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{"created":"2022-01-31T14:28:38.077783+00:00","id":"lit4228","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lipps, Gottlieb Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 9: 151-175","fulltext":[{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\nVon\nGottl. Friedr. Lipps.\nI.\nAufgabe und Methode der Untersuchung.\n\u00a7 1-\nWenn man die Mathematik in ganz bevorzugter Weise als eine auf sichere Fundamente gegr\u00fcndete, fest gef\u00fcgte Wissenschaft preist, so hat man wohl zun\u00e4chst die Elemente, die nach Euklid\u2019s Methode behandelte Geometrie und die Anfangsgr\u00fcnde der Arithmetik und Algebra, im Auge. In der That scheinen die Grundlagen der elementaren Mathematik keinen Anlass zu begr\u00fcndeten Zweifeln zu geben. An der Spitze der Geometrie stehen zwar Grunds\u00e4tze, die als evidente Wahrheiten ohne Beweis aufgestellt werden; sie bestehen aber in einfachen Denknothwendigkeiten oder in selbstverst\u00e4ndlichen Anschauungen. Es ist beispielsweise denknothwendig, Gleiches, das um Gleiches vermehrt oder vermindert wurde, wieder als Gleiches aufzufassen; es ist ferner der anschauenden Betrachtung selbstverst\u00e4ndlich, dass zwei Gerade einer Ebene sich entweder in einem Punkte schneiden, einen Winkel bilden und somit verschiedene Richtung haben oder aber sich nicht schneiden, keinen Winkel bilden und folglich gleiche Richtung haben oder parallel sind. Und die Nothwendigkeit, solche Selbstverst\u00e4ndlichkeiten be-sonders namhaft zu machen, pflegt man erst dann einzusehen, wenn man ihnen beim Weiterschreiten auf Schritt und Tritt begegnet. - Andererseits hat es die Arithmetik und Algebra mit positiven\nWnndt, Philos. Studien. IX.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nGotti. Friedr. Lipps.\nund negativen, gebrochenen und irrationalen Zahlen zu thun, die sich im Verlaufe einer Rechnung als inhaltsleere Symbole einstellen k\u00f6nnen und keinen Sinn zu haben scheinen. Deutet man aber die Zahlen als Zeichen f\u00fcr theilbare Gegenst\u00e4nde, von denen es \u00fcberdies zwei, einander direct entgegengesetzte Arten gibt (z. B. als Zeichen f\u00fcr die L\u00e4ngen von Strecken, die von einem bestimmten Punkte aus in einer Geraden nach der einen oder nach der anderen Seite hin abgetragen werden k\u00f6nnen), so erhalten auch die gebrochenen und irrationalen, die positiven und negativen Zahlen einen wohl d\u00e9finir ten Sinn.\nEine Untersuchung dieser von selbst klaren Grundlagen der elementaren Mathematik kann daher als \u00fcberfl\u00fcssiges Bem\u00fchen erscheinen. Der Philosoph freilich, der nach dem Wesen des An-schauens und des Erkennens fragt, wird pr\u00fcfen wollen, worin denn die Evidenz der geometrischen Grunds\u00e4tze besteht und was die Zahlen eigentlich zu bedeuten haben. Der mathematische Forscher ferner, der sich gew\u00f6hnt hat, f\u00fcr jede Behauptung einen Beweis zu fordern, wird gern sich die Aufgabe stellen, die Grunds\u00e4tze der Geometrie, wenn sie nun einmal tliats\u00e4chlich nicht beweisbar sind, doch wenigstens auf die geringstm\u00f6gliche Anzahl zur\u00fcckzuf\u00fchren; auch wird ihm vielleicht eine Versinnlichung der Zahlen, die ja seine freien Sch\u00f6pfungen sind, h\u00f6chstens als p\u00e4dagogisches H\u00fclfs-mittel zul\u00e4ssig erscheinen, das nicht im Wesen der Zahlen begr\u00fcndet sei.\nTritt man dagegen an die h\u00f6here Mathematik heran, die auf Grund der historischen Entwicklung auch neuere Mathematik genannt werden kann, so wird der an gewohnten Anschauungen und Begriffen festhaltende Verstand manche Beunruhigung empfinden. Schon ein fl\u00fcchtiger Blick auf die einzelnen Untersuchungsgebiete zeigt das Vorhandensein von Schwierigkeiten, von welchen die Elemente der Mathematik frei zu sein scheinen.\nDie geometrischen Gebilde,- die bisher dem Blick so ruhig Stand hielten, gerathen in continuirlichen Fluss, um als geeignete Vertreter allgemeiner Klassen von Linien und Fl\u00e4chen gelten zu /\tk\u00f6nnen; sie erstrecken sich ins Unendliche und sollen auch dann\nnoch erkennbaren Gesetzen gehorchen; ja es spielt sogar gerade das, was sich im Unendlichen ereignet, eine wichtige, die Unter-","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"153\nUntersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\nsuchungsmethode dieser neueren Geometrie beeinflussende Rolle. \u25a0 \u2014 Die Operationen der Algebra (Addition, Subtraction, Multiplication und Division) werden als einfachste Beispiele allgemeiner Verkn\u00fcpfungen erkannt, die zu einer formalen Operationenlehre Veranlassung geben. W\u00e4hrend aber die positiven und negativen Zahlen die leicht verst\u00e4ndliche Basis f\u00fcr das Operationensystem der Algebra bilden, besitzen die complexen Zahlensysteme, die den verallgemeinerten Operationen zu Grunde liegen, keine greifbare Existenz: das Gewand der Zahlen, in das sie sich kleiden lassen sollen, will ihnen doch zu eng werden und sie scheinen vielmehr etwas Allgemeineres von unbestimmter Natur zu sein, von dem nur vorausgesetzt wird, dass es den Verkn\u00fcpfungsgesetzen der Operationenlehre Gelegenheit gibt, sich zu bet\u00e4tigen. \u2014 Die Zahlen werden variabel, so dass unendliche Mannigfaltigkeiten von Zahlen-werthen entstehen k\u00f6nnen, die ebenso durch Symbole (z. B. Buchstaben) bezeichnet werden, wie vordem die fest gegebenen, unver\u00e4nderlichen Zahlen. Diese Symbole werden nun Variable genannt. Insbesondere kann die Variabilit\u00e4t eine solche sein, dass die erzeugten Zahlenmannigfaltigkeiten continuirlich werden. Dann unterscheidet sich eine Zahl von einer zun\u00e4chst folgenden nur durch einen unendlich kleinen Betrag. Die so resultirenden unendlich kleinen Differenzen, in welchen sich die Zahlenwerthe zu verschwindenden und doch noch existirenden Gr\u00f6\u00dfen verfl\u00fcchtigen, werden als Differentiale der Rechnung unterworfen und bilden trotz ihrer geheimnissvollen Existenz durch die Methoden der Differential-und Integralrechnung das m\u00e4chtigste Instrument der auf die variable Zahl gegr\u00fcndeten Untersuchungen, die man in ihrer Gesammtheit als Analysis zu bezeichnen pflegt. Vor allem interessirt hier das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss, in welchem Variable sowohl bez\u00fcglich der Form des sie verbindenden rechnerischen Processes als auch bez\u00fcglich der Eigenschaften der durch sie dargestellten Zahlenmannigfaltigkeiten stehen k\u00f6nnen. Die eine Variable hei\u00dft dann eine Function der anderen Variablen und alle Variablen k\u00f6nnen gleichzeitig Ver\u00e4nderungen ihres Werthes erleiden, die im allgemeinen stetiger Natur zu sein verm\u00f6gen. Es erscheint nun selbstverst\u00e4ndlich, dass die Verh\u00e4ltnisse der unendlich kleinen, simultanen Ver\u00e4nderungen der Variablenwerthe durch Differentialquotienten\n11*","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nGotti. Friedr. Lipps.\nHUH!