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{"created":"2022-01-31T12:29:48.701874+00:00","id":"lit4233","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Radulescu-Motru, Constantin","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 9: 317-357","fulltext":[{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\nVon\nConstantin Radulescu-Motru.\nEinleitung.\nWenn die Geschichte der Philosophie nicht eine \u00bbChronik der Meinungen und Verirrungen der Philosophen\u00ab, sondern ein \u00bbBild der die Gesammtentwickelung der Wissenschaft beherrschenden Ideen\u00ab sein soll, wie der Hauptvertreter der wissenschaftlichen Philosophie der Gegenwart von ihr verlangt, dann erwartet die Kant-Literatur, so umfangreich sie heute schon sein mag, noch wichtige Erg\u00e4nzungen von der Zukunft. Denn so vielseitige Beachtung die Kant\u2019sche Philosophie bisher auch erfahren hat, so eingehend ihr innerer Aufbau und ihr logischer Zusammenhang gepr\u00fcft worden ist: als Glied der wissenschaftlichen Entwickelung \u00fcberhaupt, als Erg\u00e4nzung der Einzelwissenschaften ihrer Zeit, kurz gesagt als historische Nothwendigkeit ist sie noch hei weitem nicht gen\u00fcgend verstanden und dargelegt. Und dieser Vorwurf richtet sich nicht sowohl gegen vdie zahlreichen Commentatoren zweiten Ranges, f\u00fcr die die Philosophie ein Cultus des Abstracten ist, der sie \u00fcberhaupt nicht der Entwickelung der exacten Wissenschaften einzugliedern gestattet, als gegen die der wissenschaftlichen ! hilosophie N\u00e4herstehenden selbst. Unter den inhaltsreichsten Werken, die uns diese letzteren gegeben haben, \u2014 wie nennen nur H. Cohen, Kant\u2019s Theorie der Erfahrung ; F. A. Lange, Geschichte des Materialismus; C. G\u00f6ring, System der kritischen Philosophie ; J. Volkelt, Kants Erkenntnisstheorie; Al, Riehl, Philosophischer Kriticismus;\nWundt, Philos. Studien. IX.\t>l\t99","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nConstantin Radulescii-Motru.\nEdward Caird, The critical philosophy of Im. Kant, \u2014 ist nicht eines, das uns Kant\u2019s Sch\u00f6pfung als etwas von der Geschichte seiner Epoche Herbeigef\u00fchrtes und in ihr Dastehendes erkennen lehrt. Nicht dass unterlassen worden w\u00e4re, Kant\u2019s Quellen anzuf\u00fchren und seine Vorg\u00e4nger zu nennen, aber wir sehen ihn bei ihnen nicht als Evolutionsproduct der Wissenschaft an sich, er tritt uns nicht als Factor in der wissenschaftlichen Bewegung auf der Grenzscheide zwischen unserem und dem vorigen Jahrhundert vor Augen; wir linden ihn h\u00f6chstens als solchen inmitten der Gegenwart construira Dass nun Kant heute noch keineswegs ganz veraltet ist, dass einzelne seiner Theorien noch zum Best\u00e4nde unserer eigenen Wissenschaft geh\u00f6ren, entbindet diese Thatsache von der eigentlichen Pflicht des Historikers? Und beschr\u00e4nkt nicht der Versuch, Kant mit der Wissenschaft unserer Tage in Harmonie zu bringen, nothwendig seine Ausleger, indem sie nun kaum umhin k\u00f6nnen, ihren eigenen Sinn in Kant\u2019s Worte zu legen?\nDie folgenden Bl\u00e4tter k\u00f6nnen nicht versuchen, die historische L\u00fccke, auf die soeben hingewiesen worden ist, in jeder Beziehung auszuf\u00fcllen. Sie versuchen es aber bez\u00fcglich einer der Theorien Kant \u2019s : seiner Theorie der Causalit\u00e4t. Nun bildet zwar diese Theorie den eigentlichen Kern der Kant\u2019schen Philosophie1), gleichwohl mussten wir uns solche Grenzen ziehen, dass dieser Arbeit der Charakter einer Specialstudie gewahrt blieb, und diese Selbstbeschr\u00e4nkung wurde insofern erleichtert, als sich in den L\u00f6sungen des Causalit\u00e4ts-problems vor allen anderen die Wechselwirkung zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft wiederspiegelt.\nWir sind geneigt, was dieses Problem angeht, zwei Zeitpunkte in der Geschichte anzunehmen, die sich dadurch charakterisiren, dass beidemal die Philosophie in die Entwickelung der Einzelwissenschaften eingreift, um einer allzustarken Divergenz derselben entgegenzuwirken, indem sie die aus ihren Sonderbestrebungen erwachsenen Widerspr\u00fcche in eine h\u00f6here Einheit aufhebt.\n1) \u00bbVon der Causalit\u00e4t ist das Apriori ausgegangen und nach vielen Wanderungen immer wieder zu ihr zur\u00fcckgekehrt, um in der Gegenwart, wie es den Anschein hat, dauernd hei ihr zu verharren\u00ab, bemerkt einer der scharfsinnigsten Ausleger des Kriticismus. (G\u00f6ring, System der kritischen Philosophie, II. S. 180.)","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n319\nDas erste Mal spielt sie ihre Vermittlerrolle in der Person Kant s. Die exacten Wissenschaften vor ihm standen, von Galilei und Newton begr\u00fcndet, in directer Abh\u00e4ngigkeit von den mathematischen Disciplinen und waren so von selbst geneigt, dem logischen Elemente \u2014 dem auf der Basis des Satzes vom Grunde errichteten mathematischen Functionsbegriff \u2014 eine \u00fcbergro\u00dfe Bedeutung beizulegen, auf Kosten aller Erfahrungsrechte. Aus diesen Umst\u00e4nden folgerten die Philosophen des 17. Jahrhunderts die Berechtigung ihrer rationalistischen L\u00f6sungen. Die biologischen Wissenschaften anderseits (insbesondere auch die Gehirnphysiologie), die von der empirischen Beobachtung ausgegangen, waren im Gegen-theil eher geneigt, das Causalproblem unter dem Gesichtspunkte der Ideenassociation zu l\u00f6sen, und ihnen entlieh nun Hume die Argumente f\u00fcr seinen Skepticismus. Zwischen diesen Gegens\u00e4tzen, zwischen Rationalisten und Empiristen also, vermittelt die Kant\u2019sehe Philosophie durch ihre Auffassung der Causalit\u00e4t als eines reinen Verstandeshegriffes a priori.\nDas zweite Mal finden wir die Philosophie im gleichen Sinne in unseren Tagen th\u00e4tig. Die mechanische Causalit\u00e4t, das Postulat der auf die Principien Galilei\u2019s und Newton\u2019s begr\u00fcndeten erkl\u00e4renden Naturwissenschaft, erf\u00e4hrt aber heute nicht weiter die Kritik der Gehirnphysiologie, wie in Hume\u2019s Tagen, sondern die einer ganzen Eeihe damals noch kaum in ihren Anf\u00e4ngen stehenden Disciplinen, wie der exacten Psychologie, Ethik, Geschichtswissenschaft, vergleichenden Sprachwissenschaft u. s. w., kurz der positiven Geistes Wissenschaften. Und dies, weil die Objecte dieser Gebiete qualitativ viel zu differenzirt sind, um ihre Erkl\u00e4rung in rein quantitativen Beziehungen finden zu k\u00f6nnen, weil also hier neben der mechanischen eine psychische Causalit\u00e4t gefordert wird.\nDer Philosoph, der unseres Erachtens diese Forderung am besten begriffen hat, ist Wilhelm Wundt.\nBei dem Versuche, dieses zweimalige und gleichartige Eingreifen der Philosophie vergleichend darzustellen, ergab sich, dass eine einzige, selbst ausgedehnte Studie den Gegenstand nicht zu bew\u00e4ltigen verm\u00f6ge, dass vielmehr beide zeitliche Momente vorerst unabh\u00e4ngig von einander zu behandeln seien, und so entstand der Entschluss, in der vorliegenden Arbeit das erste, in einer so bald als\n22*","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nConstantin Radulescu-Motrii.\nm\u00f6glich folgenden das zweite zu vergegenw\u00e4rtigen. Es wurde damit n\u00f6thig, die Er\u00f6rterung der Kant\u2019schen Theorie der moralischen Freiheit einerseits, der Apperception anderseits der zweiten Abhandlung zuzutheilen, insofern ihr die psychologischen Resultate voraufgeschickt werden m\u00fcssen, in deren Lichte die genannten Kant\u2019schen Theorien in gleichem Sinne als die Gegenwart, vorbereitend erscheinen sollen, wie auf den nachfolgenden Seiten die rationalistischen und empiristischen Theorien als vorbereitend f\u00fcr die Kant\u2019sche Philosophie, insbesondere f\u00fcr ihre L\u00f6sung des Causalit\u00e4tsproblems, erscheinen werden.\nErstes Capitel.\nI.\nDas Charakteristische in der Philosophie des Alterthums. \u2014 Die Methode der Gegens\u00e4tze. \u2014 Entwickelung der Mathematik bis zum 16. Jahrhundert. \u2014 Der Begriff der Function und die exacten Wissenschaften nach Galilei. \u2014 Die Entstehung von der Theorie der Gleichartigkeit der Naturelemente, der Kraft und Causalit\u00e4t. \u2014 Logische und reale Abh\u00e4ngigkeit.\nDie philosophischen Systeme des Alterthums weisen f\u00fcr den, der sie in ihrer Gesammtheit \u00fcberschaut, eine gewisse Verwandtschaft auf. Sie bieten fast ausnahmslos Speculationen \u00fcber die Ursub-stanzen, die letzten Elemente oder Ursachen, deren Manifestation die \u00e4u\u00dfere Welt sein k\u00f6nne. Um zu derartigen Resultaten zu gelangen, nahmen die alten Philosophen, besonders nach, Sokrates, reichliche Zuflucht zu logischen Deductionen, und darunter in erster Linie zu der Methode der Gegens\u00e4tze. Sein und Werden, Vollkommen und Unvollkommen, Gut und Schlecht, Beweglich und Ruhend, Endlich und Unendlich, Idee und Materie, Gerade und Ungerade, Begrenzt und Unbegrenzt, Eins und Viel u. s. w. \u2014 irgend ein Gegensatz liegt jedem System zu Grunde. Die Philosophie, so urtheilt Aristoteles1), hat bis auf ihn \u00fcberhaupt nichts Werth-volleres aufzuweisen. Und seinerseits macht er gleichfalls Gebrauch von dieser selben Methode der Gegens\u00e4tze. Porm und Materie,\n1) Physik. I, 5. 6; vergl. auch W. Wundt, Die physikalischen Axiome. Erlangen 1866. S. llf.","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t321\nM\u00f6glichkeit und Wirklichkeit erkl\u00e4ren ihm die Entwickelung der Welt, und was im besonderen das Problem der letzten Grund-nestandtheile, des Substrates alles Seienden angeht, so sind ihm Feuer, Wasser, Erde, Luft nichts weiter, als eine Mischung aus den vier Gegens\u00e4tzen: Kalt und Warm, Trocken und Feucht.\nIn dieser letzten Gestalt, die sie in der Aristotelischen Philosophie empfangen, hat sich die Methode der Gegens\u00e4tze bis zum Beginne der modernen Aera behauptet, d. h. bis ins 16. Jahrhundert. In diesem Jahrhundert erst empfing sie den Todessto\u00df f\u00fcr alle Zeit. Denn es verdr\u00e4ngte sie um diese Zeit eine andere Methode aus ihrer herrschenden Stellung und entriss ihr das Privileg, das sie f\u00fcr sich in Anspruch genommen, das Privileg der, Erkl\u00e4rung der sinnlichen Welt.\nDas Problem, das den Ansto\u00df zu dieser Wendung der Dinge gab, bot sich in der Erkl\u00e4rung der Bewegung. Die Bewegung war von den Alten entweder \u00fcberhaupt nicht oder wiederum und wie alles Uebrige aus dem Gegens\u00e4tze erkl\u00e4rt worden. So unterschied Aristoteles zwischen nat\u00fcrlicher und erzwungener Bewegung; Kreisbewegung, in welcher die Gestirne, die verk\u00f6rperten G\u00f6tter, sich bewegen, und geradliniger Bewegung, welche die niederen Formen des terrestrischen Daseins kennzeichnet. Diese letztere involvirt noch den Gegensatz der Richtung: die centrifugale und die centripetale, die erste dem Feuer, die zweite der Erde zu-k\u00f6mmend ; vermischt finden sie sich in Luft und Wasser. Der Beweis der Unzul\u00e4ssigkeit dieser Theorie und ihr Ersatz durch eine andere, die die gesammte neue Richtung in nuce enthielt, ist der Ausgangspunkt der modernen Aera. Die Wissenschaft, die diese Aera er\u00f6ffnet, ist die Dynamik, ihr Begr\u00fcnder Galileo Galilei.\nDer Hauptfactor in dieser gro\u00dfen Reform ist die Mathematik. fSie ist es, k\u00f6nnte man sagen, die die ganze Umw\u00e4lzung erzwingt. Die Fortschritte in ihrer Entwickelung, die sie errungen, die neuen begriffe und Methoden, durch die sie sich vor dem 16. Jahrhundert bereichert hatte, sie sind die gro\u00dfen treibenden Kr\u00e4fte, die die Methode der Gegens\u00e4tze entthronen. Ohne den Beistand der Mathematik h\u00e4tte Galilei nie zu seinen Ergebnissen gelangen k\u00f6nnen,","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nConstantin Radulescu-Motrii.\nohne sie w\u00fcrde vielleicht noch heutigen Tags das Aristotelische System herrschen.