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{"created":"2022-01-31T14:34:20.354500+00:00","id":"lit4240","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kiesow, Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 9: 510-527","fulltext":[{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure auf die Schleimhaut der Zunge und des Mundraums.\nVon\nFriedr. Kiesow.\nIm Interesse umfangreicherer Untersuchungen \u00fcber die Verh\u00e4ltnisse des Geschmackssinnes, die mich seit geraumer Zeit besch\u00e4ftigen, ist der bereits durch mehrfache Beobachtungen dargelegte Einfluss des Cocain und der Gymnema auf im Mundraume ausgel\u00f6ste Reize nachstehend einer nochmaligen Pr\u00fcfung unterzogen worden. Die Versuche habe ich in den letzten gro\u00dfen Ferien an mir selbst angestellt, f\u00fcr einige Nachpr\u00fcfungen leisteten mir Herr Dr. K\u00fclpe, Mr. Harlow Gale und mein Bruder, cand. phil. Karl Kiesow, freundliche H\u00fclfe. Die in Betracht kommenden Empfindungscomponenten sind sowohl Geschmacks- wie Temperatur-und Tastsensationen. Die leitenden Gesichtspunkte beziehen sich auf Umfang, Eintritt und Dauer des erw\u00e4hnten Einflusses und sodann auf die Abh\u00e4ngigkeit des letzteren von der zu verabreichenden Dosis der jeweiligen Drogue. Die Untersuchungen auf die Tast-und Temperaturempfindungen des Mundes und der Zunge sind in dieser Arbeit denen des Geschmacks vorangestellt.\nDas Cocain.\nDas Cocain, ein Alkaloid aus den Bl\u00e4ttern der Cocapflanze, wurde zuerst von Niemann1) 1859 als organische Base dargestellt\n1) Vierteljahrssohr. f. pract. Pharmacie. Bd. IX. 1860. p. 384. 489.","page":510},{"file":"p0511.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\n511\nund 1862 von Schroff1) in seiner an\u00e4sthesirenden Wirkung auf die Schleimh\u00e4ute erkannt. Seit 1884 ist es durch Roller\u2019s2) Verdienst in die \u00e4rztliche Praxis ubergegangen. Mit Bezug auf den Einfluss desselben auf Geschmacksreize haben wohl Knapp3), sowie Adducco und Mosso3) die ersten Beobachtungen angestellt. Knapp nimmt eine Aufhebung aller Geschmacksarten durch Cocain an, w\u00e4hrend die beiden letztgenannten Forscher dies nur bez\u00fcglich der Qualit\u00e4t des Bittern zugehen. Weitere Mittheilungen verdanken wir in dieser Beziehung von Anrep4) und O ehr wall4), die sich beide im Sinne einer aufhebenden Wirkung f\u00fcr alle Geschmacksarten entscheiden, nur dass Oehrwall in einem Falle eine 30 Minuten lange Pinselung der Zungenspitze mit einer 5 proc. Cocainl\u00f6sung unwirksam fand und daher zur Annahme individueller Verschieden-heiten berechtigt ist. v. Anrep fand ferner Nadelstiche auf der bepinselten Zungenseite schmerzlos. Eine ausf\u00fchrlichere und umfangreichere Arbeit von Shore5) spricht sich ebenfalls f\u00fcr die Alteration aller Geschmackswahrnehmungen aus, die jedoch nach den verschiedenen Qualit\u00e4ten verschiedengradig gefunden wurde.\nEbenfalls von der Wirkung des Cocain auf Geschmacksreize ausgehend, lag mir daran zu wissen, oh nicht die das Salzige und Saure besonders in h\u00f6herer Concentration begleitenden Tastempfindungen des Brennenden eben dieser Wirkung unterliegen m\u00f6chten. Dies veranlasste mich weiter, die Tastempfindungen des Mundraumes \u00fcberhaupt auf den Einfluss des Cocain zu pr\u00fcfen. Zu dem Zwecke untersuchte ich zun\u00e4chst das normale Verhalten des Mundraumes bei schmerzhaften Tasteindr\u00fccken, indem ich eine sehr feine Nadel in die verschiedensten Theile der Zunge und des Mundraumes ein-f\u00fchrte. Die untersuchten Stellen waren : die oberen R\u00e4nder der Zunge, die Seitenlinien derselben, die Zungenmitte, die Unterfl\u00e4che der Seitentheile, die Oberfl\u00e4che der Spitze, die Unterfl\u00e4che, das Frenulum der Zunge, das Zahnfleisch oben und unten, die Lippen oben\n1)\tZeitschr. der Gesellsch. Wiener Aerzte. 1862. II. Bd. p. 167. Wochenbl. No. 30\u201434.\n2)\tBoehm, Lehrb. d. Arzneiverordnungsl. 2. Aufl. 1891. p. 248.\n3)\teit. nach Oehrwall, Scand. Arch. Bd. 2. 1891. p. 31.\n4)\tPfl\u00fcger\u2019s Arch. Bd. 21. 1880. p. 47.\n5)\tThe Journ. of anat. and physiol. XIII. eit. nach Phys. Centralbl. 1892. p. 625 u. Naturw. Rundschau, 1892. No. 40.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n35","page":511},{"file":"p0512.txt","language":"de","ocr_de":"512\nFriedr. Kiesow.\nund unten, der Uebergang derselben zu den Schleimh\u00e4uten der Backen, die Schleimh\u00e4ute der Backen, der harte Gaumen, der weiche Gaumen.