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{"created":"2022-01-31T15:59:38.859594+00:00","id":"lit4241","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Radulescu-Motru, Constantin","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 9: 528-606","fulltext":[{"file":"p0528.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\nVon\nConstantin Kadolescu-Motru.\n(Schluss.)\nDrittes Capitel.\nI.\nEntwickelung Kant\u2019s: Begriff der Causalit\u00e4t in der vorkritischen Periode. \u2014 ? / Princip. prim, cognit. metaph. nova delucidatio. \u2014LVersuch \u00fcber den Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen. \u2014^/Tr\u00e4ume eines Geistersehers. \u2014 G. E. Stahl und die animistische Theorie \u00fcb@r das Leben. \u2014 Das Problem von der Einheit des Denkens.\nIn der Periode, die der Dissertation der Jahres 1770 und der Kritik der reinen Vernunft vorausgeht, schlie\u00dft Kant, was die von ihm gebotenen L\u00f6sungen des Causalit\u00e4tsproblems anlangt, im Grunde Compromisse, wobei er sich hier mehr der einen, dort mehr der anderen der beiden Richtungen, die wir im Voraufgehenden betrachtet haben, zuneigt. Erst jene beiden Werke bringen die endg\u00fcltige L\u00f6sung, die, als das Eigent\u00fcmliche des Kant\u2019schen Systems, so viel Einfluss auf die Philosophie der Gegenwart ge\u00fcbt hat und vielleicht noch weiter \u00fcben wird. Und so wird uns auch diese letzte L\u00f6sung, die, verglichen mit den fr\u00fcheren, die wahrhaft originale ist. ganz besonders besch\u00e4ftigen. Immerhin mag es nicht unn\u00f6thig sein, w\u00e4re es auch nur als R\u00fcckblick auf das \u00fcber die vorigen Richtungen in den letzten Abschnitten Gesagte, bevor wir uns zu der definitiven L\u00f6sung der \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab wenden, die Kant\u2019s","page":528},{"file":"p0529.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n529\nvorkritischer Periode angeh\u00f6rigen Compromiss- oder Zwischenl\u00f6sungen an uns vor\u00fcberziehen zu lassen. Wie wenig immer Kant zu diesen Compromissen mit dem Seinigen beisteuern m\u00f6ge, so l\u00e4sst er doch durch die Art und Weise seiner Modificationen den besonderen Gesichtspunkt erkennen, von dem aus er auf die philosophischen Ergebnisse des Jahrhunderts von Leibniz und Locke hinblickt, und diesen Gesichtspunkt sich zu vergegenw\u00e4rtigen, wird f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss seines sp\u00e4teren Standpunktes nicht ohne Werth sein.\nBei seinem ersten Auftreten steht Kant v\u00f6llig unter dem Einfl\u00fcsse der Newton\u2019schen Physik; ihm gen\u00fcgen f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Welt die mathematisch best\u00e4tigten mechanischen Gesetze einerseits, die Annahme eines Gottes anderseits. \u00bbDie ganze Natur\u00ab, sagt er in der Vorrede seines Werkes \u00bbAllg. Naturgeschichte und Theorie des Himmels\u00ab (1755), \u00bbvornehmlich die unorganische, ist voll von solchen Beweisen, die zu erkennen geben, dass die sich selbst durch die Mechanik ihrer Kr\u00e4fte bestimmende Materie eine gewisse Richtigkeit in ihren Folgen habe und den Regeln der Wohlanst\u00e4ndigkeit ungezwungen genug thue\u00ab. \u00bbDie nach ihren allgemeinsten Gesetzen sich bestimmende Materie bringt durch Unnat\u00fcrliches Betragen oder, wenn man es so nennen will, durch eine blinde Mechanik anst\u00e4ndige Folgen hervor, die der Entwurf einer h\u00f6chsten Weisheit zu sein scheinen\u00ab1). Und weiterhin: \u00bbDie Materie, die der Urstoff aller Dinge ist, ist also an gewisse Gesetze gebunden, welchen sie frei \u00fcberlassen nothwendig sch\u00f6ne Verbindungen hervorbringen muss. Sie hat keine Freiheit, von diesem Plane der Vollkommenheit abzuweichen. Da sie also sich einer h\u00f6chst weisen Absicht unterworfen befindet, so muss sie nothwendig in solche \u00fcbereinstimmende Verh\u00e4ltnisse durch eine \u00fcber sie herrschende erste Ursache versetzt worden sein, und es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelm\u00e4\u00dfig und ordentlich verfahren kann\u00ab2). Man k\u00f6nnte die ganze oben erw\u00e4hnte Schrift citiren, \u00fcberall w\u00fcrde sich der mechanistische Determinismus best\u00e4tigt finden. Eine bessere Grundlage, als die bei Kant\n1)\tVorrede, S. 9. (Ausg. Kirchmann.)