\nbestimmbar seien; gleichwohl gibt es stetige Functionen, die nicht differentiirbar sind. W\u00e4hrend somit Stetigkeit und Differentiirbarkeit gleichbedeutend zu sein scheinen, erweist sich die Stetigkeit als allgemeinerer Begriff, und eine neue Schwierigkeit f\u00fcgt sich den bereits vorhandenen hinzu. \u2014 Jede Schranke scheint vollends die mathematische Forschung zu durchbrechen, indem sie die geometrische Deutung der Zahlenmannigfaltigkeiten und die Einkleidung der geometrischen Untersuchung in das Gewand der Analysis lehrt. In den Elementen wurde zwar schon das Verl\u00e4ngern und Verk\u00fcrzen von Strecken als Addiren und Subtrahiren aufgefasst, und durch Construiren proportionaler Strecken (z. B. an \u00e4hnlichen Dreiecken) konnten auch Producte und Quotienten von Strecken hergestellt werden. Dadurch wurde es m\u00f6glich, eine geometrische Construc-tionsaufgabe algebraisch zu l\u00f6sen, indem man beispielsweise f\u00fcr die L\u00e4nge einer gesuchten Strecke eine Gleichung auf Grund der Beziehungen zwischen den Bestimmungsst\u00fccken der geometrischen Figur herstellte und die L\u00f6sung dieser Gleichung geometrisch construite. Aber einen anderen Charakter als diese algebraische Geometrie tr\u00e4gt die auf der geometrischen Deutung der variablen Zahl beruhende analytische Geometrie. In ihr erscheinen die geometrischen Gebilde als Punktmannigfaltigkeiten, indem die Fl\u00e4che von zwei Curvenscharen, der Raum von drei Fl\u00e4chenscharen \u00fcberzogen gedacht wird, und zwar von der Art, dass jeder Punkt der Fl\u00e4che oder des Raumes als Schnitt je zweier Curven oder je dreier Fl\u00e4chen sich darstellt. Hierdurch wird es m\u00f6glich, die Punkte einer Fl\u00e4che oder des Raumes durch Coordinaten zu bestimmen, deren L\u00e4nge auch durch Zahlen angegeben werden kann. Der so geschaffenen Beziehung zwischen Zahlenmannigfaltigkeiten und den eine Curve oder eine Fl\u00e4che erf\u00fcllenden Punktmannigfaltigkeiten scheint kein Hinderniss im Wege zu stehen. Daher spiegeln sich die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten geometrischer Gebilde in analytischen Formeln, und die letzteren sind einer selbstverst\u00e4ndlichen Einkleidung in geometrisches Gewand f\u00e4hig, Der Geometer scheint von der Fessel der beschwerlichen Anschauungsth\u00e4tigkeit befreit, da er in der analytischen Formel das geschmeidige Instrument besitzt, mittelst dessen er die geometrischen Figuren erzeugt und ihre Geheimnisse ergr\u00fcndet \u2014 sogar die Bedingungen, unter denen sie m\u00f6glich sind.\nmum","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n155\nSelbst die Grundlagen der Geometrie kann man somit auf analytischem Wege festsetzen, und das in so gr\u00fcndlicher Weise, dass es den Anschein hat, als ob ganz anders organisirte Wesen als wir Menschen, die zu irgend welcher von der unsrigen abweichenden Art anschauender Erfassung der Dinge ihrer Umgebung bef\u00e4higt sind, mit Erfolg bei dem analytischen Geometer Belehrung \u00fcber die Grundlagen ihrer Geometrie und \u00fcber die Eigenschaften ihrer geometrischen Gebilde nachsuchen k\u00f6nnten. Die Zahl, die in der elementaren Mathematik der Anlehnung an geometrische Vorstellungen bed\u00fcrftig war, emancipirt sich und wird zur Herrscherin, die ihre geometrische Herkunft verleugnet. Denn auch als irrationale Zahl, durch welche die Zahlenmannigfaltigkeit erst stetig wird, erh\u00e4lt sie neuerdings eine von geometrischer Veranschaulichung freie, auf sich selbst gegr\u00fcndete Definition. Ist aber dies geschehen, so scheint die Zahl aus sich selbst eine stetige Mannigfaltigkeit zu geb\u00e4ren, und es scheint das zu Tage tretende arithmetische Punktcontinuum unsere Raum- und Zeitcontinua als specielle F\u00e4lle in sich zu fassen.\nt!lt,\tg 2.\nAus diesen kurzen Bemerkungen wird deutlich, dass beim Betreten dieser Untersuchungsgebiete thats\u00e4chliche Schwierigkeiten zu \u00fcberwinden sind. Sie finden ihren augenscheinlichen Grund in der Zulassung des Unendlichfernen in der Geometrie und des Unendlichkleinen und Unendlichgro\u00dfen in der Analysis ; bei einer tiefer1 gehenden Betrachtung scheinen sie dagegen durch die mit H\u00fclfe des Unendlichen gewonnene, alle Grenzen \u00fcberschreitende Entwicklung der Grundbegriffe verursacht zu sein, deren vollendete Form den urspr\u00fcnglichen Gehalt kaum noch erkennen l\u00e4sst. Ein neuer Geist beherrscht somit offenbar diese neuere Mathematik, der zwar zu gl\u00e4nzenden Resultaten f\u00fchrt, die widerspruchslose Klarheit und Einfachheit der Grundlagen aber preiszugeben scheint.\nDie Ueberwindung der bezeichneten Schwierigkeiten stellt sich nun als Aufgabe einer Untersuchung der Grundlagen dar. Eine solche Untersuchung konnte den Elementen der Mathematik gegen\u00fcber als unn\u00f6thig erscheinen, da ihre Grundlagen blo\u00df gewohnte Anschauungen und leicht interpretirbare Begriffe aufweisen ; sie zeigt sich dagegen den h\u00f6her ausgebildeten mathematischen","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nGotti. Friedr. Lipps.\nDisciplinen gegen\u00fcber dringend nothwendig, da in ihnen thats\u00e4chliche Schwierigkeiten Begriffe und Methoden von fundamentaler Bedeutung in ein Dunkel h\u00fcllen, das nothwendig erhellt werden muss.\nDie damit vollzogene Scheidung zwischen den Grundlagen der elementaren und der h\u00f6heren Mathematik ist allerdings vom Standpunkte des philosophischen und mathematischen Forschers aus kaum berechtigt: den Philosophen wird der Zusammenhang der mathematischen Begriffe und Methoden mit den allgemeineren der Logik in ihrer niederen und h\u00f6heren Entwicklungsstufe in gleicher Weise interessiren ; und der Mathematiker wird die Grundlagen der einzelnen Untersuchungsgebiete ohne R\u00fccksicht auf ihren elementaren oder fortgeschritteneren Gehalt mit derselben Sparsamkeit an Voraussetzungen und in derselben Reinheit, frei von fremdartigen Beimengungen, zu entwickeln suchen. Beide Standpunkte bedingen eine besondere Stellung zu den Grundlagen, die f\u00fcr den einen mit R\u00fccksicht 'auf den Zusammenhang zwischen mathematischer und philosophischer Erkenntniss, f\u00fcr den anderen im Interesse einer rein mathematischen Behandlung und Ausgestaltung zu einer Untersuchung Veranlassung geben kann; dabei spielt aber eine Scheidung in niedere und h\u00f6here Mathematik keine Rolle.\nEs war indessen angezeigt, diese Scheidung zu vollziehen, um die obige Aufgabebestimmung f\u00fcr eine Untersuchung der Grundlagen zu gewinnen, welche den thats\u00e4chlichen Bed\u00fcrfnissen ent-springt, die sich beim Betreten der mathematischen Untersuchungsgebiete f\u00fchlbar machen. Als vorl\u00e4ufiges Resultat der bisherigen Betrachtungen hietet sich somit die Einsicht dar, dass die Eiern ente der mathematischen Untersuchung auf einer von selbst klaren Basis ruhen, dass dagegen die ausgebilde-_tejren Untersuchungsgebiete in ihren fundamentalen Begriffen und Methoden Schwierigkeiten aufweisen, die in der Benutzung des Unendlichen und in der kaum durch Veranschaulichung gest\u00fctzten Entwicklung der Abstraction begr\u00fcndet zu sein scheinen, und dass somit dem Bed\u00fcrfnisse Rechnung getragen werden muss, das von den Grundbegriffen der entwickelteren Disciplinen die n\u00e4mliche von selbst einleuchtende Klarheit verlangt, welche die Grundlagen der Elemente auszeichnet.\n*","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n157\nEine definitive Aufgabebestimmung ist allerdings damit noch nicht erreicht. Denn wie schon bemerkt wurde, besch\u00e4ftigt sich der Mathematiker und der Philosoph, jeder in seiner Art, mit den Grundlagen der Mathematik. Es ist nun naturgem\u00e4\u00df, von dem einen und von dem anderen eine Beseitigung der empfundenen Schwierigkeiten zu erwarten. Best\u00e4tigt sich diese Erwartung vollst\u00e4ndig, so ist gar kein Grund vorhanden, die mathematischen Begriffe und Methoden einer selbst\u00e4ndigen Untersuchung zu unterwerfen, da sie als Ausfluss rein mathematischer oder rein philosophischer Betrachtungen gen\u00fcgende Kl\u00e4rung finden w\u00fcrden. Sieht man sich dagegen in dieser Erwartung get\u00e4uscht und bieten somit die Grundlagen der Mathematik ein selbst\u00e4ndiges Problem dar, so wird sich doch die Voraussetzung best\u00e4tigen, dass die Beachtung einer von rein mathematischen oder rein philosophischen Interessen beeinflussten Auffassung der Grundlagen die vorl\u00e4ufige Bestimmung der Aufgabe in wesentlichen Punkten modificiren und zugleich den Weg zur L\u00f6sung des Problems in seiner definitiven Gestalt weisen wird.