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{"created":"2022-01-31T13:36:40.376129+00:00","id":"lit4223","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wenzel, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 10: 604-631","fulltext":[{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\nVon\nAlfred Wenzel.\n(Schluss.)\nXkrst sp\u00e4t ist die Wirthschaftslehre in den Kreis der Wissenschaften eingetreten: sie konnte erst dann strengeren wissenschaftlichen Charakter annehmen, als das wirthschaftliche Leben mehr und mehr sich zu einem Organismus gestaltete, oder, um mit Sch\u00e4ffle zu reden, \u00bbzur Sch\u00f6pfung einer zweiten pers\u00f6nlich bewegten und pers\u00f6nlich bestimmten Au\u00dfenwelt aus dem und in dem urspr\u00fcnglich in sich ruhenden Naturdasein\u00ab.\nMan d\u00fcrfte nun aber \u00fcber das eigentliche Object der Wirthschaftslehre, den Charakter ihrer Aufgaben, sowie \u00fcber die methodischen Schwierigkeiten, welche die letzteren einschlie\u00dfen, schwerlich Klarheit gewinnen, wenn man des besonderen Wesens alles geistigen Geschehens und namentlich der besonderen Art seiner Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit nicht stets sich bewusst bleibt. Stets wird festgehalten werden m\u00fcssen, dass alle Wissenschaft die Aufgabe hat, Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten zu erkennen, und dass' nur soweit, als die Bedingungen daf\u00fcr gegeben sind, von Wissenschaft \u00fcberhaupt die Hede sein kann. Es folgt dies aus der Beschaffenheit und Natur unseres Erkennens \u00fcberhaupt. Alle wissenschaftliche Forschung ist auf das Postulat gegr\u00fcndet, \u00bbdass die logischen Gesetze unseres Denkens zugleich die Gesetze der Objecte unseres Denkens sind\u00ab1).\nl) Wundt, Logik I, S. 82. 504 f. II, 23.","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftsiehre.\n605\nDer Nachweis der Wahrheit dieses Grundsatzes\u2019) an den empirischen Erscheinungen ist das ideale Ziel, dem alle\u00e7 Erkennen zustrebt.\nSo baut die Wissenschaft in die Welt der Wirklichkeit eine ideale Welt des Denkens hinein, die von vornherein keineswegs mit der ersteren sich deckt, die aber auf dem Wege fortgesetzter Analyse und Synthese einer immer vollkommeneren Congruenz mit der Wirklichkeit zustrebt und ihr relativ h\u00f6chstes Ziel da erreicht hat, wo es (wie die angewandte Mechanik es theilweise verwirklicht) m\u00f6glich ist, f\u00fcr die Regelm\u00e4\u00dfigkeit der,Erscheinungen einen quantitativen Ausdruck zu finden, so dass Denken und Sein nun zwar immer noch, ja man kann sagen erst recht, wie Form und Inhalt sich gegen\u00fcberstehen, das formaleerh\u00e4ltniss beider zu einander jedoch in v\u00f6llig commensurableJFactoren aufgel\u00f6st ist, die jeden Punkt in Zeit und Raum v\u00f6llig eindeutig bestimmen1 2).\nDass den Geisteswissenschaften die Erreichung eines solchen Ideals unm\u00f6glich ist, braucht kaum gesagt zu werden. Durchaus verkehrt aber w\u00e4re es, wenn man das allgemeine Princip der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit deswegen hier weniger streng aufrecht erhalten wollte, als dort3). Dass der Singul\u00e4re Charakter der Erscheinungen in der geistigen Welt\u2019die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit derselben lockert oder gar aufhebt, ist eine v\u00f6llige Absurdit\u00e4t, die, wenn man sie in die Wissenschaft hinein tr\u00e4gt, hier zu einer plumpen contradictio in adjecto wird, weil sie das principielle Postulat aller Wissenschaft in naiver Weise voraussetzt und zugleich verneint.\nMan hat nun den Grund f\u00fcr diesen singul\u00e4ren Charakter der\n1)\tMan ist hier berechtigt, Postulat und Grundsatz synonym zu gebrauchen, Wundt a. a. O. I. 544 ff.\n2)\tMit Hinsicht auf die Naturwissenschaft, aber auch nur mit Hinsicht auf diese, beh\u00e4lt Kant Recht, wenn er sagt, dass nur soviel Wissenschaft in einem Wissen ist, als Mathematik in demselben ist. Ebenso H. Spencer (Prinzipien der Psychologie, deutsch von Vetter, Cap. III. \u00a7 146): \u00bbAlle h\u00f6her entwickelte Wissenschaft besteht im wesentlichen aus quantitativen Voraussetzungen; sie befasst sich mit gemessenen Resultaten\u00ab. Vergl. Sigwart, Logik Bd. II. \u00a7 74. \u00bbDie Anwendung der Mathematik auf Psychologie aber und die Uebertragung mathematischer Schemata auf das psychische Gebiet ist durch die eigenth\u00fcmliche Natur desselben ausgeschlossen\u00ab. S. 157. Wie oft haben die Werththeoretiker der National\u00f6konomie diese Wahrheit verkannt!\n3)\tMenger spricht (Untersuchungen \u00fcber die Methoden etc. Cap. 3) von \u00bbgr\u00f6\u00dferer oder geringerer Strenge der Gesetze\u00ab.","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606\nAlfred Wenzel.\ngeistigen Ph\u00e4nomene darin gesehen, dass man sagte: die Complication der letzten Elemente alles geistigen Geschehens sei so unermesslich mannigfaltig und verschlungen, dass eine vollst\u00e4ndige causale Analyse, die alle Einzelerscheinungen als specielle F\u00e4lle allgemeing\u00fcltiger Axiome und typischer Relationen begreift, noth-wendig ausgeschlossen ist. Gewiss bleibt es richtig, dass solche vollst\u00e4ndige Causalanalyse hier ausgeschlossen ist und das Ziel einer quantitativen Bestimmung und Voraussage als ein g\u00fcltiges regulatives Princip auf geistigem Gebiete nie und nimmer in Betracht kommen kann. Dass aber diese \u00bbGrenze unseres Erkennens\u00ab (falls man \u00fcberhaupt hier diesen Ausdruck anwenden will) vorhanden ist, liegt nicht an der Complicirtheit der Erscheinungen selbst, sondern an dem Cspecifisch verschiedenen Charakter5 derselben, an der v\u00f6lligen cUnvergleichbarkeit* beider, wodurch es n\u00f6thig wird, mit ganz anderen Postulaten an das geistige Geschehen heranzutreten, als auf dem Gebiete der Naturerscheinungen1).\nKeineswegs hat man sich die geistige Entwickelung im Sinne einer mechanischen Erkl\u00e4rung so zu denken, dass die Resultante einer Entwickelungsreihe sich bestimmen l\u00e4sst, wenn ihre einzelnen Componenten gegeben sind, sondern \u00fcberall wird umgekehrt erst die \u00bbResultante\u00ab gegeben sein m\u00fcssen, um den R\u00fcckschluss auf die \u00bbComponenten\u00ab m\u00f6glich zu machen. Aber auch diese \u00bbComponenten\u00ab sind dann keineswegs etwa als Elemente einer letzten (geistigen) Substanz zu fassen, wie die Naturwissenschaft die materiellen Vorg\u00e4nge als Elemente eines einheitlichen materiellen Substrates auffasst, sondern immer nur k\u00f6nnen auf geistigem Gebiete diese \u00bbletzten Elemente\u00ab nichts anderes bedeuten, als psychische Thatsachen,\ni) Gel\u00e4nge es, diese letzteren in eine v\u00f6llig exacte Mechanik der Atome aufzul\u00f6sen, so w\u00e4re in der That das letzte Ziel der Naturwissenschaft erreicht. Aber wie absurd w\u00e4re es, aus solch einem Mechanismus der Bewegungen das ableiten zu wollen, was wir Empfindung nennen, also etwas Geistiges ! N\u00e4her besehen vielmehr ergibt sich, dass diese mechanischen Atombewegungen der K\u00f6rperwelt, insofern als sie begriffliche Formulirungen des \u00bbWesens\u00ab der materiellen Erscheinungen darstellen, selber bereits psychische Acte sind, so dass in dem Versuch etwa daraus \u00bbEmpfindung\u00ab abzuleiten oder erkl\u00e4ren zu wollen, diese letztere bereits vorausgesetzt ist. So steht die Naturwissenschaft gerade am letzten Ziele ihres Erkennens der vollen Urspr\u00fcnglichkeit des Geistigen v\u00f6llig machtlos gegen\u00fcber. Siehe dazu die trefflichen Ausf\u00fchrungen Itiehl\u2019s, Philos. Kriticismus Bd. II, Theil II, S. 25 f. 50 f.","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n607\ndie wir, bevor wir sie verstehen lernen, erst in uns erlebt haben m\u00fcssen, dann aber, wenn wir sie erlebt haben, auch unmittelbar verstehen.\nEs verbirgt sich eben hinter \u2019 der Flachheit der oben zur\u00fcckgewiesenen Argumentation im letzten Grunde nichts anderes, als die heute l\u00e4ngst als ganz willk\u00fcrlich und irrth\u00fcmlich nachgewiesene Annahme einer immateriellen Seelensubstanz, wie sie den Rationalismus seiner Zeit beherrscht hat. Indem man diese \u00bbSubstanz\u00ab nach Analogie der Atome der Naturwissenschaft in einfache gleichartige Elemente aufl\u00f6ste, erblickte man in der Complication derselben das eigentliche Geheimniss alles geistigen Geschehens, und da, wie man ja vorauswissen kann, solche Elemente im geistigen Geschehen sich nirgends nachweisen lie\u00dfen, so stempelte man nachtr\u00e4glich die dunkle Provenienz derselben mit der Marke der Regel- und Gesetzlosigkeit1). Dazu kommt dann noch, dass solche Annahme nur dann einen R\u00fcckhalt findet, wenn sie sich mit der weiteren Annahme eines durchg\u00e4ngigen Indeterminismus verbindet, der dadurch, dass er den Willen aus dem causalen Zusammenhang des Geschehens herausl\u00f6st, nun v\u00f6llig alle psychischen Vorg\u00e4nge unerkl\u00e4rbar macht, ganz abgesehen von den verderblichen praktischen Consequenzen, die er nothwendig nach sich zieht.