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{"created":"2022-01-31T12:34:49.105245+00:00","id":"lit4239","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kirschmann, August","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 9: 447-495","fulltext":[{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens und die spaltf\u00f6rmigen Pupillen der Katze.\nVon\nAugust Kirschmann,\nUniversity of Toronto, Can.\nMit 7 Figuren im Text.\nI.\nDie refiectorisch erfolgende Aenderung der Pupillenweite im Auge des Menschen und der h\u00f6heren Wirbelthiere dient \u00e4hnlichen Zwecken wie die Regulirung der Blende in einem photographischen Apparat. Die Blende des Auges und die der photographischen Camera haben zun\u00e4chst die Aufgabe, durch Abhaltung der Kand-strahlen die allen Systemen brechender Medien mehr oder minder anhaftenden Fehler der sph\u00e4rischen und chromatischen Aberration auf ein Minimum zu reduciren. Da aber der Erfolg einer Lichteinwirkung, sowohl bei der photographischen Platte wie bei der Netzhaut, nicht nur von der Sch\u00e4rfe des Bildes, sondern auch von der Lichtst\u00e4rke desselben abh\u00e4ngig ist, so kann die Blendevorrichtung nur insofern den an sie gestellten Anforderungen gerecht \"erden, als sie gestattet, im gegebenen Falle diejenige Diaplnagma-\u00f6ftnung zu benutzen, bei welcher von allen m\u00f6glichen Bildern das brauchbarste geliefert wird. Die zusammenziehbare Pupille des Auges erf\u00fcllt dabei noch die Nebenaufgabe, die nachtheiligen Wirkungen allzu intensiven Lichtes und j\u00e4hen Helligkeitswechsels erheblich zu mildern. Au\u00dfer den genannten Aufgaben scheint jedoch dem Pupillarmechanismus noch eine andere Function zuzufallen.\nWundt, Philos. Studien. JX.\n31","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nAugust Kirselimiiuii.\nwelche in engster Beziehung zur monocularen Tiefenwahrnehmung steht und wrelche bisher g\u00e4nzlich \u00fcbersehen worden ist.\nGewisse Eigenschaften unseres Sehorgans machen auf den ersten Blick den Eindruck von M\u00e4ngeln und unvermeidlichen Uebelst\u00e4nden, entpuppen sich aber bei genauerer Betrachtung als h\u00f6chst sinnreiche und zweckm\u00e4\u00dfige Einrichtungen. Hierher geh\u00f6ren die \u00bbUnvollkommenheit\u00ab des indirecten Sehens und die \u00bbZerstreuungskreise\u00ab ').\nDas indirecte Sehen ist nicht weniger vollkommen, sondern nur anders als das directe. Hat letzteres den Vorzug einer gr\u00f6\u00dferen Sch\u00e4rfe in der Wahrnehmung distincter Punkte und einer gr\u00f6\u00dferen Mannigfaltigkeit der Qualit\u00e4tenreihe, so besitzt ersteres daf\u00fcr denjenigen einer gr\u00f6\u00dferen Lichtempfindlichkeit und einer empfindlicheren Wahrnehmung von Bewegungen. Ueberall in der belebten Natur finden wir das Gesetz: je h\u00f6her ein Organismus steht, desto weiter ist in seinen Theilen das Princip der qualitativen Arbeitstheilung zur Anwendung gebracht. Eine au\u00dferordentlich de-taillirte qualitative Arbeitstheilung besteht zwischen den Elementen der Netzhaut; ihre Folgen sind das \u00fcberaus wichtige Gesetz der (Korrespondenz von Apperception und Fixation1 2) und die au\u00dferordentliche Empfindlichkeit und Pr\u00e4cision, welche das Auge des Menschen und der h\u00f6heren Thiere als Bewegungsmechanismus erreicht hat.\n1)\tAuch die Abweichung der Gestalt des Auges (d. h. des Augapfels abgesehen von der Corneaconvexit\u00e4t) von derjenigen einer vollkommenen Kugel ist eine solche scheinbar unwesentliche Unregelm\u00e4\u00dfigkeit, die sich bei genauer Erw\u00e4gung der Sachlage als eine sehr zweckm\u00e4\u00dfige Schutzeinrichtung gegen nachtheilige Druckwirkungen erweist. Der Augapfel ist bei seinen Bewegungen vielfach dem von den umgehenden Muskeln und Sch\u00e4deltheilen ausge\u00fcbten Drucke, besonders in \u00e4quatorialer Richtung, ausgesetzt. W\u00e4re nun der Bulbus eine genaue Kugel, so m\u00fcsste sich dieser Druck in h\u00f6chst st\u00f6render Weise bemerkbar machen. Da die sph\u00e4rische Fl\u00e4che f\u00fcr einen gegebenen Rauminhalt die kleinstm\u00f6gliche Oberfl\u00e4che ist, so m\u00fcsste erstlich jeder auf den Augapfel ausge\u00fcbte Druck eine sch\u00e4dliche, unter Umst\u00e4nden verh\u00e4ngnisvolle Spannung sowohl der Fl\u00fcssigkeiten im Innern als auch der einh\u00fcllenden Membranen hervorrufen. Zweitens w\u00fcrden durch die mit der Verkleinerung des Raumgehaltes nothwendig verbundene Verdichtung der brechenden Medien die Brechungsindices ge\u00e4ndert werden, was nat\u00fcrlich eine au\u00dferordentliche St\u00f6rung herbeif\u00fchren w\u00fcrde. Die thats\u00e4chlich bestehende sph\u00e4-roidische Gestalt aber hat zur Folge, dass das Auge die durch Druck bedingten Gestaltsver\u00e4nderungen und localen Deformationen seiner Oberfl\u00e4che ertragen kann, ohne mit vermehrter Spannung und Aenderung des Brechungsverm\u00f6gens reagiren zu m\u00fcssen.\n2)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. Bd. S. 122 u. 217.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n449\nSo wie wir der vom Centrum nach der Peripherie hin stetig zunehmenden Ungenauigkeit der Netzhautbilder, der eine Zunahme der Licht- und Bewegungsempfindlichkeit parallel geht, die Beweglichkeit des Auges und damit die M\u00f6glichkeit einer Ausmessung des zweidimensionalen Sehfeldes verdanken, so sind auch die sogenannten \u00bbZerstreuungskreise\u00ab nicht etwa nur ein unvermeidliches Uebel, sondern sie werden von unserem Gesichtssinne als wichtige Daten zur Ausmessung des Sehraumes nach der Tiefendimension verwandt. Dass mit der Eliminirung der Zerstreuungskreise auch die Nothwendigkeit der Accommodation und damit ein wichtiges prim\u00e4res H\u00fclfsmittel der monocularen Tiefen Wahrnehmung in Wegfall k\u00e4me, ist ohne weiteres klar. Wir werden aber im Folgenden nachzuweisen versuchen, dass die Zerstreuungskreise des indirecten Sehens auch noch in anderer Hinsicht f\u00fcr die Tiefenvorstellung von Bedeutung sind.\nDie Theorie der Zerstreuungskreise ist von Helmholtz in seiner physiologischen Optik \u00a7 11\u201413 ausf\u00fchrlich behandelt, jedoch ohne auf die Verh\u00e4ltnisse des indirecten Sehens n\u00e4her einzugehen1). Wundt er\u00f6rtert die Frage nach Lage und Deckung der Zerstreuungskreise bei der Betrachtung des Netzhautbildes im ruhenden Auge2). Auch Aubert widmet den Zerstreuungskreisen eine kurze Betrachtung und betont ihre Bedeutung f\u00fcr die Visirrichtungen3). In Hermann\u2019s Handbuch der Physiologie sind die Zerstreuungskreise in den Capiteln \u00fcber die Sehsch\u00e4rfe und \u00fcber das emmetropische Auge behandelt4). Im Anschluss an die Darstellungen der genannten Autoren wollen wir die Eigenschaften der Zerstreuungskreise im indirecten Sehen einer kurzen Betrachtung unterziehen, und wir halten es f\u00fcr zweckm\u00e4\u00dfig, uns die Verh\u00e4ltnisse durch eine einfache Figur zu veranschaulichen. Es sei in Fig. 1 d der Mittelpunkt (Drehpunkt) und k der (mittlere) Knotenpunkt des Auges, \u25a0p j> die Pupille. Das Auge, dessen Achse und Fixationsrichtung,\n1)\tHelmholtz, Physiolog. Optik. 2. Aufl. S. 112 ff. Auf die Behandlung, welche Helmholtz an anderer Stelle (S. 586 und 587 der alten Auflage der Physiolog. Optik) diesem Gegenst\u00e4nde widmet, werden wir sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen.\n2)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. IL Bd. S. 106ff.\n3)\tAubert, Grundz\u00fcge der physiolog. Optik, \u00a7 17. S. 457\u2014461.\n4)\tHermann, Handbuch der Physiologie. Bd. III. S. 65ff.\n31*","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nAugust Kirschmann.\ndie wir bei ihrer geringen Abweichung als zusammenfallend annehmen wollen, die durch d und k gehende punktirte Linie an gibt, sei f\u00fcr eine dem Kreise A entsprechende Entfernung accommodirt. Es ist f\u00fcr die folgenden Betrachtungen irrelevant, welche Gestalt\n\u25a0////,\nFig. J.\ndie Fl\u00e4chen einheitlicher Accommodation (d. h. die Fl\u00e4chen im Raum, f\u00fcr welche die ganze Netzhaut auf einmal accommodirt ist) besitzen. Wir haben, lediglich der Einfachheit der Darstellung wegen, bei unserer Figur angenommen, dass dieselben Kugelfl\u00e4chen seien, deren Mittelpunkt im Knotenpunkt xles Auges liege. Ist das Auge f\u00fcr","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des imlirecteu Sehens etc.\n451\ndie Sph\u00e4re A accommodirt, so werden Strahlen, die von dem Objectpunkte a ausgehen, so gebrochen, dass sie in dem Punkte \u00ab der Netzhaut zu einem scharfen Bildpunkt Zusammentreffen. Dei geometrische Ort f\u00fcr die Bildpunkte aller anderen innerhalb desselben Richtungsstrahles gelegenen Objectpunkte ist nat\u00fcrlich dei Richtungsstrahl selber und seine Verl\u00e4ngerung, und zwar der ganze Verlauf dieser Linie mit Ausnahme des Punktes \u00ab. Dem Objectpunkte b, welcher dem Auge n\u00e4her gelegen als a, entspricht beispielsweise ein hinter der Netzhaut gelegener Bildpunkt \u00df\\ und da im gegebenen Fall die Eintritts\u00f6ffnung des Strahlenb\u00fcndels, die Pupille, seitlich und getrennt vom Richtungsstrahle liegt, so wild auch das auf der Netzhaut aufgefangene undeutliche Bild von b, ein Zerstreuungskreis in Form einer elliptischen Projection der Pupille, seitlich (in unserer Figur links) und getrennt von dem Punkte a liegen. Ein entfernterer Objectpunkt c dagegen hat einen vor der Netzhaut gelegenen Bildpunkt y. In diesem Punkte schneidet der von c ausgehende und durch die Pupille beschr\u00e4nkte Strahlenkegel den Richtungsstrahl (dem hier nat\u00fcrlich kein wirklicher Strahl entspricht) und tritt ganz und endg\u00fcltig auf die andere (in der Figur rechte) Seite desselben, so dass der von der Netzhaut aufgefangene, dem Objectpunkte c entsprechende Zcrstieuungskr eis ebenfalls seitlich und getrennt von \u00ab, und zwar dem Zerstreuungskreis von b gegen\u00fcber liegt. Den drei in einem Richtungsstrahle gelegenen Punkten a, b und c entsprechen somit drei r\u00e4umlich getrennte Projectionen auf der Netzhaut. Wir haben in unserer Figur den Fall angenommen, wo der durch die Pupille eindringende Strahlenkegel ganz au\u00dferhalb des Richtungsstrahles liegt. Geh\u00f6ren die Objectpunkte dagegen der Augenachse n\u00e4her gelegenen Theilen des Sehraumes an, und liegt der Richtungsstrahl nicht mehr au\u00dferhalb des durch die Pupille bedingten wirksamen Strahlenkegels, aber doch noch excentrisch zu demselben, so werden sich die Netz-hautprojectionen theilweise decken. Eine centrische Deckung der Zerstreuungskreise aber kann nur dann stattfinden, wenn sich die Objectpunkte in demjenigen Richtungsstrahle befinden, welcher durch den Mittelpunkt der Pupille geht, also in der Hauptvisirlinie. Mit anderen Worten: der geometrische Ort f\u00fcr die Mittelpunkte der Zerstreuungskreise aller in einem Richtungsstrahle gelegener Object-","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nAugust Kirschmann.\npunkte ist nur in dem einzigen Falle ein Punkt, wenn der Richtungsstrahl durch den Mittelpunkt der Pupille geht; in allen anderen F\u00e4llen ist er eine Linie, und zwar eine Strecke eines N etzhautmeridians.\nWas geschieht nun in dem in unserer Figur dargestellten Falle, wenn unter Constanz aller \u00fcbrigen Umst\u00e4nde die Accommodation ge\u00e4ndert wird? Wird das Auge beispielsweise auf die Accommo-dationssph\u00e4re C eingestellt, so f\u00e4llt der Bildpunkt von c in den Punkt a, und die Zerstreuungskreise von a und b kommen beide links von a zu liegen. Bei der Verlegung der Accommodations-fl\u00e4che in die Entfernung B dagegen wird ein scharfes Netzhautbild von i in \u00ab entworfen, w\u00e4hrend die den Punkten a und c entsprechenden Zerstreuungskreise beide rechts von a liegen. Man sieht somit : Wenn bei unver\u00e4nderter Lage und Fixation das Auge seinen Accommodationszustand \u00e4ndert, so tritt eine Verschiebung der Bilder bez. Zerstreuungskreise aller indirect gesehenen Punkte ein, und zwar entfernen sich dieselben vom Netzhautcentrum beim Fernsehen und n\u00e4hern sich demselben bei der Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he. Da die Richtung, in welcher wir die Dinge sehen, von der Lage der Bilder auf der Netzhaut abh\u00e4ngig ist, so muss der bei der Accommodations\u00e4nderung stattfindenden Verschiebung der Bilder und Zerstreuungskreise eine scheinbare Ortsver\u00e4nderung der gesehenen Punkte entsprechen. Diese letztere kann man bei aufmerksamer Beobachtung auch ganz deutlich wahrnehmen. Hier nur ein Beispiel : Die den Rand eines in der Mitte des Sehfeldes gelegenen Gegenstandes bildenden Objectpunkte entwerfen ihre Bildpunkte resp. Zerstreuungskreise auf mehr oder minder excentrische Netzhautstellen. Verlegt nun das Auge den Blickpunkt in gr\u00f6\u00dfere Ferne, so m\u00fcssen nach den obigen Darlegungen die Projectionen jener Objectpunkte weiter aus einander liegen, d. h. der (im \u00fcbrigen undeutlich gesehene) Gegenstand wird gr\u00f6\u00dfer erscheinen. Umgekehrt m\u00fcssen bei der Verlegung der Accommodationssph\u00e4re in gr\u00f6\u00dfere N\u00e4he die Netzhautbilder der Randpunkte sich dem Netz-hautcentrum n\u00e4hern ; sie treten enger zusammen und der Gegenstand muss kleiner erscheinen. Dies findet sich in der Erfahrung thats\u00e4chlich auch best\u00e4tigt; denn es ist bekannt, dass bei der Accommodation f\u00fcr die Ferne die in der N\u00e4he befindlichen, un-","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte!) Sehens etc.\n453\ndeutlich gesehenen Gegenst\u00e4nde etwas vergr\u00f6\u00dfert erscheinen, w\u00e4hrend bei der Einstellung des Auges f\u00fcr die N\u00e4he die entfernten Gegenst\u00e4nde etwas kleiner zu werden scheinen. Dass nahe vor das Auge gehaltene Gegenst\u00e4nde durch ein enges Loch in einem Schirme betrachtet sehr stark vergr\u00f6\u00dfert erscheinen1), beruht ganz auf denselben Ursachen; nur ist hier die nat\u00fcrliche Pupille des Auges durch eine k\u00fcnstliche ersetzt, die sehr viel enger und betr\u00e4chtlich weiter vom Knotenpunkt des Auges entfernt ist, weshalb der Effect der excentrischen Lage des zur Wirkung kommenden Strahlenb\u00fcndels noch viel \u00fcberraschender ausf\u00e4llt.