\nIhrem Charakter und ihren Grenzen nach konnte die Mathematik, wie sie zur Zeit des Aristoteles beschaffen war, f\u00fcr die auf empirischem Wege erlangten Kenntnisse nur von geringem Nutzen sein, viel eher gab sie bei ihrer damaligen Unzul\u00e4nglichkeit, ihrer beschr\u00e4nkten Anwendung auf die Erfahrung, einen g\u00fcnstigen Ausgangspunkt f\u00fcr philosophische Speculationen. Sobald man sich n\u00e4mlich \u00fcberhaupt auf ganze rationale Zahlen beschr\u00e4nkte, so verband sich damit unvermeidlich die Annahme, dass nur die discreten Gr\u00f6\u00dfen (die man sich ja durch eine Vervielfachung der Einheit entstanden denken kann) Zahlen bilden. Dies aber machte seinerseits wiederum die Uebertragung der mathematischen Operationen auf die allergew\u00f6hnlichsten Erscheinungen unm\u00f6glich und leistete zugleich dem Umsichgreifen der Begriffsanalyse, der Definition, kraft der ihr in immer h\u00f6herem Grade beigelegten Wichtigkeit, Vorschub. Und in der That vermochten nur Definitionen erg\u00e4nzend einzutreten f\u00fcr das, was die Rechnung nicht bew\u00e4ltigte, und so machte denn auch Aristoteles von diesem Surrogate, das f\u00fcr seine Zeit in vielen F\u00e4llen unbestreitbar das beste war, ausgibigen Gebrauch (so z. B. in dem schwierigen Falle des Begreifens der Stetigkeit) >). Dies aber war sehr folgenreich, insofern, dank der \u00fcberhandnehmen-den Unterordnung der Gr\u00f6\u00dfen unter verschiedene Kategorien, nicht allein die Trennung von Arithmetik und Geometrie sch\u00e4rfer durchgef\u00fchrt und so ihr Zusammenwirken auf lange hinaus sehr empfindlich aufgehalten wurde, sondern au\u00dferdem auch die sich mehr und mehr selbst\u00e4ndig ausgestaltende Welt der Begriffe der Welt der Realit\u00e4t zunehmend als etwas H\u00f6heres gegen\u00fcber trat. Wenn n\u00e4mlich nur dasjenige, was einer genaueren Messung zug\u00e4nglich ist, nur das, was sich durch Vervielfachung der Einheit bilden l\u00e4sst, Object der mathematischen Operationen werden kann, so erschien bei der engen Begrenztheit der damals exact bekannten Erscheinungswelt auch die Spaltung zwischen der Welt der Begriffe, der Substanzen einerseits und der \u00e4u\u00dferlich wahrgenommenen Welt anderseits berechtigt;\n1) Vergl. H. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittelalter. Leipzig 1874. S. 119.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t323\nja es musste die Au\u00dfenwelt geradezu als etwas weit Unvollkommeneres, als chaotische Materie gelten. \u00bbMathematische Genauigkeit\u00ab, sagt dementsprechend Aristoteles, \u00bbdarf man nicht in Allem verlangen, sondern nur in Gegenst\u00e4nden, die kein Stoffliches an sich haben, deshalb passt diese Weise nicht f\u00fcr die Natur, denn die ganze Natur ist stofflich\u00ab1). Auf diese Weise musste man schlie\u00dflich dahin gelangen, die Welt als ein blo\u00dfes mehr oder minder vollkommenes Abbild einer Welt von Begriffen oder Formen anzusehen.\nAnders aber verh\u00e4lt es sich mit den Fortschritten der Mathematik nach Aristoteles. Wenn bis dahin eine Anzahl Gr\u00f6\u00dfen, die wir in der Erfahrungswelt finden, arithmetischen Operationen nicht zug\u00e4nglich gewesen wrar, so \u00e4nderte sich dies mit der Einf\u00fchrung der gebrochenen und irrationalen Zahlen, denn alle Gr\u00f6\u00dfen ordneten sich dem jetzt entstandenen allgemeinen Zahlbegriff unter. Dies gab aber zugleich den Ansto\u00df, die Aufgaben der Mathematik in einer andern Richtung zu suchen. So lange n\u00e4mlich die rationalen Zahlen die einzigen Elemente waren, welche f\u00fcr die mathematischen Operationen zur Verf\u00fcgung standen, konnte die Mathematik nichts anderes bezwecken, als die Messung der Gr\u00f6\u00dfen zu bewerkstelligen, d. h. zu untersuchen, wievielmal eine Gr\u00f6\u00dfe das Einfache in sich enthalte. Indem sich aber der Zahlbegriff durch die Einf\u00fchrung gebrochener und irrationaler Zahlen erweiterte, ward man, ohne dass man dadurch etwas f\u00fcr die directe Messung gewrann, wie von selbst in eine neue Bahn mathematischen Denkens gedr\u00e4ngt und gelangte schlie\u00dflich zu dem so \u00fcberaus fruchtbaren Standpunkte : nicht mehr die Messung als einzige Aufgabe zu betrachten, sondern ihr die andere zu coordiniren, das Verh\u00e4ltniss zwischen den Gr\u00f6\u00dfen, mit anderen Worten die Function, aufzusuchen2). Die ersten Spuren dieses neuen Strebens werden schon bei Euklid wahrnehmbar. Seine Theorie der \u00e4hnlichen Dreiecke beruht wesentlich auf einer neuen Auffassung des Zahlbegriffs3). Den ersten Beweis daf\u00fcr, dass eine solche neue Richtung eingeschlagen wurde,\n1) Metaphysik, II. 3.\n,2) Vergl. H. Hankel, Theorie der complexen Zahlensysteme. 1867. S. 60ff. K.. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. I, S. 175.\n3) Vergl. H. Hankel, ebenda, S. 65.","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nConstantia Radulescu-Motru.\nkann man vielleicht darin erblicken, dass an Stelle der bestimmten Zahlenwerthe, die bisher unerl\u00e4sslich erschienen, jetzt ' Symbole treten. Hierdurch wiederum wird die Algebra ins Leben gerufen; ihre ersten Spuren sind in den Schriften Diophant\u2019s zu finden.\nEine vollst\u00e4ndige Entwickelung dieser Richtung blieb gleichwohl der neueren Zeit Vorbehalten. Zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts erscheint es einem Bradwardinus nicht l\u00e4nger zweifelhaft, dass Yerh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfigkeit und Messbarkeit nicht an einander gebunden seien, dass eine jede Gr\u00f6\u00dfe zu einer anderen in einem Verh\u00e4ltnisse stehen k\u00f6nne, ohne dass sie darum mit ihr ein gemeinsames Ma\u00df haben m\u00fcsse1). Seine Nachfolger halten bereits diesen Satz f\u00fcr beinahe selbstverst\u00e4ndlich und bem\u00fchen sich nur, diese Verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfigkeit auf die verschiedensten Naturerscheinungen auszudehnen. Der franz\u00f6sische Mathematiker Oresme stellt im \u00bb Tracta tus proportionnai\u00ab und mehr noch im \u00bbAlgorithmus propor-tionum\u00ab ihre Normen in einer f\u00fcr jene Zeit bemerkenswerthen Art auf und wendet dabei die gebrochenen Exponenten in der k\u00fchnsten Weise an. In der Musik, bei Vergleichung geometrischer Figuren, in Bezug auf die Himmelsk\u00f6rper, bei mechanischen Problemen \u2014 \u00fcberall ist er bem\u00fcht, von Zahlenverh\u00e4ltnissen Gebrauch zu machen2). In der ganzen Zeit bis zu Galilei ist das Interesse daf\u00fcr im Zunehmen begriffen, die Einmischung von Mysticismus verleitet sogar zu einer \u00fcbertriebenen Werthsch\u00e4tzung der Proportionalit\u00e4t. Ein Paciulo, Finaeus betiteln ihre Werke: \u00bbDivina proportio\u00ab, und das Studium der Proportionen wird auch von M\u00e4nnern betrieben, die nicht Mathematiker von Fach sind: man suchte eben \u00fcberall die Versinnlichung der Zahlenverh\u00e4ltnisse. Der Mediciner Fernei und vor allem der K\u00fcnstler Leonardo da Vinci gehen so weit, zur Best\u00e4tigung dessen die H\u00fclfe des Experiments in Anspruch zu nehmen.\nMit dieser Tendenz betreten wir die moderne Aera. Die mathematischen Beziehungen verdr\u00e4ngen die Gegens\u00e4tze, die man bisher zur Welterkl\u00e4rung heranzuziehen gewohnt war, einen um den anderen; mit der Wahl eines neuen Gesichtspunktes f\u00fcr die Begriffs-\n1)\t\u00bbOmnis quantitas omni quantitati proportionalis, sed non omnis omm commensurabilis\u00ab. M. Cantor, Vorlesungen \u00fcber Geschichte der Mathematik. II. S. 106.\n2)\tM. Cantor, ebenda, II. S. 121 ff.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t325\nbearbeitung thun sich vor dem Manne der Wissenschaft neue Horizonte auf. Die Ueberzeugung, dass zwischen den Distanzen der Planeten und zwischen ihren Umlaufzeiten oder ihrer Geschwindigkeit irgend ein algebraisches oder geometrisches Verh\u00e4ltniss existiren m\u00fcsse, war es z. B., welche die Forschungen Kepler\u2019s zu einem erfolgreichen Resultate f\u00fchrte1).\nEs verh\u00e4lt sich also die Mathematik nicht wie eine einfache H\u00fclfswissenschaft, sondern sie erweist sich als der Kern des Neuen ; die Stufen auf der Bahn der Gesammtreform sind gleichzeitig die ihrer eigenen Entwicklung. Was blieb nach ihren Fortschritten, nachdem sie thats\u00e4chlich den Begriff der Function gefunden hatte, f\u00fcr Galilei zu thun \u00fcbrig? Er hatte einfach die Beziehungen von den abstracten mathematischen Gr\u00f6\u00dfen auf die reellen der \u00e4u\u00dferen Welt, die Bewegungen der K\u00f6rper n\u00e4mlich zu \u00fcbertragen, diese Beziehungen als nicht allein g\u00fcltig f\u00fcr die ganzen, sondern auch f\u00fcr die unendlich kleinen Theile von Gr\u00f6\u00dfen aufzufassen. Und auf diesem Wege musste er wie von selbst zu den ersten Gesetzen der Dynamik gef\u00fchrt werden. Gewiss, die Vorg\u00e4nge waren in Wirklichkeit so einfache nicht! Ein Genie nur konnte in der Aufeinanderfolge der materiellen Ph\u00e4nomene jene Einfachheit erkennen, die die auf dem mathematischen Felde gewonnenen Erzeugnisse aufweisen, und wiederum konnte, von dem Genius des Intellects abgesehen, nur ein moralisch-gro\u00dfer Charakter den Muth besitzen, solche Wahrheiten auszusprechen, die Autorit\u00e4t des Aristoteles anzuzweifeln und zu bek\u00e4mpfen! Galileo Galilei vereinigte beides in seiner Person; man betrachtet ihn also mit Fug und Recht als den Haupturheber der modernen Denkrichtung.\nDie mathematische Function ist jetzt, von Galilei ab, der Typus und gleichzeitig das Ziel, auf das alle begriffliche Bearbeitung der Naturerscheinungen gerichtet ist, wie es vordem die Gegens\u00e4tze waren. Zur Erleichterung ihrer Verwendung musste man ihr alsbald den Begriff der Materie anpassen. Mit den den Grundbestandteilen inh\u00e4rirenden qualitativen Besonderheiten, wie Aristoteles sie gelehrt, war eine Auss\u00f6hnung unm\u00f6glich ; f\u00fcr die neuen Naturforscher bedurfte es einer Theorie, die lediglich die quantitativen\n1) Vergl. W. Whewell, History of the inductive Science. Iu. III. 1837.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nConstantia Radulescu-Motru.\nUnterschiede, die mathematischen Bez\u00fcge, in den Vordergrund r\u00fcckte und bewies, d. h. einer Theorie, die in Anbetracht der elementaren Qualit\u00e4ten die Gleichartigkeit aller Theile der Natur lehrte. Seit dem Alterthum bereits lag eine solche in allgemeinen Umrissen in der Philosophie Demokrit\u2019s vorgezeichnet. Aus diesem Grunde bemerken wir in dieser Epoche eine so stark ausgesprochene R\u00fcckkehr zum Atomismus. Verstehen wir diese R\u00fcckkehr zum Atomismus nicht irrth\u00fcmlieh: sie ist nicht die zu einem Atomismus, wrie ihn ihr Begr\u00fcnder seihst verstand. Demokrit stellte die Atome als Substanzen dar, deren Combination die Welt hervorbringe, \u2014 die neuere Atomistik bediente sich der Demokritischen Lehre im Sinne einer Hypothese, die sich der mathematischen Function anpassen lie\u00df. Dieser Unterschied darf nie aus den Augen gelassen werden. Die Atome b\u00fc\u00dfen nach dem Princip der modernen Richtung alle und jede Bedeutung ein, was sie an und f\u00fcr sich betrifft \u2014 sie bieten nur eine gewaltige Handhabe, um zur Aufstellung von Naturgesetzen zu gelangen. Demokrit wusste, gleich allen \u00fcbrigen griechischen Philosophen, nichts von solchen Gesetzen i), und seine ganze Wissenschaft war auf die Atome selbst beschr\u00e4nkt. F\u00fcr die moderne Experimentalwissenschaft ist der Atomismus eine Hypothese, die fast identisch ist mit der Theorie des Unendlichkiemen in der neuen Mathematik, so weit identisch selbst, dass der Begriff des Atoms und der Begriff des mathematischen Unendlichen f\u00fcr die ab-stracten Gesetze coincidiren. Diesem Umstande allein verdankt die Geometrie Cavalieri\u2019s, die analytische Geometrie Descartes\u2019, die Differentialrechnung Leibnizens (oder die Fluxionsrechnung Newtons) ihre unmittelbare Anwendbarkeit auf die Erscheinungen der realen Welt. Der Fortschritt in der Entwickelung des modernen Atomismus hat sich sodann stetig im Sinne der Reinigung des Atombegriffes von allen und jeden intuitiven Vorstellungen vollzogen.\nEine andere Theorie, die n\u00e4chst der von der Gleichartigkeit der Natur ihren Ursprung aus dem Uebergewicht der Mathematik herleitet, ist die von der Kraft. Wenn die ganze Natur wie ein weiter Schauplatz betrachtet wird, auf dem sich die Erscheinungen\n1) Vergl. K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. Leipzig 1890. IL S. 4ff.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t327\nnach festen Gesetzen abspielen, d. h. nach quantitativ constanten Verh\u00e4ltnissen, so ergibt sich daraus als logische Consequenz die T rage : worauf ist das immer neue Auftreten der gleichen Verh\u00e4ltnisse zur\u00fcckzuf\u00fchren? woher kommt es, dass diese Verh\u00e4ltnisse sich gleichen, wenn die Objecte, an denen sie wirksam sind, einander im h\u00f6chsten Grade ungleich sind? Jeder losgelassene K\u00f6rper f\u00e4llt stets in gleichem Verh\u00e4ltniss gegen die Erde, und dies Verh\u00e4ltniss wiederholt sich bei der Rotation der Erde um die Sonne. Woher diese Uebereinstimmung? Bei diesem Punkte bietet die Theorie der Kraft eine Erkl\u00e4rung. Die Wiederholung und die Aehnlichkeit der Verh\u00e4ltnisse entspringt der hypothetischen Einwirkung einer und derselben Kraft: dies die allereinleuchtendste Antwort. Man unterscheidet demgem\u00e4\u00df entsprechend den verschiedenen Typen oder Gattungen von Verh\u00e4ltnissen eine gleichgro\u00dfe Anzahl von Kr\u00e4ften : die der Gravitation f\u00fcr den Fall der K\u00f6rper gegen die Erde und f\u00fcr die planetarische Anziehung; die des Lichtes, der W\u00e4rme, des Magnetismus u. s. w. entsprechend den Ph\u00e4nomengruppen, hei denen man die bez\u00fcglichen Verh\u00e4ltnisse obwalten sieht. Eine ganz analoge Classification wie die, die in der Geometrie durchgef\u00fchrt ist, wo die verschiedenen Curven von sehr verschiedenem Aeu\u00dferen in eine und dieselbe Familie eingereiht worden sind, je nach ihrer mehr oder minder gleichen analytischen Formel. Der Krafthegriff hat also Aushiilfsbedeutung und stellt eine noch h\u00f6here Abstraction dar als selbst der der mathematischen Beziehung. Gleichwohl l\u00e4sst sich nicht bestreiten, dass ihm im Laufe seiner historischen Entwickelung die intuitiven Vorstellungen, die aus den menschlichen Tast- oder Druckempfindungen gesch\u00f6pften Analogien, niemals gemangelt haben, ebenso wie dies auch mit dem Begriff des Atoms der Fall war. Immerhin muss man in stricter Harmonie mit der modernen Richtung zugeben, dass nur die rein mathematische Auffassung des Kraftbegriffs Stand hielt, sie harmonirt vollkommen mit dem Geiste des gro\u00dfen Newton\u2019schen Werkes: \u00bbPhilosophiae natu-ralis principia mathematiea\u00ab (wobei freilich die Zus\u00e4tze eines Cotes m der Vorrede zur 2. Auflage auszunehmen sind); und es ist diese rein mathematische Theorie, die auch mit so manchen wichtigen Seiten der Werke Galilei\u2019s1) \u00fcbereinstimmt.