\nNamentlich offenbart sich darin der specifische Charakter des\ni) Menger leugnet zwar keineswegs Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, doch gibt er, wie er sagt, \u00bbr\u00fcckhaltlos\u00ab zu, dass \u00bbempirische Gesetze von ausnahmloser Strenge auf dem Gebiete der Erscheinungen menschlicher Th\u00e4tigkeit ausgeschlossen sind\u00ab (a. a. O. S. 260). Zugleich spricht auch er mit Hinsicht auf die Axiome der theoretischen N. O. von letzten \u00bbElementen\u00ab (!), aus welchen man zu deduciren hat. In diesem Punkt ist der S chm oller\u2019sehen Polemik gegen Menger durchaus Recht zu geben (Schmoller, Jahrb\u00fccher f\u00fcr Gesetzgeb. und Verw. 1883. S. 243). Auch z. B. die Ansicht Menger\u2019s, a. a. O. S. 153 f., dass \u00bbdie Anerkennung einer Reihe von Socialerscheinungen als \u201eOrganismen\u201c keineswegs im Widerspruch mit dem Streben nach dem exacten (dem atomistischen !) Verst\u00e4ndnisse derselben steht\u00ab, beleuchtet sich nach den obigen Darlegungen wohl von selber. \u2014 Dass die obigen Ausf\u00fchrungen von einem \u00bbDualismus\u00ab weit entfernt sind, darauf kann hier nur hingewiesen werden. Die Grundlosigkeit eines derartigen Einwurfes wird besonders klar aus Wundt\u2019s Ethik 402 ff., vergl. auch Wundt Physiol. Psych. 2. Aufl. II. 451 ff. Logik I, 2. Aufl. 537, Syst. d. Philos. S. 586 ff. Hinsichtl. der Fiction einer Seelensubstanz s. Wundt, Syst, d. Phil. S. 562, namentl. auch Paulsen, Einleitung in die Philos. S. 133 f. 364 ff.","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"608\nAlfred Wenzel.\ngeistigen Geschehens, dass in keiner Weise hier Kraft verloren geht-, stets finden wir vielmehr, wie Wundt lehrt, \u00fcberall auf geistigem Gebiete ein gewaltiges Wach stimm\u2019an Energie, das nirgends auf naturwissenschaftlichem Gebiete' irgend welche Analogien hat1). Indem aber \u00bbdas Princip der Aequivalenz von Ursache und Wirkung, welches uns die vereinfachte Auffassung der Naturvorg\u00e4nge haupts\u00e4chlich erm\u00f6glicht, auf geistigem Gebiet offenbar seine Geltung verliert \u00ab, bringt dieser Umstand \u00bbeine unendlich viel gr\u00f6\u00dfere individuelle Mannigfaltigkeit der geistigen Vorg\u00e4nge und namentlich einen fortw\u00e4hrenden Fluss der Gesetze des geistigen Lebens selbst mit sich\u00ab2).\nDamit h\u00e4ngt denn auch zusammen, dass der Versuch, die auf Grund historischer Kritik festgestellten Thatsachenfolgen in ihrem psychologischen Causalzusammenhange uns zum Verst\u00e4ndniss zu bringen, eben wegen der Singularit\u00e4t alles geistigen Geschehens, immer nur zu \u00bbSpecialgesetzen\u00ab f\u00fchren kann, d. h. zu solchen Gesetzen, die lediglich nur eine'individuelle Regelm\u00e4\u00dfigkeit\u2019constatiren, jede\u2018axioma tische Verallgemeinerung*aber ausschlie\u00dfen3).\nDie unentwirrbare Complication des geistigen Geschehens, die Epigenesis geistiger Werthe, sowie die Unm\u00f6glichkeit, die zahlreichen der freien Initiative entspringenden Einfl\u00fcsse Einzelner und socialer Gruppen vorauszusehen, ist zugleich der Grund, dass eine Voraussicht der Zukunft sich stets nur in sehr engen Zeitgrenzen bewegen kann4), und abermals tritt hier zu Tage, dass jeder heilsame Fortschritt, wie \u00fcberall, so auch auf wirthschaftlichem Gebiete, niemals anders erhofft werden kann, als auf dem Wege gesetzm\u00e4\u00dfiger organischer Weiterbildung. Da sich die Singularit\u00e4t eines zuk\u00fcnftigen Geschehens niemals in der Vorstellung anticipiren l\u00e4sst, alle Voraussicht vielmehr stets mit g\u00e4nzlich unbekannten und unberechenbaren Factoren zu rechnen haben wird, so bedeutet eine\n') Siehe Wundt, Logik, IL S. 508 ff., Ethik. 2. Aufl. S. 266 und besonders die Abhandlung in den \u00bbPhilosophischen Studien\u00ab Bd. X. Heft 1 : \u00bbUeber psychische Causalit\u00e4t und das Princip des psychophysischen Parallelismus\u00ab.\n2)\tWundt, Ueber den Begriff des Gesetzes in den philos. Studien 1883, Bd. HI. S. 306.\n3)\tWundt, Logik, II. S. 543.\n*) Wundt, System der Philosophie. S. 617.","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00fcge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n609\nrevolution\u00e4re Umwandlung, die die Zeiten nicht mit einander verkettet, sondern zerrei\u00dft, s. z. s. einen Sturz in ein Reich, das v\u00f6llig dunkel und von v\u00f6llig problematischer Existenz ist *).\nGewiss bleibt es ja g\u00fcltig, dass im allgemeinen\u2018die psychische Natur* des Menschen, soweit wir sie geschichtlich verfolgen k\u00f6nnen, einen gewissen constanten^\u00dfharakter dauernd bewahrt hat, und mit Recht wird die Annahme, dass es in Zukunft gleichfalls der Fall sein werde, auf jene Einsicht sich berufen k\u00f6nnen: stets wird aber hier zu beachten sein, dass die Erkenntniss der Constanz des psychischen Charakters ja gerade dadurch gewonnen worden ist, dass wir die Thatsachen des eigenen psychischen Lebens denjenigen der Vergangenheit unterlegten, und da wir die Zukunft auch nur mit Zuhilfenahme der gleichen Methodik zu deuten im Stande sind, so wird alle Voraussicht nicht anders zu bezeichnen sein denn als ein Schluss von einer Analogie auf eine andere.\nIm Hinblick auf die r\u00fcckw\u00e4rts gerichtete Betrachtung aber bleibt die Annahme, dass'\u2019alles hier Theil einer continuirlichen organischen Entwickelung* ist, die unser heutiges Leben in ununterbrochener Kette an das Leben der Vergangenheit kn\u00fcpft, ein Postulat der Erkenntniss \u00fcberhaupt. So und nur so wird es m\u00f6glich sein, vergangenes F\u00fchlen und Denken gerade dadurch objectiv\nl) Aus hiermit im Zusammenhang stehenden Gr\u00fcnden scheint es mir von sehr fragw\u00fcrdigem wissenschaftlichen Werthe zu sein, wenn Menger und Andere einen ganzen Cyclus von besonderen Wissenschaften inauguriren m\u00f6chten, die keinen anderen Zweck haben, als \u00bbGrunds\u00e4tze zu lehren, nach welchen die wirthschaftlichen Absichten des Menschen (je nach Ma\u00dfgabe der Verh\u00e4ltnisse!) am zweckm\u00e4\u00dfigsten erreicht zu werden verm\u00f6gen\u00ab, a. a. O. S. 255. Abgesehen von der Finanzwissenschaft, die Menger gleichfalls zu dieser Kategorie z\u00e4hlt und die ja l\u00e4ngst ihre Selbst\u00e4ndigkeit (wenn freilich auch nicht ganz im Sinne der genannten Kategorie) vollauf bewiesen hat, wird man doch sagen m\u00fcssen, dass es eine Wissenschaft mehr verflachen als vergeistigen hei\u00dft, wenn man diejenigen Bestandtheile k\u00fcnstlich aus ihr herausl\u00f6st, die nur im engsten organischen Zusammenh\u00e4nge mit dem Gange der wissenschaftlichen Untersuchung Sinn und daher auch Werth gewinnen k\u00f6nnen. Freilich hat man nur zu oft \u00fcbersehen, dass die Folgerungen, die sich aus den mit der Wirklichkeit keineswegs sich deckenden Axiomen der Theorie ergaben, gleichfalls rein abstracten Charakter an sich tragen und dass man daher, um \u00bbOrganisationsprincipien\u00ab daraus gewinnen zu k\u00f6nnen, jene Abstractionen durch unmittelbar der Erfahrung entnommene Bestimmungen erst verificiren muss. Aber im Ernst kann man doch aus solcher Kurzsichtigkeit keinen Grund ableiten wollen, eine ganze Encyklo-p\u00e4die von \u00bbReceptwissenschaften\u00ab herzustellen.","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"610\nAlfred Wenzel.\nzu erfassen, dass man im Stande ist, es subjectiv in sich nachzuerzeugen1). Es wird eine Verkennung der Aufgaben der Historik genannt werden m\u00fcssen, wenn sie in anderem Sinne glaubt, \u00bb objective sein zu k\u00f6nnen, als so.\nNur soweit kann das Denken und F\u00fchlen der Vergangenheit uns zug\u00e4nglich sein, als es in dem Reichthum unseres eigenen Denkens und F\u00fchlens eingeschlossen liegt2), und lediglich darauf wird es ankommen, dass durch die sinnvolle Gruppirung der That-sachen und die scharfe Auspr\u00e4gung fester Gesichtspunkte, wie sie in der Form der Darstellung sich zu manifestiren haben wird, diejenigen Bedingungen hergestellt werden, die ein psychologisches Abbild jenes vergangenen Lebens in uns erm\u00f6glichen, damit aber zugleich das lebendige Verst\u00e4ndniss in uns erzwingen. Das Leben der Vergangenheit ist f\u00fcr immer erloschen, soweit es im Geiste der Gegenwart nicht latent liegt und sich in ihm nicht reflectirt; aber wir d\u00fcrfen getrost auf diese Latenz vertrauen, denn die Continuit\u00e4t der geistigen Entwickelung ist B\u00fcrge f\u00fcr sie.\nUm aber diesen Geist der Vergangenheit heraufzubeschw\u00f6ren, bedarf gerade der Wirthschaftshistoriker eines wichtigen, unentbehrlichen Hilfsmittels, n\u00e4mlich des Besitzes fester Begriffe. Gerade hier erf\u00fcllt die \u00bbabstracte Wirthschaftstheorie\u00ab, insofern sie einen Denkzusammenhang herstellt, der die relativ sch\u00e4rfstenJ\u00dfegriffsformulirungen gestattet, f\u00fcr die Wirthschafts-geschichtsschreibung eine bedeutsame, nicht hoch genug zu sch\u00e4tzende Mission. Gewiss bleibt es richtig, was Lotze sagt, dass \u00bbals der zuverl\u00e4ssigste Punkt, von dem aus die \u00fcbrigen schwankenden Gedanken festzustellen sind, uns das gilt, was in jedem Augenblick f\u00fcr uns psychologisch die gr\u00f6\u00dfte Gewissheit hat\u00ab3).