\nAus unserer Figur ist ferner leicht zu ersehen, dass bei jeder Ann\u00e4herung des in Frage kommenden Richtungsstrahles an die Gesichtslinie, also bei Verkleinerung des Winkels fhc ein Zusammenr\u00fccken der Netzhautprojectionen von a, b und c unter einander stattfinden muss, w\u00e4hrend dieselben beim Wachsen des genannten Winkels aus einander treten werden. Mit andern Worten : Wenn das Auge, ohne seinen Ort im Raum und seinen Accommo-dationszustand zu \u00e4ndern, sich um seinen Mittelpunkt dreht, so findet nicht blo\u00df eine Ortsverschiebung des Gesammtbildes auf der Netzhaut, sondern auch eine, wenn auch geringe, Ver\u00e4nderung der relativen Lage der einzelnen Theile des Bildes zu einander statt. Auf Grund der Relativit\u00e4t der Bewegung hat nat\u00fcrlich eine entsprechende Bewegung des ganzen Sehraumes denselben Erfolg wie die Drehung des Auges; und was f\u00fcr den ganzen Sehraum gilt, das muss auch hier, wie leicht ersichtlich, f\u00fcr jeden Tiefenausdehnung besitzenden Theil desselben gelten. D. h. wenn sich ein Gegenstand, dessen f\u00fcr das Auge sichtbare Oberfl\u00e4che nicht in einer und derselben Accommodationssph\u00e4re liegt, unter vollst\u00e4ndiger Erhaltung der r\u00e4umlichen Beziehungen seiner Theile zu einander und zu dem Drehpunkt des Auges fortbewegt, so bleibt sein Bild auf der Netzhaut sich nicht congruent, sondern es erleidet gewisse Aenderungen. Diese Aenderungen sind durch die Verschiebungen der Zerstreuungskreise der indirect gesehenen, in verschiedenen Entfernungen vom Auge befindlichen Punkte bedingt.\n1) Helmholtz, Physiolog. Optik. 2. Aufl. S. 119.","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nAugust Kirschmaun.\nWir haben in der vorstehenden Darstellung drei einem Rich -tungsstrahle angeh\u00f6rende Punkte betrachtet, weil sich an ihnen die Verh\u00e4ltnisse am einfachsten geometrisch demonstriren lie\u00dfen. Der Einfachheit halber haben wir ferner von der Ber\u00fccksichtigung der vor der Pupille gelegenen brechenden Medien des Auges, sowie der Existenz zweier Knotenpunkte anstatt eines mittleren, Abstand genommen, da die Einf\u00fchrung dieser die Darstellung complicirender Factoren an dem aufgezeigten Thathestand nichts Wesentliches zu \u00e4ndern vermag. Nun haben aber die Richtungsstrahlen, da sie nur f\u00fcr Objectpunkte in der jeweiligen Accommodationsfl\u00e4che den Ort der Netzhautprojection bestimmen, f\u00fcr die Ausmessung des Sehfeldes nur eine beschr\u00e4nkte Bedeutung. Gem\u00e4\u00df der Wundt-schen Theorie der complexen Localzeichen sind vielmehr zwei andere Punkte von gr\u00f6\u00dferer Wichtigkeit: der Drehpunkt des Auges und der Mittelpunkt der Pupille, von welchen ersterer in constanter Beziehung zu den intensiven, letzterer aber zu den qualitativen Localzeichen steht.\nAlles, was an der Hand der Fig. 1 f\u00fcr die einem Richtungsstrahle angeh\u00f6renden Punkte dargethan wurde, gilt selbstverst\u00e4ndlich auch f\u00fcr Objectpunkte, die in irgend einer anderen die Haupt-visirlinie schneidenden Geraden liegen, z. B. in der durch den Drehpunkt des Auges gehenden.\nIn Figur 2 ist d der Drehpunkt des Auges und m der Mittelpunkt der Pupille. Nehmen wir (aus sp\u00e4ter zu er\u00f6rternden Gr\u00fcnden) die Oeffnung der Pupille als sehr klein, nahezu punktf\u00f6rmig an, so m\u00fcssen sich die mit m in einer geraden Linie liegenden Punkte \u00ab, b und c, da das von ihnen ins Auge gelangende Licht in einen einzigen Strahl zusammenf\u00e4llt, auf einen und denselben Netzhautpunkt projiciren, in unserm Falle auf den Punkt xJ). Die drei Punkte a, b und c haben somit in unserem Falle dasselbe\n1) Um dem leicht zu begehenden Irrthume vorzubeugen, als ob der Punkt x auch der optische Bildpunkt der drei Objectpunkte sein m\u00fcsse, habe ich in der Figur auch den Gang der Kichtungslinien punktirt angegeben, so dass man leicht erkennt, dass die den Objectpunkten a, b und c zugeh\u00f6renden conjugirten Punkte in a', b' und c' liegen, w\u00e4hrend in dem Punkte x nur die auf eine sehr geringe Gr\u00f6\u00dfe reducirten Zerstreuungskreise zusammenfallen. Siehe auch Wundt, Physiol. Psychol. IL Bd. S. 106 und Helmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 127.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n455\nqualitative Localzeichen. Es kann ihnen aber nicht auch das gleiche intensive Localzeichen znkommen, denn das Auge muss, um diese Punkte nach dem Fixationspunkt \u00fcberzuf\u00fchren, Be-wegungen von sehr verschiedenem Winkelwerthe ausf\u00fchreu, deren Gr\u00f6\u00dfe den aus der Figur zu ersehenden Winkeln mda, mdb und m d c entspricht. Den Unterschied zwischen dem Gesichtswinkel (d. h. dem Richtungsunterschied zweier Visirlinien) und dem\nDrehungswinkel kann man auch die \u00bbParallaxe des indirecten Sehens\u00ab nennen, eine ganz passende Bezeichnung, die \u00fcbrigens in \u00e4hnlicher Form schon von Listing und Helmholtz angewandt wurde. Listing1) versteht jedoch unter \u00bbParallaxe zwischen dem scheinbaren Ort der Objecte im directen und indirecten Sehen\u00ab den Unterschied zwischen dem Drehungswinkel und dem durch die von den betreffenden Punkten nach dem Knotenpunkt des Auges gezogenen Linien, also die Richtungsstrahlen, gebildeten Winkel.\n1) Listing, Beitr\u00e4ge zur physiol. Optik. 1845. S. 14\u201416 (ich citire hier nach Helmholtz, da mir das Listing\u2019sche Buch nicht zur Hand ist).","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nAugust Kirschrminn.\nHelmholtz1) dagegen schl\u00e4gt in einer l\u00e4ngeren Besprechung dieses Gegenstandes die Benutzung des Gesichtswinkels vor, spricht aber der Parallaxe jede weitere Bedeutung ab und zwar aus Gr\u00fcnden, deren Widerlegung uns an anderer Stelle besch\u00e4ftigen wird. Zu einem und demselben qualitativen Localzeichen k\u00f6nnen somit sehr verschiedene intensive Localzeichen geh\u00f6ren, je nachdem der in Frage kommende Objectpunkt n\u00e4her oder ferner liegt; und umgekehrt kann dasselbe intensive Localzeichen verschiedenen qualitativen zugeordnet sein. Alle Punkte der Linie de in Fig. 2 haben beispielsweise dasselbe intensive Localzeichen, w\u00e4hrend sie dagegen sehr verschiedene qualitative haben m\u00fcssen, da ihre Bilder auf verschiedene Netzhautstellen fallen.\nDie Zuordnung der intensiven und qualitativen Localzeichen zu einander ist somit eine innerhalb gewisser Grenzen wechselnde. Aber die Variabilit\u00e4t dieser Zuordnung ist keine gesetzlose, sondern sie steht in ganz gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehung zur Tiefenausdehmmg. Je einer Combination eines intensiven und eines qualitativen Localzeichens entspricht nur ein Punkt im dreidimensionalen Sehraume, und umgekehrt, ja einem Punkte im Kaum correspondirt bei gegebener Stellung und Accommodation des Auges eine einzige, ganz bestimmte Combination der Localzeichen. Wir sehen somit, dass der wechselnden Localzeichen-Zuordnung im Doppelauge, wie sie von Wundt eingehend dargelegt ist2), beim monocularen Sehen ein \u00e4hnlicher Vorgang entspricht, der sich hier nur innerhalb weit bescheidenerer Grenzen h\u00e4lt. Wenn man will, kann man den Wechsel in der Zuordnung der quantitativen und qualitativen Localzeichen als ein drittes Localzeichensystem ansehen, dessen Function an die Tiefendimension gebunden ist. Es war daher eben so berechtigt als weitschauend, wenn Wundt den urspr\u00fcnglich f\u00fcr seine Theorie gew\u00e4hlten Terminus der \u00bbdoppelten\u00ab sp\u00e4ter durch den der \u00bbcom-plexen\u00ab Localzeichen ersetzte. Die Incongruenz der beiden f\u00fcr die Ausmessung des Sehraumes ma\u00dfgebenden Gr\u00f6\u00dfen, des Gesichtswinkels (quantitative Localzeichen) und des Drehungswinkels (intensive Localzeichen), sowie die damit zusammenh\u00e4ngenden relativen\n1)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 1. Aufl. S. 585f.\n2)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. IL Bd. S. 164 und 218ff.","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte\u00bb Sehens etc,\n457\n\u00fcrtsver\u00e4nderungen der Netzhautbilder bei der Accommodations-\u00e4nderung, der Drehung des Auges oder den derselben \u00e4quivalenten Bewegungen der Objecte ist eine unumg\u00e4ngliche Eigenschaft eines jeden nach dem Princip der Dunkelkammer gebauten Auges 1 :. Sie ist eine specifische Eigenschaft des indirecten Sehens, und ihr Einfluss nimmt mit der Ann\u00e4herung an das Netzhautcentrum ab und erreicht in diesem Punkte den Werth Null. Es musste nun wunderlich zugehen, wenn in einem Organ, welches, wie das Auge des Menschen und der h\u00f6heren Wirbelthiere, sowohl als Unterschei-dungs- wie als Bewegungsapparat ein Pr\u00e4cisionsinstrument allerersten Ranges darstellt, die aufgef\u00fchrten optisch unvermeidlichen Eigenschaften, die \u00fcberdies einen ganz gesetzm\u00e4\u00dfigen Gang einhalten, nur als \u00bbUebelst\u00e4nde\u00ab bestehen sollten. Es ist vielmehr mit Sicherheit anzunehmen, dass der Gesichtssinn die erw\u00e4hnten, in gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehung zur Tiefendimension stehenden Abweichungen als Daten zur Gewinnung einer Tiefenwahrnehmung verwendet, so dass das monoculare Sehen in dieser Hinsicht nicht lediglich auf die die Accommodations\u00e4nderungen begleitenden Muskel-empfindu$igen angewiesen ist.\nDass das monoculare Sehen in hohem Grade einer Tiefenwahrnehmung bedarf, wird gew\u00f6hnlich \u00fcbersehen, weil man nicht beachtet, dass in gewissen Theilen des Gesichtsfeldes, und zwar gerade in solchen, die f\u00fcr unsere Bewegungen und Hantierungen besonders wichtig sind, nur ein\u00e4ugig gesehen wird. Ich sitze beispielsweise an meinem Schreibtisch, halte mit der linken Hand einen Bogen Briefpapier fest, w\u00e4hrend die rechte schreibend die Feder f\u00fchrt und die Augen (ohne Brille) sich in einer Entfernung von 25\u201430 cm von der Mitte des Papiers befinden. Hierbei wird die linke Hand nur vom linken Auge, die rechte gr\u00f6\u00dftentheils nur vom rechten Auge gesehen. Nur die Fingerspitzen der rechten Hand befinden sich im gemeinsamen Gesichtsfeld, und wenn ich in der N\u00e4he des unteren rechten Endes des Bogens angelangt bin, ist selbst dies nicht mehr der Fall. Dabei ist aber die Tiefen-\n1) Die einzige Ausnahme w\u00fcrde der Fall bilden, wo der Drehpunkt des Auges in die Ebene der Pupille fiele; ich wei\u00df nicht, ob in irgend einem Thierauge eine Ann\u00e4herung an diese M\u00f6glichkeit existirt.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nAugust Kirschmann.\nWahrnehmung in Bezug auf diese indirect und ein\u00e4ugig gesehenen Gegenst\u00e4nde nicht allein vorhanden, sondern sogar so lebhaft, dass ich, falls ich mich nicht durch Schlie\u00dfen des rechten oder linken Auges davon \u00fcberzeugen k\u00f6nnte, gar nicht glauben w\u00fcrde, dass nur monocnlares Sehen vorliegt.\nWenn man eine Projection des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes auf eine senkrecht zur mittleren Sehrichtung gelegte Ebene entwirft, so erh\u00e4lt man eine mit der Figur 3 mehr oder minder \u00fcbereinstimmende Zeichnung1). Nur der mittlere geschlossene Theil\n1) Die Figur stimmt ziemlich mit der von Helmholtz (Physiol. Optik. S. 484 (627]) gegebenen Darstellung des gemeinschaftlichen Sehfeldes \u00fcberein; ich verstehe jedoch nicht, wie er die monocularen Gesichtsfelder, trotzdem er auf eine Ebene projicirt, auch an der Au\u00dfenseite geschlossen darstellen kann. Ich selber sehe noch Gegenst\u00e4nde, die sich in einer Winkelentfernung von nahezu 100\u00b0 vom Fixationspunkt befinden. Daraus geht hervor, dass auch Strahlen, die senkrecht zur Augenachse oder gar unter einem spitzen Winkel zu","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte\u00bb Sehens etc.\n459\nA in der Figur) ist gemeinsames Gesichtsfeld, bei dessen Begrenzungslinien die mit a bezeichnete Stelle den Augenbrauen, i der Nasenwurzel, c dem Nasenbein, d der Nasenspitze, e den Nasen-tliigeln und f den Schnurrbarthaaren entspricht. Die \u00e4u\u00dfere, in der Figur mit B bezeichnten Felder sind die sich nicht deckenden Theile der monocularen Sehfelder, die in der Projection auf eine Ebene sich nach au\u00dfen nat\u00fcrlich unbegrenzt darstellen m\u00fcssen, da das gesammte Gesichtsfeld einen Winkelwerth von \u00fcber 180\u00b0 besitzt. Die Stelle g entspricht der Wange. Die mit C bezeichnten Stellen geh\u00f6ren weder zum monocularen noch zum binocularen Gesichtsfeld.\nDie Form des binocularen Gesichtsfeldes ist \u00fcbrigens keineswegs constant; sie \u00e4ndert sich vielmehr mit jeder Ver\u00e4nderung des zwischen den beiden Augenaxen bestehenden Richtungsunterschiedes. \u2022Je gr\u00f6\u00dfer die Convergenz der beiden Hauptvisirlinien, desto mehr r\u00fccken die Grenzen des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes in horizontaler Richtung zusammen. F\u00fcr den oberen, weiteren Theil will das zwar nicht viel bedeuten ; der untere durch die Nase eingeengte Theil dagegen wird dabei immer schm\u00e4ler und verschwindet endlich ganz, wenn der Schnittpunkt der Hauptvisirlinien in dem Punkte angelangt ist, wo die von den Mittelpunkten der Pupillen aus an die, die sogenannte Nasenspitze begrenzende, krumme Fl\u00e4che gelegten Tangenten sich schneiden1). Ich habe durch einige rohere Messungen f\u00fcr verschiedene Convergenzstellungen die Winkelwerthe\nderselben, d. h. von hinten, das Auge treffen, von der Hornhaut noch so gebrochen werden, dass sie durch die Pupille gehen, eine Thatsache, die Helmholtz an anderer Stelle (Physiol. Optik, S. 67 der deutschen, S. 89 der franz\u00f6si-when Ausgabe, welche letztere mir hier nur zur Hand ist) zuzugeben scheint. Auch die von Aubert (Grundz\u00fcge der physiologischen Optik. S. 609) erw\u00e4hnte Bestimmung der Sehfelder von F\u00f6rster und M\u00f6ser begeht denselben Fehler. Htwas anderes ist es nat\u00fcrlich mit dem binocularen und monocularen Blickfeld; indessen auch das monoculare Blickfeld ist in den Darstellungen von Hering (Binoculares Sehen. S. 43; siehe auch Aubert, Grundz\u00fcge der physiologischen Optik, S. 664) viel zu beschr\u00e4nkt angenommen.