\n2)\tEbenda, S. 12.","page":529},{"file":"p0530.txt","language":"de","ocr_de":"530\nConstantin Radulescu-Motru.\ngegebene, h\u00e4tte \u00fcbrigens zu jener Zeit eine kosmologische Hypothese \u00fcberhaupt kaum aufweisen k\u00f6nnen.\nDie philosophische Darlegung dieses Standpunktes gibt Kant in seiner im gleichen Jahre (K\u00f6nigsberg 1755) verfassten Habilitationsschrift : \u00bbPrincipiorum primorum cognitionis metaphygicaa nova. delucidatioit\u2014Er theilt dort im Grunde Leibniz\u2019 Ansichten, ohne sie jedoch v\u00f6llig zu adoptiren. Er bereichert dessen \u00bbPrincipium rationis sufficientis\u00ab \u2014 rationis determinantis, wie er es bestimmter genannt wissen will \u2014 durch eine Unterscheidung, deren Wichtigkeit jederzeit ins Auge fallen muss; eine Unterscheidung, die dem 17. Jahrhundert, w\u00e4re sie ihm bekannt gewesen, zahlreiche gewagte Speculationen erspart h\u00e4tte. \u00bbRatio distinguitur in antecedentem et in consequenter determinautem. Antecedenter determinans est, cujus notio praecedit determinatum, h. e. qua non supposita deter-minatum non est intelligibile. (Huic annumerare licet rationem identicam, ubi notio subjecti per suam cum praedicato perfectam identitatem hoc d\u00e9termin\u00e2t; e. g. triangulum habet tria latera, ubi determinati notio notionem determinantis nec sequitur nec praecedit.) Consequenter determinans est, quae non ponetur, nisi jam aliunde posita esset notio, quae ab ipso determinatur. Priorem rationem etiam rationem Cur s. rationem essendi vel fiendi vocare poteris, posteriorem rationem Quod s. cognoscendi\u00ab1).\nDiese Unterscheidung ist hiernach, dies liegt auf der Hand, nichts anderes als der Versuch, den logischen Satz vom Grunde von der realen Causalit\u00e4t zu trennen. Antecedenter determinans, im voraus bestimmend, ist n\u00e4mlich, zumal ihm die ratio identica als gleichwerthig beigez\u00e4hlt wird, der logische Grund, w\u00e4hrend consequenter determinans, folgeweise bestimmend, was Kant auch den Grund des Was (rationem Quod) oder der Erkenntniss (rationem cognoscendi) nennt, sich deckt mit naturwissenschaftlicher Causalit\u00e4t. Zur besseren Erl\u00e4uterung dieser Unterscheidung f\u00fchren wir Kant\u2019s eignes Beispiel, die Bestimmung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes aus den Verfinsterungen der Jupitertrabanten, an. Die stetige Bewegung des Lichtes l\u00e4sst sich n\u00e4mlich als nothwendige Ursache aus der Erscheinung dieser Tra-\n1) Prine. prim, cognit. metaph. sectio II. definitio.","page":530},{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n531\nbanten erschlie\u00dfen. Wir haben hier eine ratio consequenter determinans, eine Art der Begr\u00fcndung, die sich v\u00f6llig in den Grenzen der Naturwissenschaft h\u00e4lt. Der Grund des Seins hingegen oder die ratio antecedenter determinans w\u00fcrde in einer Hypothese \u00fcber das Wesen des Lichtes bestehen, aus welcher analytisch folgen m\u00fcsste, dass die Bewegung des Lichtes mit einem angebbaren Zeitverlust verbunden ist. Wenn man z. B. der Hypothese Descartes\u2019 folgt, so w\u00fcrde der im voraus bestimmende Grund, aus welchem analytisch die Erkenntniss der stetigen Bewegung des Lichtes hervorgeht, die Elasticit\u00e4t der elastischen Luftk\u00fcgelchen (elasticitas globulorum a\u00ebris elasticorum) sein; denn ihr zufolge ist die Uebertragung des Stosses von einem K\u00fcgelchen zum andern und somit die Bewegung des Lichtes nur mit einem gewissen Zeitverlust m\u00f6glich. W\u00e4ren jedoch die Luftk\u00fcgelchen vollkommen hart, so w\u00fcrde man auch bei einer noch so ungeheuren Entfernung keinen Unterschied zwischen Ausfluss und Ankunft des Lichtes wahrnehmen.