\n1) Vergl. G. Galilei, Dialog \u00fcber die beiden haupts\u00e4chlichsten Weltsysteme.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nConstantin Radulescu-Motru.\nAu\u00dfer diesen beiden Theorien \u00fcber die Gleichartigkeit der Naturelemente und der Kraft gibt es noch eine dritte, die aus dergleichen Quelle sch\u00f6pft und die in ihrer Wichtigkeit f\u00fcr die neue Richtung gleichen Ranges ist. Es ist dies die Theorie, die wir in der Folge ganz besonders ins Auge fassen werden: die Causali-t\u00e4tslehre. Sie tritt wie die beiden anderen als Folge der Annahme der mathematischen Function als Mittel der Naturerkl\u00e4rung auf, nur kommt sie einem anderen Bed\u00fcrfniss entgegen. Waren die beiden ersten darauf angelegt, den Begriff der Natur so umzuformen, man m\u00f6chte sagen k\u00fcnstlerisch umzubilden, dass er sich besser der mathematischen Beziehung anpasste, so gen\u00fcgt die dritte einem entgegengesetzten Bed\u00fcrfnisse: dem, den Begriff der Function derart k\u00fcnstlerisch auszugestalten, dass er der realen Abh\u00e4ngigkeit entspreche. Es verhalten sich in der That die Bestandteile dieser letzteren nicht so einfach wie die mathematischen Elemente; sie sind keine Abstractionen, keine Denkerzeugnisse, sondern greifbare Dinge, die wir, soweit es in unseren Kr\u00e4ften steht, durch Abstractionen zu ersetzen suchen. Unter diesen Umst\u00e4nden versteht sich leicht, dass wir uns, was die Berechtigung der Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen angeht, nicht damit begn\u00fcgen, einfach auf die Function zu verweisen. Die mathematische Function an und f\u00fcr sich hat ihre Grundlage in der logischen Beziehung von Grund und Folge, von der sie nur ein treues Abbild ist* 1). Da aber die Naturgesetze verwickelter, concreter sind als die logischen Gesetze, worin finden sie dann ihre Berichtigung? Wir stehen hier am Ursprung des Causalit\u00e4tsproblems. Es tritt dies Problem also mit dem Versuche, die \u00bblogische Beziehung\u00ab oder bestimmter die \u00bbmathematische Function\u00ab auf die realen Vorg\u00e4nge anzuwenden, ins Leben. Ein Umstand, der hinl\u00e4nglich erkl\u00e4rt, warum es ein modernes Problem ist, und warum die Alten es nicht gekannt haben. F\u00fcr die Alten gab es keine Beziehung zwischen den Naturerscheinungen untereinander, sondern nur solche zwischen ihnen und einer f\u00fcr sich bestehenden Idealwelt; die Naturerscheinungen waren eine Art\n(Uebers. Strau\u00df, 1892. S. 219.) Unterredungen und mathematische Demonstrationen. Ostwald\u2019s Klassiker, No. 24. S. 15.\n1) Vergl. W. Wundt, System der Philosophie. 1889. S. 259 ff.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\n329\nvon Realisirung jener letzteren. Die Welt der Dinge war die Folge aus einigen Voraussetzungen (Substanzen, ersten Ursachen, immateriellen und ewigen Ideen u. s. w.); innerhalb ihrer Bestandtheile gab es keine selbst\u00e4ndigen Beziehungen; ihre Regelm\u00e4\u00dfigkeit und Harmonie war die einfache Abspiegelung der Regelm\u00e4\u00dfigkeit und Harmonie einer vorgeblichen idealen Welt. Eine solche Deduction war nun offenbar schwer in allen Einzelheiten durchzuf\u00fchren: die Alten hatten aber andere Hypothesen zur Hand, die sie zu H\u00fclfe nahmen. Da war es das Nichtseiende, der Zufall oder das Nebenher, die die Erkl\u00e4rung f\u00fcr alle Unvollkommenheiten boten, an denen die Realisation der idealen Welt litt. Den Modernen ist es durch die Vermittelung der mathematischen Function gelungen, jene reine Begriffswelt, das ideale Urbild der dinglichen Welt von der Betrachtung auszuschlie\u00dfen und die Vorg\u00e4nge ausnahmslos auf Wechselbeziehungen innerhalb der letzteren zur\u00fcckzuf\u00fchren. Mit dieser Ausschlie\u00dfung haben sie ein neues Problem ins Dasein gerufen: das Problem der Causalit\u00e4t. Im Grunde bleibt die Causalit\u00e4t eine der logischen nachgebildete Beziehung, sie ist keine andere als diese, nur mit den durch die materiellen Bedingungen auferlegten Einschr\u00e4nkungen und Begrenzungen. Welches sind diese Einschr\u00e4nkungen, und in welcher Theorie wird sich das Causalit\u00e4tsproblem schlie\u00dflich verk\u00f6rpern?\nEine der ersten Einschr\u00e4nkungen, die die rein mathematische Beziehung von Seiten der dinglichen Welt erleidet, um selbst in den Naturbestand einzugehen, ist die Ber\u00fccksichtigung einer Erscheinungsform. Es herrscht zwar in der reinen Mathematik bez\u00fcglich der Wahl der Variablen und der Gestalt, unter der die Abh\u00e4ngigkeit gedacht wird, die gr\u00f6\u00dfte Freiheit, vorausgesetzt, dass man, sobald die Wahl einmal getroffen ist, die gemachte Annahme im ganzen weiteren Verlaufe der Rechnung strenge festh\u00e4lt. Hier in der realen Welt aber ist dem nicht so: hier spielt die Anschauung eine gro\u00dfe Rolle; und man ist demgem\u00e4\u00df gen\u00f6thigt, die Aufeinanderfolge als die f\u00fcr die Abh\u00e4ngigkeit gegebene Form zu w\u00e4hlen. Eine reale Abh\u00e4ngigkeit erscheint uns dann am auschaulichsten und somit am \u00fcberzeugendsten, thats\u00e4chlichsten, wenn sie unter den Gesichtspunkt der Aufeinanderfolge gebracht ist, oder da die Aufeinanderfolge eine zeitliche Projection darstellt: die reale Abh\u00e4ngigkeit liegt dann am anschau-","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nConstantin Radulescu-Motru.\nlichsten vor, wenn sie vorhergesehen werden kann. Wohlverstanden ist hier die Zeit nicht im psychologischen Sinne genommen, sondern g\u00e4nzlich abstract: als Gr\u00f6\u00dfe, die durch stetige gleichf\u00f6rmige Bewegung eines Punktes auf einer geraden Linie erzeugt wird. Auf Bechnung dieser von der \u00c4uschauung aufgen\u00f6thigten Wahl ist die Thatsache zu setzen, dass die moderne Welterkl\u00e4rung eine genetische, und dass sie eine solche ist, die ausschlie\u00dflich Gesetze des Naturgeschehens nachweist. Die Alten, dies ist der Unterschied zwischen ihnen und den Modernen, der am meisten in die Augen springt, hatten, da sie nicht nach Abh\u00e4ngigkeiten zwischen den realen Erscheinungen forschten, sondern nach solchen zwischen diesen und einer Welt der Substanzen, Ideen u. s. w., auch nicht n\u00f6thig, die Anschauung zu ber\u00fccksichtigen und mithin der Aufeinanderfolge so gro\u00dfe Wichtigkeit beizumessen1). Wenn Aristoteles von der Ortsver\u00e4nderung, der Bewegung der K\u00f6rper, der allerein-fachsten Art der Aufeinanderfolge also, spricht, dr\u00fcckt er sich wie folgt aus: \u00bbEs gibt keine Bewegung au\u00dferhalb der Dinge; diese ver\u00e4ndern sich immer nur nach den Kategorien des Seienden, und die Bewegung ist in keiner einzigen Kategorie ein Gemeinsames. Ein jedes wohnt aber Allem in zweifacher Weise inn\u00e9: z. B. das Dieses, theils als Gestalt des Dinges, theils als Beraubung. Der Beschaffenheit nach ist das Eine wei\u00df, das Andere schwarz; der Gr\u00f6\u00dfe nach ist das Eine vollendet, das Andere unvollendet ; der Bewegung nach geht das Eine nach oben, das Andere nach unten, oder es ist das Eine leicht, das Andere schwer. Es gibt deshalb so viel Bewegungen und Ver\u00e4nderungen, als es Arten des Seienden gibt\u00ab2). Diese Worte zeigen hinreichend deutlich, auf wie anderen Bahnen sich die alte Wissenschaft gegen\u00fcber der unsrigen bewegte. Wie sehr hatte\n1)\t\u00bbWie die teleologische Physik unter dem Postulat der subjectiven Begreiflichkeit, so handelt daher die mechanische unter dem der objec-\ntiven Anschaulichkeit des Geschehens....... Der Hauptgegensatz, welcher\nin dem Kampfe teleologischer und mechanischer Physik entscheidend wird, dreht sich demnach um die Frage, ob die Natur als ein begrifflicher, oder ob sie als ein anschaulicher Zusammenhang aufgefasst werden soll. In ersterem Sinne entscheidet sich das Aristotelische System .... im Sinne der Anschaulichkeit hat die neuere wissenschaftliche Physik die Frage beantwortet.\u00ab W. Wundt, Logik, II. S. 236.\n2)\tMetaphysik, XI. 9.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalitiit.\n331\nGalilei Recht, als er seine Lehre von der \u00f6rtlichen Bewegung mit der Versicherung er\u00f6ffnete: \u00bbUeber einen sehr alten Gegenstand bringen wir eine ganz neue Wissenschaft\u00ab1).\nAu\u00dfer dieser formalen Einschr\u00e4nkung gibt es noch eine andere, die die inhaltliche Differenz noch directer wiederspiegelt. Da die mathematische Function, wie die logische von Grund und Folge, Abstraction, Symbol eines Zusammenhanges von Denkacten ist, so bietet sie auch keinerlei Schwierigkeiten, correlative Begriffe, bez. Werthe als gegeben vorauszusetzen, bei denen aus dem Grunde die Folge ohne weiteres zu erschlie\u00dfen ist. Bei der Causalbeziehung ist dies nicht zul\u00e4ssig: eine Voraussetzung ist bei ihr vorhanden, die von der Gleichf\u00f6rmigkeit des Naturverlaufs. Sie ist der Gleichf\u00f6rmigkeit des logischen Denkprocesses nachgebildet, und sie erg\u00e4nzt <jie Voraussetzung von der Gleichartigkeit der Naturelemente. Was aber die Feststellung einer Beziehung zwischen zwei beliebigen Naturereignissen angeht, derzufolge das eine Ursache, das andere Wirkung ist (correspondirend den Begriffen Grund und Folge), so muss hier die Erfahrung zu Rathe gezogen werden : die Wirkung ergibt sich nicht aus der Ursache ohne best\u00e4tigende Beobachtung und durch blo\u00dfes Schlie\u00dfen, wie die Folge aus dem Grunde. Durch dieses Eingreifen der Erfahrung verliert die Causalbeziehung viel von der Allgemeinheit der logischen, sie wird eine nur experimentell messbare und allein zwischen zwei realen Gr\u00f6\u00dfen vorhandene Beziehung: eine quantitative \u00c4equivalenz. Dieser Unterschied l\u00e4sst sich auch noch in der folgenden Weise klar machen. Das Denken fasst die Abh\u00e4ngigkeit nach Grund und Folge als unbedingt ins Auge, es handelt sich um die nothwendige Abh\u00e4ngigkeit zwischen den Gliedern einer Gesammtvorstellung, deren Gliederung durch das Denken selbst bewirkt wird; es sieht aber gegen\u00fcber den Naturereignissen das Ganze, die Gesammtvorstellung nicht sogleich deutlich ; diese kann erst hinterdreinfolgen, als Hypothese a posteriori aus der Erfahrung gewonnen werden. Das Denken vermag also diese Abh\u00e4ngigkeit nicht wie jene als nothwendige aufzufassen, daher es zur experimentellen Messung seine Zuflucht nehmen muss.\n1) Unterredungen und mathem. Demonstr. Dritter Tag. Ostwald\u2019s Klassiker. No. 24. S. 3.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nConstantin Radiiiescu-Motru.\nDie Unvollkommenheit der Causalbeziehung erkl\u00e4rt zur Gen\u00fcge, welchen Schwankungen ihre Formulirung im Verlaufe ihrer Entwickelung ausgesetzt war. Was z. B. die Bedeutung der Begriffe Ursache und Wirkung angeht, so konnte man zwischen verschiedenen Theorien w\u00e4hlen. In der fr\u00fchesten Zeit konnte man, in Erinnerung an den alten Substanzbegriff, die verschiedenen Kr\u00e4fte als Ursachen und die sinnlichen Erscheinungen als Wirkungen auffassen: hier war das Ganze ein ideales Ganze aus einer substantiellen Kraft und ihren Accidenzien. Diese Auffassung fand besonders in der Unkenntniss des Zusammenhangs aller Naturkr\u00e4fte eine m\u00e4chtige St\u00fctze. Aber auch, als man, in diesem Punkte aufgekl\u00e4rt, die Theorie von der Verwandtschaft aller Kr\u00e4fte angenommen und die Energie als das alleinige Ganze festgestellt hatte, blieb noch Baum f\u00fcr zwei neue divergirende Vorstellungen. Nach der einen Theorie konnte man als Ursache die Summe aller Ereignisse, die als Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen eines anderen angesehen werden k\u00f6nnen, auffassen und das letztere dann als Wirkung herausheben; nach der andern konnte man ein Ereigniss aus anderen herausgreifen und es als Ursache f\u00fcr andere hinstellen. Die zweite Theorie entspricht augenscheinlich der mit der Causalit\u00e4t verkn\u00fcpften Forderung der experimentellen Messung am besten, und passt sich auch der mathematischen Rechnung am besten an. Sie wird \u00fcbrigens von Tag zu Tag die vorherrschendere *).