\nDie Empfindlichkeit war auf den genannten Theilen eine sehr verschiedene. Ich fand einen Uebergang von intensiver Schmerzempfindung bis zur Empfindungslosigkeit. Am schmerzhaftesten erweisen sich die Stiche auf der Zungenspitze oben wie unten und auf den Lippen. Weniger empfindlich sind die Seiten der Zunge, und zwar scheint mir der \u00e4u\u00dfere Seitenrand die geringste Empfindlichkeit zu besitzen, intensiver empfindet die Oberfl\u00e4che der Zungenseite, noch intensiver die Unterfl\u00e4che derselben. Dabei l\u00e4sst sich oben, unten wie seitlich deutlich/ein \u00dcbergang nach der Spitze zu erkennen, indem, je n\u00e4her dieser der Heiz r\u00fcckt, um so gr\u00f6\u00dfer die Empfindlichkeit wird. Wie die oberen Seitentheile verh\u00e4lt sich die Mitte der Zunge, und zwar wiederum mit einer deutlichen Steigerung des Eindrucks nach der Spitze zu. An zweiter Stelle nenne ich die beiden Gaumenb\u00f6gen, doch scheint mir der harte vor dem weichen in der Empfindlichkeit bevorzugt zu sein. Hieran reiht sich das Frenulum mit seinen Ueberg\u00e4ngen nach der Zunge zu. Eine sehr geringe Empfindlichkeit besitzt bei mir das Zahnfleisch. Doch kommen hier Unterschiede vor. Von den drei genannten Herren, an denen ich diese Verh\u00e4ltnisse nachpr\u00fcfen konnte, empfand einer Stiche am Zahnfleisch \u00e4u\u00dferst schmerzhaft. Eine Ausnahmestellung nimmt die Schleimhaut der Backe ein, sofern etwa die Mitte derselben eine v\u00f6llig schmerzfreie Stelle besitzt. Die Stiche werden hier eben als Ber\u00fchrungsempfindungen aufgefasst. Daneben finden sich wieder Stellen von \u00e4u\u00dferster Schmerzhaftigkeit.^ Die schmerzfreie Stelle setzt sich von der Mitte der Backenschleimhaut in einem schmalen Streifen nach dem Mundwinkel hin fort. Mit der erw\u00e4hnten Ausnahme fand ich bei meinen Versuchspersonen \u00fcbereinstimmende Verh\u00e4ltnisse. Man hat bei den Schmerzreizen zwischen einem oberfl\u00e4chlichen und einem tieferen Stiche zu unterscheiden. Es ist auffallend, wie z. B. an den Lippen ganz oberfl\u00e4chliche Stiche schon intensiv schmerzhaft empfunden werden, w\u00e4hrend andererseits am Seitenrand der Zunge ein oberfl\u00e4chlicher Stich kaum wahrgenommen wird. Ferner sei noch hervorgehoben, dass diese punktartigen Schmerzempfindungen auch auf einer und derselben gr\u00f6\u00dferen Stelle sehr verschieden sind. Dies ist besonders auff\u00e4llig an den","page":512},{"file":"p0513.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\n513\nLippen und der Backe. Neben Stichen, die eben als Schmerz empfunden werden, kommt pl\u00f6tzlich ein Reiz von sehr starker Schmerzhaftigkeit vor. Der Grund hierf\u00fcr ist wohl in der verschiedenen Gr\u00f6\u00dfe der sensiblen Fasern zu suchen, die von dem Reize getrolfen werden. Aehnliches zeigt sich oft in der Bevorzugung mancher Punkte, die eben schmerzhaft empfunden werden, neben solchen, die fast schmerzlos genannt werden k\u00f6nnen. Hierf\u00fcr sind wohl ebenfalls die Bedingungen in der Ausbreitung der sensiblen Fasern zu suchen.\nNachdem ich die normalen Verh\u00e4ltnisse in der soeben dargelegten Weise festgestellt hatte, schritt ich zu An\u00e4sthesirungs-versuchen mit Cocain. Dabei galt es, sowohl den Eintritt und die Dauer der Wirkung zu bestimmen, als auch die Dosis, welche zur Hervorbringung derselben nothwendig war. Das verwandte Cocain Avar salzsaures. Von diesem hielt ich mir eine lOprocentige Normall\u00f6sung, welche ich in bestimmten Ma\u00dfverh\u00e4ltnissen verd\u00fcnnte, so dass ich 0,5, 1, 2, 5 und lOprocentige L\u00f6sungen verwandte. Die Application erfolgte auf die Zungen- und Mundtheile mittelst eines weichen Haarpinsels von m\u00e4\u00dfiger St\u00e4rke. Als Gesammtergebniss kann ich vorausschicken, dass die die Empfindlichkeit auf hebende, resp. abschw\u00e4chende Wirkung den fr\u00fcheren Angaben gem\u00e4\u00df erst geraume Zeit nach der Application erfolgte. Meine Normalzeit war 20 Minuten.\nUm die Wirkung zu erh\u00f6hen, wiederholte ich die Pinselung nach der O ehr wall\u2019 sehen Methode. Dem entsprechend sind die Versuche mit einer einmaligen, f\u00fcnfmaligen und zehnmaligen Pinselung vorgenommen.\nIm allgemeinen zeigten sich die gleichen Verh\u00e4ltnisse wieder, die sich bei normalem Verhalten ergeben hatten. Bei allen Versuchen war die Zungenspitze in der Empfindlichkeit so bevorzugt, dass es mir nicht gelungen ist, dieselbe auch durch sehr starke Dosen unempfindlich zu machen.\nDie schw\u00e4chste L\u00f6sung von 0,5 procentigein Cocain rief bei einmaligem wie bei f\u00fcnfmaligem Bestreichen mit dem Pinsel kaum irgend welche Wirkung hervor. Nach einmaligem Bepinseln habe ich nur einen wenig bittern Geschmack, eine Wirkung auf Nadelstiche habe ich nicht versp\u00fcrt, ein f\u00fcnfmaliges Bestreichen wirkt vielleicht als geringe Abschw\u00e4chung, l\u00e4sst jedoch an den empfindlicheren Stellen keinerlei Wirkung zur\u00fcck.\n","page":513},{"file":"p0514.txt","language":"de","ocr_de":"514\nFriedr. Kiesow.\nDeutlicher abschw\u00e4chend wirkte eine 1 proc. L\u00f6sung, wenn ich dieselbe 5 mal applicirte. Unempfindlich ist dann das Frenulum, so dass ich dasselbe durchstechen kann. Deutlich abgeschw\u00e4cht sind die oberen R\u00e4nder und die Mitte der Zunge, so dass die Stiche hier wohl wahrnehmbar, aber nicht schmerzhaft empfunden werden. Zuweilen tritt der Schmerz nach etwa 3 bis 5 Sec. ein, um dann ebensobald wieder zu verschwinden. Die Dauer dieser Wirkung war etwa 20 Minuten. Die \u00fcbrigen Stellen des Mundes blieben mit Ausnahme des Zahnfleisches und der erw\u00e4hnten Baekenstelle schmerzhaft.