so wird doch Art und Umfang der Production lediglich durch den Bedarf einer bestimmten Kundschaft geregelt; das Product ist hier zwar Waare, \u00bbPreisgut\u00ab, geworden, aber nicht \u00bbDutzend-waare f\u00fcr alle Welt\u00ab, sondern Kundenwaare f\u00fcr ein local begrenztes Absatzgebiet3).\nErst die wirthschaftliche Organisationsform der Unternehmung, wie sie in der Fabrik ihren typischen Ausdruck findet, l\u00f6scht alle fr\u00fcheren individuellen Beziehungen zwischen Production und Con-sumtion vollkommen aus. Die fortdauernde Steigerung des Bedarfs, sowie die durch Aufhebung der inneren Zollschranken und durch Erweiterung des st\u00e4dtischen Marktes zu einem nationalen und internationalen Handelsverkehr bedingte Expansion des gesammten Wirth-schaftslebens bringt es mit sich, dass der directe Tauschverkehr\n1)\tB\u00fccher, Artikel \u00bbGewerbe\u00ab, a. a. O.\n2)\tEntstehung der Volkswirthschaft. S. 103 f.\n3)\tArtikel \u00bbGewerbe\u00ab, a. a. 0.","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n467\nzwischen Producenten und Consumenten zur Unm\u00f6glichkeit wird. So schieben sich vermittelnde Zwischenglieder in den Wirthschaftsprocess ein, mit der Tendenz, einerseits die Producte ihren consumtiven Zwecken leichter zug\u00e4nglich zu machen, und anderseits durch Steigerung der Productivit\u00e4t der Arbeit dem nach Inhalt und Umfang ins Ungemessene sich ausdehnenden Bedarf zweckm\u00e4\u00dfig sich anzupassen.\nDiese Aufgaben erf\u00fcllen die beiden letzten wichtigen gewerblichen Betriebsformen: das Yerlagssystem und die Fabrik. Jene ist als Organisation der G\u00fctervertheilung (des Absatzes), diese als Organisation des Productionsprocesses aufzufassen1).\n\u00bbDer Verleger ist\u00ab, nach B\u00fccher\u2019s Definition2), \u00bbein kaufm\u00e4nnischer Unternehmer, der regelm\u00e4\u00dfig eine gr\u00f6\u00dfere Zahl von Arbeitern au\u00dferhalb seiner eigenen Betriebsst\u00e4tte in ihren Wohnungen besch\u00e4ftigt. Diese Arbeiter sind entweder ehemalige Handwerker, v'elche fortan anstatt f\u00fcr viele Consumenten f\u00fcr den einen H\u00e4ndler produciren. Oder sie sind ehemalige Lohnwerker, welche jetzt den Rohstoff, den sie verarbeiten, nicht mehr vom Consumenten, sondern vom Kaufmann empfangen. Oder es sind Bauernfamilien, welche ehemalige Hausflei\u00dfproducte jetzt als Marktwaare erzeugen, die durch den Verleger in den Welthandel gebracht wird . . . .\u00ab\n\u00bbDer Verleger schie\u00dft den kleinen Producenten, die anfangs noch eine ziemlich selbst\u00e4ndige Stellung haben, bald blo\u00df den Kaufpreis ihrer Producte vor, bald liefert er ihnen auch den Roh-stoff und zahlt dann St\u00fccklohn, bald geh\u00f6rt ihm sogar das Hauptwerkzeug (der Webstuhl, die Stickmaschine etc.). Nach und nach sinken die kleinen Producenten, da sie nur einen Abnehmer haben, in immer tiefere Abh\u00e4ngigkeit herunter; der Verleger wird ihr Arbeitgeber, und sie sind Arbeiter, auch wenn sie formell den Rohstoff selbst liefern\u00ab. Und ferner: \u00bbHat beim Verlag das Capital sich blo\u00df des Vertriebs der Producte bem\u00e4chtigt, so ergreift dasselbe bei der Fabrik den ganzen Fabricationsprocess\u00ab .... \u00bbDie Fabrik organis\u00e2t den ganzen Productionsprocess ; sie fasst verschiedenartige Arbeiter in gegenseitiger Ueber- und Unterordnung zu einer einheitlichen wohldisciplinirten K\u00f6rperschaft zusammen, vereinigt sie in\n1)\tB\u00fccher, a. a. 0., sowie \u00bbEntstehung der Volkswirthschaft\u00ab. S. 105ff.\n2)\tibid.","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\nAlfred Wenzel.\neigener Betriebsst\u00e4tte, stattet sie mit einem gro\u00dfen vielgliedrigen Apparat mechanischer Productionsmittel aus und steigert dadurch in eminentem Ma\u00dfe ihre Leistungsf\u00e4higkeit. Die Fabrik unterscheidet sich vom Verlagssystem wie das wohlgeordnete, einheitlich bewaffnete Kriegsheer der Linie vom bunt zusammengew\u00fcrfelten Landsturm\u00ab.\nDie Impulse des Bedarfs gehen jetzt nicht mehr von einem local begrenzten Kundenkreise aus, wie es noch beim Handwerk der stadtwirthschaftlichen Periode der Fall war, sondern von der Gesammtheit der einzelnen Wirthschaftsindividuen selbst. Damit werden die F\u00e4den des Tauschverkehrs aufs mannigfaltigste verschlungen , und der Einfluss privatwirthschaftlicher Beziehungen verschwindet ganz.\nZugleich erzeugt die Gemeinschaft des wirtschaftlichen Lebens, wie bereits hervorgehoben wurde, Erscheinungen, die aus der Eigenart irgend welcher isolirten Bestandteile desselben allein nicht abgeleitet werden k\u00f6nnen. Solche Erscheinungen sind die Gesetze von Angebot und Nachfrage, des Preises, des Zinses, der Rente u. s. w.: Vorg\u00e4nge, die s\u00e4mmtlich constante Beziehungen ausdr\u00fccken, welche gleichsam aus der Tiefendimension des social-wirthschaftlichen Lebens quellen und die organische Gestaltung desselben zur Voraussetzung haben.\nIndem der moderne Tauschverkehr ein Netz von Wechselbeziehungen \u00fcber den ganzen Erdkreis gesponnen hat, d. h. Production und Consumtion heute weit aus einander und gewisserma\u00dfen auf der Peripherie eines Kreises liegen, die \u00fcber die Grenzen der nationalen Volkseinheit weit hinausragt, kommen wirtschaftliche Handlungen nur so zu Stande, dass das ganze Gebiet jenes Tauschverkehrs bald mehr bald weniger beeinflusst wird. Dieses tritt namentlich in den Preisschwankungen, denen die Producte ausgesetzt sind, deutlich hervor, vorausgesetzt nat\u00fcrlich, dass nicht Monopolbewerthungen, Prohibitivz\u00f6lle u. dergl. die gesetzm\u00e4\u00dfigen Bedingungen jenes freien Tauschverkehrs unterbinden. Doch nicht blo\u00df zwischen Angebot und Nachfrage, Production und Consumtion ein und desselben Tauschgutes wie Kaffee, Zucker, Thee u. s. w. herrscht die innigste Wechselbeziehung, so dass ein Sinken oder Steigen des einen oder des anderen Factors sich sofort in ent-","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirtlischaftslehre.\n469\nsprechenden Preisdifferenzen kundgibt, sondern die H\u00f6he dieser Differenzen ist wesentlich mitbestimmt durch den Stand von Angebot, Nachfrage etc. hinsichtlich aller anderen Nutzg\u00fcter, die im Wirth-schaftsverkehr zum Austausch kommen. Braucht doch eine Einzel-wirthschaft niemals Kaffee, Zucker oder Thee allein, sondern zugleich eine gro\u00dfe Menge anderer G\u00fcter, die alle dadurch sich auszeichnen, dass sie nicht da consumirt werden, wo sie hergestellt worden sind, sondern vom Standpunkt der Production aus durchweg \u00bbGebrauchswerthe f\u00fcr Andere\u00ab darstellen, welche, um ihre consum-tiven Zwecke zu erf\u00fcllen, eben gegen andere G\u00fcter eingetauscht werden m\u00fcssen. Insofern in solcher Arbeitsverkehrsgesellschaft niemand das erzeugt, was er selber direct braucht, sondern behufs Befriedigung seiner materiellen Bed\u00fcrfnisse durchweg auf Andere angewiesen ist, deren Producte er durch seine disponiblen Tauschmittel erst erwerben muss, entsteht ebenso sehr eine grenzenlose Abh\u00e4ngigkeit jedes einzelnen vom andern, wie eine durchg\u00e4ngige Solidarit\u00e4t aller wirthschaftlichen Interessen und damit gewisserma\u00dfen der Zustand eines best\u00e4ndigen labilen Gleichgewichtes, so dass auch scheinbar noch so unbedeutende Einwirkungen den ge-sammten Wirthschaftsproeess nach den verschiedensten Bichtungen hin unab\u00e4nderlich in Mitleidenschaft ziehen.\nWesentlich f\u00fcr diese wirthschaftlichen Wechselbeziehungen ist namentlich die kosmopolitische Bedeutung, die unser modernes Geld- und Creditwesen gewonnen hat; auf Grund desselben, sowie im Verein mit dem Welthandel und einer weitgehenden Ausbildung der verschiedenen Formen der Arbeitsteilung tritt das einzelne Wirthschaftsindividuum ebensowohl wie ganze Gruppen, die sich zu wirthschaftlichen Interessenverb\u00e4nden consolidirt haben, und zu welchen in erster Linie die staatlich-nationale Volkswirtschaft selbst geh\u00f6rt, als Organe in den Dienst des gro\u00dfen \u00fcber den ganzen Erdkreis sich erstreckenden wirthschaftlichen Ganzen. Aeu\u00dferlich g-r\u00fcndet sich dieses Zusammenwirken der wirthschaftlichen Kr\u00e4fte auf die Ausbildung der Communications- und Transportverh\u00e4ltnisse und die Vervollkommnung der maschinellen Technik, innerlich st\u00fctzt es sich auf die Macht weitgreifender rechtlicher Organisationen. So konnte die Umbildung der \u00bbStadtwirthschaft\u00ab zu einem volkswirtschaftlichen Organismus erst dadurch zu Stande kommen,","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nAlfred Wenzel.\ndass die Schranken einer Zunft- und Privilegienwirthschaft, sowie die engherzigen Ma\u00dfnahmen einer kleinstaatlichen Zollpolitik endg\u00fcltig auf dem Eechtswege beseitigt wurden, und sp\u00e4ter dann hat die Abschlie\u00dfung internationaler Vertr\u00e4ge auf dem Gebiete des Handels, der Schifffahrt, des M\u00fcnz-, Post- und Telegraphenwesens dem wirthschaftlichen Weltverkehr dauernd die Wege geebnet.\nIn der augenscheinlich immer inniger werdenden Verschmelzung der wirthschaftlichen Interessen mit den Culturinteressen \u00fcberhaupt liegt aber zugleich der Grund, dass trotz der Steigerung der wirthschaftlichen Abh\u00e4ngigkeit und Unselbst\u00e4ndigkeit, wie sie die Function der einzelnen Volkswirthschaften als Organe eines gro\u00dfen Ganzen nothwendig mit sich bringt, in anderer Beziehung doch die Individualit\u00e4t und Selbst\u00e4ndigkeit derselben dauernd erhalten bleibt. Denn je mehr die Wirthschaftsgesetzgebung eines Staates in ihren Aufgaben zugleich die Verwirklichung allgemeiner ethischer Ziele sieht, je mehr sie z. B. die Sch\u00e4den der freien Concurrenz durch eine gerechtere G\u00fctervertheilung auszugleichen bestrebt ist, je mehr kommt der Rechtswille des Staates in dem Wirthschaftsgebiet, welches er umfasst, zur Geltung und dr\u00fcckt ihm sein unausl\u00f6schbares individuelles Gepr\u00e4ge auf.\nDie letzten Bemerkungen f\u00fchren mit R\u00fccksicht auf die Frage nach dem Anwendungsgebiet des Begriffs \u00bbOrganismus\u00ab zugleich zu einigen weiteren Gesichtspunkten, die nunmehr er\u00f6rtert werden m\u00fcssen.\nWenn im allgemeinen der Begriff des Organismus vorhin so charakterisirt wurde, dass seine Merkmale unmittelbar auf das wirtschaftliche Gemeinschaftsleben \u00fcbertragen werden konnten, so sind es doch zwei Umst\u00e4nde, die mindestens einer Modification bed\u00fcrfen, um diese Uebertragung zu gestatten. Einmal scheint das Merkmal der Selbst\u00e4ndigkeit, das dem physischen Organismus zukommt, f\u00fcr den Wirthschaftsorganismus nicht Geltung zu haben, und ferner besteht ein offenbarer Unterschied zwischen beiden darin, dass dort die einzelnen Theile eine freie Selbstbestimmung in keiner Weise zulassen, w\u00e4hrend hier, wo ja Individuen und Gruppen von Individuen diese einzelnen Theile repr\u00e4sentiren, gerade diese freie Selbstbestimmung eins der wirksamsten Momente bildet. Aber n\u00e4her besehen sind diese divergirenden Merkmale f\u00fcr den Begriff","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n471\ndes Organismus keineswegs so wesentlich, als es auf den ersten Blick erscheint. Nimmt man freilich den Begriff der Selbst\u00e4ndig-: keit einzig und allein im