\nII.\nDie Theorie der Causalit\u00e4t in der Philosophie des 17. Jahrhunderts. \u2014 Descartes.\n\u2014\u2022 Hobbes. \u2014 Spinoza. \u2014 Leibniz.\nWir dehnen unsere Betrachtung \u00fcber die Entstehung der Cau-salit\u00e4tstheorie nicht \u00fcber die zuletzt gegebene kurze Darlegung der beiden ihr eigenth\u00fcmlichen Einschr\u00e4nkungen aus. Die Aufeinanderfolge als Erscheinungsform und das experimentelle Verfahren, die quantitative Aequivalenz, kennzeichnen das Causalit\u00e4tsproblem zur\n1) Vergl. J. St. Mill, System der deductiven und inductiven Logik. (Uebers. Gomperz. 2. Aufl.) IL B. S. 15 f\u00fcr die erste Auffassung; W. Wundt, Logik, I2. S. 596 ff. f\u00fcr die zweite.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\n333\nGen\u00fcge als ein selbst\u00e4ndiges und eigene Ziele verfolgendes neben dem der logischen Beziehung. Dar\u00fcber hinauszugehen, diese Theorie eingehender zu formuliren, ginge weit \u00fcber unseren derzeitigen Zweck hinaus, denn dies erforderte nichts geringeres als eine Analyse der letzten Ergebnisse der modernen Naturforschung, eine Untersuchung \u00fcber die nach-Kantische Philosophie also, statt einer solchen \u00fcber die vor-Kantische.\nKehren wir nun zu unserem Ausgangspunkte zur\u00fcck, so liegt jetzt die Frage nahe: In welcher Gestalt bot sich unser Problem den Philosophen des 17. Jahrhunderts? Mit andern Worten, in welcher Gestalt trat es Kant in den philosophischen Systemen der neuen Richtung entgegen? Die geschichtliche Antwort auf diese Pr\u00e4ge wird uns auf den ersten Blick durchaus entt\u00e4uschen. Obgleich allesammt Ausbilder und Verbesserer der neuen Lehre und Wissenschaft, die Galilei begr\u00fcndet hatte, vernachl\u00e4ssigen es die Philosophen des 17. Jahrhunderts doch allem Anschein nach g\u00e4nzlich, diesem Gegenst\u00e4nde ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Zwischen der Causalit\u00e4t und dem logischen Satze vom Grunde zu unterscheiden, scheint keinem in den Sinn gekommen zu sein, sie verwechseln beide mehr oder weniger alle. Dies w\u00e4re kein gro\u00dfer Uebelstand, wenn es sich hier nur um eine Verwechselung von Namen handelte; es ist aber die Natur des Problems selbst, wie aus ihren Schriften hervorgeht, die ihnen dunkel geblieben ist. Wie diesen Widerspruch erkl\u00e4ren? Nehmen wir z. B. Descartes. Keiner hat mehr als er dazu beigetragen, die mechanische Weltanschauung zu begr\u00fcnden, das Anwendungsgebiet der mechanischen Aequivalenz zu erweitern, und gleichwohl suchen wir in seiner Philosophie vergeblich oder fast vergebens nach einer theoretischen Sonderformulirung der Beziehungen zwischen den Naturereignissen. Sein \u00bbDiscours sur la M\u00e9thode\u00ab enth\u00e4lt einen bemerkenswerthen Passus, welcher zeigt, wie er von der ab-stracten Abh\u00e4ngigkeit ausgehend und hei dem Versuche diese zu versinnlichen zur Entdeckung der analytischen Geometrie gelangtev) ; einen Schritt weiter, und er w\u00e4re auf die Theorie der realen Einschr\u00e4nkungen, die dieselbe abstracte Beziehung bei ihrer Realisirung im Naturverlaufe erleidet, gesto\u00dfen. Aber er hat diesen Schritt nie\n1) Discours sur la M\u00e9thode. II. Partie.\nWundt, Philos, Studien. IX.\n23","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nConstantin Raduiescu-Motru.\ngethan. Warum nicht? \u2014 Ebensowenig Hobbes. Seine Erkenntnisse lehre war ganz besonders dazu angethan, die Causalit\u00e4tstheorie in sich aufzunehmen. Er definirte die Wissenschaft als die \u00bbErkenntniss der Beziehungen der einen Thatsachen zu den anderen\u00ab1); und die Philosophie als die \u00bbErkenntniss der Wirkungen oder der Ph\u00e4nomene aus angenommenen Ursachen derselben\u00ab (effectuum seu phaenomenon ex conceptis eorum causis seu generationibus), und hinwiederum \u00bbder m\u00f6glichen Ursachen aus den anerkannten Wirkungen mittelst richtiger Schl\u00fcsse\u00ab2). Erscheint es bei solchen Ansichten nicht als ein Wunder, dass ein solcher Philosoph nicht auf die richtige Auffassung gerieth? Auch bei den directen Sch\u00fclern Descartes\u2019 w\u00fcrden wir vergebens nach Besserem suchen. Geulinx, Malebranche, die ganze occasionalistische Schule, schlie\u00dfen sogar jede Selbst\u00e4ndigkeit der thats\u00e4chlichen Beziehung aus, um allein der Hand Gottes freie Beth\u00e4tigung in der Verf\u00fcgung \u00fcber die gesammte Wirklichkeit zu lassen. Spinoza, der sich ebenfalls aus der Cartesianischen Philosophie inspirirte, strebt nach einem Wissen, das eine Sache allein aus ihrem Wesen, more geometrico, begreifen lasse: ein h\u00f6heres Wissen offenbar, welches das niedrige, das aus der Erfahrung gewonnen wird, vollkommen in den Hintergrund schiebt. Endlich gelangt Leibniz zu einer ziemlich scharfen Formulirung des Problems, wenn er sagt: \u00bbUnsere Verstandesth\u00e4tigkeit beruht auf zwei gro\u00dfen Principien, dem Princip des Widerspruchs, dem zufolge wir das f\u00fcr falsch erachten, was einen Widerspruch enth\u00e4lt .... und dem Princip des zureichenden Grundes, demzufolge wir erw\u00e4gen, dass keine Begebenheit wirklich oder seiend und keine Aussage wahr sein kann, ohne dass ein zureichender Grund daf\u00fcr vorhanden w\u00e4re, warum es gerade so und nicht anders ist, wenn man auch diese Gr\u00fcnde in den meisten F\u00e4llen nicht zu erkennen vermag\u00ab. \u00bbEs gibt auch zwei Arten von Wahrheiten: die logischen Wahrheiten und die thats\u00e4chlichen Wahrheiten ... .11 \u00bbDer zureichende Grund aber muss auch bei den zuf\u00e4lligen oder thats\u00e4chlichen Wahrheiten vorhanden sein, d. h. in der Aufeinanderfolge der im Universum der Gesch\u00f6pfe verbreiteten Dinge, wo\n1)\tLeviathan, V.\n2)\tDe Corpore, I. 1.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n335\ndie Aufl\u00f6sung in besondere Gr\u00fcnde wegen der unermesslichen Mannigfaltigkeit der Dinge in der Natur und der ins Unendliche gehenden Theilung der K\u00f6rper zu Einzelheiten ohne Ende f\u00fchren k\u00f6nnte . . . \u00ab!).\nObwohl noch unklar, weil in allzugro\u00dfer Verallgemeinerung formulirt, ist die Causalit\u00e4tstheorie hier doch vollkommen angedeutet. Aber damit hat es auch sein Bewenden. Die Momente, die sich bei den anderen Denkern geltend machen, \u00fcben auch auf Leibniz ihren Einfluss. Mit allen seinen Zeitgenossen nimmt er andere Gr\u00fcnde au\u00dfer der Welt seihst an, nimmt er seine Zuflucht zu einer unendlichen nothwendigen Substanz. \u00bbDa aber alle diese Einzelheiten (der sinnlichen Welt) nur wieder andere fr\u00fchere oder mehr zertheilte Zuf\u00e4lligkeiten einschlie\u00dfen, von denen jede zu ihrer Begr\u00fcndung einer gleichen Analyse bedarf, so ist man mit jener Aufl\u00f6sung noch um keinen Schritt weiter vorger\u00fcckt, und der zureichende oder letzte Grund muss daher au\u00dferhalb der Folge oder Beihe jener einzelnen Zuf\u00e4lligkeiten liegen, so unendlich dies Einzelne auch sein mag. Daher muss der letzte Grund der Dinge in einer nothwendigen Substanz liegen, in der als in der Quelle das Einzelne der Ver\u00e4nderungen nur wesentlich enthalten ist, und eben diese Substanz nennen wir Cloti. \u00bbDie Gr\u00fcnde der Welt liegen also in etwas Au\u00dferweltlichem, das von der Kette der Zust\u00e4nde oder der Reihe der Dinge, deren Anh\u00e4ufung die Welt bildet, verschieden ist. Auf diese Weise gelangt man aber von der physischen oder hypothetischen Nothwendigkeit, welche die sp\u00e4teren Dinge in der Welt nach den fr\u00fchem bestimmt, zu einer unbedingten oder metaphysischen Nothwendigkeit, f\u00fcr die kein Grund angegeben werden kann\u00ab1 2 3).\nGleichwohl kl\u00e4rt sich mit diesen Aeu\u00dferungen von Leibniz die Situation unseres Problems einigerma\u00dfen. Es erscheinen n\u00e4mlich in dieser ganzen Epoche die thats\u00e4chlichen Wahrheiten, die, als mit H\u00fclfe der Erfahrung festgestellt, das Gebiet der Causalit\u00e4t ausmachen, noch nicht gereift genug, um den Charakter der Noth-\n1)\tMonadologie, \u00a7 31, 32, 33, 36.\n2)\tMonadologie, \u00a7 37, 38.\n3)\tDe rerum originatione radicali; Erdmann Ausg. S. 147.\n23*","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nConstantin Radulescu-Motru.\n\u25a0wendigkeit zu beanspruchen. Eine auf sie gebaute Theorie des Wissens erhebt sich nicht bis zur H\u00f6he einer philosophischen Theorie. Diese Thatsache wird mehr als bei Leibniz in den folgenden Worten Spinoza\u2019s deutlich. Nach ihm k\u00f6nnen die Quellen des Wissens haupts\u00e4chlich auf vier zur\u00fcckgef\u00fchrt werden: 1) \u00bbEs gibt ein Wissen; welches wir durch H\u00f6ren, oder durch irgend ein beliebiges Zeichen, erlangt haben. 2) Es gibt ein Wissen, das wir durch eine ungenaue Erfahrung erlangt haben. 3) Es gibt ein Wissen, bei dem das Wesen einer Sache aus einer andern Sache geschlossen wird, aber nicht zutreffend. Dies ist der Fall, wenn entweder von einer Wirkung auf die Ursache geschlossen wird, oder wenn man von einem Allgemeinen, das stets von einer gewissen Eigenschaft begleitet wird, einen Schluss zieht. 4) Endlich gibt es ein Wissen, bei welchem eine Sache blo\u00df aus ihrem Wesen, oder durch die Erkenntniss ihrer n\u00e4chsten Ursache, begriffen wird\u00ab1 . Es ist augenscheinlich, dass die Causalerkenntniss hier nur unter I; Platz finden k\u00f6nnte; auf einer niedrigeren Stufe demnach als die philosophische, die vierte Wissensquelle: die des Wissens um das Wesen.\nDass in demselben Jahrhundert Wissenschaften existirten, die als directer Beweis f\u00fcr die Best\u00e4tigung unseres Problems dienen konnten, dar\u00fcber kann kein Zweifel bestehen. Die Gesetze der Mechanik und der Physik dieser Zeit bilden noch in unseren Tagen seine kr\u00e4ftigste St\u00fctze. Ist es also m\u00f6glich, dass sie f\u00fcr die Philosophen derselben Epoche nichts bedeuteten; dass sie von einem Descartes, einem Leibniz absolut nicht f\u00fcr ihre Systeme verwerthet Avurden, von ihnen, die selbst nicht wenig zu ihrer F\u00f6rderung beigetragen haben? Wahr ist anderseits, dass einer vollkommenen For-mulirung eines nothwendigen Causalgesetzes damals Hindernisse im Wege standen: es sei z. B. auf den Mangel einer Theorie der Energie hingewiesen. Sollte der Grund etwa hierin liegen? Pr\u00fcfen wir die letzten Worte Spinoza\u2019s des N\u00e4heren; sie leiten uns in der That auf die richtige Bahn f\u00fcr die Auffassung dieser geschichtlichen Entwickelung. \u00bbEndlich gibt es ein Wissen, bei Avelchem\n1) Abhandlung \u00fcber die Vervollkommnung des Verstandes. (Uebers. Stern.) S. 15 f.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Natnrcausalit\u00e4t.\t337\neine Sache blo\u00df aus ihrem Wesen begriffen wird\u00ab. Unserem Philosophen scheint es, als gebe es eine vierte h\u00f6here Stufe, eine viel zuverl\u00e4ssigere Quelle des Wissens, und daraus erkl\u00e4rt sich Alles. Es ist diese vierte Quelle, die allein die philosophischen Wahrheiten liefert, und die daher alle \u00fcbrigen, auch die der Causalerkenntniss herabdr\u00fcckt. Welches ist die historische Entwickelung und die Natur dieser vierten Wissensquelle?\nSeit dem grauesten Alterthum beherrscht eine fundamentale Unterscheidung die gesammte Entwickelung des Erkenntnisspro-blems : es ist die, deren erste Anwendung wahrscheinlich auf die Eleaten zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, die Unterscheidung zwischen Wirklich und Scheinbar. Die Form aber, unter der sie bei diesen erscheint \u2014 das Wirkliche lag f\u00fcr diese Schule in der Einheit, Best\u00e4ndigkeit, Unbeweglichkeit, das Scheinbare in allen \u00fcbrigen Qualit\u00e4ten \u2014 bleibt nicht lange erhalten ; eine andere gewinnt mehr Beifall, die Demokritische. Demokrit machte den gleichen Unterschied auf einem anderen Felde, er fasste ihn als Unterschied zwischen den Qualit\u00e4ten der Objecte, er zuerst unterschied zwischen \u00bbprim\u00e4ren\u00ab und \u00bbsecund\u00e4ren\u00ab Qualit\u00e4ten. Die prim\u00e4ren, d. h. die realen sind die, die dem Objecte wirklich zugeh\u00f6ren, von denen man nicht ab-strahiren kann, ohne die Essenz des Objects selbst aufzuheben: sie waren nach ihm die Ausdehnung und die Bewegung. Die secund\u00e4ren sind die, die nicht dem Objecte sondern unserer Empfindung zukommen; sie sind gegen\u00fcber jenen ersteren subjective, scheinbare: es geh\u00f6ren hierher die Farbe, der Geruch, die W\u00e4rme, der Geschmack u. s. w. In dieser Gestalt wird dank der Ausbreitung\nO\ndes Atomismus der Unterschied auch im Beginne unserer Aera gemacht. Aber bald \u00e4ndert sich hierin Vieles. Die erkenntnisstheo-retischen Fortschritte wandeln alsbald die Frage nach der Unterscheidung zwischen zwei Arten von Qualit\u00e4ten in eine allgemeinere um: in die der Gewissheit der \u00e4u\u00dferen und der inneren Welt. Unter diesem neuen erweiterten Gesichtspunkte wird jetzt das alte Problem vom Wirklichen und Scheinbaren weiter verfolgt. Wir gewahren hier den Ursprung eines h\u00f6heren Wissens \u2014 der vierten Stufe Spinoza\u2019s!