\n1) Bei mir liegt der Punkt etwa 2 bis 2Va cm vor der Nasenspitze, und sein Abstand von der Verbindungslinie der Augenmittelpunkte betr\u00e4gt etwa 8 cm. Meine Nase h\u00e4lt sich \u00fcbrigens ziemlich in normalen Formen. Bei Leuten mit hervorragenderem und umfangreicherem Gesichtsvorsprung liegen die Verh\u00e4ltnisse noch ung\u00fcnstiger, besonders wenn gleichzeitig eine st\u00e4rkere Kurzsichtigkeit vorhanden ist.","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460\nAugust Kirschmann.\n(auf den Mittelpunkt der Verbindungslinie der Augendrehpunkte bezogen) des gemeinschaftlichen Sehfeldes zu ermitteln gesucht. Bei einer Einstellung der Augen auf einen 150 cm entfernten Punkt fand sich f\u00fcr den oberen Theil des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes an der der punktirten Linie x entsprechenden Stelle in der Horizontalen ein Winkelwerth von 105 his 110\u00b0, f\u00fcr den untern engeren Theil dagegen, etwa an der Stelle der Linie y, nur ein solcher von 44\u00b0. Bei st\u00e4rkerer Convergenz reducirte sich dieser Werth noch ganz erheblich, wie nachstehende kleine Tabelle zeigt.\nEntfernung des binocularen\tWinkehverth des untern Theils des\ngemeinsehaftl. Gesichtsfeldes : 44\u00b0\n33\u00b0\n27 o\nBlickpunkts : 150 cm 50 \u00bb\n25 \u00bb\n15\t\u00bb\nWenn man das Auge dreht, ohne den Kopf zu bewegen, so ver\u00e4ndert man zwar die Lage des Blickpunktes, nicht aher diejenige des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes. Man kann daher jeden Punkt des gemeinsamen Gesichtsfeldes fixiren und eventuell auch den Fixationspunkt \u00fcber die Grenzen dieses Bezirks hinaus verlegen, obgleich das letztere nur in den unteren Partien h\u00e4ufiger eintritt. Bei unseren wichtigsten Arbeiten liegt der Fixationspunkt meist in der Gegend, wo der weitere und der engere Theil des gemeinsamen Gesichtsfeldes in einander \u00fcbergehen, manchmal sogar ganz in dem engern Theil. Ich pflege beispielsweise beim Schreiben den Kopf m\u00e4\u00dfig zu senken, und der Fixationspunkt liegt dann in der N\u00e4he der Linie \u00ab/, etwa bei dem Punkte s. Ein Klavierspieler von mittlerer K\u00f6rpergr\u00f6\u00dfe und gerader Haltung, mag er nun auf die Noten oder auf die Tasten sehen, sieht h\u00f6chstens zwei Octaven binocular, und der Handwerker, der an seiner Hobelbank oder sonstigem Werktisch arbeitet, sieht nur beschr\u00e4nkte Theile seines Werkzeugs und des zu bearbeitenden St\u00fcckes mit beiden Augen zugleich. Wir sehen somit, dass der untere Theil des Gesammtgesichtsfeldes am binocularen Sehen nur einen beschr\u00e4nkten Antheil nimmt, w\u00e4hrend jedoch gerade dieser Theil die meisten und wichtigsten Objecte enth\u00e4lt, deren m\u00f6glichst genaue Localisirung in Richtung und Tiefen-","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n461\ndimension unerl\u00e4sslich ist. Nun findet sich aber, dass die Tiefenvorstellungen , welche durch die am binocularen Sehen nicht theilnehmenden Regionen des indirecten Sehens ausgel\u00f6st werden, gegen\u00fcber den entsprechend excentrisch gelegenen Stellen des beiden Augen gemeinschaftlichen Sehfeldes durchaus nicht minderwerthig sind. Bei unseren Bewegungen, wie heim Gehen, Laufen, Treppensteigen etc., bei den meisten Verrichtungen des Handwerkers und K\u00fcnstlers spielen die Tiefenwahrnehmungen des indirecten Sehens und speciell in der unteren H\u00e4lfte des Sehraumes sicherlich eine nicht zu untersch\u00e4tzende Rolle. Ein Unterschied zwischen dem gemeinsamen Gesichtsfeld und den nur ein\u00e4ugig gesehenen Partien wird aber dabei nicht bemerkt. Im Gegentheil, die Tiefenvorstellungen sind im untern Gesichtsfeld so vorz\u00fcglich einge\u00fcbt, dass wir nach einem im Gebiete des nur ein\u00e4ugigen Sehens befindlichen Gegenstand hier sicherer und fehlerfreier greifen als im oberen Sehraume selbst auf den beiden Augen gemeinsamen Partien. Wenn somit die Tiefenvorstellung des indirecten Sehens in jenen Gebieten des Gesichtsfeldes, welche am binocularen Sehen nicht theilnehmen, so wenig hinter derjenigen des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes zur\u00fccksteht, dass man keinen Unterschied zwischen beiden wahrnimmt, und dass die meisten Menschen gar nicht bemerken, ein wie geringer Theil des unteren Sehraumes unter der Herrschaft des Doppelauges steht, so m\u00fcssen f\u00fcr das monoculare Sehen Einrichtungen bestehen, welche einen gewissen Ersatz bilden f\u00fcr die hier fehlenden Doppelbilder. Diese ersatzleistenden Einrichtungen bestehen nach meiner Ansicht in der Verwerthung der in gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehung zur Tiefendimension stehenden Aender-ungen in der Configuration der Netzhautprojectionen, wie sie oben als unausbleibliche Begleiterscheinungen bei der Drehbewegung des Auges (resp. der Objecte) und bei Accommodations\u00e4nderungen nachgewiesen wurden. Diese gesetzm\u00e4\u00dfige Variabilit\u00e4t der Zuordnung zwischen qualitativen und intensiven Localzeichen ist eine speci-fische Function des indirecten Sehens und unterst\u00fctzt die mehr dem directen Sehen angeh\u00f6rende der Accommodations\u00e4nderung adh\u00e4rirende Muskelempfindung bei der Hervorrufung der mono-cularen Tiefenwahrnehmung.\nMan k\u00f6nnte nun den Einwand erheben, dass diese Function","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462\nAugust Kirsclmiann.\ndes indirecten Sehens, sofern sie wirklich best\u00e4nde, sich auch direct in der Wahrnehmung bemerkbar machen m\u00fcsse. Dem aber steht das Gesetz der Correspondenz von Apperception und Fixation1) entgegen. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass bei den unserm Gesichtssinne unterstellten Organen das Princip der qualitativen Arbeitstheilung bis ins Aeu\u00dferste durchgef\u00fchrt ist. Das indirecte Sehen hat nicht den Zweck, scharfe Bilder zu liefern, exacte Wahrnehmungen der Form und Gr\u00f6\u00dfe zu vermitteln, denn diese w\u00e4ren dem f\u00fcr die volle Betli\u00e4tigung der psychischen Leistungsf\u00e4higkeit so au\u00dferordentlich wichtigen Gesetz der Concentration der Aufmerksamkeit, dem Apperceptionsgesetz, geradezu hinderlich. Diejenige Aufgabe, welche das indirecte Sehen mit Pr\u00e4cision zu erf\u00fcllen hat, ist die Ausl\u00f6sung von nach Dichtung und Gr\u00f6\u00dfe scharf bestimmten Bewegungsimpulsen. Wir nehmen daher, da scharfe Gesichtswahrnehmung an die Fixation gebunden ist, die Licht-eindriicke des indirecten Sehens bei weitem nicht mit derjenigen Genauigkeit wahr, mit welcher sie von den optischen Apparaten des Auges geliefert2) und von dem Bewegungsmechanismus verarbeitet und verwerthet werden3). Man k\u00f6nnte mit demselben Rechte, mit dem man den obigen Einwurf erhebt, auch die Behauptung aufstellen, dass da, wo keine Doppelbilder wahrgenommen werden, auch keine vorhanden und wirksam seien. Nun haben aber die Menschen Jahrtausende von dem Vorhandensein der Doppelbilder und von der Verschiedenheit der Bilder in beiden Augen keine Ahnung gehabt; es w\u00e4re aber l\u00e4cherlich, daraus schlie\u00dfen zu wollen, dass ihnen auch die diesbez\u00fcglichen H\u00fclfsmittel der Tiefenwahrnehmung gefehlt haben. Die Verschiedenheit der Bilder des rechten und linken Auges, die Doppelbilder, werden, obwohl meist selbst nicht wahrgenommen, dennoch zum Zwecke anderer Wahrnehmungen vortrefflich verwerthet4). Ebenso werden auch beim monocularen Sehen die Verschiebungen der Zerstreuungskreise etc., die eine auf der physischen Beschaffenheit des optischen Apparates beruhende mathematische Nothwendigkeit sind, zwar nicht selber\nlj Wundt, Physiol. Psychol. II. Bd. S. 122.\n2)\tEbenda, S. 104; Helmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 257.\n3)\tWundt, Ebenda, S. 216.\n4)\tAV an dt, Vorlesungen \u00fcber Menschen- und Thierseele. 2. Aufl. S. 204.","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte\u00bb Sehens etc.\n463\ndirect wahrgenommen, wohl aber zur Erm\u00f6glichung einer mono-cularen Tiefenwahrnehmung von unserem Gesichtssinne systematisch ausgenutzt. Dass diese Ansicht, welche \u00fcbrigens in engem Zusammenhang mit dem steht, was Wundt \u00fcbeT die retinalen Localzeichen der indirect gesehenen Punkte1) bemerkt, die Annahme involvirt, dass motorische und sensorische Effecte der Lichteinwirkung an verschiedene Endorgane in der Retina gekn\u00fcpft sein k\u00f6nnen, spricht eher f\u00fcr als gegen die Theorie der complexen Localzeichen.\nEin weiterer Einwand xv\u00e4re der, dass die in Rede stehenden Verschiebungen der Bildpunkte resp. Zerstreuungskreise zwar vorhanden , aber so klein und geringf\u00fcgig seien, dass sie unm\u00f6glich die ihnen in obiger Darstellung zugedachte Rolle zu spielen im Stande seien. Dies ist auch die Ansicht, welche Helmholtz an der weiter oben citirten Stelle vertritt2). Er beweist an der Hand einer schematischen, die (im zweiten Theil der vorliegenden Arbeit zu er\u00f6rternden) Abweichungen der Zerstreuungskreise von der Kreisform und ihre unvollkommene Deckung nicht ber\u00fccksichtigenden Eigur mittelst Rechnung, dass bei kleinster Pupille (3 mm) das Bild eines unendlich entfernten Punktes, sofern derselbe nicht weiter als S\u00b040' vom Blickpunkt entfernt ist, nicht \u00fcber die Grenzen des Zerstreuungskreises eines in der Entfernung des Nahepunktes befindlichen Objectpunktes hinausfallen kann. Ebenso ergibt sich f\u00fcr eine Pupillenweite von 6 mm ein Excentricit\u00e4tswinkel von 17\u00b0 33', der nicht \u00fcberschritten werden darf, wenn die parallaktische Verschiebung des Fernpunktes nicht einen gr\u00f6\u00dferen Spielraum haben soll als der Zerstreuungskreis des Nahepunktes. Wenn man nun aber bedenkt, dass der Durchmesser eines Zerstreuungskreises auf der Netzhautmitte bei einer Pupillenweite von 4 mm nach den von Helmholtz citirten Angaben Listing\u2019s eine Gr\u00f6\u00dfe von 2/3 mm erreichen kann, so xvird man mir wohl beipflichten, wenn ich die von Helmholtz gegebene Berechnung geradezu als eine Best\u00e4tigung dessen ansehe, xvas ich \u00fcber die Betr\u00e4chtlichkeit der parallaktischen Verschiebungen des indirecten Sehens vorbringe. Eine Gr\u00f6\u00dfe von\nlj Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. IL Bd. S. 216.\n2) Helmholtz, Physiol. Optik. 1. Aufl. S. 586.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n32","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464\nAugust Kirscliinaiiu.\n2/, mm auf der Netzhaut entspricht ungef\u00e4hr 5 Vollmondbreiten im Sehfeld, und wenn nach der Helmholtz\u2019schen Berechnung die parallaktischen Verschiebungen des indirecten Sehens so viel betragen k\u00f6nnen bei den verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringen Winkeln von 82/3 resp. 17y20, so beweist das die Richtigkeit unserer Darlegungen, und zwar um so mehr, als Helmholtz den Spielraum der Variation der Pupillenweite (3 bis 6 mm) viel zu beschr\u00e4nkt annimmt1)- Von der Irrthiimlichkeit des obigen Einwandes kann man sich ferner auch \u00fcberzeugen, wenn man auf dem Wege der Rechnung oder der Construction die wirkliche Gr\u00f6\u00dfe der betreffenden Verschiebungen bestimmt. Ich habe in Fig. 4 den Durchschnitt eines menschlichen Auges in doppelter Gr\u00f6\u00dfe construirt und zwar unter Zugrundelegung der von Helmholtz angegebenen Ma\u00dfe2. Die begrenzenden Fl\u00e4chen des Auges sind dabei als Kugelfl\u00e4chen angenommen, und ferner ist die Thatsache, dass Augenachse und Hauptvisirlinie nicht genau zusammenfallen und dass die einzelnen Theile des optischen Apparates nicht ganz genau centrirt sind, unber\u00fccksichtigt gelassen. Diese beiden Vernachl\u00e4ssigungen haben auf Art und Gr\u00f6\u00dfe der darzustellenden Erscheinungen keinen wesentlichen Einfluss. In Figur 4 ist m der Mittelpunkt des Hornhautbildes der Pupille, m derjenige des Linsenbildes, k der vordere. k' der hintere Knotenpunkt und d der Drehpunkt des Auges. Ist das Auge f\u00fcr die N\u00e4he accommodirt, so giebt die Basis der kleinen schwarzen Dreiecke bei a und b den Durchmesser der Netzhautbezirke an, auf welchen sich die Mittelpunkte der Zerstreuungskreise aller einem und demselben Richtungsstrahle angeh\u00f6renden Objectpunkte vertheilen, und zwar bei a f\u00fcr einen Richtungsstrahl, der 30\u00b0, bei b f\u00fcr einen solchen, der 60\u00b0 vom Blickpunkt entfernt ist. Die geschw\u00e4rzten Winkel v und w repr\u00e4sentiren die Maximalwerthe der Variabilit\u00e4t der Drehungswinkel, welche zu den Punkten einer und derselben Visirlinie geh\u00f6ren, und zwar der Winkel \u00bb f\u00fcr eine Entfernung von 20\u00b0, der Winkel w f\u00fcr eine solche von 45\u00b0 von der Stelle des deutlichsten Sehens. 1). h. wenn das Auge die sich auf\n1)\tNach den von Aubert (Physiol. Optik. S. 454) angef\u00fchrten Untersuchungen Lambert\u2019s variirt der Pupillendurchmesser selbst bei ziemlich bescheidenem Wechsel der Lichtquantit\u00e4t zwischen 2,4 und 6,8 mm.\n2)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 9, 29 und 140.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n465\neinen und denselben Netzhautpunkt projicirenden Objectpunkte einer Yisirlinie von 20 bezw. 45\u00b0 Neigung zur Hauptvisirlinie durch Drehung nach dem Fixationspunkt \u00fcberf\u00fchren will, so hat es dazu Bewegungen auszuf\u00fchren, deren Gr\u00f6\u00dfe um das Ma\u00df der Winkel v bezw. w differiren kann. Der Winkel v betr\u00e4gt ungef\u00e4hr D/2, der\nWinkel w ann\u00e4hernd 2'/40; dementsprechen, aufs Gesichtsfeld \u00fcbertragen, Strecken von 3 bez. 4\u2018/2 Vollmondbreiten1). Da unsere Figur in doppelter nat\u00fcrlicher Gr\u00f6\u00dfe gezeichnet ist, s\u00f6 sind die\n1) Vergl. hierzu die Tabelle im Nachtrag.\n32*","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nAugust Kirschinaim.