absoluten Sinne, so d\u00fcrfte es schwer fallen, zwischen jenen Differenzen einen Ausgleich zu finden. That-s\u00e4chlich aber gibt es, wie Wundt sagt, \u00abin der Erfahrung nirgends ein Ganzes, dem absolute Selbst\u00e4ndigkeit zukommen k\u00f6nnte\u00ab1). Und ferner Simmel: \u00bbAuch der einzelne Mensch ist nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Realit\u00e4ten rechnendes Erkennen fordert . . . . ; wenn man den Individualismus wirklich consequent verfolgt, so bleiben'als reale Wesen nur die punctuellen Atome\u2019\u00fcbrig, und alles Zusammengesetzte f\u00e4llt als solches unter den Gesichtspunkt der Realit\u00e4t geringeren Grades\u00ab2). Man wird mit Wundt die Selbst\u00e4ndigkeit des menschlichen Organismus eine \u00bbgebundene\u00ab, die des socialen Organismus eine \u00bbfreie\u00ab nennen m\u00fcssen3). In der That bewegen sich f\u00fcr unsere Auffassung die Grenzen, innerhalb deren sich die WiTthschaftserscheinungen abspielen, in best\u00e4ndigen Fluctuationen. Mit Recht sagt Dietzel4), \u00bbdass es unm\u00f6glich ist, den socialen Zusammenhang zu verstehen, wenn man immer an die Grenzpf\u00e4hle der Territorien denkt\u00ab. Auch mit dem politischen Ganzen [des Staates oder den ethnologischen Grenzen der Nationalit\u00e4t f\u00e4llt das Socialgebilde der Wirthschaft ja keineswegs zusammen.\nEs d\u00fcrfte in v\u00f6lliger Uehereinstimmung mit Dietzel sein, wenn man folgendes sagt: Man wird die Socialwjrthschaft, wenn man lediglich ihre formalen Grenzen ins Auge fasst, wie sie in Wirklichkeit sich gestalten, als einen Kreis auffassen k\u00f6nnen mit variablem Durchmesser, der mit dem Kreise der Yolks wirthschaft sich keineswegs nothwendig und keineswegs immer deckt, sondern bald weiter, bald enger mit seiner Peripherie \u00fcber letzteren herausgreift. Auch hat der Kreis der Volkswirthschaft gegen\u00fcber dem socialwirthschaftlichen einen relativ festeren Radius, da Nationalit\u00e4t, politische, rechtliche und wirthschaftliche Organisation, m\u00f6gen sie auch noch so sehr ihre specifische F\u00e4rbung umwandeln,\n1)\tWundt, System der Philosophie. S. 590f.\n2)\tSimmel, Sociale Differenzirung. S. 10f. 3) a. a. O.\n4) Dietzel, Ueber das Verh\u00e4ltniss der Volkswirthschaftslehre zur Social-\nwirthschaftslehre. Einleitung.","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472\nAlfred Wenzel.\ndoch den Schwerpunkt des socialwirthschaftlichen Gebietes keineswegs nothwendig tangiren. Man wird im Vergleich zur Volks-/ wirthschaft im strengen Sinn den Begriff der Socialwirthschaft logisch genommen als den weiteren bezeichnen m\u00fcssen, obschon letztere in ihrer concreten Gestaltung in engeren Irradiationsgrenzen sich abspielen kann, als der, wie Wagner bemerkt, \u00bbrelativ geschlossene Organismus der Einzelwirthschaft staatlich-organisirter V\u00f6lker\u00ab.\nDaher h\u00e4lt es Dietzel im Anschluss an Wagner mit vollem Recht f\u00fcr logisch geboten, in die abstracte Lehre von diesem socialwirthschaftlichen Organismus den Stjj,at nicht hereinzuziehen *), und meint, \u00bbdass das Bestehen der concreten , Volks wir thschaften1 die Methode der \u00e4lteren Theorie . . ., welche die Ph\u00e4nomene des wirth-schaftlichen Verkehrs analysirte, zun\u00e4chst ohne den Staat, keineswegs ersch\u00fcttern kaum (Wagner)2).\nHier ist nun eine Stelle, wo an die einleitenden Bemerkungen dieses Abschnittes wieder angekn\u00fcpft werden muss. Es kann kein Zweifel sein, dass der socialwirthschaftliclie^_Organismus, in der \u00bbfreien Selbst\u00e4ndigkeit\u00ab, wie sie soeben zu kennzeichnen versucht wurde, ebenso als Object der abstracten^Wirthschaftstheorie, wie als Object der concreten^Jbis torischen Wirthschaftslehre wird angesehen werden d\u00fcrfen. Freilich wird sogleich hinzugef\u00fcgt werden m\u00fcssen: die letztere, da sie mit historischen Kategorien arbeitet, tritt eben deshalb auch 'mit ganz anderen Gesichtspunkten und mit ganz anderen methodologischen Postulated an jenen \u00bbOrganismus\u00ab heran, als die abstracte Theorie. Jenes Socialgebilde ist ja an sich nur eine Abstraction; es wird empirisch fassbar stets nur an concreten Erscheinungen ; und diese letzteren f\u00fchren immer schlie\u00dflich zu Individuen zur\u00fcck, denen ganz bestimmte psychische Qualit\u00e4ten zukommen, die ferner Glieder eines Staates sind von bestimmter politischer Organisation und eines Volkes von bestimmtem nationalem Gepr\u00e4ge, und die geschichtlich genommen mit all diesen Thatsachen zusammen ein einziges Ganzes bilden. Daher kann denn auch wieder bei diesen Individuen die geschichtliche Betrachtung\n1)\tDietzel, Beitr\u00e4ge zur Methodik der Wirthschaftsw. S. 232f. Siehe Wagner, Handbuch. 1. \u00a754. Anm. 2. Aufl.\n2)\tWagner, a. a. 0. Dietzel, a. a. O.","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n473\nnicht haften bleiben, denn historisch betrachtet sind isolirte Individuen ebenfalls nichts anderes als leere Abstractionen. Was sie als Individuen sind, ist ein geschichtliches Product socialen Gemeinschaftslebens, und die Entwickelung des letzteren bildet eine Wirklichkeit h\u00f6herer Ordnung, die f\u00fcr die Wissenschaft allein in Betracht kommen kann. Die sociale Betrachtung des Wirtschaftslebens kann vom historischen Standpunkte daher nur in der Complication mit den anderen Formen der Gemeinschaft untersucht werden, denn allein in diesen nimmt sie concrete Gestalt an. Das eigentliche^Object aber der Betrachtung, das sozusagen immer wieder im Blickpunkt des Bewusstseins allein erscheint, bleibt doch stets nur die Wirtschaftsgemeinschaft, und unm\u00f6glich kann doch der Begriff der Wirtschaft in der Theorie ein anderer sein, als in der Praxis.