\nSo beschr\u00e4nkte sich in der That nach der Annahme Demokrit\u2019s die reale \u00e4u\u00dfere Welt auf einige prim\u00e4re Qualit\u00e4ten. Wie sehr","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nConstantin Radulescu-Motru.\naber auch diese letzteren dem Objecte inh\u00e4rirend und real waren, waren sie darum nicht minder Vorstellungen des Subjects? Ihre Gewissheit kam also erst in zweiter Linie, nach der des Denkens; das hei\u00dft mit Bezug auf das Bewusstsein theilen sie die Relativit\u00e4t der secund\u00e4ren Qualit\u00e4ten ; sie sind sogar abh\u00e4ngig von der Existenz dieses Bewusstseins. Ohne Bewusstsein keine Qualit\u00e4ten, weder secund\u00e4re noch prim\u00e4re, abgesehen davon, ob die letzteren irgend etwas Wirklichem entsprechen oder nicht. Die Folges\u00e4tze aus dieser Fragestellung ergeben sich wie von selbst. Wofern man von einem wirklichen Wissen reden kann \u2014 so m\u00fcssen nun die neuen Philosophen sagen \u2014 kann man es nirgend anders suchen als in der Natur des Denkens selber. Das Denken ist das Grundfactum : \u00bbCogito, ergo sum\u00ab \u2014 das ist die erste unbestreitbare Wahrheit, sagt uns Descartes, und wirklich hat man ihr, sobald man ihre Pr\u00e4missen zugegeben hat, nichts entgegenzusetzen. Die Wahrheiten \u00fcber die Au\u00dfenwelt, der Glaube selbst an die Existenz dieser Welt, k\u00f6nnen jetzt, da das Denken als das einzig und urspr\u00fcnglich Gewisse erkannt ist, nur indirect, als logische Consequenz, hinterdreinfolgen. Die Aufgabe des h\u00f6chsten Wissens, des metaphysischen, wird eben die sein, die ersten Pr\u00e4missen aufzustellen, der Deduction die Wege zu weisen! Descartes glaubte offenbar an diese Art Wissen in h\u00f6chstem Ma\u00dfe, und er wies allen Anderen den Weg. Folgen wir ihm in seinem Beweis von der Gewissheit der \u00e4u\u00dferen Welt, der offenbar von dem Augenblicke an nothwendig wurde, wo man das Wirkliche allein im Denken gegeben glaubte! Die erste unersch\u00fctterliche Existenz ist nach ihm die der Seele, weil sie direct durch das Bewusstsein bewiesen wird. Das Denken setzt, eine denkende Substanz voraus, und diese ist die Seele: sie ist Substanz, d. h. sie ist uns von sich selbst aus gegeben; wir bed\u00fcrfen keines anderen Geschaffenen, um sie daraus entstanden zu denken. Nach der Gewissheit von der Seele kommt diejenige von Gott, welcher sich durch die unserer Seele angeborene Idee (von ihm) beweist, \u2014 und endlich gelangen wir, auf diesem Umwege \u00fcber die Gewissheit von Gott, zur Grundlegung des Glaubens an die materielle Welt. Da Gott wahrhaftig ist, so kann er weder selbst mir jene Vorstellungen unmittelbar eingeben, noch auch mittelbar durch ein anderes Wesen, das nicht wirklich das in sich","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t339\nschl\u00f6sse, was ich mir als real vorstelle, sondern das nur verm\u00f6ge seiner h\u00f6heren Macht Vorstellungen einer solchen Realit\u00e4t in mir zu erregen verm\u00f6chte. Denn Gott hat mir ja nicht die F\u00e4higkeit verliehen, dies herauszufinden, sondern er pflanzte mir im Gegen-theil eine gro\u00dfe Neigung ein zu glauben, jene Vorstellungen k\u00e4men von K\u00f6rpern her. Wie k\u00f6nnte ich ihn also noch f\u00fcr wahrhaftig halten, wenn sie nun doch wo anders herk\u00e4men als von K\u00f6rpern? So gibt es daher wirkliche K\u00f6rper1]. Zur Existenz der wirklichen Welt gelangen wir demnach durch eine Schlussfolgerung.\nWenn nun auch die andern Philosophen des 17. Jahrhunderts hier nicht direct in die Fu\u00dftapfen Descartes\u2019 getreten sind, so haben sie von ihm doch die Methode entliehen; stets nehmen sie ihre Zuflucht zu einer Substanz \u2014 ob sie ihr einen anderen Namen beilegen, ist ohne Bedeutung \u2014 um sie als Pr\u00e4misse hinzustellen, aus der Deductionen der Thatsachen more geometrico zu gewinnen seien. Die Mathematik, die wir im Beginne den ersten Ansto\u00df zu einer neuen Forschungsrichtung geben, die wir die Experimental-Wissenschaft begr\u00fcnden sahen, sie diente also auch hier als Methode! In der That vermag die Methode an sich nichts gegen die irrige Wahl des Gegenstandes, auf den sie angewandt wird. Welches konnte aber die Stellung einer Theorie der Causalit\u00e4t unter diesen Umst\u00e4nden sein? Wenn die Au\u00dfenwelt zu einer lediglich gefolgerten Wirklichkeit herabgesetzt war, konnte man dann einer Theorie, die die Beziehungen dieser Au\u00dfenwelt feststellte, eine hohe philosophische Wichtigkeit beimessen? Welche Selbst\u00e4ndigkeit konnte diese Theorie neben den metaphysischen Wahrheiten \u00fcber die Substanz, die Seele, Gott noch besitzen? Mindestens waren ihr jene Deductionen, in denen man die logische Entfaltung der angeborenen Ideen erblickte, weit \u00fcberlegen. Der Widerspruch, dem wir weiter oben zu begegnen glaubten, war also durchaus nat\u00fcrlich. Weder Descartes noch Hobbes, weder Spinoza noch Leibniz vermochten das Joch abzusch\u00fctteln, das die Annahme des transcendenten Standpunktes dieser Epoche auferlegt hatte. Sie mussten Rationalisten bleiben, weil der Philosophie kein anderer Ausweg blieb,\n1) M\u00e9ditation sixi\u00e8me; vergl. Pillon, L\u2019ann\u00e9e philosophique, III.","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nConstantin Radulescu-Motru.\nSolange eine wahre Erforschung des Bewusstseins, der Seele, der denkenden Substanz, unbekannt war. Die Experimentalwissenschaft musste sich den Speculationen der Vernunft beugen, solange diese Vernunft au\u00dferhalb aller Erfahrung dastand. Aber mit dem 17. Jahrhundert nahm diese Lage der Dinge ein Ende. Zu Kant gelangte die Philosophie Descartes\u2019 nicht blendend hell, wie sie ihrem Jahrhundert gestrahlt hatte, \u2014 er empfing ihren Reflex, in dem die hellsten Strahlen fehlten, von den Kritikern einer andern Philosophie, die nicht auf dem alten Continent erwachsen war, der Philosophie der Engl\u00e4nder Locke und Hume.\nZweites Capitel.\nI.\nDie physiologischen Forschungen und ihr Einfluss auf die Philosophie des 18. Jahrhunderts. \u2014 Die Entdeckung der Irritabilit\u00e4t von F. Glisson. \u2014 Die materialistischen Theorien \u00fcber den Ursprung der Vorstellungen. \u2014 J. Locke. \u2014 Hume\u2019s skeptische L\u00f6sung des Causalproblems.\nBereits vor dem Ende des 17. Jahrhunderts begegnen uns neben den Aufsehen erregenden Porschungen auf dem Gebiete der Astronomie, Mechanik und Physik \u2014 Wissenschaften, die eng mit der Entwickelung der Mathematik verkn\u00fcpft sind, \u2014 noch andere Zweige der Wissenschaft, deren Resultate weit von mathematischer Exact-heit entfernt waren. Es sind dies die biologischen Wissenschaften, \u2014 Wissenschaften, welche die lebenden Organismen zum Gegenstand haben, in erster Linie den Menschen, mit allen seinen organischen Functionen, den Verstand mit einbegriffen. Man ist bem\u00fcht, sich von dem Gang der lebenden Maschine Rechenschaft abzulegen, man sucht nach den Gr\u00fcnden ihrer eigentlichen Beschaffenheit, sowie denen f\u00fcr die Verm\u00f6gen, den Ort zu ver\u00e4ndern, sich zu erhalten und fortzupflanzen. Die Aerzte sind nat\u00fcrlich die ersten, welche diese Wege einschlagen; von ihnen r\u00fchrt daher nicht nur diese ganze Bewegung her, sondern sie hat ihnen auch zu einem gro\u00dfen Theil ihre Weiterverbreitung zu danken. Indess ist es nicht die biologische oder die medicinische Theorie in ihrer","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t341\nGesammtheit, sondern nur ein Zweig derselben, der berufen ist, eine gro\u00dfe Anzahl fr\u00fcherer philosophischer Abstractionen umzu-st\u00fcrzen. Es ist der Theil der Physiologie, der sich mit dem Gehirn besch\u00e4ftigt, der erste theoretische Versuch, die geistigen Functionen und insbesondere die der Sinnesorgane auf die Functionen des Nervensystems zur\u00fcckzuf\u00fchren. Nicht durch ihren Hauptgedanken, der zu der Vermuthung berechtigen k\u00f6nnte, dass sie zu der Verbreitung der Ansicht beigetragen h\u00e4tte, die Seele als Materie aufzufassen, zeichnet sie sich etwa aus \u2014 denn in dieser Hinsicht w\u00e4re sie von den Systemen der alten Griechen und von den Materialisten des 17. Jahrhunderts weit \u00fcberfl\u00fcgelt worden \u2014 sondern durch die neue Methode, welche sie in das Studium des Verstandes brachte. Thats\u00e4chlich hatten die alten Theorien sich meist an der Oberfl\u00e4che gehalten und sich damit begn\u00fcgt, das Psychische als von der Materie verschieden oder als mit ihr identisch zu erkl\u00e4ren, in Einzelheiten aber waren sie niemals eingedrungen. Die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, nach welcher sich die Vorstellungen verbinden, die Bildung der Begriffe u. dergl., das alles blieb unbeachtet. Die Anspr\u00fcche der neuen Wissenschaft, der Gehirnphysiologie, gingen viel weiter. Sie bezweckte, auf psychischem Gebiet dieselbe Anschaulichkeit zu erreichen, wie sie auf anderen Gebieten durch die neuere Naturforschung erreicht war. Sie wollte Gesetze auffinden, welchen die Empfindungen und die Abstractionsth\u00e4tigkeit unterworfen seien, ganz wie die andern Functionen des K\u00f6rpers den ihren; sie wollte auf diese Weise das Wesen der geistigen Vorg\u00e4nge verstehen, die Entstehung eines abstracten Begriffs ebenso wie die irgend eines physischen Geschehens anschaulich darlegen. Zweifel an der sch\u00f6pferischen Kraft der Vernunft waren die erste Wirkung des wachsenden Erfolges dieser Bestrebungen.\nDie alten griechischen Philosophen, die Materialisten nicht ausgeschlossen, hatten gerade diese sch\u00f6pferische Kraft als das wichtigste Merkmal angesehen. Durch sie erst erhob sich ja die Vernunft \u00fcber die Leistungen der Sinne, die, unverm\u00f6gend zu ab-strahiren, zur Auffindung der Wahrheit selbst durchaus unverm\u00f6gend schienen. Unabh\u00e4ngig vom Endlichen, von der Materie, war sie gleichsam das G\u00f6ttliche im Menschen, das ihn allein bef\u00e4higte, einen wie schwachen Blick immer in die Welt der transcendenten","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nConstantin Radulescu-Motru.\nWirklichkeit, die Welt der Substanzen, der Ideen und unverg\u00e4nglichen Formen zu thun. Selbst das Jahrhundert von Descartes und Leibniz \u00fcberlie\u00df jenem transcendenten Vernunftverm\u00f6gen noch den L\u00f6wenantheil an der Aufsammlung der Erkenntnisse. Zwar ordnete man alle Einzelwissenschaften den Bedingungen der mathematischen Functionen unter; auf dem Punkte aber, wo man sich aufgefordert sah, die Berechtigung dieser Functionen selbst zu ergr\u00fcnden, verwies man auf die Natur der Vernunft. Die letzten mechanischen Axiome, die Cartesianischen angeborenen Ideen, welche dazu dienten, anderen Ideen Nothwendigkeit zu verleihen, \u00e4hnlich das Leibniz\u2019sche Princip des zureichenden Grundes, beanspruchten in gerader Linie von diesem auserlesenen Verm\u00f6gen abzustammen. \u00bbDie Kenntniss der nothwendigen und ewigen Wahrheiten dagegen (im Unterschiede von der blo\u00dfen Verbindung der Vorstellungen, die durch das Princip des Ged\u00e4chtnisses erfolgt) ist das, was uns von den blo\u00dfen Thieren unterscheidet und uns die Vernunft und die Wissenschaften verschafft, indem sie uns zur Erkenntniss unserer selbst und Gottes erhebt. Und eben das nennt man die vern\u00fcnftige Seele oder den Geist in uns\u00ab1). An dieser m\u00e4chtigen Ueberliefe-rung r\u00fcttelten jetzt die Versuche der Physiologen und Aerzte. welche die Natur des menschlichen K\u00f6rpers zu erforschen unternommen hatten. F\u00fcr sie war es eine conditio sine qua non, auf die Wichtigkeit der sinnlichen Erkenntniss, auf die empirischen That-sachen hinzuweisen und \u2014 allen Vernunftschl\u00fcssen fern zu bleiben. Der Fortschritt der Therapeutik z. B. war v\u00f6llig davon abh\u00e4ngig gemacht und verlieh deshalb dieser Bedingung in den Augen ihrer vornehmsten Vertreter den h\u00f6chsten Werth. Sydenham2), Hoffmann3) lassen in dieser Hinsicht keinen Zweifel aufkommen; ihre\n1)\tLeibniz, Monadologie, \u00a729.\n2)\tVergl. Ch. Daremberg, Histoire des sciences m\u00e9dicales. Paris 1ST0.\nT. II.