\nJ) Wie tief schon Wilhelm v. Humboldt die psychologische und k\u00fcnstlerische Aufgabe der Geschichtsschreibung begriffen hat, erhellt aus dem sch\u00f6nen Ausspruch: \u00bbEr (der Geschichtsschreiber) muss die historische Wahrheit auf einem \u00e4hnlichen Wege suchen, wie der K\u00fcnstler die Wahrheit der Gestalt\u00ab. \u00bbUeber die Aufgaben des Geschichtsschreibers\u00ab in den Abhandlungen der K\u00f6nigl. Akademie der Wissensch. Berlin 1820/21. S. 313.\n2)\tWennL. v. Ranke z. B. meint, man m\u00fcsse, um zu sehen, wie die Dinge gewesen sind, sein Selbst ausl\u00f6schen, so hei\u00dft das vom psychologischen Standpunkte aus ungef\u00e4hr, die Kunst lernen, \u00fcber sefnen eigenen Schatten zu springen.\n3)\tLotze, Logik. S. 481.","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Soeialwirthschaftslehre.\n611\nDem\u2018grenzenlosen Subjectivismus\u2019einer von rein subjectiv- psychologischen Gesichtspunkten beherrschten Auffassung wird alles Erkennen aber gerade dadurch entgegenzuarbeiten haben, dass es an Stelle derselben logische^Kriterien setzt oder, was dasselbe ist, dass es sich logische Instrumente des Denkens bildet, und das sind Be-griffe. Wie ohne feste Begriffsbestimmungen eine Analyse oder auch blo\u00df eine Charakteristik geschichtlicher Thatsachen m\u00f6glich sein sollte, ist v\u00f6llig unerfindlich. Man denke doch nur daran, was dabei herauskommt, wenn z. B. bei der Charakteristik der verschiedenen Wirthschaftsstufen willk\u00fcrlich mit den Begriffen Grundrente, Capital, Unternehmung u. dergl. herumgewirthschaftet wird! Wo diese Begriffe der subjectiven Willk\u00fcr des Einzelnen \u00fcberlassen bleiben, da wird die Geschichtsschreibung zum Roman und sicherlich nicht einmal zu einem guten Roman ! Da entsteht von der Vergangenheit ein Phantasiebild, das nirgends anders existirt, als im Kopfe des Geschichtsschreibers selbst, und aller Flei\u00df des Quellenstudiums, aller auf Sichtung des Quellenmaterials verwandte Scharfsinn ist verlorene Liebesm\u00fche, wenn die m\u00fchselig geschaffene Ordnung des Stoffes durch jene dar\u00fcber kommende Willk\u00fcr der Begriffssch\u00f6pfung immer wieder in ein geistiges Chaos verwandelt wird.\nSo hat die Unkenntniss der \u00bbEntwickelungsstufen der Volkswirtschaft\u00ab selbst die bedeutendsten Theoretiker der \u00e4lteren Schule, M\u00e4nner wie Adam Smith und Ricardo, verleitet, Gesichtspunkte, die dem Erkenntnisszusammenhang der modernen Verkehrswirth-schaft entstammen und im Rahmen derselben sich logisch erprobt haben, ohne weiteres auf primitive Wirthschaftszust\u00e4nde zu \u00fcbertragen. Solche schablonenhafte, auf ungen\u00fcgender historischer Kenntniss beruhende Uebertragung von Begriffsschematen konnte aber nur dazu f\u00fchren, den Thatsachen Gewalt anzuthun, und der wissenschaftlichen Aufgabe, welche Begriffe zu erf\u00fcllen haben, widersprechen derartige mechanische Praktiken von Grund aus. Diese Aufgabe kann einzig und allein nur darin bestehen, dass Begriffe sich zu Urtheilen entfalten, die f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis\u00bb der concreten Erscheinungen eine F\u00fclle kl\u00e4render und erleuchtender Gesichtspunkte einschlie\u00dfen; daher werden sie ihren Rechtstitel stets in der praktischen Anwendung selbst erwerben und immer","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"612\nAlfred Wenzel.\nwieder an der Erfahrung ihre Leistungsf\u00e4higkeit und Tragweite neu erproben m\u00fcssen. Zun\u00e4chst k\u00f6nnen diese \u00bbInstrumente unseres Denkens\u00ab nur f\u00fcr den Thatsachenkreis Geltung haben, dem sie entstammen, und hier wird sich ihre Leuchtkraft nur dann offenbaren, wenn sie aus einem empirischen Erscheinungskreise gewisserma\u00dfen organisch herausgewachsen sind, so dass sie gleichsam die Seele, die Quintessenz dieser Erscheinungen darstellen, und wie in einem Spiegel ihr Wesen klar uns vor Augen f\u00fchren.\nDaher kann es nicht hoch genug gesch\u00e4tzt werden, dass die \u00bbhistorische Schule\u00ab, um jene schiefen aprioristischen Geschichts-constructionen zu beseitigen, zun\u00e4chst die Feststellung der Thatsachen der Vergangenheit, d. h. in diesem Fall die Beschreibung der Wirthschaftserscheinungen sich angelegen sein lie\u00df; und je mehr sie auf Grund sorgf\u00e4ltigen Quellenstudiums sich hierum bem\u00fchte, in um so sch\u00e4rferen Umrissen musste nach und nach die Wesensverschiedenheit der modernen Verkehrserscheinungen von primitiven Zust\u00e4nden hervorleuchten. Dass dieser historischen Arbeit aber die Leistung der abstracten National\u00f6konomie, die wesentlich auf scharfe Begriffsformulirungen und die Auffindung allgemeing\u00fcltiger Gesetze des volkswirtschaftlichen Lebens aus-/* ging, ebenso sehr zu gute kam, wie umgekehrt das reichere und exactere historische Thatsachenmaterial dahin wirken musste, jene Begriffsinhalte zu vervollst\u00e4ndigen und zu vertiefen, liegt so sehr auf der Hand, dass ich niemals habe verstehen k\u00f6nnen, wie diese auf allen Gebieten der Geisteswissenschaften wiederkehrende Wechselwirkung wissenschaftlicher Forschung von Fach\u00f6konomen jemals hat verkannt werden k\u00f6nnen.\nEs sei mir gestattet, einige nahe liegende hierauf bez\u00fcgliche methodologische Gesichtspunkte an dem Beispiel des Begriffs \u00bbUnternehmung\u00ab kurz zu skizziren.\nUnsere moderne Wirtschaft beruht auf Waarenproduction und ist in erster Linie \u00bbTausch und Circulationsverkehr\u00ab. Die Hauptform des wirthschaftlichen Betriebes ist die \u00bbUnternehmung\u00ab. Sie ist nach B\u00fccher\u2019s Erkl\u00e4rung \u00bbeine Verbindung von Arbeit und Capital zum Zweck des Erwerbes, sei es zur Production von Sachg\u00fctern, sei es zur Herstellung von Diensten f\u00fcr fremden Bedarf, aber auf eigene Rechnung und Gefahr\u00ab. Das Wesentliche dieser","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthsehaftslehre.\n613\nBetriebsfoim ist demnach, dass Privatverm\u00f6gen seinen consumtiven Zwecken entzogen und in Productionsmitteln, d. h. als Capital zum Zweck des Erwerbes, angelegt wird, wobei nicht eigener, sondern fremder Bedarf in Rechnung kommt.\nIch glaube, dass, wenn man die vorhin hei Gelegenheit der Er\u00f6rterung des Begriffs \u00bbOrganismus\u00ab gegebenen geschichtlichen Darlegungen aum Vergleich heranzieht, unschwer zu sehen ist, wie die Merkmale, die hier zum Begriff der Unternehmung vereinigt sind, direct oder indirect auf Momente hinweisen, die f\u00fcr den ganzen entwickelungsgeschichtlichen Verlauf der Wirthschafts-erscheinungen von h\u00f6chster charakterisirender Bedeutung sind, und die, ich m\u00f6chte sagen, gleichsamcKrystallisationsmittelpunkte\u2019darstellen, um welche sich das geschichtliche Leben dieser Erscheinungen von den bestimmten Gesichtspunkten jenes Einzelbegriffs aus in durchsichtig-geordneten Massen einheitlich herumgruppirt.\nDenkbar ist die Betriebsform der Unternehmung lediglich auf Grund eines weit ausgebildeten Tauschverkehrs, wo Waaren pro-ducirt werden und wo die Macht des Capitals im Sinne von Productionsmitteln, die zugleich Erwerbszwecken dienen, das Privatverm\u00f6gen ganz oder theilweise occupirt hat. Insofern der Begriff in diesen Anschauungskreisen sich bewegt, finden zwar in erster Linie in ihm nur bestimmte typische Formen der modernen Verkehrsgesellschaft ihre deutliche Spiegelung, und kein Zweifel kann sein, dass die Kenntniss der gegenw\u00e4rtigen Zust\u00e4nde f\u00fcr den Aufbau des Begriffs zun\u00e4chst das Material hergegeben hat. Um aber dieser Kenntniss die methodischen Gesichtspunkte f\u00fcr die Trennung von wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen zu entnehmen, war ebenso eine m\u00f6glichst umfassende Beschreibung der vergangenen Zust\u00e4nde, wie eine solche der gegenw\u00e4rtigen erforderlich; denn zun\u00e4chst konnten alle auf Grund logischer Motive aufgegriffenen Bestimmungen jenes Begriffs lediglich nur hypothetischen und provisorischen Charakter haben, und um den letzteren mehr und mehr von derartigen schwankenden Werthen zu befreien, war offenbar n\u00f6thig, das gesammte Bild zu \u00fcberschauen, in welches jene Betriebsform als organischer Theil einer zusammenh\u00e4ngenden Entwickelungsreihe sich einordnet. Denn dies Ge-sammtbild liegt ja in den gegenw\u00e4rtigen Zust\u00e4nden keineswegs\nWundt, Philos. Studien. X.\t40","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"614\nAlfred Wenzel.\nbeschlossen, sondern da Gegenwart und Vergangenheit continuir-liche entwickelungsgeschichtliche Zusammenh\u00e4nge bilden, f\u00e4llt die letztere in den Rahmen des Ganzen mit hinein und hilft an der inneren Structur des Begriffs sch\u00f6pferisch mitgestalten.\nDas Wesentliche f\u00fcr die methodologische Betrachtung der Genesis des Begriffs bleibt aber vor allem die durchgehende Wechselwirkung, die sich darin beth\u00e4tigt, dass die Elemente desselben ebenso sehr der Kenntniss eines Zusammenhanges von Erscheinungen entspringen, wie sie diesen Zusammenhang mit r\u00fcckwirkender Kraft selbst wieder erst sch\u00f6pferisch gestalten und logisch verdichten. Der scheinbare Widerspruch, der hierin liegt, findet in der erw\u00e4hnten hypothetischen und provisorischen Bedeutung, die den Bestimmungen des Begriffs mit R\u00fccksicht auf den methodischen Gang der wissenschaftlichen Forschung zukommt, seine vollg\u00fcltige Berechtigung. Indem sich an der Hand begrifflicher Theilbestim-mungen zun\u00e4chst eine hypothetische Construction der Wirklichkeit vollzieht und geleitet von der Erfahrung in den Zusammenhang jener Bestimmungen immer wieder neue Elemente sich einschieben, wird die ganze Structur des Begriffs mehr oder weniger organisch umgestaltet, bis schlie\u00dflich aus dem Begriffsganzen ein Werkzeug denkender Betrachtung der Dinge entsteht, das f\u00fcr die Erkenntniss des Zusammenhanges der Wirklichkeit seine Brauchbarkeit dauernd bew\u00e4hrt.