\nWerthe der Netzhautstrecken bei a und b in Wirklichkeit auf die H\u00e4lfte zu reduciren, w\u00e4hrend jedoch die Winkel v und w ihre Gr\u00f6\u00dfe behalten. Im Uebrigen bedarf die Figur, wie ich glaube, keiner n\u00e4heren Erl\u00e4uterung, da das zum Verst\u00e4ndniss derselben N\u00f6thige bereits bei der Behandlung von Fig. 1 und 2 dargelegt wurde. Die Schnittpunkte der rechtsseitigen Schenkel (s) der Winkel v und w mit ihren resp. Visirlinien k\u00f6nnen in der Figur nat\u00fcrlich nicht mehr zur Darstellung gelangen ; sie liegen in einer Entfernung von 30 cm von d, einem Durchschnittswerthe des Nahepunktes im normalen Auge (15 cm) entsprechend. Der andere Schenkel (s') ist nat\u00fcrlich der zugeh\u00f6rigen Visirlinie parallel, so dass die Winkel x und w) somit das Gebiet der Drehungsparallaxe repr\u00e4sentiren f\u00fcr alle zwischen dem Nahepunkt und unendlicher Ferne gelegenen Orte derselben Visirlinie. Es sei hier ferner noch darauf aufmerksam gemacht, dass zur Gewinnung der Netzhautstrecken bei a und b die den Fernpunkten der betreffenden Richtungsstrahlen con-jugirten Punkte (die Spitzen der schwarzen Dreiecke) nicht willk\u00fcrlich angenommen wurden, sondern dass auch hier die von Helmholtz angegebenen Ma\u00dfe f\u00fcr die Lage des hinteren Brennpunkts im Zustande der Accommodation f\u00fcr N\u00e4he und Ferne zu Grunde gelegt sind.\nWir haben dargethan, dass einem einzigen qualitativen Localzeichen intensive Localzeichen von so verschiedenem Werth der Bewegungsgr\u00f6\u00dfe zugeordnet sein k\u00f6nnen, dass die dadurch geschaffenen Variationsgebiete Winkelwerthe von mehreren Graden erreichen und im Sehfelde somit Fl\u00e4chen von 4 und mehr Vollmond-breiten repr\u00e4sentiren. Ich glaube, es wird in Anbetracht dieses Umstandes Niemand mehr behaupten wollen, die Incongruenz zwischen Gesichtswinkel und Drehungswinkel sei zu geringf\u00fcgig, um zur Geltung zu gelangen. Ja selbst f\u00fcr den Fall, dass sich bei der Construction der Fig. 4 oder in die Berechnung der zu Grunde gelegten Ma\u00dfzahlen so gro\u00dfe Fehler eingeschlichen h\u00e4tten, dass der wirkliche Werth der Abweichungen nur i/5 von dem construirten betr\u00fcge, so w\u00e4re dieses F\u00fcnftel immer noch reichlich gro\u00df genug, um Ber\u00fccksichtigung bei der Theorie der Tiefenwahrnehmung zu beanspruchen. Von der Erheblichkeit der Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse der dargelegten Erscheinungen kann man sich auch durch eine Modi-","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte\u00bb Sehens etc,\n467\nfication des von Helmholtz bei seiner Behandlung der Gr\u00f6\u00dfe der Zerstreuungskreise und der Farbenzerstreuung angef\u00fchrten Versuches1) \u00fcberzeugen. Was f\u00fcr Strahlen aus verschiedener Entfernung gilt, das muss auch f\u00fcr Strahlen gelten, die von einem Punkte ausgehen, aber verschiedene Brechbarkeit besitzen. Wenn man in einen schwarzen Carton ein feines Loch sticht und hinter dasselbe ein paar Bl\u00e4ttchen violettes Gelatinepapier klebt, welches rothes und blaues Licht durchl\u00e4sst, so sieht man bekanntlich, wenn man den Carton in geeignete Entfernung vom Auge vor den hellen Himmel, die Sonne oder eine Flamme h\u00e4lt, je nach dem Zustand der Accommodation, einen blauen Punkt mit rothem Saume oder umgekehrt. L\u00e4sst man aber das Bild des leuchtenden Punktes auf die peripherische Netzhaut fallen und accommoclirt f\u00fcr eine von dem Abstand des Cartons verschiedene Entfernung, so sieht man bei einiger Uebung im indirecten Sehen zwei benachbarte oder auch ganz getrennte Punkte, einen rothen und einen blauen. Man kann die Erscheinung deutlicher machen, wenn man ein zweites sehr enges Diaphragma direct vors Auge h\u00e4lt, oder, wie es Helmholtz unter Fixation des Punktes thut2), die Pupille durch seitliches Vorschieben eines Schirmes theilweise verdeckt. Durch beide Proceduren wird die wirkliche Pupille durch eine k\u00fcnstliche ersetzt, welche kleiner bezw. excentrischer ist als jene und au\u00dferdem einen gr\u00f6\u00dferen Abstand vom Knotenpunkt und vom Drehpunkt des Auges hat.\nWenn wir nunmehr unter Anlehnung an die von Wundt3) angewandte' Terminologie als \u00bbsecund\u00e4re\u00ab Hiilfsmittel der Tiefenvorstellung diejenigen H\u00fclfsmittel bezeichnen, welche auf einer \u00abeine gro\u00dfe Menge individueller Erfahrung voraussetzenden\u00ab4) Beurtheilung der Dinge beruhen, unter \u00bbprim\u00e4ren\u00ab dagegen diejenigen verstehen, welche ihre Grundlage direct in den Einrichtungen des Sinnesorgans haben, so lassen sich die prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der monocularen und binocularen Tiefenwahrnehmung wie folgt classificiren :\n1)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 158ff.\n2)\tEbenda, S. 161.\n3)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. Bd. S. 197ff.\n4)\tEbenda, S. 216.","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\nAugust Kirschmanu.\nPrim\u00e4re H\u00fclfsmittel der Tiefenvorstellung\nA.\nf\u00fcr das monoculare Sehen :\n1)\tDiedieAccommodationsth\u00e4tig-keit begleitenden Muskelempfindungen.\n2)\tDie Incongruenz zwischen Gesichtswinkel und Drehungswinkel und die darauf beruhenden relativen Lage\u00e4nderungen:\na)\tbei Ver\u00e4nderungen des Ac-commodationszustandes,\nb)\tbei der Drehung des Auges,\nc)\tbei den Bewegungen der Objecte.\nB.\nf\u00fcr das binoculare Sehen :\n1)\tDie der Convergenzth\u00e4tigkeit des Doppelauges entsprechenden Muskelempfindungen.\n2)\tDie Incongruenz der Bilder in beiden Augen und die darauf beruhenden Aenderungen in der Configuration der Doppelbilder :\na)\tbei Aenderungen der Con-vergenz,\nb)\tbei der gemeinschaftlichen Drehung des Doppelauges.\nc)\thei der Bewegung der Objecte.\nEs entspricht so jedem prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel des Doppelauges ein ebensolches beim monocularen Sehen ; und das ist nicht etwa nur eine zuf\u00e4llige Uebereinstimmung oder ein k\u00fcnstlich ausgekl\u00fcgeltes Schema, sondern das liegt in der Natur der Sache, da die M\u00f6glichkeiten der Bewegung f\u00fcr das Einzelauge dieselben sind wie f\u00fcr das Doppelauge. Diese Bewegungen k\u00f6nnen zweierlei Art sein, n\u00e4mlich :\nerstens : Lage\u00e4nderung der Theile des Organs zu einander, d. i. beim Einzelauge: Accommodations\u00e4nderung, beim Doppelauge: Convergenz\u00e4nderung; zweitens: Lage\u00e4nderung des Organs im Ganzen, d. i. beim monocularen Sehen: Drehung des Auges,\nbeim binocularen Sehen: Drehung des Doppelauges.\nDie in der oben aufgestellten Tabelle unter 1 aufgef\u00fchrten prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der Tiefenvorstellung, die an die Accommodations- und Convergenz-Aenderung gekn\u00fcpften Muskelempfindungen geh\u00f6ren vorzugsweise dem directen Sehen an; die unter 2 rubricirten dagegen sind Functionen des indirecten Sehens.","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte\u00ab Sehens etc.\n469\nEs ist nun eine eigenth\u00fcmliche Thatsache, dass die H\u00fclfs-mittel des Einzelauges bei der binocularen Tiefenwabrnehmung im selben Sinne wirken wie die des Doppelauges und dieses letztere damit bei der Erf\u00fcllung seiner Aufgabe wesentlich unterst\u00fctzen. Dass Accommodation und Convergenz im gleichen Sinne wirken, ist ohne weiteres klar. Dass aber auch die Incongruenz zwischen Gesichts- und Drehungswinkel das ihr entsprechende H\u00fclfsmittel des Doppelauges unterst\u00fctzt und verst\u00e4rkt, wollen wir noch in K\u00fcrze zeigen.\nIn Figur 5 sind pp die (der Einfachheit wegen punktf\u00f6rmig gedachten) Pupillen, hk die Knotenpunkte, ff die Punkte des deutlichsten Sehens. Bei der Einstellung der Convergenz und Accommodation auf den Punkt F fallen dessen Bildpunkte auf die Punkte//'und verschmelzen daher zu einem einfachen Bild. Die\nObjectpunkte A und B dagegen liefern Doppelbilder und zwar A gekreuzte und B gleichseitige1). Dem Lauf der Richtungsstrahlen gem\u00e4\u00df m\u00fcssten die Mittelpunkte der Zerstreuungskreise dieser Punkte\nFis. 5.\n1) Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. Bd. S. 178.","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nAugust Kirschmaiiri.\nin a1 und b1 liegen. Wegen der excentrischen Lage der Objectpunkte aber fallen die Netzhautprojectionen nach a und \u00df. (In der Figur sind, um Verwirrung zu vermeiden, nur f\u00fcr je eine Seite die Richtungsstrahlen und Visirlinien angegeben.) So wird durch die dargethanen Verh\u00e4ltnisse des indirecten Sehens im Einzelauge bei einem gegebenen Accommodationszustand f\u00fcr n\u00e4her gelegene Objectpunkte die Bildung der Doppelbilder beg\u00fcnstigt und der Grad ihres Auseinandertretens verst\u00e4rkt, w\u00e4hrend f\u00fcr entferntere Objecte eine Hemmung bezw. Verminderung des Effectes statttindet. In unserer Figur liegen die Netzhautprojectionen a weiter vom Centrum entfernt als die den zu A optisch conjugirten Punkten entsprechenden Netzhautstellen a1. F\u00fcr den entfernteren Punkt B dagegen tritt das Umgekehrte ein : die ihn repr\u00e4sentirende thats\u00e4chliche Netzhaut-projection \u00df liegt dem Centrum n\u00e4her als die durch Richtungsstrahl und conjugirten Punkt b bestimmte Netzhautstelle bK\nFerner: wenn das Doppelauge seinen Convergenzpunkt in gr\u00f6\u00dfere Ferne verlegt, so treten die Doppelbilder der nahe gelegenen Objecte weiter auseinander, w\u00e4hrend die der entfernteren Punkte ihren Abstand vom Fixationspunkt vermindern. Bei der Ann\u00e4herung des Convergenzpunktes tritt das Entgegengesetzte ein. Eine einfache Ueberlegung au der Hand unserer Figur belehrt aber, dass de. Effect der N\u00e4herung und Entfernung der Accommodationssph\u00e4re beim monocularen Sehen ganz im gleichen Sinne verl\u00e4uft, so dass auch in dieser Beziehung zwischen den prim\u00e4ren H\u00fclfsmitteln der Tiefenwahrnehmung im Einzel- und Doppelauge nicht allein kein Widerspruch besteht, sondern vielmehr eine Einrichtung der gegenseitigen Unterst\u00fctzung und Erg\u00e4nzung getroffen ist, deren specieller Werth f\u00fcr die Verschmelzung zu einfachen Bildern nicht untersch\u00e4tzt werden darf.\nAn dieser Stelle sei mir gestattet, noch zwei Einw\u00e4nden zu begegnen, die man geneigt sein wird, den obigen Ausf\u00fchrungen entgegenzuhalten. Wenn die dargethanen Verh\u00e4ltnisse des monocularen Sehens f\u00fcr die Tiefenvorstellung von so gro\u00dfer Wichtigkeit sind \u2014 so wird man urtheilen \u2014, so m\u00fcssten wir doch bei dem Betrachten einer Stereoskopie, wo jene Bedingungen f\u00fcr das Einzelauge nicht erf\u00fcllt sind, etwas Wesentliches vermissen. Darauf aber ist zu erwidern, dass mit H\u00fclfe der gebr\u00e4uchlichen zu stereo-","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecte\u00bb Sehens etc.\n471\nskopischen Zwecken verwandten photographischen Apparate und unter Anwendung des \u00fcblichen Prismenstereoskopes nur solche Bilder hergestellt und dem Doppelauge unterbreitet werden k\u00f6nnen, deren excentrischste Punkte einer Entfernung von 10 bis h\u00f6chstens 15\u00b0 vom Fixationspunkt entsprechen, so dass die ganzen Fl\u00e4chen in das gemeinschaftliche Gesichtsfeld fallen, wo die prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel des Einzelauges doch nur eine untergeordnete und unterst\u00fctzende Holle spielen. Uebrigens vermisst der aufmerksame Beobachter allerdings Verschiedenes beim Betrachten selbst der besten stereoskopischen Photographie. Zun\u00e4chst empfindet man es als einen ungewohnten Zustand, dass das Auge bei dem mit mannigfachen Convergenz\u00e4nderungen verkn\u00fcpften Umherblicken der Accommo-dations\u00e4nderung nicht bedarf. Der Zwang, hei den verschiedenen Oonvergenzstellungen der Augen die Accommodation ann\u00e4hernd constant zu halten, verursacht vielen Leuten, besonders solchen, die selten stereoskopische Bilder betrachten, die unangenehme Empfindung einer gro\u00dfen Anstrengung und raschen Erm\u00fcdung des Auges, \u00fcber deren Ursache sie sich dabei nicht klar zu sein brauchen. Weiter bemerkt man leicht, dass die plastische Wirkung eines stereoskopischen Bildes nicht so weit in \u2019die Tiefe reicht als die k\u00f6rperliche Wahrnehmung in der Natur. Das ist aber sehr klar: dor photographische Apparat kann zwar das Doppelauge imitiren, nicht aber den Accommodationsmechanismus. Die Doppelbilder allein k\u00f6nnen nat\u00fcrlich das nicht leisten, was hei der Beth\u00e4tigung des Gesichtssinnes den r\u00e4umlichen Objecten gegen\u00fcber die Doppelbilder im Verein mit den prim\u00e4ren H\u00fclfsmitteln der monocular en Tiefenwahrnehmung verm\u00f6gen. Uebrigens ist der Schluss, dass etwas nicht vorhanden sei, weil es nicht direct wahrgenommen wird, von vornherein abzuweisen. Sehr viele Menschen mit normaler Tiefenwahrnehmung sind nicht im Stande, ein wirklich stereoskopisches Bild von einer Pseudostereoskopie zu unterscheiden. Solche Pseudostereoskopien erh\u00e4lt man beispielsweise, wenn man zwei ganz gleiche Diapositive wie Stereoskopien, wom\u00f6glich etwas ungleich ausgeschnitten, neben einander setzt, durch Bemalen auf der B\u00fcckseite oder durch in einer kleinen Entfernung dahinter angebrachte farbige Blenden colorirt und dann unter ungleicher Beleuchtung (d. h. das rechte st\u00e4rker erhellt als das linke","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472\nAugust Kirschmaiin.\noder umgekehrt) und im durchfallenden Lichte mittelst des Stereoskops betrachtet. Au\u00dferdem kennt Jedermann die oft \u00fcberraschende Wirkung gro\u00dfer Rundgem\u00e4lde, hei welchen doch gar keine Bedingungen des stereoskopischen Sehens erf\u00fcllt sind.