\n3)\t\u00bbDer Gedankengang des Ho ff mann\u2019schen Systems ist der folgende : Unsere Erkenntniss ist eine begrenzte, wurzelt in den Sinnen und ist auf das sinnlich Wahrnehmbare beschr\u00e4nkt, alle letzten Ursachen aber sind unerforschlich. Ueber-sinnliche, durch metaphysische Speculation erkennbare Kr\u00e4fte und Einfl\u00fcsse liegen au\u00dferhalb der Grenzen jener. Kr\u00e4fte sind der Materie anhaftend und \u00e4u\u00dfern sich als mechanische, durch Ma\u00df, Zahl und Gewicht bestimmbare Bewegungen.\u00ab .T. H. Baas, Grundriss der Geschichte der Medicin. Stuttgart 1876. S. 487.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t343\nAbneigung gegen die Einf\u00fchrung irgend welcher Hypothesen pr\u00e4-cisirt sich mit jedem ihrer Werke mehr. Der h\u00e4rteste Schlag aber musste von Seiten der Einzelforscher kommen, die besonders die Gehirnphysiologie im Auge hatten. Unter ihnen ist F. Glisson der hervorragendste. Die Entdeckung dieses letzteren, die Irritabilit\u00e4t, als eine der Materie zukommende Grundeigenschaft, als die F\u00e4higkeit durch Reize erregt zu werden, ist vielleicht als der st\u00e4rkste Impuls in dieser Richtung anzusehen. Diese Entdeckung erleichtert den Einblick in die feinsten Yerstandesth\u00e4tigkeiten, denn sie f\u00fchrt zu jener Art von Anschaulichkeit, die die experimentelle Wissenschaft durchaus fordert. Die Bestimmungen, die Unterscheidungsmerkmale der Irritabilit\u00e4t \u00fcbertrug man direct auf das psychische Leben. Man glaubte sich in den Stand gesetzt, die Entwickelung des letzteren vermittelst der Analogie der ersteren zu verfolgen; und bereits vom ersten Augenblicke an, n\u00e4mlich bei dem Entdecker selbst, offenbarte sich der hierdurch gewonnene gro\u00dfe Vortheil. Wir begegnen bei Glisson, verbunden mit seiner Aufstellung von Graden der Irritabilit\u00e4t, auch den interessantesten Beobachtungen psychologischer Natur. Abgesehen von einer ziemlich befriedigenden Theorie der Reflexbewegungen konnte er auf die Unterschiede von \u00e4u\u00dferen und inneren Reizen eine annehmbare Erkl\u00e4rung der Entstehung der Vorstellungen gr\u00fcnden und so das gro\u00dfe Interesse, welches die Forschungen \u00fcber die Sinnesorgane boten, ins rechte Licht r\u00fccken. In der That war jetzt nichts mehr an der Zeit, als die Theorie der Perception, die sich Glisson als die Fortpflanzung einer Erregung vom Sinnesorgan zum Gehirn dachte, um der Sinnesphysiologie der Zukunft weite Perspectiven zu er\u00f6ffnen. Denn diese Theorie verband einerseits die vereinzelten Resultate, z. B. eines Kepler und Descartes in der Optik, zu einem gemeinsamen Zweck, und regte anderseits zu neuen Studien an. Die Wichtigkeit dieser Forschungen entging Niemandem; hier fand sich die Vorstellung, welche sp\u00e4ter in den ahstractesten Verstandesfunctionen wiederkehren sollte, noch in ihrem urspr\u00fcnglichen Zustande. Und\n1) Glisson, Tractatus de natura substantiae energetica seu de vita naturae ejusque tribus primis facultatibus, perceptiva, appetitiva, motiva naturalibus. London 1672. Yergl. Ch. Daremberg, ebenda. H. Haeser, Lehrb. d. Gesch. d. Medicin. Jena 1881. II. Bd.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nConstantin Radulescu-Motru.\nalsbald sehen wir von allen Seiten her Schriften, Arbeiten \u00fcber die verschiedenen Sinneswerkzeuge auftauchen, nicht allein unter den Landsleuten Glissons, in England, sondern \u00fcberall, in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden u. s. w., ein Beweis, dass die entstandene Bewegung eine allgemeine war. Man f\u00fchlte, dass man sich auf einem der productivsten Gebiete bewege und Forschungen betreibe, deren Ergebnissen nothwendig Originalit\u00e4t zukommen m\u00fcsse. Um eine kleine Auslese von derartigen Schriften zu bieten, seien hier beispielsweise erw\u00e4hnt: die Untersuchungen von Ruysch (1638 \u20141731), Leeuwenhoek (1632\u20141723) in den Niederlanden. Schei-ner in Wien (f 1650), Perrault (1613\u20141688) und Pequet (1622 bis 1674) in Frankreich zeichnen sich durch ihre Untersuchungen \u00fcber das Sehorgan aus; Guichard du Verney (Trait\u00e9 de l\u2019organe de l\u2019ouie Paris 1683) arbeitete \u00fcber das Geh\u00f6rorgan; Casp. Bar-tholinus (De olfactus organo disquisitio anatomica 1679) \u00fcber das Geruchsorgan. Die Gehirnanatomie hlieb nicht zur\u00fcck, Zeuge dessen die Leistungen von Th. Willis (1622\u20141675), de le Boe Sylvius (1614\u20141672), Raimond Yieussens (1641\u20141717) und Andern. Weitere Fortschritte auf diesem Gebiete bewirkte schlie\u00dflich Malpighi durch die Anwendung des Mikroskops.\nMitten in dem gewaltigen Aufsehen, das diese Entdeckungen erregten, mitten in dieser Zeit der Umw\u00e4lzung, welche unter dem Einfl\u00fcsse der k\u00fchnen Theorien eines Sydenham und Glisson g\u00e4hrte und sich mit den vielfachsten Ergebnissen, die die Einzelforscher auf dem Sinnesgebiete errungen hatten, bereichert sah, begegnet uns ein Philosoph, welcher der neuen Richtung die erw\u00fcnschte Popularisirung gab. John Locke, der Freund Syden-hams, mit der medicinischen Bewegung seiner Zeit durchaus vertraut, erf\u00fcllt die Aufgabe, die jetzt die Aufmerksamkeit in immer h\u00f6herem Grade fesselt und der ganzen Epoche ihr Gepr\u00e4ge aufdr\u00fcckt. Was die Physiologen hie und da st\u00fcckweise constatirt hatten, verallgemeinert er in seinem \u00bbEssay concerning human understanding\u00ab, um die f\u00fcr die Philosophie erforderlichen Conse-quenzen daraus zu ziehen. Der Erfolg seiner Werke bietet Veranlassung, mit ihm eine neue Periode in der Geschichte der Philosophie anzusetzen. Locke unternimmt \u00bbeine Untersuchung \u00fcber den Ursprung, \u00fcber die Gewissheit und den Umfang der mensch-","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausaiitiit.\n345\nliehen Erkenntnisse \u00fcber die Gr\u00fcnde und Grade des Glaubens, der Meinung und des Beifalls\u00ab. Er will \u00bbdie Art und Weise, wie der \\ erstand zu seinen Begriffen von Objecten gelangt, erkl\u00e4ren, den Grad der Gewissheit unserer Erkenntniss bestimmen, die Grenzen zwischen dem Meinen und Wissen erforschen und die Grunds\u00e4tze untersuchen, nach welchen wir in Dingen, wo keine gewisse Erkenntniss stattfindet, unseren Beifall und unsere Ueberzeugung bestimmen sollen\u00ab. Man sieht, welche allgemeine Fassung er der bisher nur von Einzelforschern ber\u00fchrten Frage verleiht. Die Formel, in die sich die Tendenz dieser ganzen Bestrebungen und ihr Gesammtergebniss zusammenfasst, ist spr\u00fcchw\u00f6rtlich geworden : \u00bbNihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu\u00ab. Locke und seine Nachfolger schlossen, mit anderen Worten, dass die Vernunft keine andere Erkenntnissquelle besitze als die Sinne, durch die sie ihr wie durch Can\u00e4le zuflie\u00dfe : das vermeintliche sch\u00f6pferische Verm\u00f6gen der Vernunft ist mithin eine Illusion, und alle Specu-lationen, die nicht auf sinnliche Thatsachen gegr\u00fcndet sind, entbehren jeden Werthes.\nInsofern sich die neue Philosophie auf die Er\u00f6rterung dieser letzteren beschr\u00e4nkt, erscheint sie auf den ersten Blick f\u00fcr das l roblem der Causalit\u00e4t von gro\u00dfem Nutzen. Was im voraufgehen\u2014 den Jahrhundert dieses Problem tr\u00fcbte, waren gerade die metaphysischen Speculationen \u00fcber den transcendenten Grund der Dinge, die abstracten Schl\u00fcsse auf das Unendliche, das Vollkommene u. s. w. gewesen. Locke\u2019s Reform war also wohl dazu angethan, der Cau-salit\u00e4tsforschung gro\u00dfe Hindernisse aus dem Wege zu r\u00e4umen. Leider aber l\u00e4sst sich aus einem philosophischen Systeme nicht nach Gutbefinden Einzelnes auslesen: alle seine Theorien bilden vielmehr ein Ganzes, in dem das eine das andere erg\u00e4nzt, und das man verst\u00fcmmelt, wenn man dieses oder jenes aus ihm ausschlie\u00dft. Der allgemeine Satz, der uns hier im besonderen angeht, d. h. der, dass unsere Vernunft nichts enth\u00e4lt als was ihr die Sinne zugef\u00fchrt, hat eine \u00fcberwiegend negative Bedeutung; er ist nur eine Folgerung aus anderen. Wie sollen wir ihn auf Wahrheit beruhend glauben, wenn die Untersuchungen \u00fcber die Sinnesth\u00e4tigkeit, die Fragen nach der Natur und der Artung der Empfindungen nicht selbst schon klare Gestalt angenommen und ihre L\u00f6sung gefunden haben\"?","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nConstantin Radnlescu-Motru.\nWir m\u00fcssen ihn also, wie er sich darbietet, im Zusammenh\u00e4nge mit diesen erfassen und sodann Zusehen, ob er auch unter diesen Bedingungen f\u00fcr den Causalit\u00e4tsbegriff von Nutzen zu sein vermag. K\u00f6nnte es doch leicht geschehen, dass die Theorien \u00fcber die Sinnesth\u00e4tigkeit, \u00fcber die Empfindungen diesem Begriffe eine Gestalt gehen, \u00e4hnlich der, welche ihm von den Metaphysikern des 17. Jahrhunderts gegeben worden war. In diesem Falle aber wird uns die Formel \u00bbNihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu\u00ab, auch wenn sie an sich ein directer Protest gegen die trans-scendente Speculation ist, dennoch durch ihre Verbindung mit anderen metaphysischen Theorien nicht f\u00f6rderlich sein. Irrige Ansichten \u00fcber die Natur, \u00fcber den Verkn\u00fcpfungsmodus der Empfindungen k\u00f6nnen ebensowohl von der L\u00f6sung des Causalit\u00e4tsproblems ablenken, wie die Speculationen der Vergangenheit \u00fcber die Natur der Seele, der Substanzen u. s. w. In der That ist dieser Fall bei der neuen Philosophie eingetreten: eine Theorie, die augenscheinlich unzul\u00e4ssig ist, in jener Periode sich aber mit Analogiegewalt aufdr\u00e4ngte, hat allen Fortschritt \u00fcber das 17. Jahrhundert hinaus unm\u00f6glich gemacht!\nDie Untersuchungen Glisson\u2019s schienen es, wie erw\u00e4hnt, wahrscheinlich zu machen, dass der Geist nichts anderes sei als eine Eigenschaft des Nervensystems, dass man also aus der Beschaffenheit dieses letzteren auf die Natur des ersteren zu schlie\u00dfen habe. Nun aber waren die herrschenden Theorien mehr oder minder Auspr\u00e4gungen atomistischer Erw\u00e4gungen. Die Naturforscher der damaligen Zeit hielten die organische sowohl wie die anorganische Materie f\u00fcr aus Theilchen zusammengesetzt, f\u00fcr eine zuf\u00e4llige Verbindung von Atomen. Diese Theorien sind der Geschichte der Medicin unter dem Namen der iatro-mechanistischen oder iatro-physikalischen bekannt. Wenn demgem\u00e4\u00df das Nervensystem gleich den anorganischen K\u00f6rpern als eine Vereinigung von Atomen angesehen wurde und seine Atome vor jenen als einzige Eigenschaft die F\u00e4higkeit des Empfindens voraus hatten, so konnte die Seele einfach als das Bild des K\u00f6rpers gelten; sie wurde zu einem Complex elementarer Empfindungen, einer Art von psychischer Atomenverbindung.\nDie Spuren dieses Materialismus finden sich schon in Locke\u2019s","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t347\nEssay. \u00bbWir werden nie wissen k\u00f6nnen\u00ab, sagt er, \u00bbob jedes stoffliche Ding denkt oder nicht, da durch die Betrachtung unserer eigenen Vorstellungen ohne Offenbarung nicht ermittelt werden kann, oh die Allmacht nicht einem passend eingerichteten blo\u00dfen Stoffe das Verm\u00f6gen, aufzufassen und zu denken, verliehen habe whether Omnipotency has not given to some systems of matter, fitly disposed, a power to perceive and think), oder sonst mit dem so eingerichteten Stoffe eine denkende stofflose Substanz verbunden habe. Ich sehe wenigstens darin keinen Widerspruch, weshalb nicht das h\u00f6chste und ewige denkende Wesen (the first eternal thinking Being) gewissen Systemen des erschaffenen geistlosen Stoffes in einem ihm passend scheinenden Zusammenh\u00e4nge einen Grad von Wahrnehmen, Auffassen und Denken verleihen k\u00f6nnte . . .\u00ab1 j. Noch eingehender er\u00f6rtert Locke eine derartige Auffassung in seiner Polemik mit Dr. Stilling fleet, Bischof von Worcester. Voltaire hat sie zu seiner eigenen gemacht und durch die streitbare und geistreiche Lebhaftigkeit seines \u2022Styls bei seinen Landsleuten, den Franzosen, popularisirt2).\nDiese Richtung wird nun allm\u00e4hlich immer allgemeiner eingeschlagen. Ihre Hauptvertreter und mehr oder minder gl\u00fccklichen Nachfolger sind die franz\u00f6sischen Materialisten, unter denen hier Maupertuis\u2019 besonders gedacht sein mag. Dieser letztere thut in einem 1751, anfangs anonym (in Gestalt einer These, die ein vorgeblicher Doctor Baumann in Erlangen vertheidigt) erschienenen Buche einen Schritt weiter, indem er die Atome nicht nur, wie zu jener Zeit \u00fcblich war, mit Irritabilit\u00e4t begabt, sondern \u00fcberdies mit etwas Intellectuellem, das aus ihnen fast ganz ausgepr\u00e4gte Individuen machte, eine Art Miniaturthiere. \u00bbEine gleichf\u00f6rmige und blinde Anziehungskraft\u00ab, sagt er, \u00bbwelche sich durch alle Theilchen der Materie hindurch erstreckt, verm\u00f6chte nicht zu erkl\u00e4ren, wie diese Theilchen sich ordnen, um auch nur den allereinfachsten Organismus zu bilden. Wenn allen das gleiche Streben, die gleiche Kraft sich untereinander zu vereinigen innewohnt, wie kommt es\n1)\tEssay, IV. 3. \u00a7 6. (Uebers. Kirchm.) S. 153.