\nAugenscheinlich ist hier die oben erw\u00e4hnte Unterscheidung nicht ganz scharf, aber der Weg zu ihr ist hinl\u00e4nglich angedeutet. W\u00e4ren logischer Grund und Causalit\u00e4t auch nur in dieser Differenzirung bekannt gewesen, so w\u00fcrde weder das Missverst\u00e4ndniss zwischen Descartes und Galilei, noch die schiefe Auffassung der Philosophie Newton\u2019s durch Cotes m\u00f6glich gewesen sein. Unter der Wirkung der Kant\u2019schen Scheidung w\u00fcrde der mathematische Functionsbegriff, der f\u00fcr die Wissenschaft in dieser ganzen Zeit f\u00fchrend war, an Bestimmtheit gewonnen haben. So h\u00e4tte man einen Unterschied machen k\u00f6nnen zwischen einer Naturerkl\u00e4rung nach Grund und Folge, wie sie die metaphysischen Hypothesen durch Annahme des Atomismus, der Monaden oder Substanzen beanspruchen, und einer solchen, welche die Nachfolger Galilei\u2019s und Kepler\u2019s erstrebten, n\u00e4mlich die Verwirklichung der mathematischen Beziehungen durch das Experiment. Mit einem Worte, Kant\u2019s Unterscheidung in den Princ. prim, cognit. metaph. w\u00fcrde den um ein besseres Verst\u00e4ndniss der Causalit\u00e4t bem\u00fcht gewesenen Denkern manchen Umweg erspart haben. Die mathematischphysikalischen Ergebnisse eines Descartes, Huygens, Leibniz, Newton w\u00fcrden l\u00e4nger Stand gehalten haben gegen\u00fcber den psy-","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"532\nConstantin Radulescii-Motra.\nchologischen Verallgemeinerungen eines Locke und Berkeley oder gegen\u00fcber Hume\u2019s Theorie der getrennten und isolirten Eindr\u00fccke.\nIn der angef\u00fchrten Habilitationsschrift w\u00e4re noch manches andere als neu zu .erw\u00e4hnen, wie z. B. das Princip der Succession und der Coexistenz (vergl. III. Abschnitt), aber wir \u00fcbergehen es einstweilen, da wir sp\u00e4ter ausf\u00fchrlicher darauf zur\u00fcckkommen.\nEin Jahr sp\u00e4ter spricht Kant in seiner Rede \u00bbMetaphvsicae cum geometria junctae usus in philosophia naturali (specimen I, Monadologia physica 1756)\u00ab dieselben Ansichten \u00fcber die ratio de-terminans aus. Hervorzuheben ist nur, dass er dem Grunde \u00bbante-cedenter determinans\u00ab einen gewissen Vorzug gibt. \u00bbDenn wer bei den Erscheinungen der Natur stehen bleibt, dem bleibt die Er-kenntniss der ersten Ursachen immer verschlossen, und er gelangt so wenig zur Erkenntniss des Wesens der K\u00f6rper, wie die, welche den Berg immer h\u00f6her und h\u00f6her hinaufsteigen, aber trotzdem den Himmel niemals mit ihren H\u00e4nden erfassen werden.\u00ab1) Indem Kant eine Verbindung der Metaphysik und der Geometrie versucht, glaubt er dieser Art der Erkenntniss durch die Annahme einer anziehenden und absto\u00dfenden Kraft zu gen\u00fcgen. Uebrigens bedeutet diese Rede keinen Fortschritt gegen\u00fcber der oben erw\u00e4hnten Schrift. Wichtiger sind die wenigen' Seiten des \u00bbNeuen Lehrbegriffs der Bewegung und Ruhe\u00ab (1758), weil sich darin der Fortschritt in der kritischen Methode zu erkennen gibt.