\nF\u00fcr den Mathematiker kommen die Grundbegriffe und Methoden haupts\u00e4chlich in so weit in Betracht, als sie ein brauchbares Instrument der mathematischen Arbeit bilden. Innerhalb dieser Grenzen erhalten sie nun alle w\u00fcnschenswerthe Klarheit, indem Begriffe und Methoden scharf und bestimmt definirt werden mit R\u00fccksicht auf die Sph\u00e4re der mathematischen Untersuchungen, innerhalb deren sie zur Verwendung kommen. Zun\u00e4chst k\u00f6nnen freilich diese Definitionen fremdartig und unverst\u00e4ndlich erscheinen ; sie werden aber verst\u00e4ndlich durch die Ausf\u00fchrung der Operationen und das Erfassen der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten, welche den Definitionen zu Grunde liegen; zugleich verlieren sie durch Angew\u00f6hnung an die mathematischen Processe das Fremdartige, das sie anf\u00e4nglich haben, falls sie in den gewohnten Anschauungen keine St\u00fctze finden.\nDer Begriff des Differentialquotienten und des Integrals, die Methode des Differentiirens und des Integrirens k\u00f6nnen so, wie sie in den gangbaren Lehrb\u00fcchern entwickelt werden, als Beispiele solcher mathematischer Definitionen gelten. Auf Grund derselben kann jedermann lernen, Differentialquotienten und Integrale thats\u00e4chlich","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nGotti. Friedr. Lipps.\nzu berechnen. Was nun ein Differentialquotient und ein Integral in einem einzelnen Falle zu bedeuten habe, kann keinem Zweifel unterliegen; es steht dies ja vor Augen, durch Symbole von feststehender Bedeutung gekennzeichnet. Das Verst\u00e4ndniss des Begriffs des Differentialquotienten und des Integrals ergibt sich dann allm\u00e4hlich mittelst der mathematischen Erfahrung, die man durch die Ausf\u00fchrung der einzelnen Differentiations- und Integrations-! processe sammelt. Die anf\u00e4nglich schwer verst\u00e4ndliche Definition dieser Begriffe scheint schlie\u00dflich gar keine Schwierigkeit mehr zu bieten, da die mathematischen Processe, in deren Angabe die Definition wesentlich besteht, durch die mannigfache Einzelausf\u00fchrung bekannt und vertraut geworden sind.\nDaraus wird ersichtlich, dass die rein mathematische Behandlung der Grundlagen in gewissem Sinne die oben gekennzeichneten Schwierigkeiten beseitigt: insofern n\u00e4mlich, als das Fremdartige der Begriffe durch ihren scharf fixirten Gebrauch sich verliert und die nachtr\u00e4glich gewonnene Erfahrung das anf\u00e4nglich sich regende Verlangen nach ihrer Kl\u00e4rung \u00fcberfl\u00fcssig erscheinen l\u00e4sst. So erscheint dann eine besondere Untersuchung der Grundbegriffe f\u00fcr die weitergehenden mathematischen Disciplinen ebenso \u00fcberfl\u00fcssig wie f\u00fcr die Elemente der Mathematik ; es macht sich nur der Unterschied bemerk-lich, dass die Grundlagen der Elemente sich direct an gewohnte, als sicher empfundene Vorstellungen anlehnen, dass dagegen die Grundlagen der Disciplinen der h\u00f6heren Mathematik erst durch die mathematische Arbeit dem Geiste gewohnt und vertraut werden, dann aber als ebenso sicher empfunden werden.\nAls directer Erfolg einer solchen rein mathematischen Behandlung der Grundbegriffe ist hervorzuheben, dass sie den Argwohn, die Grundlagen k\u00f6nnten fehlerhafte Begriffsbildungen und Methoden enthalten, v\u00f6llig zerstreut. Denn die Begriffe sind als Producte der mathematischen Arbeit nicht Erzeugnisse einer dich-tenden Phantasie, sondern aus thats\u00e4chlichen Bed\u00fcrfnissen erwachsen; liegt darin schon eine Gew\u00e4hr, dass selbst paradox erscheinende Begriffe eine Berechtigung zur Existenz haben werden, so erscheint die Annahme von etwa vorhandenen Irrthiimern vollends ausgeschlossen, wenn man bedenkt, dass die Begriffe durch die mathematische Arbeit selbst einer fortw\u00e4hrenden Contr\u00f4le unterworfen","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t159\nwerden. Da nun die Mathematik als ein harmonischer, wohl getilgter Bau sich darstellt, so erscheint es unm\u00f6glich, dass dessen reiche Gliederung auf schwankender Grundlage ruhe.\nUnbedenklich ist dieser mathematische Standpunkt, soweit es sich um l\u00e4ngst recipirte Begriffe handelt, die eine gesicherte Stellung im R\u00fcstzeug mathematischer Forschung einnehmen und als abgekl\u00e4rter Niederschlag der wissenschaftlichen Arbeit in den Darstellungen der einzelnen Lehrgebiete nach feststehenden Normen Aufnahme finden. Da kann man an sich selbst beobachten, wie die Handhabung eines solchen Begriffs allm\u00e4hlich das anf\u00e4ngliche Befremden mildert und die zunehmende Gew\u00f6hnung das Verlangen nach seiner Kl\u00e4rung mehr und mehr stillt. Man eignet sich ein mathematisches Taktgef\u00fchl an, das mit Sicherheit die Eigenth\u00fcm-lichkeit des Begriffs erfasst und die Methode f\u00fcr dessen richtige Verwendung lehrt. Man ist sich dann aber auch bewusst, die Grundlagen der Mathematik blo\u00df mit R\u00fccksicht auf die Folgerungen zu beachten, die sich aus jenen Bedingungen ergeben, nicht mit R\u00fccksicht auf die logischen Voraussetzungen, auf denen die Grundlagen selbst wieder ruhen.\n\u00a74.\nEine derartige Abfindung der Grundlagen muss aber als unzureichend empfunden werden, wenn man die historische Entwicklung der fertig vorliegenden Begriffe verfolgt und bemerkt, dass ein heute recipirter Begriff fr\u00fcher beanstandet wurde und sich nur allm\u00e4hlich durch den Nachweis von seiner Brauchbarkeit Anerkennung verschaffen konnte, dass sogar vor\u00fcbergehende fehlerhafte Auffassungen seine Entwicklung zu hemmen vermochten, dass insbesondere sein gegenw\u00e4rtiger Entwicklungszustand nicht nothwendig ein dauernder ist, dass vielmehr noch nicht beachtete Keime den Begriff erst zu voller Entfaltung bringen k\u00f6nnen.\nSo blieb z. B. der Begriff der unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfe, sowohl als Quotient zweier unendlich kleiner Gr\u00f6\u00dfen als auch als Summe von unendlich vielen unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen den griechischen Geometern fremd. Selbst das Problem der Quadratur des Kreises brachte sie nicht dazu, den Kreis direct als Polygon mit unendlich vielen unendlich kleinen Seiten zu betrachten. \u00bbSo lange es","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nGotti. Friedr. Lipps.