\nEs wurde vorhin zu zeigen versucht, dass 'die Selbst\u00e4ndigkeit eines organischen Ganzen eine variable Gr\u00f6\u00dfe*ist; und weiterhin wird Geltung haben, dass auch der Organismus selbst als ein Gebilde wird aufgefasst werden m\u00fcssen, das Abstufungen und Grade eines bald loser, bald enger verkn\u00fcpften Zusammenhanges keineswegs ausschlie\u00dft. Von der Aggregation isolirter Einzelwirtschaften, wie sie eine fr\u00fchere Entwickelungsstufe der Wirtschaftsgeschichte darhietet, bis hinauf zu dem complicirten Socialgebilde der Wirth-schaftserscheinungen von heute liegt ein \u2018continuirlicher Uebergang\u2019 unz\u00e4hliger Organisationsformen, und ebenso schwierig d\u00fcrfte es hier sein, die Uehergangsstadien genau zu bestimmen, wie in der biologischen Entwickelungsreihe des Pflanzen- und Thierreiches.\nDass jedoch die Ver\u00e4nderlichkeit eines Begriffsobjects unvertr\u00e4glich w\u00e4re mit der unbedingt geforderten logischen Bestimmtheit des Begriffs selbst, kann im Ernst nicht eingewandt werden. Die Selbst\u00e4ndigkeit des organischen Zusammenhanges findet nun namentlich darin ihren Ausdruck, dass aus dem organischen Ganzen Zweckbestimmungen hervorgehen, die ein Individuum nie und nimmer allein zu schaffen im Stande w\u00e4re. Gewiss bleiben die Tr\u00e4ger der Willensmotive und damit auch der Zweckhandlungen stets die einzelnen Individuen ; aber aus der wechselseitigen Beeinflussung derselben gehen Gemeinschaftszwecke hervor, die niemals etwa als Resultanten isolirter Kraftcomponenten aufgefasst\nWundt, Philos. Studien. X.\t31","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nAlfred Wenzel.\nwerden k\u00f6nnen, wie die theoretische Mechanik es verlangt: es sind vielmehr L sch\u00f6pferische Synthesen eines Gesammtgeistes selbst\u2019und eine Entwickelung ohne sie w\u00e4re v\u00f6llig undenkbar. Erst dadurch, dass die Einzelindividuen in eine organische Einheit sich zusammenschlie\u00dfen, wird es erm\u00f6glicht, Gemeinschaftszwecke zu schaffen, erst so aber ist es auch m\u00f6glich, dass die einzelnen Individuen diese Gemeinschaftszwecke zu ihren eigenen machen. So kommt es nach Wundt'), 1) dass \u00bbindividuelle Bed\u00fcrfnisse mittelst collectiver Organisation sich beth\u00e4tigen\u00ab und 2) \u00bbZwecke, die nur die Gemeinschaft sich stellen kann, in individuelle Strebungen sich umsetzen\u00ab.\nBietet die Yolkswirthschaft nicht gerade unserer Tage hierf\u00fcr ein treffendes Beispiel?\nNicht die individuelle Erfahrung an sich, sondern nur die Gattungserfahrung, die Product einer hochentwickelten Organisation ist, kann den Blick frei machen f\u00fcr die ungeheuere Bedeutung, die dem materiellen Wirthschaftsleben als Basis des sittlichen Lehens eines Volkes zugesprochen werden muss; nur diese Einsicht kann dann aber auch weiterhin in den staatlichen Pr\u00e4ventionen auf wirthschaftlichem Gebiet zugleich specifisch sittliche Aufgaben erkennen lassen, Aufgaben, die umsomehr zu \u00bbCulturfragen\u00ab werden, je mehr die anderen socialen Interessen mit den wirthschaftlichen verschmelzen.\nSo erweist sich zugleich der Staat gegen\u00fcber der Gesammtheit der ihm untergeordneten socialen Verb\u00e4nde, in welche die Zweckgemeinschaft des Wirthschaftslebens als ein relativ selbst\u00e4ndiges Ganzes sich organisch eingliedert, gewisserma\u00dfen als das Willens-suhject xav \u00e8\u00c7oxrjv, und in der allseitig sich beth\u00e4tigenden pr\u00e4-dominirenden Macht desselben liegt f\u00fcr den Begriff der \u00bborganisirten Gesammtpers\u00f6nlichkeit\u00ab, welche Bezeichnung, wie Wundt sagt, im strengsten Sinne dem Staate allein zukommt1 2), das wichtigste Kriterium. Wagner hat daher geradezu von einem \u00bbGesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatsth\u00e4tigkeit\u00ab und von einem \u00bbGesetz\n1)\tWundt, System der Philosophie. S. 599f.\n2)\tEbenda, S. 611.","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n475\nder vorwaltenden Pr\u00e4ventive (statt der blo\u00dfen Repression) im entwickelten Staat\u00ab gesprochen1).\nWenn nun aber auch jeder diese Tendenz im Bilde der Gegenwart bewahrheitet finden wird, so ist dieselbe doch immer nur begreifbar und gerechtfertigt auf Grund einer organischen Fortentwickelung bestehender Gesellschaftsformen. So viele wirthschaft-liche Organisationsformen wir uns auch denken k\u00f6nnen, niemals werden wir uns ein wirthschaftliches Verkehrsleben denken k\u00f6nnen, das kein Organismus ist. So lange der communistische Socialismus nicht nachweist, dass auch in seinem Zukunftsstaat die Integrit\u00e4t des wirthschaftlichen Organismus gewahrt ist, wird er auch mit Fug und Recht auf das oben genannte Gesetz sich niemals berufen k\u00f6nnen. Nicht blo\u00df an die bereits existirenden Dinge, sondern auch an die sein sollenden Dinge bringen wir das Postulat heran, dass sie uns begreiflich sein m\u00fcssen. Bis jetzt aber hat jener Socialismus viel begreiflicher gemacht, dass er zur Atomisirung, als dass er zu einem Organismus f\u00fchrt.