\nEine ganz \u00e4hnliche Wirkung ergab ein einmaliges Bestreichen mit zweiprocentigem Cocain, nur dass die Wirkung an den R\u00e4ndern eine intensivere war. In meinem Protocoll findet sich mit Bezug auf die oberen R\u00e4nder verzeichnet: f\u00fchlbar, aber bei ziemlich tiefen Stichen nicht schmerzhaft. Au\u00dferdem war der weiche Gaumen theilweise unempfindlich. Auch die Zungenmitte war fast schmerzlos. Sehr empfindlich blieben aber die Lippen, besonders an den oberen R\u00e4ndern, und die Zungenspitze. Ein f\u00fcnfmaliges Bestreichen wirkte entschiedener im selben Sinne. Es waren die oberen R\u00e4nder schmerzlos, aber nicht die unteren.\nMit einer L\u00f6sung von Cocain habe ich von einer Versuchsperson eine Reihe aufgenommen. Eine f\u00fcnfmalige Pinselung ergab folgendes Resultat:\nZungenr\u00e4nder: f\u00fchlbar aber nicht schmerzhaft,\nSpitze :\tschmerzhaft,\nUnterseite:\tstark abgeschw\u00e4cht, eigentlich kein Schmerz, nach der Spitze zu\nin Schmerz \u00fcbergehend,\nFrenulum:\tschmerzlos,\nGingiva :\tschmerzhaft,\nLippen:\tbei oberfl\u00e4chlichen Stichen Schmerz, bei tiefen kein Schmerz; am\n\u00e4u\u00dfersten Rande schmerzhaft.\nWie ersichtlich, war auch in diesem Falle eine An\u00e4sthesirung der Zungenspitze nicht m\u00f6glich, w\u00e4hrend die R\u00e4nder keinen Schmerz verriethen. Auffallend d\u00fcrfte vielleicht die Erscheinung sein, dass sehr leise Reize an der Innenhaut der Lippen heftig schmerzen, trotz der Cocainisirung, sobald man aber tief hineinsticht, kein Schmerz empfunden wird.","page":514},{"file":"p0515.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\t515\nMich begleitete diese Erscheinung bis zu zehnprocentiger Cocainl\u00f6sung, wenn ich damit einmal bestrich. Auch bei f\u00fcnfmaligem Pinseln hatte ich bei oberfl\u00e4chlichen tReizen immer noch leise Schmerzempfindungen. Erst bei zehnmaligem Pinseln mit zehnprocentiger L\u00f6sung, welchen Versuch ich anstellte, um zu sehen, ob wirklich die Zungenspitze nicht an\u00e4sthetisch werden w\u00fcrde, blieb dieselbe aus. Ich konnte nun in die Lippe stechen, ohne jede Empfindung, und f\u00fchlte den Reiz erst, als ich nahe der Au\u00dfenseite war. Doch ist es mir, wie schon erw\u00e4hnt, nicht gelungen, die Zungenspitze vollkommen zu an\u00e4sthesiren. Die Empfindung war an der unteren Seite sehr abgeschw\u00e4cht, blieb aber intensiv am oberen Rande und besonders an der \u00e4u\u00dfersten Spitze. Diese Ergebnisse entsprechen den von E. H. Weber betreffs Sch\u00e4tzung von Raumdistanzen gefundenen Werthen1).\nAuch bei Temperaturreizen erfuhr die Zungenspitze in der Empfindlichkeit durch Cocain keinerlei Einschr\u00e4nkung. Indem ich zun\u00e4chst wieder aus mehreren Einzelversuchen die normalen Verh\u00e4ltnisse feststellte, diente als Reizmittel ein Bechergl\u00e4schen mit temperirtem Wasser, in welches ich die Zungenspitze bequem hineintauchen konnte. Die Dauer des Reizes betrug in allen F\u00e4llen 5 Sec. Den physiologischen Nullpunkt fand ich auf diese Weise bei 36\u00b0 C. Die Empfindlichkeit ist auf diesem Punkte eine so feine, dass schon sehr leise Schwankungen, besonders nach der negativen Seite hin, intensiv empfunden werden. Die Schwelle des Schmerzes liegt auf meiner Zungenspitze bei 52\u00b0. Unterhalb dieser Grenze erfolgt noch eine Anpassung an den Reiz, diesseits derselben steigert sich die Empfindlichkeit mit jeder Secunde. Als dritter Punkt ergab sich bei 56\u201457\u00b0 der der Unertr\u00e4glichkeit, \u00fcber welchen hinaus eine Steigerung des Reizes ohne Zerst\u00f6rung des Gewebes nicht mehr m\u00f6glich ist. Die verschiedensten L\u00f6sungen des Cocain riefen weder nach der einen noch nach der andern Seite eine Verschiebung der charakteristischen Punkte der Temperaturempfindung hervor. Selbst eine zehnmalige Pinselung mit zehnprocentigem Cocain \u00e4nderte hierin nichts. Dabei war es gleich, ob ich die Verh\u00e4ltnisse sogleich oder erst 20 Minuten nach der Application pr\u00fcfte.\n1} Wundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. Bd. IL p. 8.","page":515},{"file":"p0516.txt","language":"de","ocr_de":"516\nFriedr. Kiesow.\nOb nicht andere Stellen der Zunge und des Mundes sich hierin anders verhalten, muss ich unentschieden lassen. Ich hatte besonders die Verh\u00e4ltnisse der Zungenspitze im Auge und begn\u00fcge mich mit diesem Resultate, zumal die Untersuchung der Seitentheile mit Fehlerquellen behaftet ist.