\nDer andere Einwand, der erhoben werden k\u00f6nnte, besteht in der Ansicht, dass die Doppelbilder nur in n\u00e4chster Umgebung des Fixationspunktes einen Werth h\u00e4tten, im \u00fcbrigen indirecten Sehen aber nur die schon ohnehin bedeutende Undeutlichkeit vergr\u00f6\u00dferten. Wo aber die Doppelbilder wirkungslos sind, werden die viel kleineren Abweichungen zwischen Gesichts- und Drehungswinkel erst recht nicht in Betracht kommen. Dieser Einwand ist eigentlich weiter oben schon abgewiesen worden mit der Constatirung der Thatsache. dass auch in peripherischen Theilen des nicht mehr gemeinschaftlichen unteren Gesichtsfeldes noch stereoskopisches Sehen stattfindet. Daneben sei aber noch darauf aufmerksam gemacht, dass die plastische Wirkung einer Stereoskopie nicht verschwindet, wenn man von beiden Bildern umfangreiche Partien an correspon-direnden Stellen verdeckt und bei dem Betrachten den Mittelpunkt des verdeckten Bezirks fixirt, so dass nur indirect gesehene Theile zur Geltung gelangen. Lege ich z. B. auf die beiden Theile eines stereoskopischen Stra\u00dfenbildes (es sind Rechtecke von 7 X 7*/2 cm; quadratische Papierst\u00fccke von 5 cm Seite, so habe ich beim Fixiren der Mittelpunkte dieser verdeckenden Quadrate und beim Verschmelzen der Bilder in den nicht verdeckten Theilen einen deutlichen stereoskopischen Eifect.\nZu der oben aufgestellten Tafel der prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der Tiefenvorstellung haben wir noch einige Worte der Erl\u00e4uterung hinzuzuf\u00fcgen. Es k\u00f6nnte befremden, dass wir unter 2 nicht das Bestehen der Parallaxe selbst als prim\u00e4res H\u00fclfsmittel auff\u00fchren, sondern die auf derselben beruhenden Aenderungen in der Configuration der Netzhautprojectionen, welche an die Ver\u00e4nderungen der r\u00e4umlichen Beziehungen zwischen dem Einzel- und Doppelauge und den Objecten gebunden sind. Dies aber geschah im Einklang mit der Wundt\u2019schen Lehre von der Bedeutung der Augenbewegungen f\u00fcr die Ausmessung des Sehfeldes1). Das v\u00f6llig ruhende\n1) Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. Bd. S. 124ff. und 215ff.","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n473\nDoppelauge, welches sich r\u00e4umlich unver\u00e4nderlichen Objecten gegen\u00fcber bef\u00e4nde, h\u00e4tte absolut keine Veranlassung, die Doppelbilder auf einen Gegenstand zu beziehen. Ebensowenig best\u00e4nde f\u00fcr ein in starrer Umgebung befindliches v\u00f6llig ruhendes Einzelauge der geringste Grund, das durch die Parallaxe zwischen Gesichts- und Drehungswinkel bedingte Nebeneinandersein von Punkten von dem Nebeneinandersein der Punkte einer ophthalmocentrischen Fl\u00e4che zu unterscheiden. Erst durch die Bewegungen des Auges (Accommodations- und Convergenz\u00e4nderungen nat\u00fcrlich eingeschlossen) bezw. der Objecte wird eine Handhabe gewonnen zur Unterscheidung der Doppelbilder von den Bildern doppelt vorhandener Gegenst\u00e4nde und des parallaktischen Nebeneinanderseins von dem fl\u00e4chenhaften der Netzhautprojectionen. Das auf die Bewegungen einge\u00fcbte Auge benutzt die gewonnenen intensiven Localzeichen dann auch im Zustande der Ruhe*), so dass selbst bei instantaner Beleuchtung durch den elektrischen Funken1 2) der stereoskopische Effect wenigstens zum Theil noch erreicht wird. Ob man diese, nur auf Grund vor-hergegangener Bewegungen m\u00f6gliche Benutzung der von der Parallaxe des indirecten Sehens und den Doppelbildern gelieferten Daten seitens des ruhenden Auges streng genommen noch als prim\u00e4res H\u00fclfsmittel der Tiefenvorstellung aufzufassen hat oder nicht, das ist eine ziemlich bedeutungslose Frage, wenn man bedenkt, dass das \u00bbruhende\u00ab Auge praktisch so gut wie gar nicht vorkommt3,.\nAuf unserer Tafel der prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel sind unter c auch die Bewegungen der Objecte aufgef\u00fchrt. Jede Bewegung eines Objectes kann in Bezug auf unsere Gesichtswahrnehmung in zwei Componenten zerlegt werden, eine sph\u00e4rische und eine polare, von denen selbstverst\u00e4ndlich jede auch den Werth Null annehmen kann. Die sph\u00e4rische, die Verschiebung innerhalb derselben Aceommo-dationssph\u00e4re, verursacht die Aenderung der Richtung, in der wir\n1)\tEbenda, S. 215, und Vorles. \u00fcber Menschen- und Thierseele. S. 206.\n2)\tDove, Monatsber. der Berl. Acad. 1841, Helmholtz, Physiol. Optik. S. 739 und C. du Bois-Reymond, Zeitschr. f. Psychol, und Physiol, d. Sinnesorgane Bd. II. Heft 6.\n3)\tC. du Bois-Reymond, a. a, O.","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nAugust Kirschmann.\ndas Object sehen, die polare Componente aber ist die Aenderung der Entfernung vom Auge. Jede Bewegung eines Objectes wird daher, wenn wir das weiter oben \u00fcber die Relativit\u00e4t zwischen Augen-und Objectbewegungen Gesagte in Betracht ziehen, eine parallaktische Verschiebung der Netzhautprojectionen zur Folge haben, und zwar auch dann, wenn eine der Bewegungscomponenten gleich Null ist. Der Fall, wo von einem bewegten Object und seiner ruhenden Umgebung nur solche Fl\u00e4chen sichtbar sind, welche in derselben Accommodationssph\u00e4re liegen, macht, wenn diese letztere eine Kugeloberfl\u00e4che ist, eine Ausnahme. Auch die sehr weit entfernten Gegenst\u00e4nde, wie die Himmelsk\u00f6rper, sehr entfernte hohe Berge u. s. w. nehmen an dem k\u00f6rperlichen Sehen keinen Antheil mehr, weshalb wir sie auch in der Anschauung trotz bessern Wissens in dieselbe Fl\u00e4che verlegen. Die Ortsver\u00e4nderungen des Auges bei der Fortbewegung des eigenen K\u00f6rpers oder bei der Drehung des Kopfes bilden nur einen speciellen Fall von Objectbewegung, da jede K\u00f6rperbewegung durch eine entsprechende Bewegung der Umgebung ersetzt gedacht werden kann. \u00dcbrigens darf hier nicht vergessen wrerden, dass sowohl die Bewegungen der Objecte als auch die Augenbewegungen (beispielsweise das Verfolgen der Begrenzungslinien und der f\u00fcr die Linearperspective im gegebenen Falle ma\u00dfgebenden Richtungen), welch letzteren Br\u00fccke sogar die Flauptbedeutung beilegt, auch als secund\u00e4re H\u00fclfsmittel der Tiefenvorstellung in Betracht kommen1).\nII.\nFragen wir uns jetzt, welchen Einfluss die Weite und Gestalt der Pupille auf die dargelegten Verh\u00e4ltnisse hat. Wir haben in Figur 4 und 5 schon die Pupille als ann\u00e4hernd punktf\u00f6rmig vorausgesetzt; dies geschah, um einen Fehler zu vermeiden, der in den gel\u00e4ufigen Darstellungen dieses Gegenstandes fast ausnahmslos begangen wird. Es handelt sich dabei um die Visirlinien und die Mitten der Zerstreuungskreise. Die sogen. Zerstreuungskreise sind\n1) Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. Bd. S. 200.","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des iiidirecten Sehens etc.\n475\nnur dann wirkliche Kreise, wenn sie centrisch um die Netzhautmitte zu liegen kommen; in allen anderen F\u00e4llen sind sie ellipsen\u00e4hnliche Projectionen der Pupille auf die von der Netzhaut gebildete krumme Fl\u00e4che, und ihre Mittelpunkte sind durchaus nicht immei die Projection des Pupillencentrums. In Fig. 6 sind die in Irage kommenden Verh\u00e4ltnisse veranschaulicht, und zwar der Deutlichkeit halber \u00fcbertrieben. Sind A und B zwei indirect gesehene Punkte, deren Verbindungslinie durch den Mittelpunkt des Hornhautbildes\nder Pupille geht, und ist das Auge f\u00fcr eine Entfernung accommo-dirt. welche einem zwischen A und B gelegenen Punkt entspricht, so fallen die zu A und B conjugirten Punkte nicht in die Fl\u00e4che der Netzhaut, sondern der von A hinter dieselbe, etwa nach a, der von B vor die Netzhaut nach \u00df. Jeder dieser Bildpunkte liegt nat\u00fcrlich in dem seinem Objectpunkte zugeh\u00f6rigen Richtungsstrahl. Durch die Gr\u00f6\u00dfe der Pupille ist die Ausdehnung der Zerstreuungskreise ad und bb' bestimmt, welch letztere, wie man sieht, sich keineswegs centrisch decken. Wohl aber decken sich die in beiden Zerstreuungskreisen excent risch gelegenen Projectionen des","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\nAugust Kirschmann.\nMittelpunktes der Pupille im Punkte ml. Diese Deckung ist von der Gr\u00f6\u00dfe der Pupillen\u00f6ffnung unabh\u00e4ngig; und daraus folgt, dass sich die Zerstreuungskieise der mit dem Pupillarcentrum in einer Geraden (Visirlinie) liegenden Objectpunkte um so vollst\u00e4ndiger decken, je kleiner die Pupille ist. Die von Helmholtz') \u00fcber die Deckung der Zerstreuungskreise und ihrer Mittelpunkte aufgestellten S\u00e4tze sind daher nur f\u00fcr die Hauptvisirlinie richtig. F\u00fcr das indirecte Sehen dagegen gelten sie nur unter der Voraussetzung einer unendlich kleinen Pupille. Der wirkliche Sachverhalt ist demnach der folgende: Im directen Sehen, d. h. in der Hauptvisirlinie, decken sich alle Zerstreuungskreise concentrisch. Im in directen Sehen dagegen w\u00e4chst die Abweichung von der centrischen Deckung mit der Ausdehnung der Pupille. Mit anderen Worten: Je enger die Pupille, desto sch\u00e4rfer und exacter werden f\u00fcr das indirecte Sehen die Visirrichtungen. Haben dieselben f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung eine Pedeutung, so wird diese bei m\u00f6glichst kleiner Pupille am besten zur Geltung kommen2).\nIn Bezug auf die Visirlinien begegnet man h\u00e4ufig einem anderen Irrthume, dessen Klarstellung mir an dieser Stelle angezeigt erscheint. Die von Helmholtz gegebene, weiter oben citirte Darstellung der die Visirlinien und Gesichtswinkel betreffenden Verh\u00e4ltnisse ist vollst\u00e4ndig correct, wenn man \u00fcberall statt \u00bbMittelpunkte der Zerstreuungskreise\u00ab Projectionen des Pupillencentrums setzt. Die Fassung, die Helmholtz seinem Satze \u00fcber den Gang eines nach dem Mittelpunkte des Hornhautbildes der Pupille gerichteten Strahles gibt, verleitet jedoch sehr leicht zu dem Irrthume, dass dieser\n1)\tPhysiol. Optik. 2. Aufl. S. 127.\n2)\tMan muss sich davor h\u00fcten, die Zerstreuungskreise und ihre Verschiebungen f\u00fcr so klein zu halten, dass man die er\u00f6rterten Raumverh\u00e4ltnisse vernachl\u00e4ssigen k\u00f6nne. Die Gr\u00f6\u00dfe des einem leuchtenden Punkte zugeh\u00f6rigen Zerstreuungskreises kann nach Listing (siehe Helmholtz, Physiol. Optik. S. 128) bis auf % mm steigen, was im Sehfelde einer Winkelgr\u00f6\u00dfe von \u00fcber 21/a\u00b0 entspricht. Die Verschiebung eines Punktes auf der Netzhaut um 0,004 mm hat im Sehfelde eine Verschiebung von 1 Bogenminute zur Folge, eine Gr\u00f6\u00dfe, die noch wahrgenommen werden kann (Wundt, Physiol. Psychol. 3. Aufl. II. Bd. S. 86). Dabei ist noch zu bedenken, dass die Verwerthung der Eindr\u00fccke f\u00fcr den Bewegungsmechanismus wahrscheinlich eine genauere ist, als bei der directen Wahrnehmung.","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n477\nStrahl in seiner ganzen Ausdehnung vom Objectpunkt bis zum Bildpunkt resp. zum Netzhautbild eine gerade Linie sei. (Helmholtz unterst\u00fctzt diesen Irrthum durch seine Figur 63 *) ; wenn der Knotenpunkt in der Figur doch einmal angebracht wurde, so h\u00e4tte auch die Bestimmung der optisch conjugirten Punkte mit H\u00fclfe der Richtungslinien geschehen m\u00fcssen.)\nBetrachten wir die Sachlage etwas genauer. Acceptiren wir zun\u00e4chst den Satz, dass jedes homocentrische Strahlenb\u00fcndel, welches in ein centrirtes System brechender Medien mit sph\u00e4rischen Oberfl\u00e4chen eintritt, auch als homocentrisches B\u00fcndel wieder aus-tritt, d. h. dass jedem Objectpunkt in gen\u00fcgender Entfernung vor dem System ein Bildpunkt hinter demselben conjugirt ist. Nun kann man von jedem Objectpunkte nach seinem Bildpunkte durch das System hindurch eine gerade Linie legen. Wenn sich diese Geraden alle in einem Punkte schnitten, so k\u00f6nnte man diesen Punkt den Knotenpunkt nennen. Doch gibt es bekanntlich einen solchen Punkt nicht; wohl aber gibt es in jedem centrirten System zwei Punkte, welche nach der Helmholtz\u2019schen Definition1 2) so gelegen sind, \u00bbdass jeder Strahl, welcher vor der Brechung durch den ersten geht, nach der Brechung durch den zweiten geht und dabei seiner ersten Richtung parallel bleibt\u00ab. Diese beiden in der Achse gelegenen Punkte hei\u00dfen die Knotenpunkte. Wie eine einfache Ueberlegung zeigt, muss die Gerade, welche Object- und Bildpunkt verbindet, die Achse zwischen den beiden Knotenpunkten schneiden. Diese Gerade aber ist der sog. Richtungsstrahl. Alle Richtungsstrahlen schneiden somit die optische Achse zwar nicht in einem Punkte, wohl aber innerhalb der zwischen den Knotenpunkten gelegenen Strecke, welche im menschlichen Auge 0,353 bis 0,399 mm lang ist3). Alle Richtungsstrahlen von Objectpunkten, welche gleiche Winkelentfernung vom Blickpunkt besitzen, schneiden die Achse in demselben Punkte, den wir den dieser Winkelentfernung zugeh\u00f6rigen mittleren Knotenpunkt nennen wollen. Jeder anderen Winkelentfernung\n1)\tPhysiol. Optik. 2. Aufl. S. 119.\n2)\tHelmholtz, Ebenda, S. 6S.\n3,' Ebenda, S. 140.","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nAugust Kirschmann.\nentspricht ein anderer mittlerer Knotenpunkt. Wenn wir in unseren fr\u00fcheren Auseinandersetzungen die Lageunterschiede der mittleren Knotenpunkte vernachl\u00e4ssigten, so geschah dies, wie hier ausdr\u00fccklich hervorgehoben werden muss, nicht, weil sie sehr klein sind, sondern weil sie auf die dargelegten Verh\u00e4ltnisse keinen \u00e4ndernden Einfluss auszu\u00fcben verm\u00f6gen. In Figur 1, welche wir allen Betrachtungen zu Grunde gelegt haben, ist es ganz gleichg\u00fcltig, oh k ein fester Knotenpunkt ist oder nicht; ja die Figur bleibt auch dann noch richtig, wenn es \u00fcberhaupt keinen Knotenpunkt gibt. Ist a der conjugirte Punkt von a, so ist die durch beide gelegte Gerade der Richtungsstrahl, und die optischen Bildpunkte anderer dieser Geraden angeh\u00f6renden Punkte m\u00fcssen ebenfalls in dieser Linie liegen (sofern wir das Gesetz der Homocentri-cit\u00e4t des ein- und austretenden Strahlenb\u00fcndels auf den dioptrischen Apparat des Auges anwenden d\u00fcrfen ; und dazu sind wir im vollsten Ma\u00dfe berechtigt nach den Erfahrungen \u00fcber die optische Sch\u00e4rfe der Netzhauthilder, die selbst in den peripherischsten Regionen sehr viel sch\u00e4rfer sind, als sie auf Grund der Vertheilung der empfindenden Elemente wahrgenommen werden k\u00f6nnen). Ob durch den Schnittpunkt k dieses Richtungsstrahles mit der Achse auch noch andere Richtungsstrahlen gehen oder nicht, hat f\u00fcr das Verhalten der Netzhautprojectionen von a, l und c keine Bedeutung.