\nWas nun den zweiten Punkt anbetrifft, die freie Selbstbestimmung der Individuen, die ja im physischen Einzelorganismus keinerlei Analogien darbietet, so sei hier auf die Auseinandersetzungen Wundt\u2019s verwiesen (System der Philosophie. S. 596ff. : Der Begriff des Gesammtorganismus). Wundt sagt: \u00bbInsbesondere kann die Zusammensetzung des collectiven Organismus aus organischen Einheiten, denen zugleich ein selbst\u00e4ndiges Leben und eigenes Selbstbewusstsein zukommt, durch welches letztere erst die zur organischen Verbindung f\u00fchrenden Kr\u00e4fte entstehen, keine Instanz gegen die volle Anwendung des Begriffes bilden. Denn physisch wie psychisch ist hierin der individuelle die Vorstufe des collectiven Organismus. Auch jener ist physisch aus Elementen und Organen zusammengesetzt, die als individuelle Einheiten von ihrer Umgebung sich absondern und in den hierdurch bedingten Grenzen ein selbst\u00e4ndiges Leben f\u00fchren\u00ab. Und ferner S. 598 : Es \u00bbist .... festzuhalten, dass die Verbindung zu einem einheitlichen, alle Lebensgebiete umfassenden Ganzen und die Gliederung in Organe, zwischen\n1) Wagner, Ueber die schwebenden deutschen Finanzfragen. S. 76ff. Zeitschrift f. d. gesammte Staatswissensch. 1879. Bd. 35.\n31*","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\nAlfred Wenzel.\ndenen eine der Vielheit der Zwecke entsprechende Arbeitsteilung besteht, die f\u00fcr das Wesen des Organismus allein ma\u00dfgebenden Merkmale abgeben k\u00f6nnen\u00ab.\nWenn man wie Hermann z. B. in der Wirtschaftsgemeinschaft lediglich ein \u00bbAggregat von Einzelwirtschaften\u00ab sieht, so w\u00fcrde eine Wirtschaftswissenschaft im heutigen Sinne v\u00f6llig undenkbar sein. Denn auf Grund jener Auffassung w\u00fcrde sich die Wirthschaftslehre offenbar in ebenso viele Einzelwissenschaften auf-l\u00f6sen m\u00fcssen, als es Einzelwirtschaften oder gar Wirthschaftsubjecte gibt; aber selbst in solcher Zerst\u00fcckelung muss eine n\u00e4here Betrachtung dieser an sich schon unausdenkbaren Fiction zugleich ergeben, dass der \u00bbnational\u00f6konomische Stoff\u00ab, um mit Rodbertus zu reden, d. h. das eigentliche Object der Wirthschaftslehre immer noch v\u00f6llig imagin\u00e4r bleibt. Von einer Wirthschaftsjheorie n\u00e4mlich kann hier deshalb nicht die Rede sein, weil solche Wirthschafts-aggregate ausschlie\u00dflich unter (subjectiv-) psychologische, nicht aber unter \u2018\"allgemein logische Kriterien fallen w\u00fcrden, und von einer Wirtschaftsgeschichte kann noch viel weniger die Rede sein aus dem einfachen Grunde, weil ja der Zweckzusammenhang geleugnet wird, der f\u00fcr die historische Betrachtung unbedingtes Erforderniss ist. Man wird \u00fcberhaupt sagen m\u00fcssen, dass die Einzelwirtschaft an sich keine Geschichte hat, erst die retrospective Causalbetrach-tung, die sie als eine Entwickelungsstufe in einer continuir-lichen Gesammtentwickelung auffassen lehrt, die aber stets von wirklich gegebenen organischen Zusammenh\u00e4ngen ausgeht, bringt sie nachtr\u00e4glich unter historische Kategorien1).\nWenn die \u2018Selbst\u00e4ndigkeit des wirtschaftlichen organischen Gemeinschaftslebens\u2019niemals dem Menschen zum Bewusstsein gekommen w\u00e4re, w\u00fcrden wirthschaftliche Probleme auch niemals sich ihm zur Beantwortung aufgedr\u00e4ngt haben, und A. Smith w\u00fcrde sein epochemachendes Buch \u00bbUeher die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums\u00ab niemals geschrieben haben.\nZusammenfassend sei folgendes gesagt. So lange jedes Gut da verbraucht wurde, wo es hergestellt worden war, war die Einzel-\n1) Wundt f\u00fchrt noch einen anderen Grund hierf\u00fcr an. Siehe Logik, II. S. 588.","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n477\nwirthschaft eine v\u00f6llig isolirte Erscheinung, welcher der Name eines Organs abgesprochen werden muss, da das Collectivgebilde fehlt, zu dem sie als coordinirter Theil einer Gesammtheit in Wechselbeziehung treten konnte. Eine solche isolirte Einzelwirthschaft unter \u00bblogische Kategorien\u00ab zu bringen in dem Sinne, wie die ab-stracte Wirthschaftstheorie es verlangt, ist unm\u00f6glich. Lediglich psychologische Momente k\u00f6nnen hier, wie hervorgehoben wurde, allein in Betracht kommen. Denn da Tausch, Capitalbildung, Credit, Angebot, Nachfrage etc. theils g\u00e4nzlich fehlen, theils aber da, wo sie vorhanden sind, als vor\u00fcbergehende Ausnahmen wirthschaft] ich irrelevant bleiben, und da ferner Production und Con-sumtion ganz in ein und demselben Kreise sich abspielen und die Arbeitstheilung \u00fcber den h\u00e4uslichen Herd sich nicht hinauserstreckt, so geht hier alle Initiative einzig und allein von einem Einzelwillen aus und alles bleibt rein individuell geregelt. Das Wirth-schaftsleben ist im Strome des socialen Lehens hier gleichsam noch nicht liquidirt, es bildet einen Kreis pers\u00f6nlich geregelter Interessen, deren Wirkungen da, wo sie \u00fcber die enge Sph\u00e4re des Familienlebens hinausgreifen, merkbare Spuren nirgends hinterlassen. So f\u00e4llt z. B. die mittelalterliche Frohnhofswirthschaft noch ganz in diesen Entwickelungskreis. \u00bbDas wirthschaftliche Ver-h\u00e4ltniss zwischen Grundherren und Grundh\u00f6rigen\u00ab, wie B\u00fccher darlegt, \u00bbso sehr es unter dem allgemeinen Gesichtspunkte von Leistung und Gegenleistung steht, entzieht sich doch vollst\u00e4ndig den \u00f6konomischen Kategorien, die aus der Tauschwirthschaft hervorgegangen sind\u00ab. Verkehrserscheinungen kommen zwar vor: \u00bbMa\u00df und Gewicht, Personen-, Nachrichten- und G\u00fctertransport, Ueber-tragung von G\u00fctern und Leistungen; aber allen fehlt das Charakteristische des tauschwirthschaftlichen Verkehrs: der specielle Rapport jeder einzelnen Leistung mit ihrer Gegenleistung und die freie Selbstbestimmung der mit einander verkehrenden Sonderwirth-schaften\u00ab1).\nWesentlich anders liegen die Dinge bereits auf der sp\u00e4teren Entwickelungsstufe. Da die G\u00fcter auf dieser Entwickelungsstufe aus der Wirthschaft, die sie hergestellt hat, direct in die H\u00e4nde\n1) B\u00fccher, a. a. O. S. 34.","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nAlfred Wenzel.