\nDie Schrift aber, welche alle andern \u00fcberragt und eines der entscheidendsten Momente f\u00fcr die Kant\u2019sche Philosophie \u00fcberhaupt bildet, ist der: \u00bbVersuch, den Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen in die Weltweisheit einzuf\u00fchren\u00ab (1763). Hier sieht man ohne gro\u00dfe M\u00fche, wie deT Skepticismus Hume\u2019s bei Kant Eingang fand, um ihn, wie er selbst sp\u00e4ter sagte, aus seinem dogmatischen Schlummer zu r\u00fctteln. Hier ist die wichtigste Frage aufgeworfen, von deren L\u00f6sung Kant\u2019s Philosophie abh\u00e4ngt. Zwar sucht Kant den Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen zu erl\u00e4utern; im Grunde aber steht das Problem der Causalit\u00e4t im Mittelpunkte der Betrachtung, und jener bietet ihm nur die Gelegenheit, dieses zu entwickeln.\n1) Vorwort. (Ausg. Kirchmann.)","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t533\nKant beginnt wieder mit einer f\u00fcr alles \u00fcbrige ma\u00dfgebenden Unterscheidung. Er sagt: \u00bbEinander entgegengesetzt ist, wovon Eines dasjenige aufhebt, was durch das Andere gesetzt ist. Diese Entgegensetzung ist zwiefach: entweder logisch durch den Widerspruch, oder real, d. i. ohne Widerspruch. Die erste Opposition, n\u00e4mlich die logische, ist diejenige, worauf man bis dahin einzig und allein sein Augenmerk gerichtet hat. Sie besteht darin, dass von eben demselben Dinge etwas zugleich bejaht und verneint wird. Die Folge dieser logischen Verkn\u00fcpfung ist gar Nichts (nihil negativum irrepraesentabile), -wie der Satz des Widerspruchs\nes aussagt........ Die zweite Opposition, n\u00e4mlich die reale, ist\ndiejenige, da zwei Pr\u00e4dicate eines Dinges entgegengesetzt sind, aber nicht durch den Satz des Widerspruchs. Es hebt hier auch Eins dasjenige auf, was durch das Andere gesetzt ist; allein die Folge ist Etwas (cogitabile). Bewegkraft eines K\u00f6rpers nach einer Gegend, und eine gleiche Bestrebung eben derselben in entgegengesetzter Richtung widersprechen einander nicht und sind als Pr\u00e4dicate in einem K\u00f6rper zugleich m\u00f6glich. Die Folge davon ist die K\u00fche, welche Etwas (repraesentabile) ist.\u00ab1). \u00bbDiese zweite Opposition, die Realrepugnanz, findet also statt, insofern zwei Dinge als positive Gr\u00fcnde eins die Folge des anderen aufhebt.\u00ab2) Sie beruht mit anderen Worten auf einer Beziehung zweier Pr\u00e4dicate eben desselben Dinges gegen einander : derart, dass das eine Pr\u00e4-dicat nicht verneint, was das andere bejaht, denn dies w\u00e4re der Fall des logischen Widerspruchs, sondern dass beide bejahend sind. Eine solche Entgegensetzung hat nur Gleichgewicht zur Folge. Die Mathematiker bezeichnen die Gr\u00f6\u00dfen in einer solchen realen Entgegensetzung mit 4- und \u2014, ihr Gleichgewicht aber*mit 0. Kant erl\u00e4utert dies au\u00dferdem noch durch verschiedene Beispiele aus den Natur- und Geisteswissenschaften, um schlie\u00dflich zu der Frage nach der wirklichen Natur des Realgegensatzes zu kommen, zu der Frage n\u00e4mlich, welches seine Berechtigung, welches seine Stelle neben dem logischen Gegens\u00e4tze sei. Kant behandelt diese Frage\n1)\tVersuch, den Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen in die Weltweisheit einzuf\u00fchren. (Ausg. Kirchmann.) S. 25.\t>\n2)\tEbenda, S. 25.","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"534\nConstantin Radulescu-Motru.\nso\u00bb dass f\u00fcr uns kein Zweifel mehr dar\u00fcber bestehen kann, dass wir es hier statt mit der realen Repugnanz mit der realen Causalit\u00e4t zu thun haben. Zu diesem Wechsel war er unter der Hand durch die Verallgemeinerung gef\u00fchrt worden, welche er in Betreff der Summe aller nat\u00fcrlichen Ver\u00e4nderungen der Welt machte, eine Verallgemeinerung, die er vermittelst der Analogie der negativen Gr\u00f6\u00dfen so formuliren will: \u00bbIn allen nat\u00fcrlichen Ver\u00e4nderungen der Welt wird die Summe des Positiven, insofern sie dadurch gesch\u00e4tzt wird, dass einstimmige (nicht entgegengesetzte-Positionen addirt und real entgegengesetzte von einander abgezogen werden, weder vermehrt noch vermindert.