\n2)\tLettres anglaises 1. XIII; Dictionnaire philosophique, art. Locke et Mati\u00e8re; El\u00e9m. de la philosophie de Newton, I. ch. VII; yergl. auch Pillon,\nL ann\u00e9e philosophique, 1891. S. 147.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nConstantin Radulescu-Motru.\ndann, dass diese ein Auge bilden, jene ein Ohr? Wozu diese wunderbare Anordnung? Und warum vereinigen sie sich nicht in der aller-beliebigsten Weise und ohne alle Ordnung? Will man hier irgendwie begreiflich antworten, sei es auch nur begreiflich aus Analogie, so muss man seine Zuflucht zu einem intellectartigen Princip, zu etwas dem gleichenden nehmen, was wir Begehren, Abneigung. Ged\u00e4chtniss nennen\u00ab1). Durch die Einf\u00fchrung dieses seines in-tellectartigen Princips glaubt Maupertuis sich gesichert vor Einwendungen, die Epikur treffen konnten.\nYon allen Seiten her also dr\u00e4ngte sich die Ansicht auf, unsere Seele sei, gleich den unorganischen K\u00f6rpern, ein blo\u00dfer Complex materieller Theilchen, mit dem einzigen Unterschiede, dass bei ihr diese Theilchen empfindende Atome seien. Wie aber verbinden sich nun weiter die Empfindungen untereinander, und welchen Gesetzen unterliegen diese Verbindungen? Auf diese Frage war dann offenbar nach Analogie der anorganischen Atome, der unbeseelten Materie zu antworten. Vom Gesichtspunkte des Bewusstseins aus scheint alles dies der Willk\u00fcr unterworfen. Eine Empfindung kann einer anderen folgen und sich mit ihr verkn\u00fcpfen oder nicht, wie es der Zufall, d. h. unser subjectives Verhalten gegen\u00fcber der Au\u00dfenwelt, gerade f\u00fcgt. Man hatte daher auf alle Beziehungen lediglich die atomis-tische Auffassung zu \u00fcbertragen, um sich allenthalben zu diesem Schl\u00fcsse berechtigt zu glauben.\nVerallgemeinern wir nun diese Theorie, indem wir sie zugleich durch die andere des \u00bbnihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu\u00ab erg\u00e4nzen, so erhalten wir eine ganz specifische Grundlage f\u00fcr die L\u00f6sung des Causalit\u00e4tsproblems. Die Bezogenheit nach Ursache und Wirkung, das Causalverh\u00e4ltniss, k\u00f6nnen wir erstens nicht aus der Vernunft sch\u00f6pfen, weil dieser eine selbst\u00e4ndige L\u00f6sung \u00fcberhaupt nicht zukommt, sie vielmehr ein blo\u00dfer Niederschlag von Erfahrungen ist; zweitens aber kann uns der Causal-zusammenhang auch nicht aus der Erfahrung gegeben sein, weil unsere Sinne uns nur Einzelnes und Getrenntes, nicht aber einen Zusammenhang als Empfindung zu \u00fcbermitteln verm\u00f6gen. Wie gelangen wir trotzdem zu der Annahme, zu dem Glauben, dass ein\n1) Pillon, L\u2019ann\u00e9e philosophique, 1891. S. 161.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n349\nsolcher existire ? Vielleicht folgern wir nur aus Gewohnheit, d. h. weil wii A und B stets verbunden wahrgenommen haben, lassen wir em Causalverh\u00e4ltniss zwischen ihnen bestehen. Dies ist die einzige Erkl\u00e4rung, die sich aus den obigen Theorien in letzter Linie ergeben kann. Aber auch die Gewohnheit erkl\u00e4rt uns, streng im Sinne unserer Principien, das Causalverh\u00e4ltniss, die Beziehung nach Lrsache und Wirkung, keineswegs. Auch sie muss, vom Standpunkte des Sensualismus aus, ein sinnlicher Niederschlag sein, und so drehen wir uns nach wie vor im Kreise. Die Gewohnheit ist eine Erfahrungsthatsache, Ursache und Wirkung sind ihrerseits Erfahrungsthatsachen. Wie und mit welchem Rechte fasst die Gewohnheit einen Zusammenhang als einen causalen auf ? So bleibt als einziger Ausweg der Skepticismus. Wir kommen damit zu den Aufstellungen desjenigen Vertreters der neuen Schule, der f\u00fcr die L\u00f6sung des Problems der Causalit\u00e4t alle Argumente, die die neue Richtung darbot, herangezogen hat, David Hume\u2019s.\n\u00bbDas Gegentheil einer empirischen Thatsache bleibt immer m\u00f6glich, denn es ist niemals ein logischer Widerspruch, sondern es kann von der Seele mit derselben Leichtigkeit und Bestimmtheit vorgestellt werden, als wenn es genau mit der Wirklichkeit \u00fcbereinstimmte....... Dass die Sonne morgen nicht aufgehen werde,\nist ein ebenso verst\u00e4ndlicher und widerspruchsfreier Satz als die Behauptung, dass sie aufgehen werde. Man w\u00fcrde vergeblich den Bewreis ihrer Unwahrheit versuchen\u00ab1). Diese behauptete Willk\u00fcr-lichkeit der Thatsachenverbindung, welche sich hier auf die Beziehung der Causalit\u00e4t erstreckt, ergibt sich von selbst, wenn einmal die der Eindr\u00fccke zugegeben ist. Eine Gesichtsempfindung kann sich mit einer anderen ebensolchen, mit einer Geh\u00f6rs- oder Tastempfindung in beliebiger Weise und g\u00e4nzlich unbeschr\u00e4nkt verkn\u00fcpfen: eine Annahme der Art hatte f\u00fcr Hume nichts Widersprechendes. Und thats\u00e4chlich liegt der Widerspruch nicht in dieser Formulirung selbst. Er liegt vielmehr, soweit er vorhanden lst> 111 der Annahme, dass es in Wirklichkeit isolirte sinnliche Eindr\u00fccke gehen k\u00f6nne, dass unserem Intellecte als einzige Aufgabe\nS 9S^ Hume\u2019 Enquiry concerning human understanding. (Uebers. Kirchm.)\nWundt, Philos. Studien. IX.\n24","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nConstantin Radulescu-Motru.\nzufalle, dieselben in verschiedenster Weise unter einander zu verkn\u00fcpfen; dass z. B. die Vorstellung von einem goldenen Berge so zu Stande komme, dass von uns die zwei Vorstellungen, Gold und Berg, die bis dahin gleichsam in zwei entfernten Winkeln unseres Geistes wohnten, einander bis zur Vereinheitlichung gen\u00e4hert werden. Eine solche Annahme hatte aber Hume\u2019s Billigung. Lassen wrii* von einer derartigen Voraussetzung auf das Causalverh\u00e4ltniss, auf die Beziehung von Ursache und Wirkung, Begriffe, die Hume als Erfahrungsthatsachen nimmt, Anwendung machen, so ergibt sich von selbst: \u00bbJede Wirkung ist von ihrer Ursache verschieden; sie kann deshalb in dieser nicht gefunden werden, und jede Erfindung oder Vorstellung derselben a priori muss v\u00f6llig willk\u00fcrlich bleiben\u00ab1). Das Merkmal der Nothwendigkeit kann dieser Beziehung nicht beigelegt werden, ohne dass die Selbst\u00e4ndigkeit der Vorstellungen und folglich die Willk\u00fcrlichkeit ihrer Verbindungen Einbu\u00dfe leidet. \u00bbAlle Ereignisse erscheinen lose und getrennt; eins folgt dem anderen, aber niemals k\u00f6nnen wir ein Band zwischen ihnen wahrnehmen\u00ab2).\nDieser Satz und der andere, dass nichts wirklich und wahr ist, au\u00dfer was Gegenstand unserer Wahrnehmung, sind die Pr\u00e4missen, aus denen sich das ganze System Hume\u2019s folgert. Und ihnen gegen\u00fcber begreift man leicht, dass er das Causalit\u00e4tsproblem nur in skeptischem Sinne l\u00f6sen konnte. Weiter auf diese Betrachtung einzugehen, w\u00fcrde jenseits unseres Zweckes liegen. Eine Widerlegung der Hume\u2019sehen Resultate wird sich bei Betrachtung der Kant\u2019sehen Philosophie von selbst ergeben. Hier suchen wir uns nur dieser letzteren selbst auf geschichtlich-genetischem Wege zu n\u00e4hern. Einige Reflexionen m\u00f6gen zu dem gleichen Ende hier noch Platz finden.\nEs ist klar, dass jede Wissenschaft, um sich aus ihren Anf\u00e4ngen herauszuarbeiten und ein weiteres Forschungsgebiet zu erobern, einiger willk\u00fcrlicher Hypothesen bedarf, und gen\u00f6thigt ist, sich einen idealen Ma\u00dfstab zu schaffen, um zur Systematisirung ihrer Erkenntnisse zu gelangen. Doch darf man dabei niemals den\n1)\tHume, Enquiry concerning human understanding. S. 33.\n2)\tEbenda, S. 74.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n353\nSchon die blo\u00dfe Verschiedenheit in der Lage der Zeit w\u00fcrde, streng genommen, hinreichen, eine derartige Verallgemeinerung zu ent-werthen. In der That, mit welchem Rechte ordnet man noch nicht verwirklichte Empfindungen unter ein Gesetz? Vergangene Erfahrung bestimmt \u00fcber zuk\u00fcnftige in keinerlei Weise; zwischen beiden gibt es keinen Schluss von Gleichem auf Gleiches \u2014 aus dem einfachen Grunde, weil zwei Gruppen von Empfindungen, nehme man sie so \u00e4hnlich wie man wolle, durch das Fr\u00fcher oder Spater in der Zeit unter allen Umst\u00e4nden unterschieden bleiben w\u00fcrden. Irgend eine Aufstellung von Gesetzen w\u00e4re sonach f\u00fcr die Vergangenheit, niemals aber f\u00fcr die Zukunft berechtigt. Augenscheinlich ist aber das Causalgesetz in seiner allgemeinen Formu-lirung, \u00bbdass \u00fcberall und zu allen Zeiten, insoweit dieselben Umst\u00e4nde wiederkehren, auch derselbe Erfolg wiederkehrt, soweit aber nicht dieselben Umst\u00e4nde wiederkehren, auch nicht derselbe brfolg wiederkehrt\u00ab1), nur ein Specialfall einer solchen Folgerung auf die Zukunft.\nII.\n\\ '\u00abgleichende Betrachtung der Philosophie des 17. und IS. Jahrhunderts.\nIn den obigen Er\u00f6rterungen haben wir es absichtlich vermieden, den Unterschied zwischen der neuen Philosophie, deren Grundlage die biologischen Wissenschaften bilden, und der des vergangenen Jahrhunderts hervorzuheben. Nunmehr, wo es sich um den Ueber-gang zur Kant\u2019schen Philosophie handelt, kann eine vergleichende Betrachtung beider Richtungen nicht mehr umgangen werden.\nLag in der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts \u2014 dank der Descartes\u2019sehen L\u00f6sung des alten Problems vom Wirklichen und Scheinbaren \u2014 die Tendenz, der objectiven Natur eine Erkl\u00e4rung aus den Gesetzen des Geistes heraus zu geben, d. h. mittelst Schl\u00fcssen, die sich aus den angeborenen Ideen ziehen lie\u00dfen, so begegnen wir umgekehrt im Jahrhundert Locke\u2019s und Hume\u2019s einer ganz entgegengesetzten Tendenz: der, f\u00fcr den Geist dieselbe Anschaulichkeit zu fordern, wie f\u00fcr die Erfahrungswissenschaften. Dort\n1) G. Th. Fechner, Ueber das Causalgesetz. Berichte \u00fcber die Verhandl. :1. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Jahrg. 1849. S. 100.","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nConstantin Radnlescn-Motru.\nseines Ausgangspunktes, der isolirten und getrennten Eindr\u00fccke, konnte er nicht allein der Nothwendigkeit der Verkn\u00fcpfung von Ursache und Wirkung skeptisch gegen\u00fcberstehen, sondern ebenso gut unz\u00e4hligen Problemen, z. 11. dem des Zustandekommens der Erfahrungen an sich, oder dem, wie die isolirten sinnlichen Erscheinungen von unserem Verst\u00e4nde unter der Idee einer Einheit begriffen werden k\u00f6nnen, und wie, wenn diese M\u00f6glichkeit dargethan w\u00e4re, dann dem Widerspruche zu begegnen sei, dass wir dieser Einheit h\u00f6here G\u00fcltigkeit beimessen, als irgend einer ihrer Com-ponenten. Was berechtigt Hume ferner, bei den mathematischen Beziehungen eine Ausnahme zu machen?1} Die S\u00e4tze der Geo-metrie, Arithmetik und Algebra m\u00fcssen \u2014 wofern der Empirismus Hecht damit hat, dass aller Denkth\u00e4tigkeit sinnliche Eindr\u00fccke zu Grunde liegen, \u2014 mit allen anderen \u00fcber Erfahrungstatsachen aufgestellten unter eine und dieselbe Kategorie fallen. Jede Beziehung in einer geometrischen Figur m\u00fcsste sich in eine complexere Beziehung von Linien und Punkten aufl\u00f6sen; und wenn hier noch die Regel ihrer Isoliruug gilt, woher stammt dann, fragen wir jetzt, die Nothwendigkeit, die sie f\u00fcr unser Wissen beansprucht? In der That sind die mathematischen S\u00e4tze das klarste Zeugniss f\u00fcr die Unrichtigkeit des Hume\u2019schen Erfahrungsbegriffes. Falls man ihnen nicht einen verschiedenen Ursprung zuweist \u2014 wie es nachmals Kant that \u2014 stellen sie die Schw\u00e4che der Annahme von der Pr\u00e4existenz der Theile gegen\u00fcber dem Ganzen, beziehungsweise der Einzeleindr\u00fccke gegen\u00fcber ihrem Complexe, ins klarste Licht. Diese Inconsequenz ist \u00fcbrigens den Nachfolgern Hume\u2019s nicht entgangen. Die sp\u00e4tere empirische Schule lie\u00df daher die Annahme jener Ausnahmestellung der Mathematik fallen, und es mag sein, dass sie auch bei Hume nur eine Concession an die Wissenschaften seiner Zeit gewesen ist, wie sich airch Locke bisweilen zu einer solchen gen\u00f6thigt gesehen hatte. Die Annahme einer Gleichf\u00f6rmigkeit des Naturgeschehens endlich, die Grundvoraussetzung der modernen Wissenschaften, bleibt in einer Erfahrungstheorie, wie der Hume\u2019s, mit dem blo\u00dfen Princip der Combination der verschiedenen Eindr\u00fccke ohne alle und jede zureichende Begr\u00fcndung.\n1) Hume, Enquiry concerning human understanding, S. 28.