\nderjenigen Wirthschaft \u00fcbergehen, die sie verzehrt, und da feiner innerhalb des Productionskreises eine Arbeitstheilung im ausgedehnten Ma\u00dfstabe vorhanden ist, auch das Geld bereits die Function des Tauschmittels \u00fcbernimmt, so treten hier die Gesetze von Production und Consumtion, Angebot und Nachfrage, von Tausch, Werth und Preis etc. in Kraft, aber im eigentlichen Sinne sind sie auch hier keine wirklichen wirthschaftlichen Probleme. Alle jene Factoren erhalten hier ihre Directiven immer noch Von au\u00dfen her\u2019und von Fall zu Fall; die Lohns\u00e4tze und Waarenpreise sind durch Taxen fest bestimmt, der Marktverkehr muss bis aufs Kleinste sich gesetzlichen Bestimmungen f\u00fcgen, die ganze Stadt ist, wie man mit Schmoller im bildlichen Sinne wird sagen d\u00fcrfen, gewisserma\u00dfen eine Productivgenossenschaft; das ganze wirthschaft-liche Leben der Stadt stellt zwar eine feste Organisation dar, aber der eigentliche Schwerpunkt derselben liegt au\u00dferhalb, n\u00e4mlich in dem Willen der Stadtobrigkeit. So ist hier f\u00fcr irgend welche Deductionen einer Wirthschaftstheorie kein Ort. Dazu kommt, dass namentlich in sp\u00e4terer Zeit auf dieser Wirthschaftsstufe es keineswegs immer ausschlie\u00dflich wirtschaftliche, sondern vielfach auch politische Motive waren, die zum Eingreifen der obrigkeitlichen Gewalt in den Kreis der Wirthschaft Veranlassung gaben. \u00bbHandelt der Staat\u00ab, sagt Dietzel, \u00bbaus wirthschaftlichem Interesse . . . ., so werden die socialwirthschaftlichen Bewegungen in ihrem Lohnsatz [z. B.] reflectirt. Bei politischen Motiven aber h\u00f6rt jede M\u00f6glichkeit und Notwendigkeit, jene etwaige Bewegung des Lohnsatzes zu verfolgen und zu analysiren, auf\u00ab *).\nErst auf der letzten Stufe, der Periode der Volkswirtschaft, d. h. wie B\u00fccher sie charakterisirt, der Stufe der Waarenpro-duction und des eigentlichen G\u00fcterumlaufs, wo die G\u00fcter eine Reihe von Wirtschaften durchlaufen m\u00fcssen, ehe sie zur Consumtion gelangen k\u00f6nnen, erst hier sind alle Bedingungen vorhanden,\n1) Dietzel, Beitr\u00e4ge zur Methodik etc. S. 245. Hier findet sich auch der gleiche Gedanke J. S. Mill\u2019s erw\u00e4hnt. Mill, Principles. Bd. II. Cap. VIII. \u00a7 2: \u00bbWhen the partition of the product is a matter of fixed usage, not of varying convention, political economy has no laws of distribution to investigate. It has only to consider .... the effects of the system\u00ab.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n479\ndie zum Begriff des socialwirthschaftlichen Organismus noth-wendig sind, und erst hier ist jede Einzelwirthschaft nun selber Organ, d. h. ein mit dem ganzen socialen Gemeinschaftsleben in engster Wechselbeziehung stehendes Glied dieser Gesammtheit selbst.\nSo hat sich heute ein Netz selbst\u00e4ndiger aufs engste mit einander verbundener Wirthschaftsbeziehungen \u00fcber die ganze Erde ausgebreitet und die Formen der Arbeitstheilung und der Capitali-sirung, des Handels, der Waarenproduction und des Gro\u00dfbetriebes, die es geschaffen, haben ein Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss und eine Solidarit\u00e4t der Interessen hergestellt, die den engeren Kreis der Familie und der Gemeinde, sowie des Staates und der Nationalit\u00e4t l\u00e4ngst durchbrochen haben. Da die Production sich heute v\u00f6llig getrennt vollzieht von der Consumtion, die Wirthschaftsg\u00fcter daher, um ihren Endzweck zu erf\u00fcllen, erst eine Reihe von Einzelwirtschaften durchlaufen m\u00fcssen, so kann das Wechselverh\u00e4ltniss, das zwischen jenen beiden Factoren naturgem\u00e4\u00df existirt, nur dadurch zum Ausdruck kommen, dass es die gesammten wirtschaftlichen Interessen aller jener Einzelwirtschaften best\u00e4ndig alterirt. Diese unbegrenzte Abh\u00e4ngigkeit hat wiederum auf der geistigen Seite zugleich die Wechselwirkung der Motive zum Correlate. Denn \u00fcberall sind es ja geistige Kr\u00e4fte, die sich unter der Oberfl\u00e4che der Erscheinungen abspielen, und indem diese letzteren den Charakter der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit, der ihnen innewohnt, unmittelbar auf die \u00e4u\u00dferen Erscheinungen \u00fcbertragen, werden sie ebenso wohl zu Erzeugern wie Tr\u00e4gern derselben.\nFreilich \u2014 und es ist dieses bereits angedeutet worden \u2014 soll damit nicht geleugnet werden, dass auch Natureinfl\u00fcsse in das Wirthschaftsleben eingreifen. Dieser \u00bbreale Factor\u00ab, wie ihn Knies mit einem nicht ganz zutreffenden Ausdruck nennt, kann gerade in der Wirthschaftslehre um so weniger unber\u00fccksichtigt bleiben, als ja, wie fr\u00fcher erw\u00e4hnt wurde1), zun\u00e4chst nur das materielle G\u00fcterleben es ist, das sie in den Kreis ihrer Betrachtung zieht. Doch auch hier gilt das Gleiche, was vorhin von den materiellen G\u00fctern gesagt worden ist: die Naturbestimmtheit\n1) Vergl. S. 451 f.","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nAlfred Wenzel.\ndes Volkscharakters, die physischen Bedingungen, unter denen das Lehen des Einzelnen steht, die nat\u00fcrliche Beschaffenheit des Bodens, das Klima und die geographische Lage eines Landes \u2014 das alles sind Factoren, die f\u00fcr die wissenschaftliche Erkenntniss des Wirthschaftslebens nur da in Rechnung kommen, wo eine psychische Seite die \u00f6konomische Bedeutung derselben erst zum Bewusstsein bringt. Nur wo der Wille des Menschen von diesen Factoren her seine Impulse erh\u00e4lt und selber zweckgestaltend eingreift in diese Welt der Naturerzeugnisse, hebt er sie mit in die Welt der Geisteserzeugnisse hinein, wodurch an Stelle der mechanischen Erkl\u00e4rung der Erscheinungen mit Recht nunmehr die teleologische, d. h. die psychologische, treten kann, da der Wille des Menschen zur realen Ursache und die objectiv zweckm\u00e4\u00dfige Gestaltung dev Dinge zur realen Wirkung geworden ist.