\ngriechische Geometer gab\u00ab, sagt Hankel1), \u00bbsind dieselben immer vor jenem Abgrunde des Unendlichen stehen geblieben und haben niemals die Grenze der klaren Anschauung und des v\u00f6llig widerspruchsfreien Begriffes \u00fcberschritten\u00ab. Erst Kepler2) that diesen Schritt, indem er den wahren Gehalt der von Archimedes angewandten Exhaustionsmethode anzugeben wagte: er definirte thats\u00e4chlich den Kreis als Polygon mit unendlich vielen unendlich kleinen Seiten und konnte mittelst dieser Yereinfachung zur Berechnung der Oberfl\u00e4che und des Volumens von complicirteren stereometrischen Gebilden direct gelangen, da er nun nicht mehr gen\u00f6thigt war, die Berechnung eines K\u00f6rpers durch diejenige von ein- und umbeschriebenen K\u00f6rpern zu ersetzen. Dabei war Kepler sich bewusst, consequent auf ein von den Alten nicht erreichtes Ziel loszugehen; er sagt dies selbst, indem er nach Er\u00f6rterung und Exemplification seiner Methode ausdr\u00fccklich bemerkt, dass darin das Wesen der Methode des Archimedes beruhe. Der so von Kepler erfolgreich benutzte Begriff der unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfe erscheint daun in fehlerhafter Auffassung bei Cavaleri3), indem dieser z. B. die Strecke mit dem unendlich schmalen Ebenenstreifen identificirt und einen Fl\u00e4cheninhalt durch Addition von Strecken zu berechnen lehrt, welche in paralleler Richtung neben einander geschichtet das ganze Fl\u00e4chenst\u00fcck erf\u00fcllen, w\u00e4hrend doch die Aneinanderreihung von Strecken niemals eine Fl\u00e4che erzeugt. Ihre feste, mathematisch unanfechtbare Gestalt erhielten die unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen erst durch die Entwicklung der Begriffe des Differentialquotienten und des Integrals und der Methoden der Differential-und Integralrechnung, die von Leibniz und Newton begr\u00fcndet wurde. Nun waren feste Regeln gegeben, durch welche ihr mathematischer Gebrauch erm\u00f6glicht wurde, und ihre mathematische Bedeutung ergr\u00fcndet werden konnte. Die Natur der unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen selbst war aber damit keineswegs klargestellt. Bei Newton bildeten phoronomische, bei Leibniz geometrische Vorstellungen\n1)\tZur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittelalter, S. 123, Leipzig 1874.\n2)\tNoya stereometria doliorum.\n3)\tGeometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione promota; Bonon. 1635.","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n161\ndie anschauliche Basis der Begriffsentwicklung; Euler gab derselben eine rein arithmetische Wendung, indem er von endlichen Differenzen ausgehend die Differentiale als Nullen betrachtete; Lagrange schlie\u00dflich suchte den Unendlichkeitsbegriff sammt seinen Widerspr\u00fcchen zu vermeiden, indem er aus der gegebenen Function durch Reihenentwicklung abgeleitete Functionen, \u00bbDerivirte\u00ab, herstellte, die mit den Differentialquotienten gleichbedeutend waren* 1). Diese Verbannung des Unendlichen konnte aber nicht aufrecht erhalten werden. In Geometrie und Mechanik fanden die Differen-j tiale und Integrale fruchtbare Verwendung und ihre analytische Begr\u00fcndung gewann man nun mittelst des Begriffs der Grenze, j der sich variable Zahlen mehr und mehr n\u00e4hern, ohne sie je zu erreichen. Im Grenzbegriff besteht demgem\u00e4\u00df die Grundlage der) Begriffsentwicklung, wie sie jetzt in gangbaren Lehrb\u00fcchern der Differential- und Integralrechnung gegeben wird. So sagt z. B. Serret2): \u00bbLorsqu\u2019une quantit\u00e9 variable tend vers la limite z\u00e9ro, on dit qu\u2019elle devient infiniment petite; on la nomme alors un infiniment petit\u00ab. Aehnlich wird von ihm auch das Unendlichgro\u00dfe definirt. Er sagt dann ferner: \u00bbCes locutions d\u2019infiniment petit et d\u2019infiniment grand n\u2019ont donc pas d\u2019autre objet que l\u2019abbr\u00e9-viation du langage\u00ab. Man darf dem wohl hinzuf\u00fcgen, dass in der Praxis stets geometrische und phoronomische Vorstellungen die that-s\u00e4chliche Einf\u00fchrung des Unendlichen in den Calcul vermitteln, und dass dabei die unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen nicht als eine \u00bbabk\u00fcrzende Redeweise\u00ab, sondern als wirkliche Gr\u00f6\u00dfen, mit denen man rechnet, auftreten; vielmehr scheint der \u00bbGrenz\u00fcbergang\u00ab Redensart zu sein ; denn thats\u00e4chlich wird er nicht vollzogen und \u00fcberdies ist von ihm nur bei den ersten, einfachsten Beispielen die Rede.\n\u00a75.\nEs lehrt dieses Beispiel, dass die mathematische Bedeutung eines m abgeschlossener Entwicklung vorliegenden Begriffs v\u00f6llig feststehen, und dass doch der Begriff selbst einer schwankenden und\n------%\n1)\tVergl. Die Principien der h\u00f6heren Analysis in ihrer Entwicklung von Leibniz bis auf Lagrange, von Weissenborn. Halle 1856.\n2)\tCours de calculs diff\u00e9rentiel et int\u00e9gral, t. I, p. 4. -Paris 1879.","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nGotti. Friedr. Lipps.\nanfechtbaren Auffassung unterworfen sein kann, die zu einer besonderen Untersuchung herausfordert. Wenn man aber auch eine solche unterlassen kann im Hinblick auf den mathematischen Werth des Begriffs, den keine Kritik zu vermehren oder zu vermindern vermag, so erscheint dies nicht mehr statthaft, wenn es sich um Begriffe handelt, die noch im Werden begriffen sind oder die durch Auffinden neuer Gesichtspunkte einer bisher \u00fcblichen Auffassung sich entwinden. In solchen F\u00e4llen pflegen sich widerstreitende Anschauungen gegen\u00fcberzustehen, und es kann blo\u00df durch eine kritische Untersuchung der Begriff gekl\u00e4rt und der Streit um seine Auffassung geschlichtet werden. Es sei denn, dass man aus Abneigung gegen jede rein logische Er\u00f6rterung eine abwartende Stellung einnehmen wollte in der Voraussetzung, dass das mathematisch Lebenskr\u00e4ftige allein schlie\u00dflich den Sieg davon tragen wird. Ist man aber nicht grunds\u00e4tzlich einer derartigen Untersuchung abgeneigt, so wird wohl nicht bestritten werden, dass gerade f\u00fcr werdende und umstrittene Begriffe die Klarstellung ihrer Bedeutung die mathematischen Untersuchungen selbst zu beeinflussen bef\u00e4higt ist und folglich nicht umgangen werden darf.\nSo sieht beispielsweise Kronecker1) in dem Begriffe der Zahl, im engsten Sinne genommen, die im Grunde allein berechtigte Form des Zahlbegriffs und in allen Erweiterungen und Modifikationen dieses Begriffs nur Zugest\u00e4ndnisse an Forderungen der Geometrie und Mechanik, die blo\u00df vor\u00fcbergehende Bedeutung haben, bis es verbesserten Methoden gelingt, jene Erweiterungen und Modifikationen wieder abzustreifen. Im Gegens\u00e4tze hiezu sucht die irrationale Zahl durch die Definitionen von Cantor, Dedekind und Weierstra\u00df eine von geometrischer Anschauung unabh\u00e4ngige Bedeutung zu erlangen, und Cantor2) erweitert gar den Zahlbegriff zu dem der unendlich gro\u00dfen Zahl, f\u00fcr die er die Gesetze ihrer Verkn\u00fcpfung aufstellt. \u2014 In h\u00f6herem Ma\u00dfe als der Zahlbegriff gab der von Rie-mann in die Mathematik eingef\u00fchrte Begriff der ^-dimensionalen stetigen Mannigfaltigkeit, die auch als w-dimensionaler Raum bezeichnet wird, Anlass zur augenf\u00e4lligen und scharfen Hervorhebung\n1)\tUeber den Zahlbegriff. Crelle\u2019s Journal, Bd. 103, S. 337\u2014355.\n2)\tGrundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre. Leipzig 1883.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"163\nUntersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\nverschiedener Auffassungsweisen. Die Heftigkeit des Widerstreits der verschiedenen Ansichten f\u00fchrt zur Yermuthung, dass die Natur dieses Begriffs vielfach g\u00e4nzlich missverstanden wurde, was vielleicht darin begr\u00fcndet ist, dass die geometrische Deutbarkeit analytischer Zahlenmannigfaltigkeit, auf welcher jene Begriffshildung wesentlich beruht, unbesehen angenommen wurde. Es ist dieselbe indessen keineswegs so selbstverst\u00e4ndlich, obgleich sie wenn ich nicht j \u2014 nirgends er\u00f6rtert und zur Kl\u00e4rung der Sachlage benutzt wird.