\nZur Grundlage des Einflusses von Cocain auf Geschmacksreize habe ich die absoluten Schwellenwerthe der einzelnen Reizqualit\u00e4ten genommen. Diese sind ein Ma\u00df f\u00fcr die Wirkung des Cocain in allen seinen Concentrations- und Quantit\u00e4tsstufen; denn die Wirkung des letzteren ist dem jedesmaligen Schwellenwerthe im allgemeinen proportional zu setzen. Die Wirkung des Cocain ist am intensivsten bei g\u00e4nzlicher Vernichtung einer Geschmacksqualit\u00e4t, am geringsten, wo der die Empfindung ausl\u00f6sende Reiz der normalen Schwelle am n\u00e4chsten liegt. Von diesem Gesichtspunkte aus sei die erste Frage nach dem Einfluss des Cocain auf die Qualit\u00e4ten des S\u00fc\u00dfen, Salzigen, Sauren und Bittern einer Pr\u00fcfung unterzogen. Ich folge dabei den L\u00f6sungsstufen von 0,5, 1, 2, 5 und 10 Procent nach der bereits erw\u00e4hnten OehrwalPschen Methode. Das verwandte Cocain war salzsaures. Die Application der Schmeckstoffe erfolgte bei Zimmertemperatur mittelst eines 1,5 cm langen weichen Pinsels von geringer St\u00e4rke. F\u00fcr jede Qualit\u00e4t ward ein besonderer benutzt. Alle fassten nahezu das gleiche Volumen des Schmeckstoffes. Die in den Tabellen angegebenen Werthe der letzteren beziehen sich ebenfalls auf 100. Dieselben sind au\u00dferdem allemal als Durchschnittswerthe aus mehrfach wiederholten Versuchen aufzufassen. Voran stelle ich meine normalen Schwellenwerthe, die aus je 10 Einzelversuchen nach der Methode der aufsteigenden Reihe gefunden sind1). Dieselben betragen auf meiner Zungenspitze f\u00fcr\nSach, album = 0,4 %\nNaCl\t=\t0,25X\nHCl\t=\t0,0085^\nChin. suif. = 0,0004X\nDie Ver\u00e4nderung dieser Werthe durch vorheriges Ein wirken von 0,5-proc. Cocain stelle ich nach ein-, f\u00fcnf- und zehnmaliger Pinselung der Zungenspitze in folgender Tabelle \u00fcbersichtlich zusammen. Die Application der Schmecksubstanzen erfolgte hier und \u00fcberall im Mittel 3 Minuten nach der Cocainisirung.\n1) Den Grund dieser Abweichung von der Normalmethode der Schwellenbestimmung werde ich in einer l\u00e4ngeren in einiger Zeit erscheinenden Abhandlung \u00fcber den Geschmackssinn er\u00f6rtern.","page":516},{"file":"p0517.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\n517\n\tEinmalige Pinselung\tF\u00fcnfmalige Pinselung\tZehnmalige Pinselung\nSach. alb.\t0,9\t2\t2\nNaCl\t0,25\t0,25\t0,25\nHCl\t0,009\t0,01\t0,015\nChin. suif.\t0,02\t0,05\t0,08\nNach dieser Uebersicht wird Chlomatrium durch Cocain in allen drei F\u00e4llen gar nicht beeinflusst. Die Schwelle f\u00fcr Salzs\u00e4ure ist im ersten Falle kaum verschoben; denn sie hat auch bei normalem Verhalten oft diesen Werth. Ein wenig ist sie im zweiten Falle ver\u00e4ndert, noch mehr im dritten. Auffallender sind die Wirkungen auf S\u00fc\u00df und Bitter. Das Letztere liegt am weitesten von der Schwelle entfernt, und die Abweichung nimmt zu mit steigender Dosis. Die ebenfalls betr\u00e4chtlich herabgesetzte Empfindlichkeit f\u00fcr S\u00fc\u00df wurde durch eine verdoppelte Dosis im Schwellenwerth bei f\u00fcnfmaliger Pinselung nicht mehr alterirt. Demnach wirkt Cocain auf dieser L\u00f6sungsstufe am meisten auf das Bittere, sodann auf das S\u00fc\u00dfe, in dritter Linie auf Sauer, w\u00e4hrend es auf Salz ohne Einfluss blieb.\nDas Verh\u00e4ltniss f\u00fcr einprocentige Cocainl\u00f6sung stellt sich unter gleichen Bedingungen folgenderma\u00dfen dar.\n\tEinmalige Pinselung\tF\u00fcnfmalige Pinselung\tZehnmalige Pinselung\nSach. alb.\t2\t7\t10\nNaCl\t0,35\t0,6\t0,7\nHCl\t0,045\t0,05\t0,05\nChin. suif.\t0,1\tfast OO\tOO1)\nWir finden f\u00fcr diese Stufe das gleiche Verh\u00e4ltniss der Abh\u00e4ngigkeit wieder, nur dass sich die Wirkung des Cocain auf die Empfindung des Bitteren aufs h\u00f6chste gesteigert hat. Ebenso ist\n1) OO bedeutet hier und \u00fcberall coneentrirte L\u00f6sungen, ohne Zusatz au\u00dferdem die Unempfindlichkeit f\u00fcr dieselben.","page":517},{"file":"p0518.txt","language":"de","ocr_de":"518\nFriedr. Kiesow.\ndie Schwelle f\u00fcr S\u00fc\u00df bedeutend gestiegen, weniger werden das Salzige und Saure beeinflusst.\nAls ich einen Versuch mit zehnmaliger Pinselung dieser L\u00f6sungsstufe auf Chinin wiederholte, versuchte ich es zugleich, nachzupr\u00fcfen, ob sich die Wirkung auch auf andere Bitterstoffe erstrecke, oder ob dieselbe auf Chinin, wenigstens unter diesen Bedingungen, beschr\u00e4nkt sei. Nachdem ich dann noch reines wie schwefelsaures Chinin in Pulverform auf die Zungenspitze gebracht und nicht die Spur einer bitteren Empfindung hatte, nahm ich nach einander Wermuth, Quassia, Enzian und Aloe in den Mund, aber auch hier hatte ich nicht die geringste Spur einer bittern Empfindung. Nur als ich Aloe auf der Zunge hatte, drang mir in Folge starker Speichelsecretion und eines pl\u00f6tzlichen Schluckreflexes davon in den hinteren Mundraum. Die hierdurch hervorgerufene bittere Empfindung war eine so intensive, dass ich die Versuche f\u00fcr den Tag aufgeben musste. Erst nachdem ich 3/4 Stunde lang unaufh\u00f6rlich mit lauem Wasser gesp\u00fclt und gegurgelt hatte, lie\u00df die Empfindung bis zur Ertr\u00e4glichkeit nach, um dann allm\u00e4hlich zu verschwinden. Diese F\u00e4lle m\u00f6gen den Einfluss des Cocain in seiner Bevorzugung f\u00fcr das Bittere hinreichend illustriren. Die Empfindung des Bitteren bleibt nun bei allen folgenden Concentrations-stufen des Cocain v\u00f6llig ausgel\u00f6scht, ein hinreichender Beweis, dass die Wirkung auf diesen Stoff am st\u00e4rksten ist.