\nIm allgemeinen hat schon Knies1 2) die secund\u00e4re Bedeutung jenes physischen Factors' des wirtschaftlichen Lebens richtig erkannt. Eben \u00bbso wenig\u00ab, sagt er, \u00bbwie die Gesetze des Falles, der Hagelbildung, der Anziehungskraft, sind ,die festen Naturgesetze, nach denen die verschiedenen Arten sachlicher G\u00fcter entstehen, ver\u00e4ndert und zerst\u00f6rt werden, wie das Aufwachsen nutzbarer Pflanzen mit H\u00fclfe des Nahrungsstoffes im Boden und in der Atmosph\u00e4re, die Entstehung von Milch, Fleisch und Fett aus der Nahrung der Hausthiere12) an sich Gesetze der Volks wirthschafts-lehre. Sie festzuhalten, ihre Wirksamkeit zu bestimmen u. s. w.\nist Sache anderer Disciplinen......... Ein zweiter Factor ist das\nErgebniss der Th\u00e4tigkeit des Menschen, ohne dessen Mitwirkung eben gar keine wirthscha ft liehe Erscheinung m\u00f6glich ist; der Mensch tritt mit seiner Selbstbestimmung leitend und lenkend, verst\u00e4rkend und ank\u00e4mpfend auf dieses und jenes Ziel hin an jene naturgesetzlichen Kr\u00e4fte heran; erst indem seine Th\u00e4tigkeit mit ihnen zusammenwirkt, entsteht die \u00f6konomische Thatsache\u00ab.\nMan wird allgemein sagen k\u00f6nnen: alle Geisteswissenschaft zieht die physische Seite der Naturerscheinungen nur soweit in\n1)\tKnies, Politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpunkte. l.Aufl. Abschn. 6. S. 237.\n2)\tRau, Grunds\u00e4tze der Volkswirthschaftslehre. 1847. \u00a7 11.","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n481\nBetracht, als sie zugleich eine geistige Seite offenbaren; aus der Causalit\u00e4t der letzteren jedoch sch\u00f6pft sie ausschlie\u00dflich ihre letzten Interpretationen; umgekehrt kann das Erkl\u00e4rungsgehiet der Naturwissenschaft stets nur ein mechanisches sein ; ihre eigentliche Herrschaft ist zun\u00e4chst da, wo eine psychische Seite der Dinge nicht nachweisbar ist ; aber auch da, wo dieselbe nachweisbar ist, kann es sich bei ihr stets blo\u00df um mechanische Causalit\u00e4t handeln und alle teleologische Betrachtung h\u00f6chstens nur als H\u00fclfsmittel der Veranschaulichung dienen. Gewiss ist es ja an sich nicht ausgeschlossen, die teleologische Auffassung auch auf das Naturgeschehen zu \u00fcbertragen : die Zweckbetrachtung ist lediglich nichts anderes, als eine retrospective Causalbetrachtung. Da wir als Willenssubjecte best\u00e4ndig Zwecke, die wir uns gesetzt haben, realisiren, und da wir best\u00e4ndig demnach in der Vorstellung die objective Erf\u00fcllung eines Zweckes anticipiren, so ist es damit psychologisch motivirt, dass wir an jedes wirkliche Geschehen, welches wir beobachten, Zweckvorstellungen heranbringen, theils um jenes Geschehen nach solchen Zweckvorstellungen zu be-urtheilen, die eine Realisirung noch nicht gefunden haben, theils unter der Annahme, dass Zwecke thats\u00e4chlich mit jenem Geschehen bereits erf\u00fcllt sind, um zu fragen, welche Bedingungen n\u00f6thig gewesen waren, diesen Zweckeffect zu vollenden. So l\u00e4sst sich die Zweckbetrachtung ebenso dem Satz vom Grunde unterordnen, wie die Causalerkl\u00e4rung; nur der Gesichtspunkt wechselt. \u00bbStets\u00ab, sagt Wundt, \u00bbist diejenige Ordnung der Erscheinungen, hei welcher wir von dem Bedingenden zu dem Bedingten fortschreiten, eine Ordnung nach Causalit\u00e4t, diejenige dagegen, bei welcher wir von dem Bedingten zur Bedingung zur\u00fcckgehen, eine Ordnung nach dem Zweck-princip1). Und ferner, \u00bbdas Wesen der teleologischen Betrachtung besteht .... gerade darin, dass eine eingetretene Wirkung in der Vorstellung anticipirt wird\u00ab.\nWenn nun aber auch an sich nichts hindert, die subjectiv-teleologische Betrachtung an alle Dinge heranzuhringen, so ist die quaestio juris, die Frage nach der erkenntnisstheoretischen Recht-\n1) Wundt, Logik. I. 2. Aufl. S. 646; vergl. \u00fcberhaupt Cap. III das Zweck-princip. S. 567\u2014585.","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482\nAlfred Wenzel.\nfertigung solcher Auffassung, noch nicht entschieden. Zwecke da suchen zu wollen, wo ein Wille, der Zwecke objectiv verwirklicht hat, nicht nachweisbar ist, grenzt an Phantastik. Dasselbe wird nicht minder auch von der Idee der Entwickelung gelten m\u00fcssen. Wundt hat endg\u00fcltig nachgewiesen1), dass das Princip der Ent-/\" wickelung nur da eine reale Bedeutung gewinnt, wo es sich um das thats\u00e4chliche Eingreifen zwecksetzender Willens\u00e4u\u00dferungen, d. h. also um psychische Wechselwirkung, psychische Causalreihen handelt; daher ist die Zweckerkl\u00e4rung, die mit diesem Princip solidarisch ist, als ein Grundsatz wissenschaftlicher Forschung allein g\u00fcltig auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften.\nMan wird daher zusammenfassend sagen k\u00f6nnen: Auf das Reich der Naturcausalit\u00e4t \u00fcbertragen, mag die teleologische Auffassung immerhin ihre relative Berechtigung in soweit finden, als sie zur Verdeutlichung und Veranschaulichung des causalen Zusammenhanges sich n\u00fctzlich erweist, im Grunde aber kann sie auf diesem Gebiet zumal da, wo organische Gestaltungen nicht in Betracht kommen, nur die Rolle jener \u00bbfaulen Teleologie\u00ab spielen, von welcher Kant spricht; denn die nothwendige Voraussetzung einer entwickelungsgeschichtlichen Auffassung der Dinge, n\u00e4mlich die objectiv nachweisbare Einheit eines durch zwecksetzende Intelligenz geschaffenen organischen Zusammenhanges, ist hier nirgends gegeben2). Bei der formalen Uebertragbarkeit aller unserer Begriffs-\n1)\tWundt, a. a. O., namentlich aber: System der Philosophie. S. 483ff., sowie an vielen anderen Stellen.