\u00ab1 Das ist, wie wir sehen, weiter nichts anderes als der schon l\u00e4ngst behauptete Satz \u00fcber die Constanz der Bewegungsquantit\u00e4t : quantitas motus, summando vires corporum in easdem partes et subtrahendo eas, quae vergunt in contrarias, per mutuam illarum actionem (con-flictum, pressionem, attractionem) non mutatur.\nHier angelangt, wirft sich die Frage nach der Causalit\u00e4t wie von selbst auf. In welcher Beziehung stehen diese realen Gr\u00fcnde .' Nach welcher Regel schlie\u00dfen wir von dem einen auf den andern ' \u00bbIch verstehe sehr wohl\u00ab, sagt Kant, \u00bbwie eine Folge durch einen Grund nach der Regel der Identit\u00e4t gesetzt werde, dadurch, weil sie durch die Zergliederung der Begriffe in ihm enthalten befunden wird. So ist die Nothwendigkeit ein Grund der Unver\u00e4nderlichkeit, die Zusammensetzung ein Grund der Theilbarkeit, .... und diese Verkn\u00fcpfung des Grundes mit der Folge kann ich deutlich ein-sehen, weil die Folge wirklich einerlei ist mit einem Theilbegriffe des Grundes, und indem sie schon in ihm befasst wird, durch denselben naafe der Regel der Einstimmung gesetzt wird2). Dies ist der logische Grund und seine Folge; die Gewissheit ihrer Beziehung ist analytisch aus den Begriffen selbst abgeleitet. \u00bbWie aber etwas aus etwas anderem, aber nicht nach der Regel der Identit\u00e4t flie\u00dfe, das ist etwas, was ich mir gerne m\u00f6chte deutlich machen lassen.\u00ab3) F\u00fcr diese zweite Art der Beziehung muss die\n1)\tVersuch, den Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen in die Weltweisheit einzuf\u00fchren. (Ausg. Kirchmann.) S. 50.\n2)\tEbenda, S. 58 ff.\n3)\tEbenda, S. 59.","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiil.\n535\nGewissheit eine andere Quelle haben. Welches ist sie? \u00bbWie soll ich es verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei?\u00ab Das ist mit anderen Worten Hume\u2019s Frage: \u00bbWas ist das Wesen aller Begr\u00fcndung in Bezug auf Thatsachen ? \u00ab*) \u00bbEin K\u00f6rper A ist in Bewegung, ein anderer B in der geraden Linie derselben in Ruhe. Die Bewegung von A ist etwas, die von B ist etwas anderes und doch wird durch die eine die andere gesetzt.\u00ab1 2) Besser konnte Kant wohl f\u00fcr eine volle Beeinflussung von Seiten Hume\u2019s nicht vorbereitet sein. \u00bbIch lasse mich auch\u00ab, f\u00e4hrt Kant fort, \u00bbdurch die W\u00f6rter: Ursache und Wirkung, Kraft und Handlung nicht abspeisen. Denn wenn ich etwas schon als eine Ursache wovon einsehe, oder ihr den Begriff der Kraft beilege, so habe ich m ihr schon die Beziehung des Realgrundes zu der Folge gedacht, und dann ist es leicht, die Position nach der Regel der Identit\u00e4t einzusehen.\u00ab3) Er schlie\u00dft seine Schrift, ohne eine Theorie aufzustellen. Was er zu behaupten wagt, ist nur die Unterscheidung dieser Beziehung von der logischen nach Grund und Folge. Die v\u00f6llige L\u00f6sung spart er sich f\u00fcr ein anderes Mal auf. Es ist wahr, dass dem Buchstaben nach der \u00bbVersuch, den Begriff etc.\u00ab nichts weiter enth\u00e4lt ; dagegen lassen sich aus seiner Darstellungsweise viel wichtigere (Konsequenzen ziehen. Wenn eine verschiedene Art der Fragestellung Einfluss auf die L\u00f6sung der Frage selbst haben kann, so l\u00e4sst sich kein besseres Beispiel daf\u00fcr anf\u00fchren, als gerade die besprochene Lage Kant\u2019s. Die Art und Weise, wie die Frage gestellt ist, greift mehr, als es auf den ersten Blick hin erscheinen mag, in die erwartete L\u00f6sung ein. Wir wollen sie noch einmal wiederholen : \u00bbWie soll ich verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei?\u00ab F\u00fcr Kant w\u00fcrde die Frage ganz nat\u00fcrlich sein, da man sie wie von selbst, sobald man nachdenkt, auf das Wesen der Causalit\u00e4t stellt. Aber ist dem so? Kann man schlechthin den Begriff der Ursache und Wirkung an die Stellen setzen, die in dieser Frage das \u00bbEtwas\u00ab und \u00bbetwas Anderes\u00ab einnehmen? Die Sprache allein zeigt uns ohne andere Ueberlegung, dass diese\n1)\tEnquiry cone. hum. underst. (Uebers. Kirchmann S. 35.)\n2)\tEbenda, S. 59.\n3)\tEbenda, S. 60.","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536\nConstantin Radulescu-Motru.\nletzteren Ausdr\u00fccke ohne weitere Er\u00f6rterung f\u00fcr getrennte angesehen werden. \u00bbEtwas\u00ab und \u00bbetwas Anderes\u00ab sind Ausdr\u00fccke, die anzeigen, dass zwischen zwei Dingen ein sehr deutlicher Unterschied besteht. Indem Kant sie annimmt, l\u00e4sst er daran keinen Zweifel mehr, dass er in jener falschen psychologischen Theorie Hume\u2019s von losen und getrennten Eindr\u00fccken so sehr befangen ist, wie ihr Urheber. Nimmt man Ursache und Wirkung als solche lose, getrennte Eindr\u00fccke, so begreift man ohne Schwierigkeit, dass von einer nothwendigen Beziehung beider zu einander nicht mehr die Rede sein kann. Eine nothwendige Beziehung konnte sich nur durch die Aufhebung jener Annahme behaupten; dies aber ist weder Hume noch Kant, letzterem wenigstens nicht in dieser Periode seiner Philosophie, eingefallen. Es scheint mir, dass f\u00fcr beide als nicht weiter zu Er\u00f6rterndes feststeht, die Thatsachen der Erfahrung, beziehungsweise unsere Vorstellungen seien isolirt gegeben, und ihre Verbindung geschehe willk\u00fcrlich durch den Verstand. Das ist aber, wie fr\u00fcher gesagt, mehr als eine blo\u00dfe Vorwegnahme der skeptischen L\u00f6sung. Kant deutet durch diese Art der Fragestellung an, dass er den anfangs eingenommenen Standpunkt verlassen habe: der mechanistische Determinismus der \u00bbTheorie des Himmels\u00ab ist bei ihm durch den englischen Sensualismus ersetzt worden.\nEin anderes Werk, welches gleichfalls das Problem der Cau-salit\u00e4t ber\u00fchrt, sind die drei Jahre sp\u00e4ter erschienenen \u00bbTr\u00e4ume eines Geistersehers, erl\u00e4utert durch die Tr\u00e4ume der Metaphysik;. (1766). Wenn man den kurzen Zeitraum bedenkt, der beide Werke trennt, so neigt man unwillk\u00fcrlich zu der Ansicht, dass beide in dem gleichen Geiste abgefasst sind. Und in der That findet sich diese Vermuthung, was das Causalproblem betrifft, zum gro\u00dfen Theile best\u00e4tigt. Die \u00bbTr\u00e4ume eines Geistersehers\u00ab wiederholen einfach dieselben Behauptungen wie der Versuch der negativen Gr\u00f6\u00dfen. \u00bbSofern aber etwas eine Ursache ist, so wird durch ,Etwas'\n,etwas Anderes\u201c gesetzt, und es ist also kein Zusammenhang verm\u00f6ge der Einstimmung anzutreffen; wie denn auch, wenn ich eben dasselbe nicht als eine Ursache ansehen will, niemals ein Widerspruch entspringt, weil es sich nicht contradicirt, wenn etwas ge-","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t537\nsetzt ist, etwas anderes aufzuheben1).\u00ab Dennoch w\u00fcrde man sich sehr t\u00e4uschen, wenn man glaubte, die Tr\u00e4ume eines Geistersehers seien ohne jede Bedeutung f\u00fcr das Causalproblem. Ihre Bedeutung \u00fcbertrifft im Gegentheil in vielen Beziehungen die des \u00bbVersuches \u00fcber die neg. Gr.