\nEs folgt nun die Tabelle f\u00fcr zweiprocentiges Cocain.\n\tEinmalige Pinselung\tF\u00fcnfmalige Pinselung\tZehnmalige Pinselung\nSach. alb.\t4\t9\t20\nNaCl\t1\t1,2\t1,5\nHCl\t0,08\t0,1\t0,19\nChin. suif.\too\tOO\tOO\nIn der folgenden Reihe einer f\u00fcnfprocentigen Cocainl\u00f6sung sind nur die Werthe einer einmaligen Pinselung verzeichnet. Ein f\u00fcnfmaliges Bestreichen der Zungenspitze mit dieser Concentrations-stufe macht dieselbe unempfindlich f\u00fcr concentrirtes Sacharin, f\u00fcr zehnprocentige Kochsalzl\u00f6sung, 0,4-procentige Salzs\u00e4ure und f\u00fcr","page":518},{"file":"p0519.txt","language":"de","ocr_de":"Heber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\n519\njeden Bitterstoff. Bei zehnprocentiger Salzl\u00f6sung habe ich nur eine schwache Tastempfindung, ebenso empfinde ich 0,4-procentige Salzs\u00e4ure nur schwach brennend. Ebenso ist es mit einer zehnprocen-tigen Cocainl\u00f6sung. Ich fasse daher diese beiden Stufen in eine Tabelle zusammen.\n\tEinmalige Pinselung mit 5% Cocain\tEinmalige Pinselung mit 10% Cocain\nSach. alb.\t10\t10\nNaCl\tl\t1,9\nHCl\t0,1\t0,12\nChin. suif.\tOG\too\nDen Versuch einer einmaligen Pinselung mit zehnprocentiger L\u00f6sung habe ich an meinem Freunde, Mr. Harlow Gale, nachgepr\u00fcft. Das von dem meinigen etwas abweichende Resultat war folgendes:\nSach. alb. = 1,5^\nNaCl = IX HCl = 0,06X Chin. suif. = co.\nDie Abweichung besteht in der weit gr\u00f6\u00dferen Empfindlichkeit f\u00fcr S\u00fc\u00df, wie in der weniger gro\u00dfen f\u00fcr Sauer. F\u00fcr Salz ist der Schwellenwerth nicht sehr verschieden, die Empfindung des Bittern ist gleichfalls getilgt.\nMr. Gale\u2019s normale Schwellenwerthe sind:\nf\u00fcr Sach. alb. 0,06^\n\u00bb NaCl 0,18X \u00bb HCl 0,06^\n\u00bb Chin. suif. 0,00026^.\nSoweit wir die Schwelle zum Ma\u00dfstabe f\u00fcr die Wirkung des Cocain machen, hat demnach die Untersuchung gezeigt, dass Bitter und S\u00fc\u00df auf allen Stufen am weitesten von der Schwelle entfernt liegen, und dass der Einfluss des Cocain auf diese Empfindungen am gr\u00f6\u00dften ist. Betreffs des Sauren und Salzigen ist auf den niederen L\u00f6sungsgraden die Wirkung auf Salz am geringsten, auf den h\u00f6heren jedoch ist dieselbe auf beide Reize theils gleich, theils scheint der Einfluss auf Sauer zu \u00fcberwiegen. Somit ist im Ganzen das von Shore gefundene Resultat als best\u00e4tigt anzusehen. Die","page":519},{"file":"p0520.txt","language":"de","ocr_de":"520\nFriedr. Kiesow.\nweitere Frage, welche ich zu beantworten versuchte, war der zeitliche Eintritt des Cocaineinflusses.\nBei den Tastendr\u00fccken konnte festgestellt werden, dass die Wirkung des Cocain erst einige Zeit nach der Pinselung eintrat, bei den Geschmackswahrnehmungen jedoch fand ich, dass dieselbe sogleich nach der Cocainisirung der Zungenspitze am gr\u00f6\u00dften war. Ich habe in dieser Beziehung f\u00fcr alle Concentrationsstufen des Cocain Versuche angestellt. Zun\u00e4chst w\u00e4hlte ich eine solche, welche sogleich nach der Application eine Geschmacksqualit\u00e4t g\u00e4nzlich vernichtete, und pr\u00fcfte sodann in Abst\u00e4nden von 3 und 5 Minuten, wann die Sensation wiederkehrte. So fand ich z. B., dass, wenn die Empfindung des Bittern nach zehnmaliger Pinselung mit ein-procentigem Cocain ausgel\u00f6scht war, dieselbe nach 18\u201420 Minuten anfangs nur wie ein schwaches Aufd\u00e4mmern, dann allm\u00e4hlich sich verst\u00e4rkend, wiederkehrte. F\u00fcr diese Versuche benutzte ich con-centrirte L\u00f6sungen. Im angezogenen Falle wurde die Sensation noch nach 70 Minuten nur schwach, wenn auch deutlich empfunden. Eine 0,1-procentige Chininl\u00f6sung wurde nach 35 Minuten noch nicht percipirt. Sp\u00e4ter habe ich 20 Minuten nach der Cocainisirung die Schwellenwerthe bestimmt, die ich dann auf den sogleich nach derselben gefundenen vergleichen und somit eine gewisse Abh\u00e4ngigkeit der abschw\u00e4chenden Wirkung des Cocain von der Zeitdauer des Einflusses finden konnte. Einige wichtigere Versuche sind in nachstehender Tabelle zusammengestellt. Es bezieht sich die obere Zahl jedesmal auf die bereits angegebenen Schwellenwerthe 3 Minuten nach der Cocainisirung, die untere gibt die Schwelle 20 Minuten nach derselben an.\n\tEinmalige Pinselung mit 0,5% Coeain\tF\u00fcnfmalige Pinselung mit 0,5% Coeain\nSach. alb.\t0,9\t2\n\t0,9\t1,5\nNaCl\t0,25\t0,25\n\t0,25\t0,25\nHCl\t0,009\t0,01\n\t0,009\t0,009\nChin. suif.\t0,02\t0,05\n\t0,02\t0,02","page":520},{"file":"p0521.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\n521\nIm ersten Falle sind die Werthe nicht ver\u00e4ndert, im zweiten sind sie nach 20 Minuten mit Ausnahme desjenigen f\u00fcr Salz zur\u00fcck-gegangen. Salz aber lag schon bei der ersten Messung auf der normalen Schwelle.