\n2)\tEs muss hier, obwohl es direct nicht zur Sache geh\u00f6rt, dennoch, um Missverst\u00e4ndnissen vorzubeugen, darauf hingewiesen werden, dass etwa der \u00bbDarwinismus\u00ab keineswegs ein Argument gegen die obigen Behauptungen ist. Wie er \u00fcberall in erster Reihe nur organische Entwickelung im Auge hat, bleibt die teleologische Auffassung hier ein auf wirkliche Thatsachen gegr\u00fcndetes For-schungsprincip, wenn es auch freilich unter dem hier allein wirksamen Gesichtspunkt einer empirischen Betrachtung solange lediglich den Werth einer vollberechtigten heuristischen Hypothesenbildung hat, als der Nachweis eines nunmehr auch mechanisch begreiflichen Causalzusammenhanges noch nicht erbracht ist. Dass aber erst die Erf\u00fcllung dieser Bedingung aus der \u00bbSelectionstheorie\u00ab eine exacte naturwissenschaftliche Wahrheit machen kann, haben competente Naturforscher wiederholt ausgesprochen. Vor allem Virchow hat von seinem streng naturwissenschaftlichen Standpunkte mit Recht wiederholt auf diesen rein hypothetischen Werth des \u00bbDarwinismus\u00ab hingewiesen. Die Bezeichnung \u00bbstruggle for life\u00ab","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n483\nBildungen bleibt es, wie gesagt, dem Forscher anheimgestellt, auch in den Mechanismus der Naturvorg\u00e4nge den Gedanken der Zweckeinheit willk\u00fcrlich hineinzutragen, da aber ein Wille als objectiv wirkender Causalfactor und demgem\u00e4\u00df auch eine objectiv verwirklichte Zwecksetzung hier jedem Nachweise sich entzieht, so kann jenem Gedanken auch nur der Werth subjectiver Ideenbildung zukommen, die damit, dass sie alle Verbindung mit der Erfahrung zerrei\u00dft, sich ganz und gar in den Nebel rein metaphysischer Speculationen verliert. Wenn die teleologische Erkl\u00e4rung daher nur da erfahrungsm\u00e4\u00dfig begr\u00fcndet ist und wissenschaftlichen Werth hat, wo die Annahme eines zwecksetzenden Willens ebenfalls erfahrungsm\u00e4\u00dfig begr\u00fcndet ist, so trifft dies \u00fcberall auf dem Gebiete organischer Bildungen zu, welchen stets auch der Charakter der Zweckerf\u00fcllung innewohnt, denn jede andere Entstehungsweise zweckm\u00e4\u00dfiger Gestaltungen, als die durch Causalit\u00e4t des Willens ist schlechthin undenkbar.\nDa nun Naturbildungen7 \u00fcberall die Zweckhandlungen des Menschen durchkreuzen und so stets wirksame sozusagen retardirende Momente bleiben, die eine ausschlie\u00dfliche Erkl\u00e4rung aus Zweckmotiven unm\u00f6glich machen, werden sie auch in der Geisteswissenschaft, also ''auch in der Wirtschaftswissenschaft\u2019 stets in Rechnung zu ziehen sein. \u00bbWegen dieser thats\u00e4chlichen Verbindung\u00ab, sagt Wundt (Logik, I. S. 582), \u00bbl\u00e4sst sich vom methodologischen Standpunkte aus eine scharfe Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft nicht ziehen\u00ab.\nEs wird aber zugleich als ein erkenntnisstheoretisches Axiom angesehen werden m\u00fcssen, dass niemals Zweckerkl\u00e4rung und mechanische Causalerkl\u00e4rung vermengt oder mit einander verwechselt werden d\u00fcrfen, und dass, wenn die erstere erf\u00fcllt ist, die letztere\n(die ja ganz teleologisch ist) n\u00e4hert sich, wie aus den obigen Ausf\u00fchrungen sich ergibt, immer mehr einer blo\u00df \u00bbsubjectiven Hypothesenbildung\u00ab, wo sie auf Dinge angewandt wird, bei denen Zweckmotive au\u00dfer Betracht kommen, wie z. B. bei den Pflanzen. Wundt sagt Logik, I. S. 649: \u00bbIn manchen F\u00e4llen, bei der Verdr\u00e4ngung z. B. der Pflanzenvariet\u00e4ten durch andere, deren locale Ern\u00e4hrungsbedingungen g\u00fcnstiger sind, wird der Ausdruck [Kampf ums Dasein] mehr im bildlichen Sinne gebraucht\u00ab; siehe ferner Wundt, System der Philosophie, S. 329. Vergl. die einschlagenden Ausf\u00fchrungen Sigwart\u2019s, a. a. O. I. S. 217; IL S. 6ff., 15ff., 2111, namentlich 213.","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484\tAlfred Wenzel. Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslefire.\ndeshalb keineswegs \u00fcberfl\u00fcssig gemacht worden ist. Die mechani-r- sehe Causalerkl\u00e4rung selbst kann aber als eine Aufgabe der Wirth-schaftslehre nicht angesehen werden.\nSo tritt denn \u2014 und darauf zielten die obigen Betrachtungen hin \u2014 auch in der Wirthschaftslehre deutlich zu Tage, dass, je tiefer sie in der Analyse der wirthschaftlichen Erscheinungen vordringt, um so mehr sich die Psychologie als ihr unentbehrliches Fundament geltend macht. Diese psychologische Grundlage ist das unverkennbare Kriterium, dass wir es mit einer Geisteswissenschaft zu thun haben, denn alle Geisteswissenschaft f\u00fchrt schlie\u00dflich zur\u00fcck auf unmittelbar gewisse Thatsachen der inneren Wahrneh-mung, deren nothwendig gewordene Trennung von den Gegenst\u00e4nden der \u00e4u\u00dferen Wahrnehmung f\u00fcr die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaft die Motive hergegeben hat.\n(Fortsetzung folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":484}],"identifier":"lit4219","issued":"1894","language":"de","pages":"431-484","startpages":"431","title":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:27:26.082188+00:00"}