\nSolchen umstrittenen Begriffen gegen\u00fcber versagt das Mittel, das f\u00fcr Begriffe von unzweifelhaft feststehender Bedeutung das Verlangen nach einer besonderen Untersuchung zu stillen vermag: die Gew\u00f6hnung an eine bestimmte Auffassungsweise ist nicht wohl durchf\u00fchrbar. Man m\u00fcsste denn des Mephistopheles Rath befolgen: \u00bbAm besten ist\u2019s, wenn ihr auch da nur einen h\u00f6rt, Und auf des Meisters Worte schw\u00f6rt\u00ab. Oder man m\u00fcsste die Geschmeidigkeit besitzen, verschiedene Auffassungsweisen trotz ihres Widerstreits als gleichberechtigt anzunehmen1).\nDie obige vorl\u00e4ufige Fassung des Problems einer Untersuchung der Grundlagen wird somit durch die Beachtung einer rein mathematischen Behandlung wesentlich ver\u00e4ndert. Zun\u00e4chst zeigt sich die M\u00f6glichkeit, auf eine besondere Untersuchung zu verzichten, da die mathematische Arbeit selbst von der bicherheit der Grundlagen gen\u00fcgend \u00fcberzeugt und eine in gewissem Sinne hinreichende Einsicht in die Natur derselben gew'\u00e4hrt. Zwar ist dieser \u00bbmathematische\u00ab Standpunkt nur mit M\u00fche aufrecht zu erhalten, wenn es sich.um Neubildungen oder Weiterbildungen von Begriffen handelt, da alsdann eine Erforschung der Natur der Begriffe die Richtung der mathematischen Forschung beeinflussen kann und somit direct mathematisches Interesse erregt. Es ist jedoch auch in solchen F\u00e4llen m\u00f6glich, lediglich die mathematische Brauchbarkeit des Begriffs ins Auge zu fassen und das, was man als eigentliches Wesen des Begriffs bezeichnen kann, auf sich beruhen zu lassen. Die Grundlagen dei Mathematik bilden daher kein Problem von selbst\u00e4ndigem Werthe dar,\n1) So behauptet P. du Bois-Reymond in seiner \u00bballgemeinen Functionentheorie\u00ab die Gleichberechtigung des von ihm sogenannten Idealismus und Empirismus f\u00fcr die Grundbegriffe der Infinitesimalmethode. % ergl. Wundt, Logik Bd. II, S. 85.","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nCotti. Friedr. Lipps.\nwenn man das Interesse lediglich den mathematischen Operationen und Constructionen zuwendet, welche die mathematische Bedeutung der Begriffe ersch\u00f6pfen, und wenn man sich mit der Constatirung dieser thats\u00e4chlich vorhandenen mathematischen Bedeutung begn\u00fcgt. Will man aber den Grund zu dieser Bedeutung einsehen, und will man den wirklichen Denkinhalt der Begriffe verstehen, so leuchtet die Noth-wendigkeit und Wichtigkeit einer eingehenden Untersuchung derselben unmittelbar ein.\nGewinnt man damit eine richtige Auffassungsweise der Aufgabe, die durch die Untersuchung der Grundlagen gel\u00f6st werden soll, so lehrt ferner die Beachtung der historischen Entwicklung der Mathematik, dass die sogenannte h\u00f6here Mathematik nicht auf neuen Grundlagen ruht, sondern nur eine cons\u00e9quente Weiterbildung der Elemente ist. Wenn man daher heim Betreten der einzelnen Untersuchungsgebiete die Grundlagen der Elemente als unmittelbar evident, diejenigen der weitergehenden Disciplinen aber als einer Klarstellung bed\u00fcrftig empfindet, so hat dies seinen Grund nicht etwa darin, dass die Begriffe und Methoden der Elemente in ihrem Wesen unmittelbar klar erkannt w\u00fcrden, sondern vielmehr darin, dass der Gew\u00f6hnungs-process, der \u2014 wie wir sahen \u2014 den Begriffen der h\u00f6heren Mathematik gegen\u00fcber erst durch die mathematische Arbeit sich vollzieht, hier schon von vorn herein vollzogen ist. Denn die Anschauungen, an die sich die Elemente der Mathematik anlehnen, sind Gemeingut der Gebildeten, und eine Angew\u00f6hnung an dieselben muss nicht erst gewonnen werden. Eine solche Angew\u00f6hnung bringt aber nicht etwa eine L\u00f6sung der Schwierigkeiten mit sich, sondern verschleiert und vermehrt dieselben nur. Man erkennt dies klar, wenn man zu seiner Ueberraschung bemerkt, dass ganz einfach erscheinende Begriffe der Elemente (wie der eines Bruches oder einer irrationalen Gr\u00f6\u00dfe), die man als selbstverst\u00e4ndlich anzunehmen geneigt ist, den Alten ganz \u00e4hnliche Schwierigkeiten bereiteten, wie sie jetzt das Betreten der entlegeneren Regionen der mathematischen Forschung erschweren. Es zeigt sich so, dass Begriffe und Methoden der h\u00f6heren Mathematik ihre Schwierigkeiten nur offener zur Schau tragen, dass aber die Grundlagen der Elemente in gleicher Weise der Untersuchung bed\u00fcrftig sind.\nWill man sich also nicht mit der blo\u00dfen Constatirung der mathematischen Bedeutung der Begriffe und Methoden","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n165\nbegn\u00fcgen, so ist die Untersuchung der Grundlagen der gesummten Mathematik nothwendig. Diese Untersuchung hat die Aufgabe, klarzustellen, was man sich hei den Begriffen thats\u00e4chlich zu denken hat, wie auf Grund der Begriffe die Methoden sich entwickeln, und worin der Grund zu der in der Mathematik hervortretenden Bedeutung der Begriffe liegt.\n\u00a7 6-\nDie L\u00f6sung des nunmehr genauer bestimmten Problems f\u00fchrt in das Gebiet der Philosophie, insofern ihr die Aufgabe zuf\u00e4llt, die allgemeinen Kegeln des Denkens aufzudecken und bis zu den Quellen der Yerstandesth\u00e4tigkeit vorzudringen. Die Philosophie kommt daher hier nur insoweit in Betracht, als sie in Logik und Erkenntnisstheorie besteht ; als solche entwickelt sie aber die Gesetze des Denkens und die gemeinsamen Grundlagen f\u00fcr jegliche Art wissenschaftlicher Arbeit, deren Kenntniss als Vorbedingung zu einer erfolgreichen Bearbeitung der als Einzelwissenschaften abgegrenzten Wissensgebiete erscheint. Trotzdem gewinnen die speciellen Wissenschaften zun\u00e4chst unabh\u00e4ngig von der Philosophie ihre Kesultate und werden erst bei einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Entwicklung auf die Grundlagen ihrer Untersuchung und dadurch auf die Frage nach dem Zusammenh\u00e4nge mit den allgemeinen Regeln des Denkens und den Quellen alles Erkennens aufmerksam. Die Philosophie streitet jedoch nicht mit den Einzelwissenschaften um die Herrschaft \u00fcber die Objecte der wissenschaftlichen Untersuchung: der bereits gewonnene Besitzstand der Einzelwissenschaften wird durch die den speciellen Wissensgebieten sich zuwendende Philosophie nicht angegriffen; vielmehr empf\u00e4ngt die letztere von den ersteren Anregung zu eigener Th\u00e4tigkeit, um ihrerseits wieder die Grundlagen der speciellen Wissenschaften im Zusammenh\u00e4nge mit den allgemeinen Gesetzen des Erkennens zu beleuchten. Diese Sachlage steht im Einklang mit der Natur des Erkenntnissverm\u00f6gens, das sich beth\u00e4-tigen kann, ehe es selbst erforscht worden ist, das sich sogar erst beth\u00e4tigen muss, um an den eigenen Producten die Kegeln seines Gebrauchs, seinen Ursprung und seine Grenzen erkennen zu","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nGotti. Friedr. Lipps.