\nLogisch genommen ist jedoch der hypothetische und provisorische Werth der Begriffe \u2014 man k\u00f6nnte ihn die \u2018potentielle Energie\u2019derselben nennen \u2014 blo\u00df die eine Seite. Hinzu kommt die andere nicht minder wesentliche, die mit jener aufs innigste zusammenh\u00e4ngt: n\u00e4mlich die heuristische Kraft \u2014 ich m\u00f6chte sie die\u2018actuelle Energie* der Begriffe nennen \u2014 die dieselben auszeichnet, und letztere ist insofern von umfassendster Bedeutung, als sie \u00fcber den Thatsachenkreis, dessen Wesensform der Begriff zum Ausdruck bringt, weit hinausgreift. Wenn der Begriff \u00abUnternehmung\u00ab sich zun\u00e4chst als eine Wesensform der modernen Verkehrsgesellschaft, d. h. also als eine der geschlossenen Hauswirth-schaft z. B. v\u00f6llig heterogene Erscheinungsform offenbart, so zeigt er doch zugleich den Weg an, wo f\u00fcr die Erkenntniss der letzteren die Wesensformen zu suchen sind. Gerade das","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Soeialwirthschaftslehre.\n615\nist wesentlich f\u00fcr den primitiven hauswirthschaftlichen Betrieb, dass er nicht Unternehmung ist, dass Waarenprpduction theils fehlt, theils ganz in den Hintergrund tritt, dass Capital im Sinne von Productionsmitteln, die zum Erwerbe dienen, gleichfalls so gut wie ganz fehlt1), dass Einkommen und Verm\u00f6gen noch eine gleichartige, undifferenzirte Masse bilden2), dass Productionsgemeinschaft und Consumti^nsgemeinschaft zusammenfallen und ein Interesse mehr zu erzeugen, als der pers\u00f6nliche Bedarf der Angeh\u00f6rigen eines Wirthschaftskreises vorschreibt, im allgemeinen nicht vorliegt3). In der Periode der mittelalterlichen Kundenproduction ist zwar der Producent im Besitze von Capital f\u00fcr die Production, aber Capital ist hier vorwiegend nur das Werkzeug; die Roh- und H\u00fclfsstoffe nehmen an dem Process der beginnenden Capitalisirung noch nicht theil, denn es wird nicht auf Vorrath, sondern auf Bestellung gearbeitet; deshalb fehlen auch hier f\u00fcr die Betriebsform der Unternehmung alle Bedingungen4).\nSo erleuchtet im dargelegten Sinne der hier als Beispiel herangezogene Begriff der Unternehmung sowohl Vergangenheit wie Gegenwart, und die constructive Arbeit der Begriffssch\u00f6pfung geht mit der descriptiven Arbeit der historischen Quellenforschung Hand in Hand.\nIII. Ueher den Begriff des socialen Gesetzes.\nBekannt ist, dass der Begriff \u00bbGesetz\u00ab urspr\u00fcnglich der b\u00fcrgerlichen Rechtsordnung entnommen ist, also ganz die Bedeutung von Vorschrift, Anordnung, Befehl hatte5). Erst sp\u00e4ter wurde diese Bedeutung auf die Najur \u00fcbertragen, ohne dass jedoch der Begriff des Gesetzes seines urspr\u00fcnglichen Sinnes dabei entkleidet wurde. Indem man das h\u00f6chste Wesen zugleich als den h\u00f6chsten Gesetzgeber der Welt auffasste, war es ja eine einfache Folgerung, dass man Staats- und Naturordnung unter gleichartige Gesichtspunkte brachte. Erst ganz allm\u00e4hlich und zwar unter dem Einfl\u00fcsse des\n1) B\u00fccher, a. a. O. S. 78.\t2) S. 64. 79.\t3) S. 77 u. a. 0.\n4)\tS. 60. 78 f.\n5)\tWundt, Philos. Studien. Bd. III. 1886. Ueber den Begriff des Gesetzes mit R\u00fccksicht auf die Frage der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. S. 196. S. auch die Bemerkung Sigwart\u2019s in \u00bbKleine Schriften\u00ab 2. Bd. S. 14.\n40*","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"616\nAlfred Wenzel.\nAufschwunges der neueren Physik verlor der Begriff Gesetz diesen Normativcharakter und nahm die Bedeutung streng mechanischer Causalit\u00e4t an. Zwar war auch dem Alterthum die Auffassung mechanischer Naturgesetzlichkeit nicht fremd, aber die aristotelische Philosophie z. B. nahm noch Ausnahmen der Causalit\u00e4t an, d. h. Zuf\u00e4lle, die f\u00fcr das begriffliche Erkennen der Wissenschaft unzug\u00e4nglich bleiben sollten1). Ganz im Sinne jener urspr\u00fcnglichen rein normativen Bedeutung gebrauchen den Begriff des Gesetzes noch Dupont de Nemours und Quesnay: sie deuten Gesetz (law) als eine \u00bbVorschrift f\u00fcr eine richtige Regierung\u00ab2). Bei Turgot dagegen (Eloge de Gournay am Anfang) findet sich die synonyme Uebertragung auf das Gebiet der Natur bereits deutlich ausgesprochen. Er sagt: \u00bbUm die urspr\u00fcnglichen und einzigen auf die Natur selbst gegr\u00fcndeten Gesetze zu erkennen, durch welche sich alle im Verkehr vorkommenden Werthe das Gleichgewicht halten u. s. w. . . ., dazu bedarf es des Auges eines Philosophen und eines Staatsmannes\u00ab.\nDer Begriff Gesetz im Sinne einer streng mechanischen Causalit\u00e4t wurde in seiner ganzen Bedeutung f\u00fcr die Au\u00dfenwelt zum ersten Male von Descartes und ferner von Newton gew\u00fcrdigt. Beide sprechen in diesem Sinne von \u00bbleges naturae\u00ab. Spinoza und Hobbes \u00fcbertrugen dann dieselbe Auffassung auch auf das Gebiet des geistigen Geschehens. A. Smith jedoch gebraucht den Ausdruck Gesetz in n\u00fcancirterer Bedeutung. Er spricht von \u00bbUmst\u00e4nden und Principien, welche den Verlauf eines oder des anderen Vorganges bestimmen\u00ab, z. B. die Arbeitstheilung, und von \u00bbden Regeln, welche die Menschen nat\u00fcrlicherweise beobachten\u00ab. Im allgemeinen sind bei ihm ebenso wie bei den Physiokraten die \u00bbleges naturae\u00ab durchweg Dogma und die Abneigung gegen alles Eingreifen der Staatsgewalt findet hierin ihre St\u00fctze3).\n1)\tWundt, a. a. O.\n2)\tIch entnehme die der Geschichte der Wirthschaftslehre angeh\u00f6rigen Angaben und Citate gr\u00f6\u00dftentheils dem Aufsatze von Bonar, der Gebrauch des Ausdrucks \u00bbGesetz\u00ab in der National\u00f6konomie, in der Zeitschrift f\u00fcr Volkswirth-schaft etc. herausgegeben von B\u00f6hm-Baverk. Bd. I. Heft I. 1892. Die weiteren Ausf\u00fchrungen Bonar\u2019s jedoch stehen zu denen dieser Abhandlung in vollem Gegensatz.\n3)\tleb glaube \u00fcbrigens, dass nicht oft darauf aufmerksam gemacht ist,","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaft slehre.\n617\nJ. Stuart Mill constatirt 2 Classen von Gesetzen: 1) die Gesetze der Production, welche beinahe ganz physischer Natur sind, z. B. das Gesetz der abnehmenden Fruchtbarkeit des Bodens und das Malthus\u2019sche Ueberv\u00f6lkerungsgesetz; 2) die Gesetze der Vej-theilung, die doch nicht ganz dem menschlichen Willen unterliegen, z. B. die Gesetze des Tausches, der L\u00f6hne, des Gewinnes. Auch Bastiat und Carey sprechen von Naturgesetzen des Freihandels hez. des Schutzzolles.\nMan sieht bereits aus diesen fl\u00fcchtigen Angaben* 1), welche reiche Geschichte der Begriff ^Gesetz\u00ab hat, und dieselben Verschiedenheiten seiner Bedeutung, die hier im Nacheinander seiner Entwickelung zu Tage treten, spiegeln sich im Nebeneinander auch heute noch vielfach bei den National\u00f6konomen wieder. Wohl kaum einen anderen Begriff d\u00fcrfte es geben, der so oft im Munde gef\u00fchrt wird und mit dem sich dennoch zugleich so weit divergirende Auffassungen verbinden. Es wird nicht geleugnet werden k\u00f6nnen, dass diese ganze Verwirrung ihren wesentlichen Grund in der anthropomorphistischen Auffassung hat, die dem Begriff Gesetz von Anfang an anhaftete und die ihre psychologische Nachwirkung bis auf den heutigen Tag keineswegs verloren hat. Da nun die Wirthschaftslehre stets es als ihr gutes Recht angesehen hat, nicht blo\u00df zu bestimmen, was ist, sondern auch, was sein soll \u2014 und wer wollte ihr dieses Recht nehmen? \u2014 so war von vornherein dei Beseitigung jenes Anthropomorphismus unter sehr ung\u00fcnstige Bedingungen gestellt.\nWenn man nun, wie es heute vielfach noch geschieht, nur da von Gesetzen sprechen will, wo die Wirkungen der letzten Elemente\nwelche eigenartige petitio principii, abgesehen von anderen Irrth\u00fcmern, sich hinter diesen Anschauungen verbirgt. Die socialen Ereignisse sind unver\u00e4nderliche Naturereignisse, so wird gesagt. Dann sind aber die event. Eingriffe des Staates doch ebenfalls solche Naturereignisse. Welchen Sinn hat es daher, die einen gelten zu lassen, die anderen aber nicht? Es ist ein eigenth\u00fcmlicher, auch sonst vielfach bemerkbarer psychologischer Selbstbetrug, dass man das, was man bereits als realbestehend anerkannt hat, nachtr\u00e4glich wiederum zu Desideraten verfl\u00fcchtigt. (Weitere Beispiele bieten der Platonismus, der Stoicismus, der Buddhismus.) Siehe Simmel, Moralwissenschaft. Bd. I. Berlin 1892, S. 71 f.\n1) Dieselben sollten selbstverst\u00e4ndlich blo\u00df zur allgemeinen Orientirung dienen. Eine ausf\u00fchrliche Geschichte des Begriffs Gesetz liegt au\u00dferhalb der Aufgabe dieser Abhandlung.","page":617},{"file":"p0618.txt","language":"de","ocr_de":"618\nAlfred Wenzel.