\u00ab. Nur m\u00fcssen wir ihren Inhalt von einem anderen Gesichtspunkte aus analysiren, als den des letzten Werkes. Hier beschr\u00e4nkt sich die Er\u00f6rterung fast ausschlie\u00dflich auf die Beziehung der Wirkung zu der Ursache; in den \u00bbTr\u00e4umen eines Geistersehers\u00ab kreuzen sich bisweilen verschiedene Probleme, sogar\n/ o\nmit dem Anscheine, als ob sie sich fast zuf\u00e4llig unter der Eingebung des Augenblickes einf\u00fchrten und aufdr\u00e4ngten. Unter diesen Bedingungen macht sich eine Auswahl nothwendig, und nur weil diese gew\u00f6hnlich nicht getroffen worden ist, hat das ganze Werk selten nach seinem wahren Werthe gew\u00fcrdigt werden k\u00f6nnen. Ist diese Auswahl einmal getroffen, so werden wir bemerken, dass sich unter der Incoh\u00e4renz des Inhaltes einer der bedeutungsvollsten Standpunkte verbirgt, die Kant\u2019s Genie je eingenommen hat. In den Tr\u00e4umen eines Geistersehers befinden wir uns in der That bereits auf dem Wege, der sp\u00e4ter zu der Philosophie des Kriticismus f\u00fchrt. Bevor wir aber daran gehen darzulegen, wie dieser Ueber-gang sich vollzieht, m\u00fcssen wir einen Blick auf die Lage werfen, in der sich die biologischen Wissenschaften zu jener Zeit befanden, analog wie dies oben geschehen ist, um den englischen Sensualismus aus dem Anfang des Jahrhunderts in seiner Entstehung zu begreifen.\nDieser Blick auf die Lage der biologischen Wissenschaften um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist \u00fcberaus lehrreich. Neben den alten mechanistischen Schulen eines Baglivi (1668\u20141706), Hoffmann (1660\u20141742), Boerhaave (1668\u20141738) und Anderer, die immer noch eifrige Anh\u00e4nger fanden, tritt in dieser Periode eine neue Schule auf, welche, von ganz anderen Principien ausgehend, einen neuen Gesichtspunkt in die Erkl\u00e4rung der biologischen Ph\u00e4nomene einf\u00fchrt. Diese Schule, die mit Erbitterung den anderen den Vorrang streitig machte, war von G. E. Stahl gegr\u00fcndet worden und wurde bekannt unter dem Namen des \u00bbAnimismus\u00ab. Im\n1) Tr\u00e4ume eines Geistersehers. (Ausg. Kirchmann S. 116.)","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"533\nConstantin Radulescu-Motru.\nGegensatz zu den anderen wollte sie die Seele an den organischen Functionen mitbetheiligen und dergestalt das ausschlie\u00dfliche Ueber-gewicht der Physik und Chemie auf biologischem Felde brechen. Stahl machte es den mechanistischen Theorien in erster Linie zum Vorw\u00fcrfe, dass sie jeder Definition des Lebens stillschweigend aus dem Wege gegangen seien. Er vermisste alle und jede Begriffsbestimmung des Lebens, des biologischen Objectes an sich. Den fraglichen Theorien zufolge war der menschliche K\u00f6rper eine Maschine, gleich einer anderen, zusammengesetzt aus S\u00e4ulen, Balken, Stricken, Hebeln u. s. w. Wie aber konnte man sich mit einer solchen Erkl\u00e4rung zufrieden geben? Stahl wollte dies nicht; er wollte von diesem Etwas, das man \u00bbLeben\u00ab nennt, wissen, worin es bestehe, woher es stamme, durch -welche Mittel es aufrecht erhalten werde und in Kraft bleibe, weshalb endlich und inwiefern man den K\u00f6rper lebend nenne. Die mechanistischen Theorien begingen nach seiner Ansicht den Irrthum, den Unterschied zwischen dem Leben und dem blo\u00dfen Substrat des Lebens, zwischen der Zusammensetzung des Organischen und seiner Function au\u00dfer Acht zu lassen. Deshalb entschlie\u00dft er sich, eine andere biologische Basis zu suchen. Seiner Theorie nach ist es die Seele (anima), welche den K\u00f6rper ihren Zweciien gem\u00e4\u00df aufbaut und nach der ihr innewohnenden Kenntniss aller einzelnen f\u00fcr diese Th\u00e4tigkeit in Betracht kommenden Verh\u00e4ltnisse in Bewegung setzt und leitet. Das k\u00f6rperliche Leben erh\u00e4lt nur dadurch Bedeutung, dass es den Zwecken der Seele dient. Die Organe des K\u00f6rpers leben deshalb nur f\u00fcr und durch die Seele; sie sind nicht eigentlich lebend, sondern belebt. Dem stofflichen \u00bbmixtum\u00ab, das den K\u00f6rper bildet, bewahrt die Seele die Einheit und verf\u00fcgt harmonisch \u00fcber die Th\u00e4tigkeit der verschiedenen Theilchen. Von ihr kommt das Leben, die Gesundheit1).