\nk\u00f6nnen. Kein feindlicher Widerstreit, sondern anregende Wechselwirkung findet somit zwischen den Interessen der Philosophie und denjenigen der Einzelwissenschaften statt, der zufolge sich f\u00fcr jedes besondere Wissensgebiet ein Problem herausbildet, das dem hierf\u00fcr die Mathematik aufgestellten entspricht, und das die Aufgabe enth\u00e4lt mit den Hilfsmitteln der Logik und Erkenntnisskritik die Grundlagen der einzelnen Wissenschaften zu kl\u00e4ren. Dass diese Probleme selbst\u00e4ndige sind und weder durch die auf sich gestellten Einzelwissenschaften, noch durch die auf ihr eigenes Gebiet beschr\u00e4nkte Philosophie gel\u00f6st werden k\u00f6nnen, vielmehr den Grenzgebieten zwischen Philosophie und Specialwissenschaften angeh\u00f6ren, bedarf woh\\ keines weiteren Beweises; denn die Gesichtspunkte, welche die Untersuchung leiten, gibt die Philosophie, das Material aber, das untersucht werden soll, geh\u00f6rt den einzelnen Wissenschaften an. Allerdings ist es m\u00f6glich, dass philosophische Interessen dabei im Vordergr\u00fcnde stehen, und dass dann \u2014 wie Wundt dies in seiner Logik thut \u2014 die angedeuteten Probleme den er-kenntnisstheoretischen und logischen Untersuchungen zugesellt werden. Dann ist aber auch die Philosophie nicht ein von den einzelnen Wissenschaften abgetrenntes Gebiet , sondern im Sinne Wundt\u2019s Wissenschaftslehre, die auf der breiten Basis der Einzelwissenschaften ruhend das gesammte wissenschaftliche Erkennen zu einem einheitlichen Systeme vereinigt.\nZwischen Mathematik und Philosophie ist nun die Wechselwirkung besonders fruchtbar, was durch den besonderen Charakter der Mathematik als einer mit Strenge begr\u00fcndeten und ausgebauten formalen Wissenschaft veranlasst wird. Ihre Erfolge erzeugen den Wunsch, ihre Methoden auf philosophische Gebiete zu \u00fcbertragen. So wurde Leibniz ohne Zweifel durch die Einsicht in die weit-tragende Bedeutung der mathematischen Symbolik, die in der von ihm selbst begr\u00fcndeten Symbolik der Differentialrechnung einen neuen Triumph feierte, zu seiner Idee einer allgemeinen Begriffsschrift, der \u00bbcharacteristica universalis\u00ab, gef\u00fchrt. Und die Verwendung der algebraischen Operationen bei der Untersuchung der formalen Begriffsbeziehungen, die den \u00bblogischen Calcul\u00ab erzeugte, erfolgte wohl in Verfolgung jener Leibniz\u2019schen Idee. Kant fand in der Mathematik eine willkommene St\u00fctze bei der Ergr\u00fcndung","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\n167\nder M\u00f6glichkeit synthetischer Urtheile a priori. Herbart gr\u00fcndet auf mathematische und speciell mechanische Vorstellungen seine Psychologie als Statik und Mechanik des Geistes. Empf\u00e4ngt, wie aus diesen Beispielen hervorgeht, die Philosophie Anregung von der Mathematik, so wirkt sie auf die letztere insbesondere dadurch zur\u00fcck, dass sie die Fundamentalbegriife von Raum, Zeit und Zahl, auf denen die Mathematik in letzter Linie beruht, aus eigenem Antrieb als elementare Bestandteile der Erkenntnistheorie entwickelt. Dadurch findet die Mathematik eine erkenntnisstheoretische Grundlage vorbereitet, von der aus ihre Begriffe in rein philosophischem Interesse erzeugt werden k\u00f6nnen. Sie erscheinen dann als Eigenthum der Philosophie, wenigstens insoweit als die logischen Untersuchungen zu ihrer Aufstellung f\u00fchren und ihre Eigenschaften kennen lehren. Als solche unterliegen die Begriffe den jeweils vertretenen erkenntnisstheoretischen Standpunkten >), durch welche dann auch die Mathematik bez\u00fcglich ihrer logischen Natur und ihrer Stellung im Gesammtgebiete der Wissenschaften beleuchtet werden kann.\nDaraus wird klar, dass das hier vorliegende Problem einer Untersuchung der Grundlagen der Mathematik in hervorragendem Ma\u00dfe philosophische Interessen erregen kann, die insbesondere daun zu Tage treten, wenn die Philosophie im Sinne Wundt\u2019s als Wissenschaftslehre definirt und jenes Problem in seinem Zusammenh\u00e4nge mit der erkenntnisstheoretisch begr\u00fcndeten Logik aufgestellt wird. In solcher Weise wird es von Wundt in der Logik behandelt, und es brachte diese Behandlung auch den hier beabsichtigten Untersuchungen f\u00f6rdernde Anregung. Es d\u00fcrfen aber jene philosophischen Interessen nicht allein im Vordergr\u00fcnde stehen, wenn das Problem so aufgefasst wird, wie es sich auf mathematischem Gebiete aufdr\u00e4ngt. Hier entspringt es dem Bed\u00fcrfnisse, die Begriffe und Methoden durch Aufdeckung ihres Zusammenhangs mit den Grundlagen und Gesetzen des Erkennens so zu erhellen, dass ihre mathematische Bedeutung klar und verst\u00e4ndlich wird. In\n1) Vergl. den Abschnitt \u00fcber den mathematischen Realismus und Nominalismus in Wundt\u2019s Logik, Bd. II, S. 85\u201496.\nWundt, Philos. Studien, IX.\n12","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nGotti. Friedr. Lipps.\nder einheitlichen Befriedigung dieser mathematischen und jener philosophischen Interessen wird daher die Aufgabe der Untersuchung wesentlich bestehen.\nDer Weg, der zur Erreichung dieses Zieles f\u00fchrt, wird somit allerdings das Gebiet der Philosophie durchziehen, jedoch in k\u00fcrzester Richtung; er wird aber auch in das Gebiet der Mathematik thats\u00e4chlich hin\u00fcberf\u00fchren m\u00fcssen. Die Untersuchungsmethode, die sich aus dieser Vorschrift ergibt, soll nun genauer dargelegt werden.\nMan kann es zun\u00e4chst f\u00fcr das Einfachste halten, von einzelnen mathematischen Begriffen auszugehen und jeden f\u00fcr sich einer philosophischen Behandlung zu unterwerfen. Um hierbei einen Ausgangspunkt zu erhalten, muss man eine Definition des Begriffs zu Grunde legen, die allerdings nur vorl\u00e4ufig Geltung haben soll und durch die nachfolgende Untersuchung modificirt, vielleicht durch eine neue ersetzt werden kann, die aber jedenfalls den vorliegenden Begriff gen\u00fcgend charakterisiren muss. Durch diese Definition wird der Begriff in das Reich der Logik ger\u00fcckt und dort Gegenstand einer logischen Untersuchung, aus welcher die Kenntniss der Merkmale und des Umfangs des Begriffs resultiren sollen. Die Angabe des ganzen Denkprocesses, der den Begriff erzeugt und zu dessen logisch widerspruchsloser Fassung f\u00fchrt, kann wohl als Wesen einer solchen Untersuchung bezeichnet werden, deren Richtung durch die anf\u00e4nglich angenommene Definition bestimmt wird und deren Ziel der logisch gekl\u00e4rte Begriff ist. So interessant nun auch die Befolgung dieser Methode sein mag, so birgt sie doch eine bemerkenswerthe Fehlerquelle in sich. Denn wenn auch eine anf\u00e4ngliche, ungen\u00fcgende Definition corrigirt werden kann, so gibt sie doch m\u00f6glicher Weise von vorn herein der Untersuchung eine falsche Richtung, die dann auch im schlie\u00dflichen Resultate zu Irr-th\u00fcmern f\u00fchrt. Es k\u00f6nnen wesentliche Momente des Begriffs in der anf\u00e4nglichen Definition, fehlen und es ist keine Garantie vorhanden, dass der schlie\u00dflich sich ergebende, logisch abgekl\u00e4rte Begriff alle die Eigenschaften besitzt, die nothwendig sind, um ihn","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t169\nzu einem brauchbaren Instrumente der mathematischen Forschung zu machen. Es kann \u00fcberhaupt ein und derselbe Begriff in wesentlich verschiedener Weise behandelt werden, und es resultirt alsdann nicht \u2014 was doch gefordert werden muss \u2014- ein von subjectivem Ermessen unabh\u00e4ngiger, eindeutig bestimmbarer Begriff aus der philosophischen Bearbeitung.