\nalles Geschehens, d. h. also wirkliche, stets auf letzte prim\u00e4re Kr\u00e4fte zur\u00fcckgehende causale Beziehungen festgestellt sind, so bleibt das allerdings logisch nicht anzufechten1). Es d\u00fcrfte aber zweifelhaft sein, ob f\u00fcr die Mehrzahl der Wissenschaften eine so enge Fassung des Begriffs Gesetz von gr\u00f6\u00dferem regulativen Werthe ist. Gewiss wird die Feststellung des letzten causalen Zusammenhanges, die Kenntniss des gesetzm\u00e4\u00dfigen Wirkens prim\u00e4rer, nicht weiter zerlegbarer Kr\u00e4fte, dieser \u00bbUrph\u00e4nomene\u00ab alles empirischen Geschehens, die wir, um es uns verst\u00e4ndlich zu machen, ihm unterlegen m\u00fcssen und bei denen unser Causalit\u00e4tstrieh zur K\u00fche kommt, gewiss wird dieses ein Ideal sein, dem alle Wissenschaft nothwendig zustreht und das sie niemals wird aus den Augen verlieren d\u00fcrfen \u2014 aber vorl\u00e4ufig sind wir zumal in den Geisteswissenschaften von diesem Ideale noch weit entfernt, weil es der bisherigen Technik unseres Denkens einfach spottet. Was f\u00fcr ein Werth kann daher einer Auffassung zukommen, die jeden Hinweis auf den Thathestand des gegenw\u00e4rtigen, so eng begrenzten. Gesichtskreises unserer Erfahrung vernachl\u00e4ssigt und jeden Compromiss mit derselben in \u00fcbertriebener Vornehmheit ablehnt?\nIn der That hat denn auch eine Auffassung des Begriffs Gesetz im weiteren Sinne als dem obigen l\u00e4ngst in der Wissenschaft B\u00fcrgerrechte gewonnen. So unterscheidet Wundt drei Arten von Gesetzen, die ebenso viele Stadien einer inductiven Untersuchungsmethode darstellen.\nJede einzelne Kegelm\u00e4\u00dfigkeit eines Geschehens, die in dem r\u00e4umlichen und zeitlichen Zusammenhang der Erscheinungen con-statirbar ist, ist in diesem Sinne ein Gesetz. \u00bbAls das Resultat einer Induction\u00ab, sagt Wundt, \u00bbergibt sich stets ein allgemeiner Satz, welcher die einzelnen Thatsachen der Erfahrung, die zu seiner Ableitung gedient haben, als specielle F\u00e4lle in sich schlie\u00dft. Einen solchen Satz nennen wir ein Gesetz\u00ab2). Wie man sieht, ist also hier der*Begriff einer Causalit\u00e4t\u2019noch keineswegs gefordert. Das zweite Stadium der Feststellung von Gesetzen betrifft nach Wundt gegen-\n1)\tSo neigt z. B. Simmel zu einer solchen extremen Auffassung, s. Probleme der Geschichtsphilos. Leipz. 1892. 2. Capitel. Von den historischen Gesetzen.\n2)\tWundt, Logik, II. 1. Aufl. S. 22f.","page":618},{"file":"p0619.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n619\n\u00fcber dem ersten, n\u00e4mlich der Feststellung einzelner, die allgemeiner empirjgcher Gesetze, d. h. die Verbindung mehrerer Einzelgesetze zu einem allgemeinen Gesetz. So ist die Erkenntniss, dass der Planet Mars sich in einer Ellipse um die Sonne bewegt, ein Gesetz erster Art; die Erkenntniss, dass alle Planeten sich in Ellipsen um die Sonne bewegen, ein Gesetz zweiter Art. Beides aber sind lediglich empirische Gesetze, die keinen directen Hinweis auf eine bestimmte causale Erkl\u00e4rung enthalten. Das dritte Stadium sind die Causal^esetze. Die beiden ersten Keppler\u2019schen Gesetze enthalten noch kein Erkl\u00e4rungsprincip f\u00fcr ihre Behauptungen; sie sind nichts als Feststellungen von Thatsachen. Erst die Entdeckung des Gravitationsgesetzes durch Newton brachte in den causalen Zusammenhang jener Thatsachen Licht, indem es die constanten Bewegungsformen der Planeten theils aus der centripetalen Anziehungskraft der Sonne, theils aus den centrifugalen Einzelbewegungen der Planeten erkl\u00e4rte. So kommt also bei der Aufstellung von Causal-gesetzen eine wesentliche Wandlung der urspr\u00fcnglich festgehaltenen Gesichtspunkte zur Geltung: jede causale Beziehung weist auf letzte elementare Triebkr\u00e4fte hin, die, insofern sie lediglich rein begriffliche Formulirungen sind, transempirischen Charakter haben, den Boden der Erfahrung g\u00e4nzlich verlassen und zugleich ein durchaus hypothetisches Moment in sich enthalten, das von der jeweiligen Auffassung des Begriffs der Kraft und also auch der Materie stets seine Sanction erh\u00e4lt.\nWie jedoch unmittelbar erhellt, sind alle diese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten durchaus quantitativer Art. Das Ziel einer m\u00f6glichst elementaren quantitativen Analyse der Naturerscheinungen ist das Ziel ^oder Naturwissenschaften \u00fcberhaupt. Dieses Ziel ist aber nicht in gleicher Weise auch das der Geistesjzissenschaften. Hier kommt das in Betracht, was oben \u00fcber den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaft im allgemeinen gesagt war. Nicht etwa, dass nicht auch die Geisteswissenschaften quantitative Bestimmungen zulie\u00dfen ; dieselben haben aber im allgemeinen hier bei weitem nicht den wissenschaftlichen Werth, wie auf dem Gebiete der Naturerscheinungen. Gerade da, wo es sich um eine causale Erkl\u00e4rung eines geistigen Geschehens handelt, kann es vielmehr stets nur auf qualitative Bestimmungen ankommen, denn alle Geistes-","page":619},{"file":"p0620.txt","language":"de","ocr_de":"620\nAlfred Wenzel.\nWissenschaft deutet zur\u00fcck auf psychische Intensit\u00e4ten und hat ein psychisches Geschehen zur Voraussetzung. Die letzten Elemente mit einem Wort, die causalen Triebkr\u00e4fte,. sind auf geistigem Gebiet die unmittelbaren Thatsachen der inneren Wahrnehmung, die stets auf ein individuelles^Erleben hinweisen, wie sie stets auch ein individuelles Leben widerspiegeln1). Die causalen Faktoren des geistigen Geschehens sind nun aber noch keineswegs sogleich als letzte JLlemente dieses Geschehens zu fassen, vielmehr wird die wissenschaftliche Psychologie allein Richterin dar\u00fcber sein k\u00f6nnen, ob und wieweit bei jenen Erkl\u00e4rungsversuchen von \u00bbprim\u00e4ren\u00ab Seelenkr\u00e4ften die Eede sein kann. Zwar bieten die einzelnen Geisteswissenschaften selber der letzteren werthvolles Material zur Untersuchung dar, die Aufgabe, die Untersuchung auszuf\u00fchren, f\u00e4llt aber ausschlie\u00dflich der Psychologie anheim. \u00bbSo kann\u00ab, sagt Wundt (Logik, II. S. 26), \u00bbdurch statistische Ermittelungen festgestellt sein, dass mit der Erh\u00f6hung der Getreidepreise die Zahl der Geburten und Eheschlie\u00dfungen abnimmt. Die Zur\u00fcckf\u00fchrung dieser empirischen Regel auf ein Causalgesetz ist aber nur m\u00f6glich, insofern man dasselbe etwa als einen speciellen Fall des allgemein psychologischen Gesetzes betrachtet, dass, sobald in unserem Bewusstsein ein einzelner Trieb, wie der Selbsterhaltungstrieb, gesteigert wird, die \u00fcbrigen Triebe eine entsprechende Abnahme erfahren\u00ab.\nWenn vorhin gesagt wurde, dass den quantitativen Gesetzen der Socialwissenschaft im Vergleich zu denen der Naturwissenschaft geringere wissenschaftliche Bedeutung zukommt, so soll damit der Werth der Statistik2), die ja ^durchweg Bestimmungen rein numerischer Art>aufstellt, keineswegs geleugnet werden. Jene Behauptung b\u00fc\u00dft aber an Wahrheit deshalb nichts ein. Denn w\u00e4hrend in der Naturwissenschaft in einer gro\u00dfen Anzahl von F\u00e4llen die\n1)\tSo muss von diesem Gesichtspunkte aus R\u00fcmelin\u2019s Erkl\u00e4rung des socialen Gesetzes als \u00bbAusdruck f\u00fcr die elementare Grundform der Massenwirkung psychischer Kr\u00e4fte\u00ab, S. 10, mindestens als unklar erscheinen. Eine elementare Grundform kann doch stets nur bei individueller Vergleichung zu Tage treten.\n2)\tVergl. zu diesem Abschnitt Wundt, Logik, II. die Capitel \u00fcber die socialen Gesetze S. 571 ff. und \u00fcber die Methoden der Volkswirthschaftslehre S. 586 ff., ferner Sigwart, Logik, 1. Aufl. Bd. II. S. 502 ff.","page":620},{"file":"p0621.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n621\nBeobachtung quantitativer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten unmittelbar ein Vehikel wird f\u00fcr die exacte Causalerkl\u00e4rung der Erscheinungen, bieten uns die statistischen Gesetze zun\u00e4chst lediglich zahlenm\u00e4\u00dfig bestimmte Thatsachen dar,\u201cbei denen ein causaler Zusammenhang nicht erkl\u00e4rt, sondern vorausgesetzt\u2019wird. Um irgend ein Causalverh\u00e4ltniss aufzudecken, bed\u00fcrfen die statistischen Gesetze vielmehr stets der psychologischen und historischen Interpretation, deren H\u00fclfsmittel dann meist aus ganz anderen Beobachtungsquellen gesch\u00f6pft sind, als die statistische Massenbeobachtung der Natur ihrer Aufgaben und Objecte nach es zul\u00e4sst. Nur die individuelle Erfahrung, wie bereits angedeutet wurde, sowie die auf ihr beruhende individuelle Vergleichung kann Aufschluss \u00fcber die letzten causalen Elemente des Geschehens geben. Die letzteren aber sind reale Kr\u00e4fte, die sich in einer aller statistischen Beobachtung v\u00f6llig entr\u00fcckten Sph\u00e4re abspielen. Die Exactheit, d. h. die numerische Bestimmtheit der statistischen Gesetze, bildet in keiner Weise gleich den empirischen Gesetzen der Naturwissenschaft eine Br\u00fccke zu einer ebenso exacten Bestimmung causaler Elemente : vielmehr wird auch da, wo die statistische, Zahlenbestimmung direct auf einen Causalzusammenhang hinweisen mag, es sich stets um qualitative, nicht aber um (exacte) quantitative Erkl\u00e4rungsprincipien handeln k\u00f6nnen.