\nWir haben gesehen, dass die Gerade zwischen zwei conjugirten Punkten die Achse des Syst\u00e8mes zwischen den beiden Knotenpunkten schneiden muss. Ein Strahl, der vom Ohjectpunkt zum Bildpunkt gelangt, ohne den Raum zwischen den beiden Knotenpunkten zu passiven, kann daher unm\u00f6glich in seinem ganzen Verlauf eine gerade Linie bilden; er muss eine krumme oder eine gebrochene Linie darstellen. Ein solcher Strahl ist der durch das Centrum der Pupille gehende. Er wird an beiden Begrenzungsfl\u00e4chen der Hornhaut und an beiden Linsenfl\u00e4chen gebrochen und nimmt innerhalb der Linse, wegen der ungleichen Dichte der verschiedenen Schichten1) derselben, sogar einen gekr\u00fcmmten Verlauf. Man darf daher die mehrere Male ihre Richtung \u00e4ndernden , durch den Mittelpunkt der Pupille gehenden Strahlen\nlj Helmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 94.","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n479\nnicht in ihrem ganzen Verlauf als Visirlinien bezeichnen, sondern vom Objectpunkte aus nur so weit sie gerade sind, d. h. bis zur Hornhaut. Wenn man die Richtungen, die die Strahlen in der Luft haben m\u00fcssen, um nach ihrer Brechung in der Hornhaut durch die Mitte der wirklichen Pupille zu gehen, hinter der Hornhaut fortsetzt, so schneiden sich dieselben alle in einem Punkte, welcher aus Gr\u00fcnden, deren Er\u00f6rterung nicht hierher geh\u00f6rt, der Mittelpunkt des Hornhautbildes der Pupille genannt wird. Dieser Punkt ist somit der geometrische (virtuelle) Vereinigungspunkt der Visirlinien, gew\u00f6hnlich Kreuzungspunkt der Visirlinien genannt. Dieser letztere Ausdruck sollte jedoch vermieden werden, da er zu leicht die falsche Vorstellung erweckt, dass man die Visirlinien auch hinter jenem Punkte als gerade Linien fortsetzen d\u00fcrfe. Wir haben in unseren obigen Darlegungen sowohl das Hornhautbild, wie das Linsenbild der Pupille meist nicht ber\u00fccksichtigt, da die Einf\u00fchrung dieser Factoren die Darstellung erschwert h\u00e4tte, ohne an dem Wesen der Sache etwas zu \u00e4ndern1).\nDer Vereinigungspunkt der Visirlinien hat die Eigenschaft, dass alle Winkel, die in ihm ihren Scheitel haben, in constanter Beziehung zu den Bogen der Netzhautmeridiane stehen, d. h. jeder Visirlinie entspricht ein bestimmter Punkt der Netzhautoberfl\u00e4che und jedem Richtungsunterschied zwischen zwei Visirlinien ein nach Lage und Gr\u00f6\u00dfe eindeutig bestimmter Bogen eines Netzhautmeridians. Da aber die Richtung, in welcher wir die Dinge im Raume sehen, mit dem Orte der Netzhautbilder ihrer Lage nach gegeben nicht gemessen) ist, so kann man die Richtungsunterschiede der Visirlinie, die sogen. Seh- oder Gesichtswinkel, ebenso gut als Me\u00dfstab f\u00fcr die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe und gegenseitige Winkelentfernung der Objecte nehmen wie die Netzhautbogen. Praktisch wei\u00df das Bewusstsein nat\u00fcrlich weder von Gesichtswinkeln noch von\n1) Das Hornhautbild der Pupille ist f\u00fcr das Auge das, was man bei optischen Apparaten die Eintrittspupille des Systems zu nennen pflegt. Das Linsenbild dagegen ist nicht die Austrittspupille des ganzen Systems, sondern nur diejenige des vor dem Glask\u00f6rper liegenden Theils. Das Linsenbild liegt nach Listing 0,055 mm, nach Helmholtz 0,113 mm hinter, das Hornhautbild o,57S mm vor der wirklichen Pupille.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n33","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\tAugust Kirschmann.\nNetzhautbildern etwas bei der Beurtheilung der Gr\u00f6\u00dfe und Entfernung der Dinge.\nDass die Auffassung des scheinbaren Orts auf Grund der Gesichtswinkel mit der aus den Bewegungen des Auges resultirenden im Widerspruch steht, haben wir oben an der Hand der Figuren 2, 4 und 5 nachgewiesen. Diese Incongruenz zwischen Gesichts- und Drehungswinkel oder, was dasselbe ist, die auf den Vereinigungspunkt der Visirlinien und den Drehungspunkt des Auges bezogene Parallaxe des indirecten Sehens f\u00fchrt einerseits zur Hervorrufung bez. Verst\u00e4rkung gewisser optischer T\u00e4uschungen, anderseits aber, wie wir schon oben zeigten, zu einer gesetzm\u00e4\u00dfigen Variation der Zuordnung der qualitativen und intensiven Localzeichen. Dieser in gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehung zur Tiefendimension stehende Wechsel der Zuordnung aber dient unserem Gesichtsinne als H\u00fclfsmittel f\u00fcr die monculare Tiefenwahrnehmung. Wir wollen nun darzuthun versuchen, dass dieses H\u00fclfsmittel um so exacter functionirt, je kleiner die Pupillen\u00f6ffnung ist.\nWenn wir bei den durch Fig. 1 veranschaulichten Verh\u00e4ltnissen eine sehr kleine Pupille annehmen, so projiciren sich die Punkte h und c nahezu punktf\u00f6rmig und daher in allen F\u00e4llen getrennt von a zu beiden Seiten dieses Punktes auf die Netzhaut. Wenn das Auseinanderfallen dieser Projectionen als H\u00fclfsmittel zur Gewinnung einer Vorstellung \u00fcber die verschiedenen Tiefenentfernungen der Punkte a, b und c verwandt wird, so kann das nat\u00fcrlich am besten geschehen, wenn die Projectionen m\u00f6glichst scharf, d. h. punktf\u00f6rmig sind. Diese Bedingung ist aber, wie wir sahen, ann\u00e4hernd nur bei sehr kleiner Pupille erf\u00fcllt. Darum werden auch die bei der Aen-derung der Accommodation und hei der Drehung des Auges stattfindenden Verschiebungen in deT Configuration der Bildpunkte und Zerstreuungskreise die sch\u00e4rfsten Daten zur Gewinnung einer Tiefenvorstellung bei m\u00f6glichst geringer Ausdehnung der Pupille liefern. Ebenso werden im binocularen Sehen die Doppelbilder um so sch\u00e4rfer und ihre Ortsver\u00e4nderungen bei der Aenderung der Con-vergenz und bei der Drehung des Doppelauges um so distincter ausfallen, je kleiner die Pupille ist. Da nun aber die Verengerung der Pupille nothwendig eine Verminderung der Lichtst\u00e4rke der Netzhautbilder zur Folge hat, so sind der Mitwirkung der Pupillar-\n","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n481\ncontraction Grenzen geboten, und es ist die Aufgabe des Contractions-und Dilatationsmechanismus, in jedem gegebenen Falle diejenige Combination von Lichtst\u00e4rke und Sch\u00e4rfe der Bilder des indirecten Sehens zu w\u00e4hlen, welche von allen m\u00f6glichen Combinationen die zur Erreichung der jeweiligen Zwecke g\u00fcnstigste ist.\nDemnach lassen sich die Wirkungen der Verengerung der Pupille folgenderma\u00dfen zusammenfassen :\n1)\tAbschw\u00e4chung der Lichtst\u00e4rke,\n2)\tVerminderung der Ausdehnung der Zerstreuungskreise,\n3)\tVerminderung der TJngenauigkeit in der Deckung der derselben Visirlinie angeh\u00f6rigen Netzhautprojectionen; d. i. sch\u00e4rfere Auspr\u00e4gung der Visirlinien des indirecten Sehens.\n4)\tVerminderte M\u00f6glichkeit der 'partiellen Deckung der zu verschiedenen Visirlinien geh\u00f6renden Zerstreuungskreise.\n5)\tGr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit der bei Accommodations\u00e4nderungen und Drehungen des Auges stattfindenden Ver\u00e4nderungen in den gegenseitigen Lageverh\u00e4ltnissen der Netzhautprojectionen.\n6)\tGr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit der Doppelbilder und der bei Conver-genzbewegungen und Drehungen des Doppelauges stattfindenden Aenderungen der Lageverh\u00e4ltnisse derselben.\nAus diesen Wirkungen der Pupillarcontraction erkl\u00e4rt es sich dann auch, warum beim Nahesehen stets eine Verengerung, beim Fernsehen eine Erweiterung der Pupille eintritt1). Wenn es sich hierbei blo\u00df um Regulirung der Lichtzufuhr handelte, so w\u00e4re dieses Verhalten des Pupillarmechanismus ganz unverst\u00e4ndlich; ja, man sollte, da mit dem Fernsehen naturgem\u00e4\u00df meist eine Hebung der Gesichtslinie2) und damit in den meisten F\u00e4llen eine Vermehrung der Summe des in das Auge gelangenden Lichtes verbunden ist, eher das Gegentheil, also beim Nahesehen eine Erweiterung, beim Fernsehen eine Contraction, erwarten. Geschieht aber der Pupillarreflex im Interesse der Tiefenwahrnehmung, so erkl\u00e4ren sich die Dinge ganz ungezwungen. Beim Nahesehen ist ein deutliches stereoskopisches Sehen und damit eine m\u00f6glichst genaue Be-urtheilung der Entfernung, und zwar auch im indirecten Sehen,\n1)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 130.\n2)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. Bd. S. 141.","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482\nAugust Kirsclimann.\ngefordert. Je gr\u00f6\u00dfer die Genauigkeit in der Auffassung der Richtung und Entfernung indirect gesehener Gegenst\u00e4nde, desto exactcr auch die Ausf\u00fchrung unserer in irgend einem Zusammenhang mit diesen Gegenst\u00e4nden stehenden K\u00f6rperbewegungen. Die Leistungsf\u00e4higkeit der prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der monocularen und binocu-laren Tiefenwahrnehmung (erstere wegen der geringen Ausdehnung des unteren Theils des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes bei der Accommodation f\u00fcr gr\u00f6\u00dfere N\u00e4he besonders wichtig) wird aber durch Verengerung der Pupille, wie wir sahen, wesentlich verst\u00e4rkt. Auch die \u00fcbrigen, die Accommodation f\u00fcr die N\u00e4he begleitenden Aenderungen in der Beschaffenheit des dioptrischen Apparates5), wie das Verschieben des Pupillarrandes der Iris, st\u00e4rkere W\u00f6lbung der Linsenfl\u00e4chen, tragen, indem dadurch die Entfernung zwischen Knotenpunkt und Pupillarcentrum vergr\u00f6\u00dfert wird, dazu bei. die Daten f\u00fcr die Gewinnung einer monocularen Tiefenwahrnehmuug sch\u00e4rfer zu gestalten. Bei der Accommodation f\u00fcr die Ferne dagegen ist das Auge f\u00fcr alle hinter dem Fernpunkt gelegenen Gegenst\u00e4nde gleich scharf eingestellt, und die M\u00f6glichkeit eines stereoskopischen Sehens f\u00e4llt f\u00fcr die gr\u00f6\u00dferen Entfernungen weg. Von den Dingen, deren Betrachtung uns beim Fernsehen obliegt, gibt es keine Zerstreuungskreise, und die Parallaxe des indirecten Sehens ist ann\u00e4hernd gleich Null. Die uns n\u00e4her gelegenen Gegenst\u00e4nde des indirecten Sehens werden uns dabei am wenigsten st\u00f6ren, am wenigsten unsere Aufmerksamkeit ablenken, wenn sie hinsichtlich der Lageverh\u00e4ltnisse ihrer Doppelbilder und Zerstreungskreise m\u00f6glichst undeutlich gesehen werden. Dies aber wird erreicht durch Erweiterung der Pupille.\nAn dieser Stelle sei noch bemerkt, dass unsere Theorie mit anderen Zwecken dienenden experimentellen Untersuchungen anderer Autoren in bestem Einklang steht. So erkl\u00e4rt sich z. B. die von Aubert und F\u00f6rster gemachte Beobachtung, dass kleine Objecte auf der seitlichen Netzhaut deutlicher erkannt werden, als entsprechend entfernte gr\u00f6\u00dfere von gleichem Gesichtswinkel1 2), ganz einfach aus der gr\u00f6\u00dferen Deutlichkeit des indirecten Sehens, die beim\n1)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 131 fl'.\n2)\tAubert, Grundz\u00fcge der physiol. Optik. S. 587 f.","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indireoten Sehens etc.\n483\nNahesehen durch die Verengerung der Pupille hervorgerufen wird. (Aubert h\u00e4lt eine Verr\u00fcckung in der Lage der St\u00e4bchen und Zapfen, xveiche durch eine mit der Accommodation verbundene Verschiebung der Chorioidea herbeigef\u00fchrt xverde, f\u00fcr die Ursache der Erscheinung.) G\u00f6tz Martius1) hat in seiner Abhandlung \u00fcber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde und ihre Beziehung zur Gr\u00f6\u00dfe der Netzhautbilder experimentell dargethan, dass von zwei ungleich entfernten Gr\u00f6\u00dfen innerhalb einer Entfernung von 5y4 ni vom Auge die entferntere im Vergleich zur n\u00e4heren stets etwas untersch\u00e4tzt xx\u00fcrd. Dieses Resultat aber entspricht vollkommen den Consequenzen, die man aus den parallaktischen Verh\u00e4ltnissen des indirecten Sehens zu ziehen hat. Die Richtung, in xvelche wir die Objectpunkte verlegen, ist abh\u00e4ngig von der Gr\u00f6\u00dfe des Gesichtswinkels ; die scheinbare Distanz der Punkte aber von der Gr\u00f6\u00dfe des Drehungswinkels, welcher vom Auge zur\u00fcckgelegt werden muss, um die Punkte nach einander nach dem Blickpunkt \u00fcberzuf\u00fchren. Besteht nun zwischen diesen beiden Winkelgr\u00f6\u00dfen ein Widerspruch, so muss sich derselbe in einer ver\u00e4nderten Gr\u00f6\u00dfenauffassung \u00e4u\u00dfern. Nun ist aber dieser Widerspruch f\u00fcr Entfernungen, wie sie G\u00f6tz Martius seinen Experimenten zu Grunde legte, ein ganz betr\u00e4chtlicher. Ich habe f\u00fcr seine Hauptversuchsreihe2), in welcher die Entfernung des Normalstabes 50 cm, die des Vergleichsstabes 5,25 m und die L\u00e4nge des Normalstabes 20, bez. 50 und 100 cm betrug, die Gr\u00f6\u00dfe der Abweichung zwischen Gesichts- und Drehungswinkel trigonometrisch berechnet, xvobei die Distanz zwischen Drehpunkt des Auges und Hornhautbild der Pupille zu 9 mm angenommen wurde. Die nachstehende kleine Tabelle enth\u00e4lt die berechneten Winkelgr\u00f6\u00dfen.\nGr\u00f6\u00dfe des Normalstabes\tGr\u00f6\u00dfe der Abweichung zwischen Drehungswinkel und Gesichtswinkel a) f\u00fcr den Normalstab |b) f\u00fcr den Vergleichsstab\t\tDifferenz zwischen a) und b)\n20 cm\t0\u00b0 23' 24\"\t0\u00b00' 131/3\"\t0\u00b0 23' IO2/3\"\n50 cm\t0\u00b0 48' 48\"\t0\u00b0 0' 34\"\t0\u00b0 48' 14\"\n100 cm\t1\u00b0 2'26\"\t0\u00b01' 8\"\t1\u00b0 1' 18\"\n1)\tPhil. Stud. V, S. 601 ff.\n2)\tSiehe die oben citirte Arbeit, S. 607.","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484\nAugust Kirsehmann.\nMan sieht, die Differenzen der Parallaxen f\u00fcr Normal- und Vergleichsstab sinken in unserem Falle nur wenig unter i/-i\u00b0 (= eine Vollmondbreite im Sehfeld) und steigen anderseits bis \u00fcber 1\u00b0 (zwei Vollmondbreiten). Das sind aber Gr\u00f6\u00dfen, welche in einem Organ, das noch Ortsdifferenzen im Sehfelde von 1 Winkelminute1) und weniger2) wahrzunehmen im Stande ist, unm\u00f6glich unber\u00fccksichtigt bleiben k\u00f6nnen. Von Objecten, die denselben Drehungswinkel erfordern, hat aber das entferntere den kleineren Gesichtswinkel. Da nun der Gesichtswinkel, wenn auch nicht der einzige, so doch der wichtigste ma\u00dfgebende Factor bei der Gr\u00f6\u00dfenauffassung ist, so muss das entferntere Object nothwendig untersch\u00e4tzt werden. Die Resultate der Martius\u2019schen Versuche sind daher wenigstens zum Theil auf den Einfluss der Parallaxe des indirecten Sehens zur\u00fcckzuf\u00fchren.