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n355\ngleicher Natur sein mit dem Geiste, der es wahrnimmt, oder vice versa, der Geist soll aus denselben Elementen bestehen wie die Materie. Dies sind die historischen Ausgangspunkte f\u00fcr fast alle erkenntnisstheoretischen Richtungen.\nNach dem aber, was w\u00e4hrend des Ueberganges vom 17. zum 18. Jahrhundert vor sich ging, k\u00f6nnte ein fl\u00fcchtiger Beobachter vielleicht meinen, dass die Objectstheorien gegen\u00fcber denen vom Geiste die bevorzugteren waren. Geschieht es nicht in der That nach Analogie der Gesetze der Mechanik, dass Glisson und seine Nachfolger die Theorie der Nervenirritabilit\u00e4t aufstellen, und dass Hume nach der des physischen Atomismus eine Erkl\u00e4rung der geistigen Th\u00e4tigkeiten versucht? Grade die letztere Erw\u00e4gung aber wird uns zeigen, dass diese Ansicht einer fl\u00fcchtigen Beobachtung entspringt. Wenn die Bevorzugung und das Uebergewicht der Objectstheorie von einem Gesichtspunkt aus eine bewiesene Thatsache scheint, so erweist sich darum nicht minder unter anderen Gesichtspunkten das Irrige einer solchen Annahme. Die ganze moderne wissenschaftliche Entwickelung, so sahen wir, kn\u00fcpft an die Fortschritte der Mathematik und speciell die des Begriffs der Function an. Deren Natur aber war augenscheinlich vor aller objectiven Anwendung ein logisches Element, sie stellte sich als Fortschritt der reinen Mathematik, als Fortschritt im Logischen also, ein. Es war gerade Hume\u2019s Irrthum, dass er diesen zweiten Factor vernachl\u00e4ssigte. Er nahm die Empfindung als lose und isolirte und glaubte, durch diese Annahme eine wissenschaftliche Theorie einzuf\u00fchren; er ahmte damit den Atomismus nach, nicht aber den der neuen Richtung, der nur eine Hypothese war, die Aufstellung der Gesetze zu erleichtern, sondern den der alten Metaphysik, den Atomismus als Theorie von den Substanzen. Nur diese Einseitigkeit hat ihn zum Skepticismus gef\u00fchrt. Erst beim Gesammt\u00fcberblick, erst in den philosophischen Systemen, spiegeln sich beide Tendenzen isolirt und ergeben so verschiedene Weltanschauungen. Je nachdem man den einen oder andern Gesichtspunkt w\u00e4hlt, hat man den Materialismus oder den Idealismus, den Realismus oder den Subjectivismus, den Empirismus oder den Rationalismus. Mit diesen beiden letzteren Formeln hat man die Philosophien des 17. und 18. Jahrhunderts getauft. Descartes, Spinoza, Leibniz waren Rationalisten, weil sie die","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nConstantin Radulescu-Motru.\nwar der Geist gleichsam ein Gef\u00e4ngniss, von dem aus das gesammte Weltall erblickt wird; hier ist das gegenst\u00e4ndliche Bild das einzige Kriterium fiir die wissenschaftliche Gewissheit. Diese Tendenzen sind beide diesen zwei Jahrhunderten nicht eigenthiimlieh: sie treten schon vor ihnen in der philosophischen Entwicklung nachdr\u00fccklich hervor, und sie leben auch in unseren Tagen noch fort. Sie werden auch in Zukunft solange fortleben, als das Problem, dem die Eleaten das Leben gegeben haben, f\u00fcr die Erkenntnisstheorie von Wichtigkeit sein wird. Je nachdem man zwischen der Wirklichkeit des Geistes oder der der Materie w\u00e4hlt, entscheidet man sich auch f\u00fcr die eine oder andere Weltanschauung. Sie beide von einander zu trennen, historisch dar\u00fcber zu entscheiden, welcher von beiden Gesichtspunkten jeweilig der urspr\u00fcnglichere ist, dar\u00fcber zu ur-theilen, oh die \u00fcber die Natur des Geistes aufgestellte Theorie der \u00fcber die Materie voraufgeht oder umgekehrt, \u2014 dies alles ist kaum m\u00f6glich; nur das Vorwiegen der einen vor der anderen spiegelt sich in der Philosophie jeder Epoche klar wieder. So war z. B. in der antiken Philosophie die Theorie \u00fcber die Natur der Seele, besonders die Erkenntnisstheorie, derzufolge unser Wissen von den objective\u00ab Dingen vermittelst unendlich kleiner Bildchen vor sich gehen sollte, die sich von der Oberfl\u00e4che der \u00e4u\u00dferen K\u00f6rper losl\u00f6sen, um in unsere Empfindungsorgane einzudringen, durchaus dazu angethan. die atomistische Theorie zu beg\u00fcnstigen; in unserer Zeit ist die Theorie der Nervenerregbarkeit einer idealistischen Anschauung g\u00fcnstig; hat aber nicht trotzdem eher das Umgekehrte stattgefunden ? D. h. die antike Erkenntnisstheorie hat sich nach der Analogie der atomistischen Theorie der Materie gestaltet, und die objectiven Gesetze der Mechanik haben die Theorie der Nervenerregung, der Perception u. s. w. erzeugt. Ebenso ist es in der Aristotelischen Philosophie die objective, d. h. die beobachtbare organische Zweckm\u00e4\u00dfigkeit, die die Unterscheidung zwischen Form und Stoff und weiterhin die von der Scholastik gepflegte Theorie der \u00bbGattungen\u00ab eingegehen hat. Wahrscheinlich entwickelten sich beide Theorien fast gleichzeitig, und der Einfluss der einen auf die andere war schon vom ersten Augenblicke an wirksam, dank der Neigung des menschlichen Denkens, in der Erkenntnissthatsache stets eine Beziehung von Gleichem zu Gleichem zu suchen. Das Object soll","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"357\nZur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\nsagt, damit etwas von jener Vernunft, die die Grundlage der Speculation des 17. Jahrhunderts gewesen war? Durch welches Pf\u00f6rt-chen lie\u00df sich aber dieses Wenige in die so radicalen L\u00f6sungen der Empiristen einf\u00fchren? War eine solche Aufgabe durchf\u00fchrbar ? In der That, bei all den scharfen Gegens\u00e4tzen, die die Philosophen beider Richtungen zu trennen scheinen, hatten sie doch einen Be-l\u00fchrungspunkt. Diesen Punkt, der eine Verst\u00e4ndigung zu erm\u00f6glichen schien, bildeten die mathematischen Wahrheiten. Weiter oben sahen wir, wie Hume, obgleich seinem Standpunkte zuwider, der Mathematik ihren besonderen Platz einr\u00e4umt, sie von dem Skepticismus ausschlie\u00dft, mit dem er die ganze \u00fcbrige Forschung \u00fcberzieht. Und Locke hatte ihr noch mehr Zugest\u00e4ndnisse gemacht: beide theilen hierin also die Ansicht der fr\u00fcheren Philosophie. Bot sich nun nicht hier der gesuchte Weg? So war es. Im Gefolge der Mathematik versuchte Kant von neuem und vollauf die Elemente einzuf\u00fchren, die dem Empirismus verloren gegangen waren: Allgemeing\u00fcltigkeit und Nothwendigkeit. Aber es blieb eine Schwierigkeit und eine der allergr\u00f6\u00dften \u2014 : unter welcher Gestalt war die Mathematik selbst einzuf\u00fchren? Der Empirismus forderte f\u00fcr alle geistige Th\u00e4tigkeit eine Art physiologischer Basis \u2014 er w\u00fcnschte etwas Anschauliches. Die \u00fcbrigen Erfahrungswahrheiten flatten zum mindesten ihren Ursprung in den sinnlichen Eindr\u00fccken, die mathematischen Wahrheiten in der Vernunft, \u2014 aber wo hatte die Vernunft ihren Sitz, oder welches waren ihre Functionen? Wenn Kant eine Function der Spontaneit\u00e4t des Verstandes zu H\u00fclfe rief, als eine Art psychischer Centralfunction im Gegens\u00e4tze zu der \u00e4u\u00dferen Receptivit\u00e4t der Sinne, war dann nicht der Forderung der Empiristen Gen\u00fcge gethan und zugleich sein Zweck erreicht? Auf der einen Seite hatte man dann die \u00e4u\u00dferen Sinne mit ihren mehr passiven Functionen, auf der anderen den Verstand, der den ersteren seine eigene spontane Activit\u00e4t aufpr\u00e4gte. Aber lassen wir die Ver-muthungen und sehen wir zu, wie die Dinge sich geschichtlich gestalteten !\n(Schluss folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nConstantin Radulescu-Motru.\nVernunft f\u00fcr das urspr\u00fcngliche Element, f\u00fcr das Wirkliche hielten, \u2014 nach ihrem Bilde gestaltet sich die Welt; sie stellten daher die ontologischen Deductionen als Grundlage des Wissens hin. Die \u00e4u\u00dfere Welt war da f\u00fcr sie, weil das Attribut der g\u00f6ttlichen Vollkommenheit dies forderte, \u2014 wir werden sp\u00e4ter sehen, dass solche Speculationen den Erfahrungswissenschaften nicht allzuviele Einschr\u00e4nkungen auflegten \u2014, und der Glaube an die Existenz der Welt war also etwas wie ein noth wendiger Vernunftschluss. Die Vorstellung von einer scheinbaren Welt h\u00e4tte den Gottesbegriff, die meisten Vernunftideen nur entwerthen k\u00f6nnen. Umgekehrt bei Locke und Hume: die Au\u00dfenwelt war hier die urspr\u00fcngliche, und nach ihrem Bilde erst sucht man sich die Functionen des Intellects zu erkl\u00e4ren.\nUnd die Causaltheorie '? Wir haben ihr Schicksal kennen gelernt. In keiner der beiden Epochen erf\u00e4hrt sie eine befriedigende L\u00f6sung. Dort ward sie von der transcendenten Metaphysik verschlungen , oder verlor sich in der Allgemeinheit des Begreifens \u00fcberhaupt, d. h. sie blieb ununterschieden von der logischen Begr\u00fcndung \u2014, hier gelangte sie deshalb nicht weiter, weil man sich bem\u00fchte, aus ihr einen Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung zu machen. Die im 17. Jahrhundert vorwiegende Betonung des logischen Moments hob ihre Selbst\u00e4ndigkeit g\u00e4nzlich auf; die v\u00f6llige Au\u00dferachtlassung desselben Moments entzog ihr im darauffolgenden jeden Anspruch darauf, ein Problem zu bilden. Diese Situation war es, die die Kantische Philosophie vorfand. Welche Bahn sollte sie einschlagen'? Zu Descartes zur\u00fcckkehren oder einfach Hume folgen\"? Oder einen Mittelweg ausfindig machen, das Gute dort wie hier ausw\u00e4hlen, die Ergebnisse combiniren, verschmelzen ? \u2014- Nehmen wir an, Kant h\u00e4tte sich f\u00fcr das letztere entschieden! Worin lag dann das Gute der einen und der anderen Richtung '? In erster Linie nat\u00fcrlich war die Wichtigkeit, die die Sinne in Anbetracht der Bildung unserer Ideen durch die empiristische Schule erlangt hatten, keinesfalls abzuschw\u00e4chen: sie hatte sich zu m\u00e4chtig aufgedr\u00e4ngt, und der Zeitraum, der Kant von Hume trennte, war allzuklein. War dies aber irgendwie ein Mittel, auch dem logischen Element Raum zu gehen, dem, was die Nothwendigkeit, die Allgemeing\u00fcltigkeit unserer Urtheile ausmacht\"? Rettete man, anders ge-","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"359\nUntersuchungen \u00fcber die Grundlagen.der Mathematik. II.\ngr\u00fcndet sichm der Auffassungsweise Newton\u2019s die Geometrie auf die Mechanik; er sagt:1) \u00bbNam et linearum rectarum et circulorum descriptions, m quibus geometria fundatur, ad mechanicam pertinent. \u00ab Iin Sinne Newton\u2019s setzt daher die Geometrie die Gebilde, die sie untersucht, als gegeben voraus, die Mechanik aber lehrt ihre Beschreibung.\nInsbesondere hat wohl jede Einzelwissenschaft unter ihren Voraussetzungen solche Annahmen aufzuweisen, die als \u00bballgemeing\u00fcltige\u00ab Wahrheiten gleich gegebenen Thatsachen hingenommen werden. Bei ihnen wird aber eine auf die Anf\u00e4nge und Grundlagen des Er-kennens gerichtete Untersuchung nicht stehen bleiben, sondern bedacht sein, das thats\u00e4chlich Gegebene aufzusuchen, und daraus auch jene Wahrheiten abzuleiten.\nWahrend somit f\u00fcr ein einzelnes Problem und f\u00fcr ein einzelnes Wissensgebiet das als gegeben angenommen werden kann, was selbst wieder aus anderweitiger, insbesondere aus philosophischer Denkarbeit resultirt, muss das in philosophischem Sinne Gegebene das Letzte sein, an das ein auf Erkennen gerichtetes Denken ankn\u00fcpfen muss und \u00fcber das nicht hinausgegangen werden kann.\nEs erhellt so, dass im vorliegenden Falle einer Untersuchung der Giundlagen der Mathematik das Gegebene in philosophischem Sinne gegeben sein muss; denn es besteht ja die Absicht, von den Quellen des Erkennens auszugehen und bis zu den die einzelnen mathematischen Disciplinen beherrschenden Begriffen fortzuschreiten. Darum wird sich auch der Ausgangspunkt von dem der Philosophen nicht unterscheiden, die das gesammte Erkennen behandeln und zu einem zusammenh\u00e4ngenden Ganzen zu vereinigen suchen.\nEin Blick in die Geschichte der Philosophie lehrt nun aber, dass von \\ erschiedenen Philosophen verschiedene Ausgangspunkte gew\u00e4hlt wurden.\nDescartes bem\u00fcht sich in den \u00bbmeditationes d\u00e9prima philo-i>ophia\u00ab alles in Zweifel zu setzen, um nicht auf tr\u00fcgerischen Boden zu bauen, und findet als Letztes, das jedem Zweifel widersteht, die Thatsache des Denkens. Cogito, ergo sum : diese Wahrheit ist durch das \u00bbnat\u00fcrliche Licht\u00ab gewiss und gleich ihr gibt es noch andere\n1) Philosophiae naturalig principia mathematical Praefatio.","page":357}],"identifier":"lit4233","issued":"1894","language":"de","pages":"317-357","startpages":"317","title":"Zur Entwicklung von Kant\u2018s Theorie der Naturcausalit\u00e4t","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:29:48.701880+00:00"}