\nMan wird also gut thun, durch den Ausdruck \u00bbExactheit\u00ab die Unbefangenheit des Werthurtheiles sich nicht tr\u00fcben zu lassen. Mit Recht sagt Simmel1): \u00bbDie Addition der F\u00e4lle ist eine Synthesis, die der Beobachter vornimmt; dass sie dieses bestimmte Resultat ergibt, ist freilich objectiv begr\u00fcndet, aber doch nur dadurch, dass jeder seiner Factoren es ist, w\u00e4hrend es einen fehlerhaften Zirkel und eine Art mystischer Teleologie bedeutet, umgekehrt aus der nothwendigen Bestimmtheit des Resultates die der Factoren ableiten zu wollen\u00ab.\nIndem nunfdie statistischen Gesetze in analoger Weise wie die empirischen Gesetze der Naturwissenschaften\u2019 verschiedene Thatsachen in eine functioneileBeziehung zu einander bringen und damit constant parallellaufende Erscheinungen feststellen, ohne\n1) Simmel, Probleme der Geschichtsphil. S. 55, s. a. Wundt, Log., II. S. 577.","page":621},{"file":"p0622.txt","language":"de","ocr_de":"622\nAlfred Wenzel.\njedoch einen causalen Zusammenhang aufzudecken, wird die Bezeichnung \u00bbempirische Gesetze\u00ab ihnen nicht abgesprochen werden k\u00f6nnen. Dass der Raum- oder Zeitabschnitt, auf welchen statistisch ermittelte Thatsachen bezogen werden, nicht die Ursache dieser letzteren sein kann, ist selbstverst\u00e4ndlich. Jedes derartige Gesetz offenbart vielmehr an sich lediglich die Thatsache, dass da, wo bestimmte Erscheinungen sich regelm\u00e4\u00dfig wiederholen, auch gewisse Ursachen die gleichen gewesen sein m\u00fcssen, die f\u00fcr die Regelm\u00e4\u00dfigkeiten der Erscheinungen ma\u00dfgebend waren \u2014 eine Banalit\u00e4t, wenn man will, die wir selbst von der Statistik nicht erfahren w\u00fcrden, wenn sie uns vorher nicht l\u00e4ngst bereits bekannt w\u00e4re. Aber selbst die Voraussetzung der vollkommenen Gleichheit der Ursachen ist mit der Regelm\u00e4\u00dfigkeit der auf statistischem Wege beobachteten Thatsachen noch nicht einmal solidarisch1 * * *). Es lie\u00dfe sich vielmehr denken, dass innerhalb eines socialen Verbandes eine sehr bedeutsame Wandlung der wichtigsten Existenzbedingungen stattgehabt h\u00e4tte, die numerische Massenbeobachtung trotzdem jedoch f\u00fcr die Bestimmungen gewisser Einzelthatsachen die gleichen numerischen Werthe erhielte. Einen zuf\u00e4lligen Ausgleich der durch jene Ver\u00e4nderungen gest\u00f6rten Bilanz anzunehmen, bleibt doch so lange zweifellos berechtigt, als durch das Zur\u00fcckgehen auf die wirklichen causalen Factoren das Gegentheil noch nicht bewiesen ist. Ueberall aber wird die Feststellung\u2018causaler Factoren\u2019nur da m\u00f6glich sein, wo die Ausscheidung \u2018constanter Bedingungen5 von den sie begleitenden zuf\u00e4lligen Umst\u00e4nden methodisch in Angriff genommen wird, wozu dann bei Erscheinungen von quantitativer Bestimmbarkeit noch die \u00bbGradation\u00ab jener ausgeschiedenen und festgestellten Bedingungen als abschlie\u00dfendes, wichtiges H\u00fclfsmittel hinzukommt.\n1) Sigwart, a. a. 0. \u00a7 101. S. 517. \u00bbDie Nothwendigkeit, aus der die einzelnen F\u00e4lle hervorgehen, ist uns ja eben verborgen, wenn wir sie nur zusammenfassend z\u00e4hlen; und da sie alle individuell verschieden sind und im Einzelnen regellos wechseln, da die Einzelf\u00e4lle einer Gruppe, welche einen bestimmten Durchschnitt aufweist, durchaus nicht den Einzelf\u00e4llen der anderen\nGruppe von gleichem Durchschnitt zu correspondiren pflegen, so kann es sich auch nicht um genaue Wiederholung derselben Bedingungen handeln\u00ab, und ferner S. 515: \u00bbSolche Regelm\u00e4\u00dfigkeiten der Zahlen und Durch-\nschnitte sind__zun\u00e4chst blo\u00dfe Beschreibungen von Thatsachen, die\nder Erkl\u00e4rung bed\u00fcrfen, so gut wie die Regelm\u00e4\u00dfigkeit des Wechsels von Tag\nund Nacht\u00ab.","page":622},{"file":"p0623.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n623\nDer vollst\u00e4ndigen oder theilweisen Erf\u00fcllung dieser Forderungen steht die Methode der statistischen Massenbeobachtung jedoch vollkommen machtlos gegen\u00fcber, und als eine grobe Verkennung des Werthes der letzteren muss es bezeichnet werden, wenn Buckle z. B. die Gesetze derselben mit denen der Naturwissenschaften auf eine Linie stellte.\nWorin besteht nun der Werth der statistischen Methode? Ausgehend von dem Gesichtspunkt, der die statistische Methode im eigentlichen Sinne scheidet von der blo\u00dfen statistischen Z\u00e4hlung, d\u00fcrfte hier wesentlich folgendes in Betracht kommen. Insofern es ausschlie\u00dflich auf die Z\u00e4hlung der Theile eines begrifflich bestimmten collectiven Ganzen ankommt, tritt dieselbe lediglich in den Dienst der exacten Beschreibung der Dinge. Indem man numerisch feststellt, wie viel Einwohner eine Stadt hat,' wie viel m\u00e4nnliche und weibliche Personen sich in derselben befinden, wie viel Mitglieder eine bestimmte Berufsclasse hat u. s. w., handelt es sich zun\u00e4chst nur um Einzelthatsachen, die selbstverst\u00e4ndlich als Ausdruck irgend einer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, sei es empirischer oder causaler Art, nicht angesehen werden k\u00f6nnen.,\nNun ist die wesentliche Bedeutung der statistischen Methode im eigentlichen Sinne aber gerade die, an der Hand einer quantitativen Massenbeobachtung zu numerischen Ergebnissen zu kommen, die nicht nur einzelne Facta, sondern \u00bbempirische Regelm\u00e4\u00dfigkeiten\u00ab bedeuten, also 'ein Geschehen in einer allgemeing\u00fcltigen Form* widerspiegeln. Dieses wird in erster Linie erf\u00fcllt durch die Aufstellung von Durchschnittsgr\u00f6\u00dfen. Indem dieselbe f\u00fcr die Vergleichung verschiedener socialer Gruppen und Zust\u00e4nde bestimmte H\u00fclfsmittel nahe legt, dient sie ebenfalls zun\u00e4chst descriptiven Zwecken. Anderseits aber kann auf Grund solcher Vergleichungen zugleich die Kenntniss eines Causalzusammenhanges vorbereitet werden, die es m\u00f6glich macht, zweckgem\u00e4\u00df auf die Dinge einzuwirken1). Damit, dass diese Durchschnittszahlen nicht nur ein\n1) Gesagt wird hier, dass auf das Vorhandensein eines Causalzusammenhanges hingedeutet wird, nicht auf eine Erkl\u00e4rung desselben. Vergl. Wundt a. a. O. \u2014 Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, ausf\u00fchrlich auf diese Punkte einzugehen. Es sei hier noch auf den folgenden Satz Sigwart\u2019s hingewiesen (a. a. O. S. 529). \u00bbWo Schl\u00fcsse aus der Statistik auf Causalgesetze m\u00f6glich sind,","page":623},{"file":"p0624.txt","language":"de","ocr_de":"624\nAlfred Wenzel.\nblo\u00dfes Factum, sondern eine \u00bbfactische Regelm\u00e4\u00dfigkeit\u00ab ausdriicken, ist die Annahme pr\u00e4judicirt, dass sie sich, falls die Zahl der gez\u00e4hlten Objecte ann\u00e4hernd dieselbe bleibt, innerhalb der r\u00e4umlichen und zeitlichen Grenzen, auf welche sie sich bezieht, stets bewahrheiten werde* 1). Dass die Feststellung dieser Regelm\u00e4\u00dfigkeit h\u00f6chstens nur descriptiven Werth und keinen Hinweis enthalten kann auf die ihr zu Grunde liegenden concreten Bedingungen, die ja niemals an den Zahlen selbst, sondern immer nur an den Individuen, die Objecte des Z\u00e4hlens sind, sich beth\u00e4tigen, liegt auf der Hand.\nAnders aber gestaltet sich die Sache, wenn wir einerseits zur Gewinnung von Durchschnittswerthen Zahlenreihen nach speciellen Gesichtspunkten aufstellen, also z. B. bei der Untersuchung der c Wanderungserscheinungen* nicht blo\u00df bestimmte r\u00e4umlich und zeitlich begrenzte Gebiete ins Auge fassen, sondern zugleich \u2014 und zwar m\u00f6glichst ersch\u00f6pfend \u2014 die verschiedenen Arten der Wanderungen in Rechnung ziehen (beispielsweise, nach B\u00fcch er\u2019s Vorschlag, Wanderungen mit steter Ortsver\u00e4nderung scheiden von solchen mit tempor\u00e4rer Umsiedelung und diese wieder von Wanderungen mit dauernder Umsiedelung) und ferner, wenn wir die auf Grund derartiger Classificationen gewonnenen numerischen Ergebnisse mit parallel laufenden Thatsachenreihen in Verbindung bringen, die einem anderen Beobachtungsgebiet angeh\u00f6ren: etwa der Dichtigkeit der Bev\u00f6lkerung, ihrer Berufsgliederung, der Vertheilung des Grundeigenthums, der H\u00f6he der Arbeitsl\u00f6hne, der Preisbewegung der Lebensmittel etc.2). \u00bbIndem\u00ab, wie Wundt sagt, \u00bbzwei neben oder unabh\u00e4ngig von einander ermittelte Thatsachenreihen, die innerhalb der n\u00e4mlichen r\u00e4umlichen oder zeitlichen Grenzen gegeben sind, zu einander in Beziehung gesetzt werden, weisen hier correspondirende Ver\u00e4nderungen, sobald sie mit einer gewissen Regelm\u00e4\u00dfigkeit auftreten, unmittelbar auf causale Beziehungen hin, in welchen die betreffenden Erscheinungen entweder zu einander oder zu ein und derselben dritten Reihe von Thatsachen stehen\u00ab3).\nda liegt der Ausgangspunkt nicht in der Constanz, sondern umgekehrt in den Schwankungen der Zahlen\u00ab.\n1)\tSigwart, Methodenlehre, 1. Aufl. S. 512.