\n\tEinmaliges Bestreichen mit 2\u00b0/o Cocain\tF\u00fcnfmaliges Bestreichen mit 5\u00b0/o Cocain (Herr Dr. K\u00fclpe)\nSach. alb.\t4 0.8\tOO nicht empfunden 16\nNaCl\t1 0.25\tOO nicht empfunden 10\nHCl\t0,08 0,015\t0,4 nicht empfunden 0,4\nChin. sulf.\tOO nicht empfunden 0,1\tOO nicht empfunden OO schwach empfunden\n\tEinmaliges Bestreichen\tZehnmaliges Bestreichen\n\tmit 10% Cocain\tmit 10\u00b0/o Cocain\nSach. alb.\t10\tOO nicht empfunden\n\t4\t20\nNaCl\t1,3 0,6\tOO nicht empfunden 10\nHCl\t0,12\tOO nicht empfunden\n\t0,07\t0,2\nChin. suif.\tOO nicht empfunden OO sehr schwach\tnicht empfunden\nDen letzteren Fall habe ich in Abst\u00e4nden von 5 zu 5 Minuten auf die Wiederkehr der Geschm\u00e4cke gemessen, indem ich abwechselnd eine Qualit\u00e4t nach der andern auf die Schwellen pr\u00fcfte. Ich lasse das diesbez\u00fcgliche Protocoll genau hier folgen:\nNach 35 Min. HCl\t\t\t\t= 0,06X\n\u00bb\t40\t\u00bb\tSach. alb.\t= 6X\n\u00bb\t45\t\u00bb\tcone. Chin.\t= fraglich\n\u00bb\t50\t\u00bb\tNaCl\t= 0,8X\n\u00bb\t55\t\u00bb\tHCl\t= 0,05^\n\u00bb\t60\t\u00bb\tSach. alb.\t= 3X\n\u00bb\t65\t\u00bb\tChin. suif.\t= 0,1X\n\u00bb\t70\t\u00bb\tNaCl\t= 0,6X mit undefinirbarem Beigeschmack\n\u00bb\t75\t\u00bb\tSach. alb.\t= 2,5X\n))\t80\t)\u00bb\tNaCl\t= 0,4X\n\u00bb\t90\t\u00bb\tChin. suif.\t= 0,09X","page":521},{"file":"p0522.txt","language":"de","ocr_de":"522\nFriedr. Kiesow.\nAus diesen Resultaten ergibt sich, dass die Wirkung des Cocain auf Geschmacksreize unmittelbar nach der Auftragung auf die Zun je am gr\u00f6\u00dften ist. Auf dieses Verhalten m\u00f6chten fr\u00fchere sich scheinbar widersprechende Angaben zur\u00fcckzuf\u00fchren sein, sofern, wenn bereits die eine Sensation zur\u00fcckgekehrt, die Zeit f\u00fcr eine zweite noch nicht erreicht war.\nWenn wir somit gefunden haben, dass die Zeit der Wirkung des Cocain f\u00fcr Tast- und Geschmackseindr\u00fccke aus einander liegt, so ergibt sich hieraus die letzte Frage, die hier behandelt werden soll, n\u00e4mlich diejenige nach den begleitenden Empfindungen des Brennenden und Bei\u00dfenden betreffs des Salzigen und Sauren.\nTritt die Wirkung des Cocain auf Tasteindruck erst nach etwa 20 Minuten ein, so kann ich einen s\u00e4uern oder salzigen Reiz appli-ciren, ohne dass die begleitende Tastempfindung mitempfunden wird, wenn ich rechtzeitig die Zunge cocainisire. Es w\u00fcrde also in diesem Falle die reine Geschmacksempfindung Zur\u00fcckbleiben.\nBeim Salzigen beginnt bei mir in der aufsteigenden Reihe der eigentlich brennende Miteindruck bei <o% NaCl, beim Sauren empfinde ich diese brennende Mitwirkung schon bei 0,1^ HCl, die sich dann stetig steigert. Von dieser brennenden Begleitempfindung des Brennenden bei Sauer ist die des Adstringirenden zu unterscheiden, welche zuweilen schon unterhalb der Schwelle auftritt und hier oft zu T\u00e4uschungen Veranlassung gibt. Dieselbe begleitet das Saure auf allen Stufen neben der Schmerzempfindung des Brennenden. Die letztere ist au\u00dferdem bei Sauer intensiver, als bei Salzig.\nApplicirt man nun diese beiden Substanzen, wie bei den vorigen Ausf\u00fchrungen geschah, wenige Minuten nach der Cocainisirung der Zunge, so bleiben, wenn die Geschmacksempfindung auch vernichtet ist, doch die genannten Tastempfindungen zur\u00fcck. Wenn ich meine Zungenspitze mit zehnprocentigem Cocain zehnmal bestreiche, so empfinde ich bei zehnprocentiger Salzl\u00f6sung einen freilich abgeschw\u00e4chten Tasteindruck, bei 0,4HCl die schwache Empfindung des Brennenden. Beide Eindr\u00fccke verst\u00e4rken sich sogleich nach der Application. Wenn ich aber mit der Reizung der gleichen Geschmacksstoffe in derselben Concentrationsstufe etwa 15\u201420 Minuten warte, so ist f\u00fcr Salz wie f\u00fcr Sauer die Empfindlichkeit, wie","page":522},{"file":"p0523.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\t523\nwir gesehen haben, bereits zur\u00fcckgekehrt, aber ich percipire diese Eindr\u00fccke jetzt ohne die begleitenden Tastempfindungen.\nBei einer f\u00fcnfmaligen Pinselung der Zungenspitze mit f\u00fcnf-procentigem Cocain wartete ich 45 Minuten und lie\u00df sodann 10^ Chlornatrium, sowie 0,4\u00ab\u00a3 Salzs\u00e4ure auf dieselbe einwirken. Ich hatte nun einem ziemlich intensiven Salzgeschmack, und ebenso einen angenehm s\u00e4uerlichen, recht intensiven Geschmack, aber in beiden F\u00e4llen keine eigentliche Tastempfindung. Im letzteren Falle hatte ich nur momentan eine Art Empfindung des Iiauhen, sonst nichts dergleichen.\nDie geringen Grade der begleitenden Tastempfindung verlieren sich schon bei geringen L\u00f6sungsstufen des Cocain. Eine einprocen-tige Cocainl\u00f6sung beseitigt schon die Tastempfindung von %% NaCl und 0,2<\u00a3 HCl, bei h\u00f6heren Stufen hat man Verst\u00e4rkungen anzuwenden. Die Empfindung des Adstringirenden bei Sauer unterhalb der Schwelle und um diese herum verliert sich schon bei ein- bis dreimaliger Pinselung mit 0,5^ Cocain.