\nWenn nun unsere Theorie richtig ist, so haben die beiden Formen der Pupillarreaction, diejenige auf Ver\u00e4nderung der Lichtst\u00e4rke und die bei Aenderung der Accommodation und Convergenz, urspr\u00fcnglich nichts mit einander zu schaffen. Die erstere ist, soweit sie als Schutzmittel gegen \u00fcberfl\u00fcssige Lichtst\u00e4rke dient, ein angeborener Reflexmechanismus ; die letztere dagegen muss als eine auf dem Wege der individuellen Anpassung erw'orbene, \u00fcbrigens ebenfalls reflectorisch arbeitende Function des Gesichtssinnes betrachtet werden. Es ist daher zu vermuthen, dass die Reaction auf Convergenz und Accommodations\u00e4nderungen in der ersten Zeit der Bet\u00e4tigung des Gesichtssinnes (wo diese \u00c4nderungen nur zuf\u00e4llige sein k\u00f6nnen) noch nicht ausgebildet ist. Thats\u00e4chlich ist von Professor Raehlmann in Dorpat nachgewiesen worden3), dass bei Neugeborenen die Pupille sofort auf Ver\u00e4nderung der Lichtst\u00e4rke reagirt, dass aber in den ersten Lebenswochen, wo noch keine geregelte Beth\u00e4tigung d\u00e8s Bewegungsmechanismus des Auges stattfindet, die Verengerung der Pupille bei den zuf\u00e4llig vorkommenden Convergenzbewegungen nicht eintritt. Ebenso constatirt der ge-\n1)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. IL Bd. S. 100.\n2)\tAubert, Grundz\u00fcge d. physiol. Optik. S. 580. Tab. XXIII.\n3)\tE. Raehlmann, Physiol.-psychol. Studien \u00fcber die Entwickelung der Gesichtswahrnehmungen bei Kindern und bei operirten Blindgeborenen. Zeitschr. f\u00fcr Psychol, und Physiol, der Sinnesorgane. Bd. II. S. 61.","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n485\nnannte Autor, dass bei einem beiderseits mit Katarakt behafteten Blindgeborenen1), welcher jedoch Licht und Farben wahrnimmt, auch die Richtung, aus der sie kommen, ann\u00e4hernd erkennt, die Pupillen auf Licht, nicht aber auf Convergenzbewegungen reagiren.\nIII.\nHinsichtlich der Form der Pupille erhellt aus den obigen Betrachtungen, dass f\u00fcr ein Auge, welches der Aufgabe, neben der deutlichen Wahrnehmung der Gestalt der Gegenst\u00e4nde auch eine m\u00f6glichst brauchbare und genaue Tiefenvorstellung zu vermitteln, f\u00fcr alle Meridiane des Sehfeldes in gleicher Weise gerecht werden soll, unbedingt die kreisf\u00f6rmige Pupille geboten ist, da jede Abweichung von derselben Verzerrungen in der Configuration der Netzhautbilder und eine ungleichm\u00e4\u00dfige Verwerthung der prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der Tiefenwahrnehmung zur Folge haben muss. F\u00fcr ein Auge dagegen, welches aus irgend einem Grunde eine bestimmte Meridianrichtung bevorzugt, d. h. in ihr eine besonders genaue Tiefenauffassung verlangt, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen Meridiane in dieser Beziehung an Wichtigkeit zur\u00fccktreten, so dass f\u00fcr diese Richtungen kleine Ungenauigkeiten in der Wahrnehmung von Formen und Entfernungen mehr oder minder belanglos sind, ist der in allen hallen erhalten bleibende Kreis nicht mehr die g\u00fcnstigste Form der Pupille. F\u00fcr ein solches Auge w\u00fcrde, da die durch Verkleinerung der Pupille angestrebten Vortheile stets nur auf Kosten der Helligkeit erreicht werden k\u00f6nnen, eine kreisf\u00f6rmig contractile Pupille eine unn\u00fctze Lichtvergeudung bedeuten. Da Deutlichkeit der Doppelbilder, geringe Ausdehnung der Zerstreuungskreise und scharfe Distinction der Visirlinien in dem angenommenen Falle nur f\u00fcr eine Richtung besonderen Werth haben, f\u00fcr die \u00fcbrigen Meridiane dagegen mehr oder minder irrelevant sind, so werden die gestellten Anforderungen f\u00fcr jene besonders in Betracht kommende Richtung dann am genauesten und unter geringstem Plelligkeitsverlust erf\u00fcllt sein, wenn die Contraction der bei gr\u00f6\u00dfter Oeffnung kreisf\u00f6rmigen\n1) Zeitschr. f\u00fcr Psychol, und Physiol, der Sinnesorgane. Bd. II. S. 73.","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486\nAugust Kirschmann.\nPupille nur in der Richtung des bevorzugten Meridianes selbst erfolgt. Ist die bez\u00fcglich der Tiefenwahrnehmung bevorzugte Meridianebene die Horizontalebene des Auges, so ist eine senkrechte spaltf\u00f6rmige Pupille die leistungsf\u00e4higste.\nEin solches Auge, in welchem hinsichtlich der geforderten Leistungsf\u00e4higkeit der Sehsch\u00e4rfe und Tiefenwahrnehmung die verschiedenen Meridiane keineswegs gleichwerthig sind, ist nun das Auge der Katze. Die Katze erhascht ihre Beute im Sprunge: die Thiere, die sie jagt, sind meist hurtige kleine Wesen, die sich heim Laufen und Springen nur wenige Centimeter \u00fcber den Boden erheben1). Da sie beim Lauern den Kopf ganz auf den Boden zu ducken pflegt, so liegen die Augen ann\u00e4hernd in derselben Ebene mit den Dingen, deren Bewegungen sie verfolgen. Das indirecte Sehen ist dabei von besonderer Wichtigkeit, da das Auge auch die geringsten Ortsver\u00e4nderungen der Dinge der Umgebung wahrnehmen muss, auch wenn sie nicht in der unmittelbaren N\u00e4he des Blickpunktes vor sich gehen. Der Sprung auf die Beute muss h\u00e4ufig auf die leiseste Bewegung im indirecten Gesichtsfeld hin geschehen; eine m\u00f6glichst genaue Auffassung der Richtung und Entfernung muss auch ohne Ueberf\u00fchrung des Eindrucks in den Blickpunkt stattfinden k\u00f6nnen. Ob dabei die oberhalb und unterhalb der Horizontalebene gesehenen Dinge hinsichtlich Gestalt und verticaler Entfernung vom Blickpunkt (die horizontale Entfernung wird nat\u00fcrlich auch an diesen genau erkannt) undeutlich wahrgenommen werden, ist, da der Sprung stets in der verticalen Richtung erfolgt, ganz belanglos. Es concentrirt sich somit bei der Katze das Hauptinteresse an einer deutlichen Wahrnehmung und einer eindeutigen, m\u00f6glichst exacten r\u00e4umlichen Localisirung auf die Horizontalebene des Auges. Durch die spaltf\u00f6rmige Pupille aber wird erreicht, dass unter Erhaltung der relati\\ gr\u00f6\u00dftm\u00f6glichen Lichtintensit\u00e4t der Netzhauthilder f\u00fcr die Orts- und Tiefenwahrnehmung in der Richtung des bevorzugten Meridians die exactesten Daten geliefert werden. Mit anderen Worten: die die Richtung und Entfernung, in welcher das Object gesehen wird,\n1) Auch wenn die Katze einen Vogel jagt, sucht sie ihn meistens am Boden zu erhaschen; ihre Bem\u00fchungen, den Vogel beim Vorbeifliegen oder beim Auffliegen noch zu fangen, fallen meist sehr ungeschickt und erfolglos aus.","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirect\u00ab Sehens etc.\n4S7\nbetreffenden m\u00f6glichen Fehler der Auffassung, welche bei der Ausf\u00fchrung der entsprechenden Bewegung einen Fehlgriff veranlassen k\u00f6nnten, sind durch die Einrichtung der spaltf\u00f6rmigen Pupille f\u00fcr den Horizontalmeridian des Auges und die ihm parallelen Richtungen auf ein Minimum reducirt. Jeder Punkt im Sehfeld kann auf Grund der durch Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt der Pupille bedingten Ungenauigkeit der Ortsverh\u00e4ltnisse der Zerstreuungskreise eine fehlerhafte Localisation erfahren. Dieser Localisationsfehler besteht aus zwei Theilen, dem Fehler in der Sch\u00e4tzung der Entfernung, welchen wir den polaren, und dem in der Auffassung der Richtung, den wir den sph\u00e4rischen Fehler nennen wollen. Letzterer kann wieder in zwei (\u00fcbrigens ganz willk\u00fcrlich gew\u00e4hlte) Componenten zerlegt werden, eine verticale und eine horizontale. Die Einrichtung des Katzenauges ist nun eine solche, dass bei linearer Pupille der polare Fehler \u00fcberhaupt, von dem sph\u00e4rischen aber die horizontale Com-ponente gleich Null wird; und dies gilt f\u00fcr alle Punkte des Sehfeldes. Das sind aber gerade diejenigen Theile des Fehlers, die f\u00fcr die Bewegungen der Katze haupts\u00e4chlich in Betracht kommen. Hierbei ist noch besonders zu beachten, dass bei der Katze wegen der weiter vorspringenden unteren Gesichtstheile das gemeinschaftliche Gesichtsfeld in seinen unteren Partien noch mehr eingeschr\u00e4nkt ist als beim Menschen, so dass hier die monoculare Tiefenwahrnehmung noch in h\u00f6herem Ma\u00dfe in Betracht kommt.\nFerner ist zu beachten, dass die gro\u00dfe Beweglichkeit des Halses der Katze gestattet, in den F\u00e4llen, wo die Bewegung des verfolgten Thieres in einer ung\u00fcnstigen Richtung geschieht, diese letztere durch Drehung des Kopfes mit der Richtung der g\u00fcnstigsten Tiefenwahrnehmung in Einklang zu bringen. Als ich auf dem Lande lebte, hatte ich eine Katze, welche gro\u00dfes Vergn\u00fcgen daran fand, auf dem Fenster zu sitzen und den Flug der Tauben, Schwalben und Sperlinge zu verfolgen. Dabei konnte ich unz\u00e4hlige Male beobachten, dass sie, wenn die Bewegung des vorbeifliegenden Vogels nicht in horizontaler Richtung geschah, den Kopf schief hielt, und zwar so, dass die Flugrichtung ann\u00e4hernd in die Hauptvisirebene fallen und sich daher senkrecht zum Pupillenspalt projiciren musste. Dasselbe konnte ich \u00fcbrigens beobachten, wenn ich das Thier mit einem an einem Faden aufgeh\u00e4ngten und in weiten Schwingungen","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488\nAugust Hirschmann.\npendelnden Gegenstand spielen lie\u00df. Ich wusste damals keine Erkl\u00e4rung f\u00fcr dieses Verhalten, \u00fcber dessen Bedeutung nach den obigen Ausf\u00fchrungen wohl kaum ein Zweifel bestehen kann.\nDass die Tiefenvorstellung bei den Gesichtswahrnehmungen der Katze eine bedeutende Rolle spielt, l\u00e4sst sich auch daraus erkennen, dass diese Thiere gemalten Bildern gar keine Beachtung schenken. Die erw\u00e4hnte Katze, \u00fcbrigens ein besonders intelligentes Thier, w\u00fcrdigte das Bild einer Katze, sowie andere ihr vorgehaltene Thierbilder (Farbendruck auf dunklem Grund) keines Blickes, w\u00e4hrend sie ein kleines K\u00e4tzchen aus Papier m\u00e2ch\u00e9 und einen Tintenwischer in Form eines schwarzen Pudels, mit zwei Glasperlen als Augen, zuerst offenbar f\u00fcr Thiere ansah, wie aus der Art, wie sie dieselben betrachtete, anfasste und wie sie damit spielte, zu erkennen war. Interessant war ihr Benehmen, als ihr zum ersten Male ein Spiegel vorgehalten wurde. Nach einigen vergeblichen Versuchen in spielender Weise nach der vermeintlichen Katze zu schlagen und sie zu bei\u00dfen, mochte sie sich wohl auf das ihr bekannte Verhalten der Dinge hinter einer Fensterscheibe erinnert haben; sie machte einen raschen Sprung hinter den Spiegel und war sichtlich verwirrt, als sie dort nichts fand1). Als ich den Spiegel vor ihr her fortbewegte, verfolgte sie die scheinbar r\u00fcckw\u00e4rts entfliehende Katze eifrigst, wobei ihr das Mitbewegen der \u00fcbrigen im Spiegel gesehenen Dinge anscheinend sehr \u00fcberraschend war. Es bedurfte vieler \u00fcbrigens sehr spa\u00dfhafter Versuche, bis sie gelernt hatte, dass ihr Bild im Spiegel kein wirkliches Thier war, und dass sich dasselbe nur dann bewegte, wenn sie es selber that. Warum hat nun die Katze den gemalten Thierbildern auch nicht die geringste Beachtung geschenkt? Warum erweckten in ihr die gemalten Thierbilder nicht die Vorstellung der wirklichen Thiere? Einfach deshalb, weil zu der Vorstellung der wirklichen Thiere f\u00fcr das Seelenleben der Katze nothwendigerweise die Tiefenwahrnehmung geh\u00f6rt. Das fl\u00e4chenhafte Bild hat, obgleich seine Umrisse und Einzelheiten percipirt werden, wegen der mangelnden Tiefenausdehnung keine\n1) Ein Verhalten, welches demjenigen des operirten Blindgeborenen, von dem Raehlmann berichtet, sehr \u00e4hnlich ist. Siehe E. Raehlmann, a. a. O. S. 84.","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n489\nAehnlichkeit mit dem entsprechenden k\u00f6rperlichen Dinge. Wir Menschen sind durch eine Jahrtausende bestehende Cultur und Kunsttradition geradezu darauf abgerichtet, aus ebenen Projectionen auf die k\u00f6rperlichen Formen der dargestellten Dinge zu schlie\u00dfen und dabei die Abweichungen dieser Darstellungen von der Wirklichkeit zu ignoriren. Bei der Katze besteht dieses Symbolsystem der geradlinigen und krummlinigen Figuren, der hellen und dunklen, colorirten und farblosen Fl\u00e4chen nicht. Dies mag einen Mangel der associativen Yerwerthung der Gesiehtswahrnehmung bedeuten; aber ein directer Fehler des Gesichtssinnes ist es nicht. Im Gegentheil, es ist zu vermuthen, dass die Tiefenwahrnehmung (besonders f\u00fcr die n\u00e4chste Umgebung) hei der Katze mindestens ebenso scharf entwickelt ist, wie bei uns, dass aber wegen der verminderten Associationsf\u00e4higkeit der Mangel der Tiefenwahmehmung (bei il\u00e4chenhaften Bildern und bei den in gro\u00dfer Ferne befindlichen Gegenst\u00e4nden) weit st\u00f6render ins Gewicht f\u00e4llt.\nAn dieser Stelle sei bemerkt, dass die vorstehenden Er\u00f6rterungen einer die Psychologie des Gesichtssinnes betreffenden Frage mit dem philosophischen Problem der Baumanschauung und dem Werthe der Tiefendimension f\u00fcr dieselbe nichts zu schaffen haben. Im Bezug auf die psychologische Entstehung der Baumanschauung des Gesichtssinnes stehen die vorliegenden Darlegungen ganz und gar auf dem Boden der Wundt\u2019schen Ansicht1), dass das subjective Gesichtsfeld, auch das binoculare, jederzeit ein fl\u00e4chenhaftes sei, obgleich diese Fl\u00e4che die wechselndste und complicirteste Gestaltung besitzen kann. Die Tiefenauffassung resultirt aus dem Widerspruch zwischen den, den verschiedenen Zeitpunkten entsprechenden, verschiedenen Gestaltungen des Gesichtsfeldes (auch des monocularen, wie wir nachzuweisen versucht haben).