\n2)\tB\u00fccher\u2019s Vortrag, \u00bbDie inneren Wanderungen etc.\u00ab in der \u00bbEntstehung der Volkswirthschaft\u00ab. S. 261.\n3)\tWundt, Logik, IL 1. Aufl. S. 581.","page":624},{"file":"p0625.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n625\nAnderseits freilich muss ausdr\u00fccklich. betont werden, dass in einer derartigen Combination verschiedenartiger Thatsachenreihen die Gesichtspunkte rein quantitativer Forschungsmethoden bereits verlassen sind und der Boden einer qualitativen Analyse betreten ist, die \u00fcberall da, wo es sich um die Ermittelung der cau-salen Beziehungen selbst handelt, in ihre vollen selbst\u00e4ndigen Rechte eintritt. Schon die Classification der Wanderungen nach den soeben erw\u00e4hnten Gesichtspunkten, die Gliederung der Berufe, die Scheidung der Selbstmorde nach bestimmten Motiven u. s. w. sind rein qualitative Bestimmungen, die, um die statistische Methode in dem angegebenen Sinne zu befruchten, sich um so wirksamer erweisen werden, je mehr sie ihrerseits von der Methode einer alles nivel-lirenden Massenbeobachtung si\u00e7h entfernen. Welche Schwierigkeiten z. B. derartige Classificationsversuche darbieten, um auf ihrer Grundlage zu statistischen Ergebnissen zu kommen, davon legt bekanntlich die Berufsstatistik ein beredtes Zeugniss ab.\nWenn sich dann weiterhin auf Grund statistischer Ermittelung ergibt, dass z. B. die Auswanderung aus einem Bezirke mit dem Sinken der Arbeitsl\u00f6hne und der Preissteigerung der Lebensmittel w\u00e4chst, so liegt es nahe, hier einen causalen Zusammenhang anzunehmen; der Umstand aber, dass man einen solchen Zusammenhang constatirt, findet doch immer wieder seinen Rechtsgrund allein in psychologischen oder historischen Erw\u00e4gungen, und in den meisten F\u00e4llen werden diese Erw\u00e4gungen schon vor aller statistischen Ermittelung zu bestimmten Resultaten gekommen sein, so dass f\u00fcr die letzteren diese Ermittelung selbst auch hier lediglich nur die numerische Best\u00e4tigung gibt.\nKeineswegs sind nun aber die statistischen^Gesetze der Wirth-schaftslehre die einzigen quantitativer Art. Bei den quantitativen Beziehungen, die zwischen den von der Theorie gebrauchten Begriffen herrschen, wie Production und Consumtion, Angebot und Nachfrage, Tausch und Verkehr, Werth und Preis, Capital und Credit u. s. w. ergeben sich ebenfalls constante_Bestimmungen von theilweise quantitativer Art, deren G\u00fcltigkeit f\u00fcr den concreten Fall durch zahlenm\u00e4\u00dfige Pr\u00fcfung zu beweisen, der Statistik als Aufgabe anheimf\u00e4llt.\nFreilich wird sich bei dieser zifferm\u00e4\u00dfigen Pr\u00fcfung sehr oft zeigen, dass diese Gesetze der Theorie mit der concreten Wirklich-","page":625},{"file":"p0626.txt","language":"de","ocr_de":"626\nAlfred Wenzel.\nkeit keineswegs \u00fcbereinstimmen, und bei dem hypothetischen Charakter der axiomatischen Voraussetzungen, aus welchen jene Gesetze abgeleitet wurden, kann dieses nicht Wunder nehmen. Da die Aufgabe der abstracten Wirthschaftslehre darin besteht, dass sie diejenigen Factoren der G\u00fcterbewegung isolirt untersucht, die in einseitiger oder wechselseitiger Abh\u00e4ngigkeit von einander stehen, und die zugleich wegen ihres vorwiegend formalen und quantitativen Inhalts rein logische Abh\u00e4ngigkeitsbestimmungen zulassen, so werden die Voraussetzungen, unter denen diese letzteren verst\u00e4ndlich gemacht werden k\u00f6nnen, ebenfalls rein abstracten Charakter an sich tragen m\u00fcssen, und an der Erfahrung gemessen, wird ihnen lediglich hypothetischer Werth beigelegt werden k\u00f6nnen.\nSo sehr nun, empirisch betrachtet, die aus diesen Voraussetzungen gewonnenen Resultate ebenso hypothetischer Natur sind, rwie die Voraussetzungen selbst, so bleibt den ersteren dennoch im Rahmen des Begriffszusammenhanges, dem sie angeh\u00f6ren, der Charakter der Allgemeing\u00fcltigkeit und Regelm\u00e4\u00dfigkeit vollauf gewahrt. Daher wird man den S\u00e4tzen der Theorie den Namen \u00bbGesetze\u00ab nicht absprechen k\u00f6nnen ; denn die Regelm\u00e4\u00dfigkeit und Constanz der functionellen^Beziehung, die das ^wichtigste Kriterium? des Begriffs Gesetz bleibt, ist hier voll und ganz erf\u00fcllt. Bedingung wird allerdings sein, dass man die hypothetische Natur dieser Gesetze stets im Auge beh\u00e4lt. Sich aber deshalb hier so zu verklausuliren, dass man \u00bbGesetze von nicht strenger Regelm\u00e4\u00dfigkeit\u00ab annimmt, d\u00fcrfte im Grunde doch nichts anderes hei\u00dfen, als mit der Wissenschaft va banque machen; denn nachdem die streng bestimmte logische Bedeutung ihres wichtigsten Grundbegriffes in eine unbestimmte phraseologische contradictio in adjecto aufgel\u00f6st ist, wird alles \u00fcbrige gleichfalls \u2014 Phrase. Das Gesetz, dass der Preis einer Waare sinkt, wenn die Nachfrage gleichbleibt, das Angebot aber steigt, hat, \u00fcbertragen auf die concrete Wirklichkeit, nur G\u00fcltigkeit, wenn noch weitere bestimmte Voraussetzungen in der Erfahrung verwirklicht sind; aber seiner urspr\u00fcnglichen Bedeutung nach sollte es auch nur f\u00fcr solch einen beschr\u00e4nkten Kreis fester Voraussetzungen G\u00fcltigkeit haben; die Regelm\u00e4\u00dfigkeit der durch jenes Gesetz festgestellten functionellen Beziehung war g\u00fcltig f\u00fcr den Denkzusammenhang der Theorie, nicht aber f\u00fcr die Praxis. Von allen","page":626},{"file":"p0627.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n627\nbegrifflichen Formulirungen wird man lediglich nur verlangen k\u00f6nnen, dass sie Geltung haben innerhalb ein und desselben Denkzusammenhanges ; so lange dieser gewahrt bleibt, ist jene G\u00fcltigkeit dann aber auch eine absolute und im strengsten Sinne unantastbare. Ebenso wie es absurd w\u00e4re, einem Begriff das Merkmal der Allgemeing\u00fcltigkeit zu nehmen, weil er dieses Merkmal nur in einem bestimmten Denkzusammenhange sich zu sichern vermag, ebenso absurd d\u00fcrfte es sein, dem Gesetz das Merkmal der Regelm\u00e4\u00dfigkeit zu nehmen, da die gleichen Bedingungen ebenso nothwendig auch bei ihm erf\u00fcllt sein m\u00fcssen. \u00bbDie Begrenzung der Bedingungen\u00ab, sagt Wundt (Ueber den Begriff des Gesetzes, S. 204), \u00bbist jedem Gesetz, sogar den principiellen S\u00e4tzen der Mechanik eigen. Ob diese Begrenzung gr\u00f6\u00dfer oder kleiner ist, kann keinen Unterschied begr\u00fcnden ; darin, dass uns ein gro\u00dfer Theil der begrenzenden Bedingungen v\u00f6llig unbekannt bleibt, liegt zwar ein sehr wichtiger praktischer, aber kein theoretischer Unterschied\u00ab. Und es gilt auch hier (S. 209): \u00bbNicht das ausnahmslose Zusammentreffen der That-sachen mit dem Gesetz, sondern das ausnahmslose Vorhandensein der Ursachen, auf denen das Gesetz beruht, soll also behauptet werden\u00ab. Und weiterhin S. 210: \u00bbDi\u00e9 Allgemeing\u00fcltigkeit will eben nur ausdr\u00fccken, dass die Bedingungen, welche die Geltung eines Gesetzes bestimmen, immer vorhanden sind, ohne dass damit gesagt wird, dass das Gesetz selbst in jedem einzelnen Fall zur ungest\u00f6rten Geltung gelange\u00ab. Der Fehler, den man dadurch begeht, dass man cdie Gesetze der abstracten Wirthschaftstheorie Gesetze von nicht strenger Regelm\u00e4\u00dfigkeit*nennt, ist ein doppelter, wenn auch gleicher Art: einmal gibt man dem Begriffe \u00bbGesetz\u00ab \u00fcberhaupt eine vage Bedeutung, d. h. reiht ihn \u00fcberhaupt nicht in einen bestimmten Begriffszusammenhang ein, und zweitens confundirt man den von der Theprie geforderten Denkzusammenhang best\u00e4ndig mit dem, welchen die concrete Wirthscjiaftslehre verlangt.\nDer logische Gegensatz, in welchem Theorie und concrete Wirthschaftslehre stehen, wird sich freilich nie \u00fcberbr\u00fccken lassen, und auchcder daraus sich ergebende geringe Erfahrungswerth der aus den abstracten Pr\u00e4missen der Theorie gewonnenen S\u00e4tze5 kann nicht geleugnet werden. Die Theorie arbeitet eben mit Voraussetzungen, die theils in der Wirklichkeit \u00fcberhaupt nicht vor-","page":627},{"file":"p0628.txt","language":"de","ocr_de":"628\nAlfred Wenzel.\nkommen, theils aber auch da, wo sie Vorkommen, oftmals als die ma\u00dfgebenden nicht anerkannt werden k\u00f6nnen. ' So gilt denn von diesen Gesetzen der Theorie das Gleiche wie von denen der Statistik: ihr Erfahrungswerth im Vergleiche zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen ist ein geringer. Freilich ersetzen sie beide diesen Mangel durch den Vorzug einer gewissen Exactheit, d. h. einer gewissen quantitativen (formalen) Bestimmtheit und logischen Allgemeing\u00fcltigkeit, wozu dann f\u00fcr die Gesetze der Theorie noch hinzukommt, dass diese letztere selber es erm\u00f6glicht, an der Hand der psychologischenj\u2019r\u00e4missen, auf welche sie sich st\u00fctzt, nunmehr sofort ihren Gesetzen eine \u2018causale Form5 zu geben, ein Umstand freilich, der den geringen Erfahrungswerth dieser Gesetze um nichts erh\u00f6ht.