\nVon diesem Gesichtspunkte aus sind auch Salz und Sauer wirkliche Geschmacksempfindungen und nicht, wie mehrfach behauptet worden, nur bedingungsweise. Denn auch S\u00fc\u00df und Bitter sind von Tastempfindungen begleitet, nur dass diese auf h\u00f6heren Stufen durch die Geschmackseindr\u00fccke \u00fcbert\u00f6nt werden. Auf niederen Stufen aber ist das Bittere von einer Empfindung des Fettigen, S\u00fc\u00df von der des Glatten begleitet1).\n2. Die Gymnemas\u00e4ure.\nDieselbe entstammt der Gymnema sylvestre, einer in ganz Indien wachsenden Asclepiadee, deren Wurzeln von den Eingeborenen als Mittel gegen den Biss giftiger Schlangen seit lange verwerthet werden sollen. Seit der Entdeckung von Edgeworth, dass die Bl\u00e4tter, in den Mund genommen und ein wenig gekaut, die Eigenschaft besitzen, den Geschmack f\u00fcr S\u00fc\u00df v\u00f6llig zu tilgen, hat diese Pflanze auch in der Wissenschaft Interesse erregt. In der That besitzen wir in der Gymnema ein Mittel, das uns bez\u00fcglich der\n1) Die Begr\u00fcndung dieser Thatsache erfolgt in meiner sp\u00e4teren Arbeit.","page":523},{"file":"p0524.txt","language":"de","ocr_de":"524\nFriedr. Kiesow.\nErforschung des Geschmackssinnes nicht unwichtige Dienste leisten d\u00fcrfte.\nDie ersten Versuche habe ich in dieser Beziehung mit getrockneten Bl\u00e4ttern gemacht, die ich durch die \u00fcberaus freundliche Vermittelung des Herrn Professor Dr. Ambron aus den Kew-gardens in London erhielt. Die Wirkung ist eine h\u00f6chst intensive. Denn es gen\u00fcgt die Spitze eines etwa iy2 cm langen und 1 cm breiten Blattes, um die Zunge f\u00fcr S\u00fc\u00df unempfindlich zu machen.\nDie Dauer ihrer Wirkung wird sehr verschieden angegeben, sie schwankt zwischen 2\u201424 Stunden. Individuelle Unterschiede werden hier auch eine Rolle spielen, dann aber m\u00f6chte das Quantum der Bl\u00e4tter in Betracht gezogen werden m\u00fcssen, sowie der S\u00e4uregehalt derselben. Ich habe die Dauer dieses Einflusses oft zu bestimmen gesucht, indem ich ein Blatt von obiger Gr\u00f6\u00dfe 5 Minuten lang im Munde behielt und nach und nach zerkleinert hatte und sodann die Zeit ma\u00df, in welcher ich wieder f\u00e4hig war, auf Zuckerst\u00fccke zu reagiren. Diese Zeit fand ich sehr verschieden. Einmal lagen nur 3 Stunden dazwischen, ein anderes Mal 6, wieder ein anderes Mal 8 u. s. f. Diese Unterschiede kann ich mir nur so erkl\u00e4ren, dass vielleicht der S\u00e4uregehalt der Bl\u00e4tter ein verschiedener war: denn die Gr\u00f6\u00dfenunterschiede derselben waren nur minimaler Art.\nHoo per fand die Wirkung der Bl\u00e4tter dieser eigenartigen Pflanze auf S\u00fc\u00df und Bitter beschr\u00e4nkt, nach Shore ist dieselbe bei S\u00fc\u00df am intensivsten, geringer bei Bitter, Sauer kommt \u00fcberhaupt nicht. Salz nur in au\u00dferordentlich geringem Ma\u00dfe in Betracht1).\nDie mir bei den folgenden Versuchen zur Verf\u00fcgung stehende Gymnemas\u00e4ure ist von Merk in Darmstadt bezogen worden. Dieselbe l\u00f6st sich schwer oder gar nicht in Wasser, wohl aber in Alcohol. Da es mir bei meinen Versuchen darauf ankam, eine m\u00f6glichst concentrirtc L\u00f6sung zu besitzen, so stellte ich mir eine solche in 96_%\" Alcohol dar. Auf 1 Theil Gymnemas\u00e4ure kommen in diesem Falle 12 Theile Alcohol. Von dieser L\u00f6sung konnte ich dann leicht Verd\u00fcnnungen erhalten.\nDie Dauer der Wirksamkeit dieser L\u00f6sung habe ich zun\u00e4chst an Zuckerst\u00fccken gepr\u00fcft. Nachdem ich eines Abends 3/48 Uhr\n1) a. a. O. S. 511, Anmerk. 5.","page":524},{"file":"p0525.txt","language":"de","ocr_de":"525\nDebet die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure etc.\nmeine Zungenspitze mit einem Pinsel von gleicher St\u00e4rke wie den oben beschriebenen mit concentrirter L\u00f6sung einmal gepinselt hatte, trank ich um 11 Uhr eine Tasse Kaffee, um mich f\u00fcr weiteres Arbeiten ein wenig zu erholen. Dabei schmeckten mir Zuckerst\u00fccke noch widerlich, wie St\u00fccke gel\u00f6schten Kalkes, erst nach mehreren Minuten trat eine schwach s\u00fc\u00dfliche Lmpfindung dazu. Diese Wirkung war am Morgen um 7 Uhr noch die gleiche, circa 11 Stunden nach der Application. Einen gleichen Versuch machte ich mit Mr. Harlow Gale. Bei diesem trat erst nach 6 Stunden wieder eine schwach s\u00fc\u00dfliche Empfindung auf.\nNach einer f\u00fcnfmaligen Pinselung mit concentrirter L\u00f6sung trat die Wirkung auf Zuckerst\u00fccke erst nach S3/4 Stunden sehr schwach wieder auf.\nAu\u00dfer diesen Versuchen habe ich noch die verschiedensten L\u00f6sungsstufen von Rohrzucker auf die Wirkung der Gymnema gepr\u00fcft. Ich stelle dieselben in einer Tabelle \u00fcbersichtlich zusammen.\n\tEinmalige Pinselung\n\\% Sach.