\nDies zeigen beispielsweise die Untersuchungen von Frege1) und Husserl2) \u00fcber den Zahlbegriff. Beide gehen vom Begriff' der Anzahl aus, w\u00e4hrend in der Regel die Mathematiker (z. B. Kronecker in der citirten Abhandlung \u00fcber den Zahlbegriff) den Begriff der Ordinalzahl in den Vordergrund stellen. Frege befrachtet die Zahlen als Antworten auf die Frage \u00bbWie viel\u00ab, so dass 0 und 1 in gleicher Weise Anzahlen sind, wie 2, 3 u. s. w.; IIussert dagegen definirt \u2014 altem Brauche folgend \u2014 die Anzahl als Vielheit von Einheiten, so dass schon der Begriff der Anzahl 1 und noch mehr der Begriff der Anzahl 0 als Erweiterungen des engeren Anzahlbegriffs sich daTstellen. Frege vermeidet jede Er\u00f6rterung der psychologischen Grundlagen des Begriffs und behauptet ausdr\u00fccklich, dass die Psychologie dem Zahlbegriff nichts helfen k\u00f6nne; er gelangt zu der Erkenntniss, dass die Zahlangabe eine Aussage von einem Begriffe enthalte und zwar, dass die Anzahl, welche einem Begriff F zukommt, der Umfang des Begriffs \u00bbgleich-zahlig dem Begriff F\u00ab sei. Die Gleiehzahligkeit wird aber nicht als eine anschauliche, sondern als eine logische eindeutige Zuordnung definirt. Sind so die Anzahlen Umf\u00e4nge von Begriffen, so soll\u2014\u25a0 was Frege nicht weiter ausf\u00fchrt \u2014 betreffs der gebrochenen und complexen Zahlen u. s. w. \u00e4hnlich verfahren werden, so dass auch diese neuen Zahlen als Umf\u00e4nge von Begriffen gegeben werden. Dominirt somit bei Frege die logische Seite der Untersuchung, so betont dagegen Husserl die psychologische Basis der Begriffsbildung so sehr, dass er eine Analyse der eigentlichen Begriffe von psychologisch vorgestellten Vielheiten und Anzahlen der Unter-\n1)\tDie Grundlagen der Arithmetik ; eine logisch-mathematische Untersuchung \u00fcber den Begriff der Zahl. Jena 1886.\n2)\tDie Philosophie der Arithmetik; psychologische und logische Untersuchungen, I. Bd. Halle 1891.\n12*","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nGotti. Friedr. Lipps.\nsuchung der uneigentlichen oder symbolischen Anzahlbegriffe vor-angehen l\u00e4sst. Die Anzahlen sind hier specialisirte Vielheiten, die Vielheiten sind \u00bbcollective Verbindungen\u00ab; Vielheiten im allgemeinen sind nichts anderes als \u00bbirgend Etwas und irgend Etwas und irgend Etwas\u00ab u. s. w.; Zahlen sind Begriffe wie \u00bbEins und Eins\u00ab; \u00bbEins und Eins und Eins\u00ab u. s. w. Husserl steht so in bewusstem Gegens\u00e4tze zu Frege. Die Gegen\u00fcberstellung der eigentlichen und uneigentlichen Anzahlen hat aber den Zwecke dar\u00fcber zu belehren, dass erst die symbolischen Anzahlen eine Ausbildung der Arithmetik veranlassen, und dass diese letztere dann zu einer \u00bballgemeinen Arithmetik im Sinne einer Operationenlehre\u00ab f\u00fchrt.\nOhne nun die eine und die andere Untersuchung im Einzelnen verfolgen und die von den beiden Verfassern eingenommenen Standpunkte von einem dritten Standpunkte aus bek\u00e4mpfen zu wollen, darf doch darauf hingewiesen werden, dass die oben erw\u00e4hnte Fehlerquelle in augenf\u00e4lliger Weise sich bemerklich macht. Denn m\u00f6gen sowohl Frege\u2019s als auch Husserl\u2019s Untersuchungen in vielen Punkten logisch oder psychologisch werthvoll sein, so leisten sie doch f\u00fcr die mathematischen Bed\u00fcrfnisse nicht Gen\u00fcgendes, eben weil der Begriff der Ordinalzahl und des Z\u00e4hlens vernachl\u00e4ssigt wurde. Es ruht aber doeh der Begriff der Zahl sowohl auf dem Z\u00e4hlen als auch auf den z\u00e4hlbaren Vielheiten. Zwar l\u00e4sst sich nichts dagegen sagen, dass die Umf\u00e4nge einzelner Begriffe geeignet sind, Anzahlen zu definiren ; es ist auch gewiss richtig, dass die symbolischen Zahlen und nicht die an den Fingern oder an anderen anschaulich gegebenen Mengen abgez\u00e4hlten Zahlen eine Arithmetik veranlassen. Ich sehe aber nicht ein, wie durch solche Er\u00f6rterungen der Begriff der Zahl so, wie sie als Gegenstand der mathematischen Untersuchung auftritt, Erhellung finden soll. Ist schon die Beschr\u00e4nkung auf die ganze Zahl be-\u25a0 denklich, so ist die Nichtbeachtung des Z\u00e4hlprocesses, der keineswegs den Begriff der Anzahl schon voraussetzt, fehlerhaft.\nMan erh\u00e4lt die Sicherheit, den vollst\u00e4ndigen Begriff in seinem ganzen Umfange der Untersuchung zu unterwerfen, wenn die historische Entwickelung des Begriffs zu Grunde gelegt wird. Es hat diese Methode \u00fcberdies den Vortheil, die eigenth\u00fcmlichen Schwierigkeiten vor Augen zu stellen, die sich der Einf\u00fchrung eines Begriffs","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t171\nin der Regel entgegenstellen, und ein Yerst\u00e4ndniss f\u00fcr den Grad der Ausbildung zu erwecken, den der von der Wissenschaft reci-pirte Begriff erhalten hat. F\u00fchrt ja doch auch die Beachtung der geschichtlichen Entwickelung der Begriffe zu der Einsicht, dass das scheinbar Selbstverst\u00e4ndliche elementarer Begriffe auf einem gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Anbequemen an dieselben beruht, w\u00e4hrend bei ihrer Einf\u00fchrung in die Wissenschaft der Widerstreit verschiedener Ansichten \u00fcberwunden werden muss. Die logischen, den Begriff' eigentlich kl\u00e4renden Untersuchungen m\u00fcssen allerdings in gleicher Weise gef\u00fchrt werden, w\u00fce beim Befolgen der zuerst genannten Methode; sie schlie\u00dfen sich jedoch an die einzelnen Stufen der; historischen Entwickelung an und werden dadurch nach M\u00f6glichkeit vor Einseitigkeit und Unvollst\u00e4ndigkeit gesch\u00fctzt. In Befolgung dieser Methode hat z. B. L. Lange den Bewegungsbegriff1) und W. Brix den Zahlbegriff2) behandelt.\nWenn nun auch so das Resultat der Untersuchung m\u00f6glichst umfassend und vollst\u00e4ndig werden kann, so ist doch bei der Beschr\u00e4nkung auf einen einzelnen Begriff die Gefahr vorhanden, dass er \u00fcberm\u00e4\u00dfig hervorgehoben und seine Beziehung zu anderen Begriffen nicht beachtet wird. Es ist aber gerade das Yerh\u00e4ltniss, in welchem verwandte oder gegens\u00e4tzliche Begriffe zu einander stehen k\u00f6nnen, oft von wesentlicher Bedeutung, so dass die logische Ergr\u00fcndung jenes Verh\u00e4ltnisses als eine wichtige Aufgabe der Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik bezeichnet werden muss. So sind beispielsweise die Methoden der analytischen Geometrie auf die Abh\u00e4ngigkeit gegr\u00fcndet, in die sich die variablen Zahlen und die r\u00e4umlichen Gebilde wechselweise bringen lassen; und es ist wohl ohne weiteres klar, dass dieser Zusammenhang weder durch Speculationen \u00fcber den Zahlbegriff noch durch solche \u00fcber den Raumbegriff erkl\u00e4rt werden kann, wenn dabei blo\u00df der eine oder der andere Begriff der Untersuchung zu Grunde gelegt wird. Einer solchen Einseitigkeit mag es aber entspringen, wenn\n1)\tDie geschichtliche Entwicklung des Bewegungsbegriffs und ihr voraussichtliches Endergebnis; im 3. Bd. der Philosophischen Studien.\n2)\tDer mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, im 5. und 6- Bd. der Philos. Studien.","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nGotti. Friedr. Lipps.\neinmal der r\u00e4umlichen, stetigen Gr\u00f6\u00dfe das Uebergewicht \u00fcber die Zahl, ein andermal der Zahl die Herrschaft \u00fcber das Continuum einger\u00e4umt wird. Der erstere Zustand war bei den Alten durchgehend\u00bb vorhanden und pflanzte sich bis in die neuere Zeit fort. Noch in Newton\u2019s Arithmetica universalis tritt die Zahl als Verh\u00e4ltnis geometrischer Strecken auf. Der letztere Zustand dagegen scheint der gegenw\u00e4rtig herrschende zu sein. Es tritt dies sowohl hei den Untersuchungen von Riemann und von Helmholtz \u25a0) \u00fcber den Begriff des M-dimensionalen, r\u00e4umlichen Continuums als auch hei den Definitionen der Stetigkeit, wie sie De de kind1 2} und G. Cantor3) geben, zu Tage.