\nMan hat vielfach behauptet, die spaltf\u00f6rmigen Pupillen seien eine Einrichtung zu dem Zwecke, um den Nachtraubthieren in der Dunkelheit m\u00f6glichst weitgehende Benutzung des Lichtes, in der Tageshelle dagegen Ausschluss bis auf ein Minimum zu gestatten. Dieser Zweck wird aber nur nebenbei erreicht und ist nicht ma\u00dfgebend f\u00fcr die Gestalt der Pupille. Es ist gar nicht einzusehen,\n1) Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. II, Bd. S. 199.","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"490\nAugust Kirsfchmann.\nwarum eine gro\u00dfe kreisf\u00f6rmige und unter Erhaltung dieser Form bis auf eine minimale Oeifnung zusammenziehbare Pupille nicht eben so gute Dienste leisten sollte, oder gar bessere, da ein Spalt von geringer Oeffnung immer noch mehr Licht durchl\u00e4sst als ein kreisf\u00f6rmiges Loch von gleichem Durchmesser. Und falls man bewiesen h\u00e4tte, dass der Spaltform bei der Regulirung der Lichtzufuhr der Vorzug zuzuerkennen sei, so bliebe doch immer noch zu erkl\u00e4ren, warum der Spalt gerade eine senkrechte Dichtung hat. Au\u00dferdem dr\u00e4ngen sich die Fragen auf: Ist denn die Katze wirklich ein ausschlie\u00dflich n\u00e4chtliches Itaubthier und haben auch alle andern Nachtraubthiere spaltf\u00f6rmige Pupillen?\nWenn aber die spaltf\u00f6rmige Pupille das Resultat einer Anpassung an die durch die Lebensbedingungen der betreffenden Thiere dem Gesichtssinne derselben gestellten Aufgaben ist, dann wird man im Voraus vermuthen d\u00fcrfen, dass diese Eigenschaft kein constantes Merkmal der Klasse, ja nicht einmal der Familie sein wird. Weiter wird man, falls die in dieser Abhandlung dargelegte Theorie richtig ist, folgern k\u00f6nnen, dass nur verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kleine Thiere, und solche, die beim Lauern auf Beute und beim Verfolgen derselben den Kopf auf den Boden ducken, spaltf\u00f6rmige Pupillen besitzen. F\u00fcr gro\u00dfe Thiere oder solche, die den Kopf hoch tragen, ebenso f\u00fcr solche, die auf B\u00e4umen leben und dort ihre Nahrung suchen, haben spaltf\u00f6rmige Pupillen keinen Werth. That-s\u00e4chlich finden wir diese eigent\u00fcmliche Einrichtung des optischen Apparates nicht einmal bei s\u00e4mmtlichen Arten der Katzenfamilie. Der erhobenen Hauptes einherschreitende L\u00f6we, der \u00fcbrigens genau so gut wie die Hauskatze ein Nachtthier ist, hat gro\u00dfe runde Pupillen ; der Tiger, der n\u00e4chste und m\u00e4chtige Verwandte unseres zierlichen Hausk\u00e4tzchens, hat, wenn ich recht gesehen habe, ein Zwischending zwischen runden und spaltf\u00f6rmigen, n\u00e4mlich ovale Pupillen. Spaltf\u00f6rmige Pupillen finden wir ferner beim Fuchs und. wenn ich mich nicht irre, bei einigen Nagern, deren Lebensweise ihnen ein Verlassen des Bodens oder der Wasseroberfl\u00e4che verbietet, wie z. B. dem Bieber, dessen n\u00e4chste Verwandte, die auf B\u00e4umen lebenden Eichh\u00f6rnchen, wieder runde Pupillen besitzen. Meine mangelhafte Kenntniss der speciellen Zoologie gestattet mir nicht, weitere Beispiele anzuf\u00fchren. Ebenso ist mir nicht bekannt, in wie","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n491\nweit andere von der Kreisform abweichende oder auch spaltf\u00f6rmige aber nicht senkrechte Pupillen in der Thierwelt Vorkommen.\nIn den vorstehenden Darlegungen \u00fcber die prim\u00e4ren H\u00fclfs-mittel deT monocularen Tiefen Wahrnehmung wurden gewisse Eigen-th\u00fcmlichkeiten, die unserem Sehorgane, wie jedem optischen Apparat, in mehr oder minder betr\u00e4chtlichem Grade anhaften werden, nicht ber\u00fccksichtigt. Es bleibt mir noch \u00fcbrig, dieselben namhaft zu machen und die Gr\u00fcnde f\u00fcr ihre Vernachl\u00e4ssigung anzugeben.\n1)\tDie Abweichung der Gestalt der Netzhaut von einer Kugeloberfl\u00e4che. Es ist klar, dass die er\u00f6rterten Verh\u00e4ltnisse der Netzhautprojectionen von der Gestalt der Auffangefl\u00e4che unabh\u00e4ngig sind\", so dass selbst eine bei der Accommodations-\u00e4nderung etwa eintretende Aenderung in der Kr\u00fcmmung der Netzhautfl\u00e4che keinen wesentlichen Einfluss haben k\u00f6nnte.\n2)\tDie Ungenauigkeiten in der Centrirung der dioptrischen Apparate des Auges (Linse, Diaphragma etc.), in Folge deren die Knotenpunkte, der Drehpunkt, der Mittelpunkt der Pupille und der Hornhautscheitel nicht ganz genau in eine gerade Linie fallen. Dieser Fehler kann in so fern einen Einfluss haben, als er eine ungleichm\u00e4\u00dfige Betheiligung der verschiedenen Meridiane an den Aufgaben der Gewinnung einer Tiefenauffassung herbeizuf\u00fchren im Stande ist. Eine solche Ungleichm\u00e4\u00dfigkeit, wie sie z. B. durch die nicht ganz \u00fcbereinstimmende Richtung der Hornhaut- und Linsenaxe ') herbeigef\u00fchrt werden mag, muss aber nicht nothwendig als ein Mangel betrachtet werden; sie kann eben so gut einem bestimmten Zwecke dienen, d. h. in einem bestimmten Sinne als H\u00fclfsmittel der Tiefenwahrnehmung verwendet werden.\n3)\tDie Abweichung der brechenden Fl\u00e4chen des Auges von denjenigen eines aplanatischen Systems.\na) Die Abweichung der Begrenzungsfl\u00e4chen der brechenden Medien von den speciellen Rotationsfl\u00e4chen, welche Bedingungen sind f\u00fcr die G\u00fcltigkeit des Gesetzes der Erhaltung der Homocentricit\u00e4t1 2) ;\n1) Helmholtz, Physiol. Optik, 2. Aufl. S. 104.\n2} Ebenda, S. 169.","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"492\nAugust Kirschinauii.\nb) Die Abweichung der Begrenzungsfl\u00e4chen der brechenden Medien von Rotationsfl\u00e4chen \u00fcberhaupt.\nDer unter a) aufgef\u00fchrte Fehler muss, wie man aus der Sch\u00e4rfe der Gesichtswahrnehmung und der objectiven Genauigkeit der Netzhautbilder schlie\u00dfen darf, au\u00dferordentlich gering sein. Es ist dies, wie Fick1) gezeigt hat, der sehr zweckm\u00e4\u00dfigen Anordnung der Kr\u00fcmmung. Schichtung und Lage der Linse zu danken, in Folge deren die Netzhautfl\u00e4che stets ann\u00e4hernd mit der hinteren Brennlinie zusammenf\u00e4llt. Da die letztere um so weniger st\u00f6rend wirkt, je weiter der Objectpunkt vom Fixationspunkt entfernt ist, so kann man das Auge als ann\u00e4hernd \u00bbperiskopisch\u00ab betrachten. Es sei hier noch darauf aufmerksam gemacht, dass- die Ann\u00e4herung an die vollkommene Homocentricit\u00e4t um so gr\u00f6\u00dfer wird, je geringer die Ausdehnung der Pupille ist, und dass bei spaltf\u00f6rmiger Pupille der Fehler, soweit es die horizontale Richtung anhelangt, auf ein Minimum reducirt, ist.\nAuch die unter b) genannte Abweichung ist sicherlich nicht ohne Bedeutung. Der auf ihr beruhende Astigmatismus ist gewiss im Stande, die prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der monocularen Tiefenwahrnehmung in der einen oder anderen Meridianrichtung hemmend oder f\u00f6rdernd zu beeinflussen, und mag auch in einzelnen F\u00e4llen als constanter Factor in das System der H\u00fclfsmittel eingeordnet sein. Die Bedeutung jedoch, die ihm L\u00f6b2) f\u00fcr das monoculare Tiefensehen beilegt, kann dem Astigmatismus auf keinen Fall anerkannt werden.\nDie Resultate der vorstehenden Untersuchung lassen sich in folgende S\u00e4tze zusammenfassen :\n1)\tDie Parallaxe des indirecten Sehens, d. h. die Incongruenz zwischen Gesichts- und Drehungswinkel des Auges, ist von erheblicher Gr\u00f6\u00dfe und bewirkt bei Accommodations\u00e4nderungen und Bewegungen des Auges (bezw. der Objecte) Ver\u00e4nderungen in den relativen Lageverh\u00e4ltnissen der Netzhautprojectionen.\n2)\tDiese Verschiebungen in der Lage der Netzhautbilder und\n1) Fick in Hermann\u2019s Handbuch der Physiologie. Bd. III. S. 77 ff.\n2; Pfl\u00fcger\u2019s Archiv, Bd. 41 (1887j, S. 371 und 372. Wenn die Auffassung L\u00f6b\u2019s richtig w\u00e4re, m\u00fcsste die Correctur der astigmatischen Fehler durch entsprechende Gl\u00e4ser der Tiefenwahrnehmung hinderlich sein.","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n493\nZerstreuungskreise stehen in eindeutiger und ganz gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehung zur Tiefendimension und werden wahrscheinlich vom Gesichtssinne als H\u00fclfsmittel zur Gewinnung einer monocularen Tiefenwahrnehmung verwandt.\n3)\tVom Standpunkt der Theorie der complexen Localzeichen aus betrachtet, bedeutet das einen Wechsel in der Zuordnung der qualitativen und intensiven Localzeichen zu einander, welche Variation man eventuell als ein drittes, an die Tiefendimension gebundenes Localzeichensystem ansehen kann.\n4)\tDie monoculare Tiefenwahrnehmung hat wegen der beschr\u00e4nkten Ausdehnung des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes in den unteren Theilen des Gesammtsehraums eine hohe Bedeutung.\n5)\tDie Parallaxe des indirecten Sehens wirkt im selben Sinne wie die Parallaxe des Doppelauges und unterst\u00fctzt daher dieses letztere bei der Erf\u00fcllung seiner Aufgabe.\n6)\tDie den Punkten einer Visirlinie entsprechenden Zerstreuungskreise sind nur f\u00fcr die Hauptvisirlinie wirkliche, concentriscli sich deckende Kreise. F\u00fcr alle \u00fcbrigen Visirlinien bilden sie linear angeordnete Systeme von nur theilweise sich deckenden ellipsenartigen Fl\u00e4chen.\n7)\tDie Abweichung von der concentrischen Deckung der einer Visirlinie des indirecten Sehens zugeh\u00f6renden Zerstreuungskreise wird um so geringer, je kleiner die Pupille ist. Bei unendlich kleiner Pupille projiciren sich alle Visirlinien als Punkte auf die Netzhaut. Bei Verengerung der Pupille findet daher eine Erh\u00f6hung des Werthes der Visirrichtungen f\u00fcr das indirecte Sehen statt.\n8)\tBei der Verengerung der Pupille werden, wegen des sch\u00e4rferen Auseinandertretens der Netzhautprojectionen, die parallaktischen Verh\u00e4ltnisse sowohl des indirecten Sehens wTie des Doppelauges deutlicher. Es unterst\u00fctzt somit die Contraction der Pupille die genannten prim\u00e4ren H\u00fclfsmittel der monocularen und binocularen Tiefenwahrnehmung.\n9)\tVon diesen Gesichtspunkten aus erkl\u00e4ren sich zwei Erscheinungen leicht und ungezwungen :\na)\tdie Pupillarreaction bei Accommodations- und Convergenz-\u00e4nderungen ;\nb)\tdie Einrichtung der spaltf\u00f6rmigen Pupillen in den Augen gewisser Thiere.","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nAugust Kirschmann.\nNachtrag zu S. 465.\nDie Berechnung der Parallaxe des indirecten Sehens geschieht am besten an der Hand der beistehenden Figur 7. Es sei D der Drehpunkt des Auges, M der Mittelpunkt des Hornhauthildes der Pupille. Die durch MN gehende Gerade ist eine Visirlinie des indirecten Sehens und cp ist der Winkelabstand derselben von der Fixations- oder Hauptvisirlinie. Ist N der Nahepunkt des Auges und DN\u2014 DN', so ist e, der Winkel zwischen DN' und der durch den Drehpunkt parallel zu MN\u2019 gezogenen Geraden, das Maximum der Parallaxe f\u00fcr die Visirlinie MN', oder was dasselbe ist, der\nSpielraum, innerhalb dessen sich der Unterschied zwischen Gesichtsund Drehungswinkel bei dem Winkelabstand cp vom Fixationspunk; bewegt. Da nun Winkel e =MN\u2019I) und DMN' = 180\u00b0\u2014 r/> ist, so ist nach dem Sinussatz\nMD . sin (180\u00b0 \u2014 rp)\nsin e \"\tUN'\noder, wenn wir MD mit d, DN mit n bezeichnen, und ber\u00fccksichtigen, dass sin (180\u00b0 \u2014 cp) \u2014 sin cp ist.\nd . sin cp\nsm e \u2014---------L \u25a0\nn\nIch habe in der nachstehenden kleinen Tabelle einige Maximal-werthe der Parallaxe zusammengestellt, und zwar f\u00fcr verschiedene Excentricit\u00e4t des indirecten Sehens (1\u00b0 bis 60\u00b0) und f\u00fcr verschiedene Accoinmodationsbreiten.\nDer der Rechnung zu Grunde gelegte Werth f\u00fcr cl ist in folgender Weise ermittelt: Der Drehpunkt des Auges liegt nach Donders und Doyer1) 13,6 mm hinter dem Hornhautscheitel.\nKg- 7.\n1) Aub ert,'Physiol. Optik. S. 635.","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Die Parallaxe des indirecten Sehens etc.\n495\nDas Mittel aus den drei von Helmholtz1) angegebenen Werthen f\u00fcr den Abstand der Pupille von dem Hornhautscheitel betr\u00e4gt 3,753 mm; das Hornhautbild der Pupille liegt nach Listing und Helmholtz2) 0,578 mm vor der Pupille, also in einer Entfernung von 3,175 mm vom Hornhautscheitel. Der Abstand zwischen Hornhautbild der Pupille und Drehpunkt des Auges betr\u00e4gt demnach 13,6\u20143,175 mm = 10,425 mm.\nWinkel-\t\tMaximalwerth der Parallaxe\t\t\nentfernung von der Fixationslinie\tNahepunkt 10 cm ; Accommod.-Breite 10 Dioptrien\tNahepunkt 15 cm; Accommod.-Breite 62/3 Dioptrien\tNahepunkt 25 cm; Accommod.-Breite 4 Dioptrien\tNahepunkt 40 cm; Accommod.-Breite 2,5 Dioptrien\ni\u00b0\t6' 17\"\t4' 10\"\t2' 30\"\tV 34\"\n5\u00b0\t31' 14\"\t20' 49\"\t12' 30\"\ti 49\"\n10\u00b0\t1\u00b0 2'14\"\t41'29\"\t24'54\"\t15'34\"\n20\u00b0\t2\u00b0 2'36\"\t1\u00b0 21' 44\"\t49' 2\"\t30' 39\"\n30\u00b0\t2\u00b0 59' 16\"\t1\u00b0 59' 29\"\t1\u00b0 11'41\"\t44' 48\"\n45\u00b0\t4\u00b0 13'39\"\t2\u00b0 49' 1\"\t1\u00b0 41' 23\"\t1\u00b0 3' 22\"\n60\u00b0\t5\u00b0 9'22\"\t3\u00b0 26' 5\"\t2\u00b0 3' 36\"\t1\u00b017'15\"\nMan ersieht aus der vorstehenden Tabelle, welch betr\u00e4chtliche Werthe die Parallaxe des indirecten Sehens annehmen kann. Selbst im Falle einer sehr beschr\u00e4nkten Accommodationsbreite (Nahepunkt 40 cm; 2,5 Dioptrien) erreicht sie in einer Winkelentfernung von nur 1\u00b0 vom Fixationspunkt noch einen Werth von 1'34\", eine Gr\u00f6\u00dfe, welche die Minimaldistanz distinct wahrzunehmender Punkte noch \u00fcbertrifft. Wir haben \u00fcbrigens, um einen Anhaltspunkt f\u00fcr die Rechnung zu haben, stillschweigend angenommen, dass die Parallaxe diesseits der Accommodationsn\u00e4he keine Bedeutung mehr habe; wenn man diese, in gewissem Sinne willk\u00fcrliche Annahme fallen l\u00e4sst, werden die den Spielraum der Parallaxe repr\u00e4sentirenden Winkel nat\u00fcrlich noch gr\u00f6\u00dfer.\n1)\tHelmholtz, Physiol. Optik. 2. Aufl. S. 105.\n2)\tEbenda.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n34","page":495}],"identifier":"lit4239","issued":"1893","language":"de","pages":"447-495","startpages":"447","title":"Die Parallaxe des indirecten Sehens und die spalf\u00f6rmigen Pupillen der Katze","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:34:49.105251+00:00"}