\tWirkung nach 130 Min. noch keine Spur S\u00fc\u00df\n1% \u00bb\tR\u00fcckkehr nach 100 Minuten1 *)\n5X \u00bb\t\u00bb \u00bb 80 \u00ab\n10* \u00bb\t\u00bb \u00bb 60 \u00bb\n20X\t\u00bb\t\u00bb\t\u00ab\t50\nNach einer f\u00fcnfmaligen Pinselung der Zungenspitze mit dergleichen L\u00f6sung der Gymnemas\u00e4ure konnte ich 5 % Rohrzucker erst nach 972 Stunden wieder schwach percipiren.\nEines Versuches sei hier noch erw\u00e4hnt, welcher deutlich zeigt, wie sehr die R\u00fcckkehr der Empfindung einmal von der verabreichten Dosis der Drogue, sodann von der Concentrationsstufe des Reizes abh\u00e4ngt. Ich pinselte 2 Uhr Nachts meine Zungenspitze\n1) Diesen Versuch machte ich mit meinem Bruder zusammen. Da wir beide\nziemlich zu gleicher Zeit die Sensation zur\u00fcckerhielten, nahm ich den Mittel-\nwerth.","page":525},{"file":"p0526.txt","language":"de","ocr_de":"526\nFriedr. Kiesow.\n5 Minuten lang, nach einer Pause von 5 Minuten abermals in gleicher Weise. Das Resultat war:\nMorgens 8 Uhr: Zuckerst\u00fccke schmeckten wie Sand oder M\u00f6rtel,\nSacharin in Pulverform ohne die geringste Spur von S\u00fc\u00df brennend laugig.\n\u00bb\t8V2 \u00bb\t20X Sach. alb. = 0,\nZuckerst\u00fccke wie oben,\nSacharin wie oben, mit einer Tendenz nach S\u00fc\u00df.\n*\t9\t\u00bb\t20X\tSach. alb. schwaches Aufd\u00e4mmern\tvon S\u00fc\u00df,\nSacharin schwach s\u00fc\u00df, mit brennend laugigem Beigeschmack.\n\u00bb\t91/2 \u00bb Zuckerst\u00fccke schwach s\u00fc\u00df, mit k\u00f6rnig sandiger Empfindung.\n\u00bb\t10\t\u00bb\t10X\tSach. alb. schwach s\u00fc\u00df,\n5X\t\u00bb\t\u00bb\t0.\n\u00bb\tIOV2\t\u2019*\t5X\t\u00bb\t\u00bb\tfraglich.\n\u00bb\tU\t*\t5X\t\u00bb\t\u00bb\terst nach einigen Secunden s\u00fc\u00df.\n\u00bb\tII1/2\t\u00bb\t2 X\t\u00bb\t\u00bb\t0, fade.\nNach diesen Versuchen stellte ich mir von der concentrirten Gymnemal\u00f6sung eine einprocentige dar, indem ich 96-procentigen Alcohol als Verd\u00fcnnungsmittel benutzte.\nDie Wirkung dieser L\u00f6sung unterscheidet sich von der obigen nur durch die L\u00e4nge der Zeit. Sofort nach der Application ist jede Sensation f\u00fcr S\u00fc\u00df vernichtet, auch concentrirte Sacharinl\u00f6sung wird nicht als S\u00fc\u00df percipirt. Die Empfindung kehrt jedoch schon f\u00fcr diese Substanz nach 20\u201430 Minuten zur\u00fcck, in aufsteigender Folge dann f\u00fcr die \u00fcbrigen Reizgro\u00dfen. Eine Verd\u00fcnnung dieser L\u00f6sung auf 3 Theile Wasser wirkt noch auf schw\u00e4chere Reizgr\u00f6\u00dfen des S\u00fc\u00dfen, f\u00fcnf-, zwei-, einprocentige Zuckerl\u00f6sungen ein.\nEs bleibt nun noch die Frage zu beantworten, wie die Gym-nemas\u00e4ure sich zu den \u00fcbrigen Geschmacksqualit\u00e4ten verh\u00e4lt.\nDie Verh\u00e4ltnisse stellen sich hier so, dass dieselbe auf Bitter in zweiter Linie ihren Einfluss geltend macht, in weit geringerem Grade auf Salz und Sauer. Ich stelle die bei einmaliger Pinselung mit concentrirter L\u00f6sung gefundenen Werthe wiederum in einer Tabelle zusammen.\n\tGleich nach der Pinselung\tNach 15 Min.\tNach 20 Min.\tNach 45 Min.\tNach 60 Min.\nNaCl\t0,6\t0,3\t0,3\t0,25\t\u2014\nHCl\t0,009\t0,009\t0,008\t0,008\t\u2014\nChin. suif.\t0,1\t0,05\t0,03\t0,03\t0,03","page":526},{"file":"p0527.txt","language":"de","ocr_de":"527\nUeber die Wirkung des Cocain und der Gyrnnemas\u00e4ure etc.\nBei diesem Versuche weicht die Schwelle f\u00fcr HCl nicht von der normalen ab. Eine vermehrte Dosis lie\u00df dieselbe jedoch betr\u00e4chtlich h\u00f6her steigen. Nachdem ich die Zungenspitze zehnmal in 10 Minuten mit der gleichen L\u00f6sung bestrichen hatte, lag die Schwelle f\u00fcr Salzs\u00e4ure bei 0,01#. Nach einer Pause von 5 Minuten pinselte ich in gleicher Weise f\u00fcnfmal und fand die Schwelle nun hei 0,015^\", bei wieder f\u00fcnfmaliger Pinselung hierauf hei 0,025^. Einprocentiges Chlornatrium konnte ich in letzterem Falle eben noch percipiren. Somit wirkt auch Gyrnnemas\u00e4ure auf alle vier Geschmacksqualit\u00e4ten ein, obwohl die Wirkung auf Salz und Sauer kaum zu verwerthen sein d\u00fcrfte.\nVergleichen wir nun mit den eben gefundenen Werthen die Wirkung des Cocain, so ergibt sich, dass diese eine weit intensivere ist. Betreffs der Gymnema entspricht ihre Beeinflussung des S\u00fc\u00dfen ungef\u00e4hr der Abh\u00e4ngigkeit des Bittern vom Cocain, aber umgekehrt ist die Wirkung auf Bitter bei der Gymnema nicht im entferntesten gleich dem Einfl\u00fcsse des Cocain auf das S\u00fc\u00dfe. In dieser Beziehung ist das neue Mittel daher auch vorzugsweise verwendbar. Auf Tast- und Temperaturreize \u00fcbte die Gyrnnemas\u00e4ure nach meinen Befunden keinerlei Wirkung aus.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n36","page":527}],"identifier":"lit4240","issued":"1894","language":"de","pages":"510-527","startpages":"510","title":"Ueber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure auf die Schleimhaut der Zunge und des Mundraums","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:34:20.354506+00:00"}