\nMit Hinblick auf die Erfahrung m\u00f6gen daher immerhin, wie ja neuerdings allgemein \u00fcblich geworden ist, die Gesetze der ab-stracten Wirthschaftstheorie \u00bbGestaltungstendenzen\u00ab genannt werden oder, wie Menger will, Typen und typische Relationen, obwohl diese letztere Bezeichnung zu Missverst\u00e4ndnissen Anlass gibt1). Stets wird man sich zu h\u00fcten haben \u2014 und Menger selbst verfehlt nicht, wiederholt darauf hinzuweisen \u2014 unter Typen hier ideale Vorbilder zu verstehen, die in Wirklichkeit realisirt werden sollen2). Indem die Physiokraten und Smithianer dieser Begriffs-hypostase sich schuldig machten, brachten sie die abstracten S\u00e4tze der Theorie ohne weiteres unter \u00bbhistorische Kategorien\u00ab, stempelten sie zu \u00bbNaturgesetzen\u00ab und machten Normen der Wirthschaftspolitik daraus.\nWenn nun aber auch den Gesetzen der Theorie ein Tiypothe-tischer Charakter*zugesprochen werden muss, so kann doch niemand im Ernst es einfallen, sie zuev\u00f6llig subjectiven Hypothesenbildungen3 zu degradiren, die f\u00fcr die historische Betrachtung ohne jeden wissen-\n1)\tWundt unterscheidet 3 verschiedene Auffassungen des Begriffs \u00bbTypus\u00ab, s. Log. II. 48 ff.\n2)\tBei Roscher (Syst. I. S. 57. Anm. 7) findet sich der Ausspruch F aw-cett\u2019s erw\u00e4hnt,^dass fast alle \u00bbprinciples of political economy are describing t e n-\ndencies instead of actuel results\u00ab (Manual of pol. econ. 1863). Rodbertus spricht im analogen Sinne von \u00bbPrincipien\u00ab, \u00bbGrundgesetzen\u00ab, \u00bbGravitationsgesetzen\u00ab, s. d. Cap. 4 im 4. socialen Brief. Berlin 1884. S. 16 f.","page":628},{"file":"p0629.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n629\nschaftlichen Werth w\u00e4ren. Mit dem Zugest\u00e4ndnis ihres \u00bbhypothetischen Charakters\u00ab ist ihr wissenschaftlicher Werth nicht verneint, sondern bejaht, und nur wer den ungeheuren methodischen Werth der Hypothesenbildung in der Wissenschaft verkennt, kann bei dem blo\u00dfen Namen \u00bbHypothese\u00ab sofort skeptische Herzbeklemmungen bekommen. Wo die Induction nicht als ein einfacher Denkakt, sondern als eine wirkliche Methode der Untersuchung auftritt, da m\u00fcssen sich Hypothesen stets als organische Bestandtheile in den methodischen Gang der Untersuchung einschieben; denn eine tiefer gehende Analyse der concreten Erscheinungen, dieses wichtigste Ziel aller methodischen Forschung, ist ohne derartige provisorische H\u00fclfsmittel, wie Wundt sie nennt, undenkbar.\n' Der Gang der inductiven Untersuchung verl\u00e4uft nun so, dass solche Hypothesen und die aus ihnen gewonnenen Deductionen mit den Erfahrungsthatsachen verglichen werden und dass da, wo ihre Uehereinstimmung mit den letzteren sich als nicht zureichend erweist, durch Hinzuf\u00fcgung neuer, unmittelbar der Erfahrung entstammender Determinationen jene \u00bbprovisorischen\u00ab Annahmen veri-ficirt werden. So haben demnach diese letzteren vor dem Forum der Erfahrung gleichsam ihre Feuerprobe zu bestehen, und erst wenn sie s. z. s. gel\u00e4utert durch die Erfahrung dieser Pr\u00fcfung gerecht geworden sind, werden sie selber zu empirisch bewiesenen Erkenntnissen, die, in den systematischen Zusammenhang der Einzelwissenschaft eingereiht, nunmehr hier ihre feste Stellung finden. So ist eine inductive Untersuchungsmethode gewisserma\u00dfen ohne das Ferment deductiver Schlussfolgerungen unm\u00f6glich, und der Name \u00bbinductive Methode\u00ab bleibt lediglich eine Bezeichnung a potiori1). x\nWie oft jedoch sind diese Lehren der Logik von den Fach\u00f6konomen ignorirt worden2) !\n1)\tGanz treffend sagt Oobn (Grundlegung d. Nat. Oek. Stuttg. 1885) S. 28ff.: \u00bbAlle Induction ist blind ohne Deduction, alle Deduction ist leer ohne Induction\u00ab.\n2)\tWenn Bacon glaubte, dass es bei der Induction auf eine vollst\u00e4ndige Aufz\u00e4hlung aller einzelnen F\u00e4lle ank\u00e4me, so theilt Mill die Annahme einer so ungeheuerlichen Forderung zwar nicht, aber seine Lehren von der Induction bleiben deshalb nicht minder widerspruchsvoll. Dass wir den Schluss vom Einzelnen verallgemeinern, beruht nach seiner Meinung im Grunde darauf, dass wir solche Einzelschliisse dem allgemeinen Causalaxiom unterordnen Dieses Axiom\nWundt, Philos. Studien. X.\t41","page":629},{"file":"p0630.txt","language":"de","ocr_de":"630\nAlfred Wenzel.\nEine wissenschaftliche Hypothese ist stets Resultat der isoliren-den Abstraction aus concreten Erscheinungen; sie hat aber gerade deswegen objectiven Werth und ist von einer blo\u00dfen willk\u00fcrlichen Fiction himmelweit verschieden. Beweisbar wird freilich der Anspruch auf objectiven Werth erst im Laufe der methodischen Untersuchung selbst. Die \u00bbGesetze\u00ab des Malthus, dass die menschlichen Unterhaltsmittel in arithmetischer Reihe zunehmen, die Bev\u00f6lkerung selbst aber in geometrischer Progression sich vermehrt, sind in der That keineswegs Abstractionen aus der Erfahrung, sondern v\u00f6llig subjective Annahmen* 1), wie alle Hypothesen in den Geisteswissenschaften, die der Zukunft Gesetze vorschreiben, von vornherein sich dieses \u00bbSubjectivismus\u00ab verd\u00e4chtig machen. Die letztere Annahme des Malthus ist aber nicht zum mindesten gerade deswegen eine subjektive Hypothese, weil sie gegen das hypothetische Axiom der Theorie verst\u00f6\u00dft, welches den Menschen nicht blo\u00df die Verfolgung des Eigennutzes, sondern auch die Kenntniss ihrer wahren Eigeninteressen zuschreiht. Unter der Voraussetzung dieser Annahme ist die Vermehrungsf\u00e4higkeit unter geistige Bedingungen gestellt und der M\u00f6glichkeit einer psychischen Causalit\u00e4t ihr Recht einger\u00e4umt.\nIch glaube mit der Erw\u00e4hnung dieses letzteren Gesichtspunktes \u00fcberhaupt den Werth gekennzeichnet zu haben, der dieser wichtigen axiomatischen Voraussetzung der Theorie zukommt, und es d\u00fcnkt mich, dass gerade dieses Axiom von den Methodologen, Dietzel eingeschlossen, gar zu stiefm\u00fctterlich behandelt worden ist. Doch kann ich n\u00e4her au dieser Stelle nicht darauf eingehen. Es sollte hier blo\u00df darauf hingewiesen werden, dass s\u00e4mmtliche Axiome der Theorie, die diesen Namen verdienen, sowie die aus ihnen abgeleiteten Gesetze nicht subjectiven, sondern objectiven hypothetischen Werth haben, da sie nicht Fictionen, sondern Abstractionen aus thats\u00e4chlichen Erfahrungen sind, und\nist aber nach Mill\u2019s eigenen Worten selbst wieder lediglich auf den blo\u00dfen \u00bbTrieb nach Verallgemeinerung\u00ab fundirt und selbst eine plumpe \u00bbinductio per enumerationem simplicem\u00ab. Mill, Syst. d. Log. I. 504ff. u. 3. Buch Cap. Ill-V. Wundt hat die Fehler Mill\u2019s nachgewiesen Log. I, S. 544, II. 19 f. Vergl. auch Sigwart, Logik, II. S. 371 ff.\n1) Wundt, a. a. O. 590.","page":630},{"file":"p0631.txt","language":"de","ocr_de":"Beitrag\u00ab zur Logik der Socialwirthschaftslehre.\n631\ndass sie der geschichtlichen Forschung somit werthvolle H\u00fclfsmittel an die Hand geben, die Analyse der concreten Erscheinungen zu erleichtern.\nDass eine derartige Methode den letzten_l)esideraten des Er-kennens nicht Gen\u00fcge leistet, wer k\u00f6nnte das verkennen wollen? Wenn die Theorie der Wirthschaft oder die concrete Volks wirth-/, schaftslehre .sich etwa einbildete, die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit mit den Kategorien, die sie anzuwenden im Stande ist, auch nur ann\u00e4hernd ersch\u00f6pfen ,zu k\u00f6nnen, so w\u00e4re das ja sicherlich grundfalsch. \u00bbUnsere Principien\u00ab, sagt Simmel, \u00bbsind immer nur einzelne durch das Denken herausgel\u00f6ste F\u00e4den aus dem unendlichen Gewebe der Wirklichkeit, in der sie sich thats\u00e4chlich unl\u00f6sbar mit denjenigen verweben, die unser Denken als die entgegengesetzten zeigt\u00ab. Wo es sich zugleich um die letzten Instanzen des Erkennens handelt, da haben nicht diese oder jene, sondern alle Einzelwissenschaften ihr Votum abzugeben. Die Wissenschaft wird, um zu einer m\u00f6glichst vollkommenen causalen Analyse zu gelangen, niemals anders verfahren k\u00f6nnen, als mit H\u00fclfe der isolirenden Abstraction aus den Fluctuationen und dem organischen Zusammenh\u00e4nge, in welchem uns das Bild der Wirklichkeit erscheint, stets decomponirte Bestandtheile herauszul\u00f6sen; es wird n\u00f6thig sein, um den intensiven Charakter der Wirklichkeit \u00fcberhaupt unter die Kategorien des Erkennens zu bringen, stets extensive Eigenschaften ihr zu subintelligiren. Den ewigen und continuirlichen Fluss der v\u00f6llig einheitlichen Erscheinungen wird die reflexionsm\u00e4\u00dfige Bearbeitung der Dinge immer wieder in zahl-, reiche Theilproducte auseinanderrei\u00dfen, und stets wird eine allgemeinere zusammenfassende Betrachtung sich einschieben m\u00fcssen, um das geistige Band, das der fragmentarischen Betrachtung der Einzelforschung verloren ging, wiederherzustellen.","page":631},{"file":"p0632.txt","language":"de","ocr_de":"Berichtigung.\nHeft 3 Seite 347 Anm. 3 statt Wiener Akad. lies M\u00fcnchener Akad.\nDruck von Breitkopf & H\u00e4rtel in Leipzig.","page":632}],"identifier":"lit4223","issued":"1894","language":"de","pages":"604-631","startpages":"604","title":"Beitr\u00e4ge zu einer Logik der Socialwirthschaftslehre, Schluss","type":"Journal Article","volume":"10"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:36:40.376135+00:00"}