\n\u00a7&\u2022\nDiesem Streben, den einen Begriff auf Kosten eines anderen in seiner Bedeutung zu vergr\u00f6\u00dfern und k\u00fcnstlich einen obersten Begriff aufzustellen, um alle anderen daraus abzuleiten, muss die Thatsache gegen \u00fcbergestellt werden, dass die gesammten mathematischen Disciplinen ein einheitliches Ganzes darstellen, dessen Grundlagen darum auch logisch zusammengeh\u00f6ren wrerden. Es muss dann aber auch jede K\u00fcnstelei im Wenden und Drehen der Begriffe vermieden und jedem sein Recht gelassen werden. Dies scheint aber nur dann m\u00f6glich, wenn die Grundlagen in ihrem Zusammenh\u00e4nge einer einheitlichen Untersuchung unterworfen werden.\nDabei soll nicht ein erkenntnisstheoretischer Standpunkt eingenommen werden, der von vornherein die mathematischen Begriffe etwa im Lichte eines Nominalismus oder eines Realismus erscheinen l\u00e4sst. Es soll vielmehr die Untersuchung in einer einfachen Beschreibung der Th\u00e4tigkeit des Denkens bestehen, durchweiche aus letzten s chie chthin gegeb en en\n1)\tUeber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome; popul\u00e4re wissensch. Vortr\u00e4ge Heft III. Ueber die Thatsaohen, die der Geometrie zu Grunde liegen; Nachrichten der Gesellsch. d. Wissenschaften zu G\u00f6ttingen 1868, Nr. 9.\n2)\tStetigkeit und irrationale Zahlen, \u00a7 3 und 5. Braunschweig 1S72.\n3)\tGrundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, \u00a7 10. Leipzig 1883.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t173\nThatsachen die mathematischen Begriffe erzeugt werden. Jene letzten Thatsachen, die der reflectirende Geist als schlechthin gegeben empfindet, m\u00fcssen zun\u00e4chst aufgesucht werden. Welche Beschaffenheit aber dieselben zeigen m\u00fcssen, um aus ihnen zu den mathematischen Begriffen gelangen zu k\u00f6nnen, lehrt die Beachtung der verschiedenen Arten von Objecten mathematischer Untersuchungen. Sie liegen den verschiedenen mathematischen Disciplinen zu Grunde und k\u00f6nnen somit leicht in eindeutiger Weise bestimmt werden; denn ein Schwanken kann hierbei blo\u00df im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung der Mathematik eintreten, wenn der fr\u00fcher enge Kreis der mathematischen Disciplinen sich erweitert und so auch die fr\u00fchere Aufgabenbestimmung durch eine neue ersetzt werden muss. Eine solche \\ er\u00e4nderung zeigt sich thats\u00e4chlich, wenn man vergleicht, wie z. B. Descartes in fr\u00fcherer Zeit und Wundt in unseren Tagen die Aufgaben der Mathematik bestimmt:\nDescartes sagt1): \u00bb... videinus neminem fere esse, si prima tantum scholarum limina tetigerit, qui non facile distingu\u00e2t ex iis quae occurrunt, quidnam ad mathesim pertineat et quid ad alias disciplinas. Quod attentius consideranti tandem innotuit, ilia omnia tantum, in quibus ordo vel mensura examinatur, ad mathesim referri, nec interesse utrum in numeris vel figuris vel astris vel sonis aliove quovis objecto talis mensura quaerenda sit. \u00ab Dagegen bestimmt Wundt in seiner Logik2) als Aufgabe der Mathematik : \u2019> die denkbaren Gebilde der reinen Anschauung sowie die auf Grund der reinen Anschauung vollziehbaren formalen Begriffsconstructionen in Bezug auf alle ihre Eigenschaften und wechselseitigen lielationen einer ersch\u00f6pfenden Untersuchung zu unterwerfen\u00ab. \u2014 Trifft Descartes\u2019 Definition das Wesen der damaligen auf Untersuchungen von Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen ausschlie\u00dflich gerichteten Mathematik, so sucht die allgemeine Fassung der Aufgaben mathematischer Untersuchung, wie Wundt sie gibt, den auf Lagebeziehungen gerichteten Problemen der neueren Geometrie, der zahlentheoretischen Erforschung der Eigenschaften ganzer Zahlen, der Lehre von den Dar-\n1)\t\u00dfegulae ad directionem ingenii ; reg. IV.\n2)\tWundt, Logik, Bd. II, S. 75.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nGotti. Friedr. Lipps.\nstellungsformen functioneller Abh\u00e4ngigkeiten, den Untersuchungen formaler Algorithmen gerecht zu werden.\nDie eine oder die andere dieser Aufgabebestimmungen soll nun hier nicht den Werth einer grundlegenden, den Charakter der Mathematik ersch\u00f6pfenden Definition besitzen und als Ausgangspunkt der Untersuchung dienen. Sie sollen vielmehr nur orientiren und den Weg zur Auffindung der letzten gegebenen Thatsachen weisen, Avie es in gleicher Weise ein nur oberfl\u00e4chlicher Blick auf die einzelnen mathematischen Disciplinen thun kann. Sie lehren indessen \u00fcberdies, dass zu verschiedenen Zeiten auch das Problem einer Untersuchung der Grundlagen Verschiedenheiten aufweisen wird, die in dem jeweiligen Entwicklungszustande der Mathematik begr\u00fcndet sind.\nIst nun so ein geeigneter Ausgangspunkt f\u00fcr die Untersuchung gewonnen Avorden, so soll der Denkprocess, der die mathematischen Begriffe in der Weise erzeugt, wie sie in der mathematischen Wissenschaft benutzt werden, beschrieben werden. Dass hiebei erkenntnisstheoretische Standpunkte keine Verwendung finden k\u00f6nnen, ist durch den einfachen Charakter der Untersuchung, die in einer blo\u00dfen Beschreibung bestehen soll, gew\u00e4hrleistet, und den ZAveifel, oh eine solche einfache Darlegung durchf\u00fchrbar sei, muss der Versuch dieselbe zu leisten beseitigen1). Dass ferner die so charakterisirte Untersuchung nicht Ausfluss einer das gesammte Erkennen umspannenden Theorie sein kann, scheint selbstverst\u00e4ndlich, da eben nur das auf die Mathematik und deren Untersuchungs-ohjecte gerichtete Erkennen hier in Betracht kommen soll\n1) Diese Methode hat der Verfasser bereits in seiner im Buchhandel nicht erschienenen Doctorarbeit: \u00bbDie logischen Grundlagen des mathematischen Funetionsbegriffs\u00ab, Zweibr\u00fccken 1888, angedeutet und, veranlasst durch die sowohl Geometrie als auch Analysis umfassende Bedeutung des Functionsbegriffs, in kurzen Umrissen durchgef\u00fchrt. F\u00fcr das Gebiet der Grundlagen der Mathematik wird so dasselbe gefordert, was neuerdings Osw. K\u00fclpe in seinen Untersuchungen \u00fcber \u00bbdas Ich und die Au\u00dfenwelt\u00ab in den Philosophischen Studien VII. und VIII. Bd. betreffs der philosophischen Arbeit \u00fcberhaupt als Forderung aufstellt, indem er am Schl\u00fcsse seiner Abhandlung (S. 341) die Ueberzeugung ausspricht, \u00bbdass die Erlebnisse und die Reflexion \u00fcber sie allgemeing\u00fcltige Thatsachen sind, deren Beschreibung in einer von individuellem Meinen und Wollen unabh\u00e4ngigen Form zu liefern gelingen m\u00fcsse\u00ab.","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik.\t175\nDamit scheint mir das Problem einer Untersuchung der Grundlagen der Mathematik bez\u00fcglich der Aufgabe, die zu l\u00f6sen, und bez\u00fcglich des Weges, der zum Zwecke der L\u00f6sung einzuschlagen \u201eei, gen\u00fcgend charakterisirt. Es handelte sich darum, das Problem n seiner Selbst\u00e4ndigkeit zu beleuchten, Stellung zu demselben zu nehmen und eine auf blo\u00dfe Er\u00f6rterung von Thatsachen gerichtete L\u00f6sungsart vorzuschlagen. Die Anerkennung von Bed\u00fcrfnissen, die lurch den blo\u00df formalen, mathematischen Standpunkt nicht befriedigt werden, scheint mir hierf\u00fcr in gleicher Weise unentbehrlich zu sein, wie der Verzicht auf die Anschauung, als k\u00f6nnten die mathematischen Begriffe erst durch gek\u00fcnstelte logische Untersuchungen ein Recht auf Existenz erhalten.\n(Fortsetzung folgt.)","page":175}],"identifier":"lit4228","issued":"1893","language":"de","pages":"151-175","startpages":"151","title":"Untersuchungen \u00fcber die Grundlagen der Mathematik","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:28:38.077788+00:00"}