\nDie Schule Stahl\u2019s machte seit ihrem Beginne viel Aufsehen. Sie war in der That die beste Waffe gegen den zu jener Zeit verbreiteten Materialismus und eine starke St\u00fctze f\u00fcr viele spiritualistische Speculationen seitens der Philosophen und Theologen. Auf dem\n1) Stahl\u2019s hierher geh\u00f6riges Hauptwerk, die Theoria medica vera, zuerst 1703 erschienen, ist mehrfach herausgegeben, zuletzt deutsch von Dr. W. Id eie r u. d. T. Theorie der Heilkunde, 3 Theile. Berlin 1831.","page":538},{"file":"p0539.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t539\nGebiet der Philosophie musste ihr Erscheinen bald bemerkt werden. Entstanden als eine Reaction gegen die mechanistischen Theorien der Biologie, traf sie auch direct die atomistischen Anschauungen von der Natur des Bewusstseins. Konnte \u2019das Hauptargument: \u00bbwas bewirkt die Einheit des Organismus?\u00ab nicht in der That unter folgender Form wiederholt werden: \u00bbwas macht die Einheit des Bewusstseins aus?\u00ab Die verwundbare Seite des Hume\u2019schen Skepti-cismus war hierdurch vollkommen blo\u00dfgelegt.\nWenn wir, von diesem Blicke auf die biologischen Wissenschaften unterst\u00fctzt, die \u00bbTr\u00e4ume eines Geistersehers\u00ab analysiren, so wird es ein leichtes f\u00fcr uns sein, die den darin verstreuten Theorien gemeinsame Tendenz herauszuf\u00fchlen. Man wolle auf folgende Citate sein Augenmerk richten. \u00bbDie todte Materie, welche den Raum erf\u00fcllt, ist ihrer eigenth\u00fcmlichen Natur nach im Stande der Tr\u00e4gheit und der Beharrlichkeit, in einerlei Zustande, sie hat Solidit\u00e4t, Ausdehnung und Figur, und ihre Erscheinungen, die auf allen diesen Gr\u00fcnden beruhen, lassen eine physische Erkl\u00e4rung zu, die zugleich mathematisch ist und zusammen mechanisch genannt wird. Wenn man anderseits seine Achtsamkeit auf diejenige Art Wesen richtet, welche den Grund des Lebens in dem Weltganzen enthalten, die um deswillen nicht von der Art sind, dass sie als Bestandtheile den Klumpen und die Ausdehnung der leblosen Materie vermehren, noch von ihr nach den Gesetzen der Ber\u00fchrung und des Sto\u00dfes leiden, sondern vielmehr durch innere Th\u00e4tigkeit sich selbst und \u00fcberdem den todten Stoff der Natur rege machen, so wird man, wo nicht mit der Deutlichkeit einer Demonstration, doch wenigstens mit der Vorempfindung eines nicht unge\u00fcbten Verstandes, sich von dem Dasein immaterieller Wesen \u00fcberredet finden, deren besondere Wirkungsgesetze pneumatisch und, sofern die k\u00f6rperlichen Wesen Mittelursachen ihrer Wirkungen in der materiellen Welt sind, organisch genannt werden\u00ab1). Und einige Zeilen weiter wird der Name Stahl\u2019s selbst genannt: \u00bbGleichwohl bin ich \u00fcberzeugt, dass Stahl, welcher die thierischen Ver\u00e4nderungen gerne organisch erkl\u00e4rt, oftmals der Wahrheit n\u00e4her sei, als Hoffmann, Boerhaave u. a. m., welche\n1) Tr\u00e4ume eines Geistersehers. S. 69.","page":539},{"file":"p0540.txt","language":"de","ocr_de":"540\nConstantin Radulescu-Motm.\ndie immateriellen Kr\u00e4fte aus dem Zusammenh\u00e4nge lassen, sich an die mechanischen Gr\u00fcnde halten . . .\u25a0.\u00ab!). \u00bbEs scheint, ein geistiges Wesen sei der Materie innigst gegenw\u00e4rtig, mit der es verbunden ist, und wirke nicht auf diejenigen Kr\u00e4fte der Elemente, womit diese unter einander in Verh\u00e4ltnissen sind, sondern auf das innere Principium ihres Zustandes.\u00ab1 2) Und dazu die bemerkenswertlie folgende Note, welche alle materialistischen Theorien kurz abweist : \u00bbJedermann sieht von selber, dass, wenn man auch den einfachen Elementartheilchen der Materie ein Verm\u00f6gen dunkler Vorstellungen zugesteht, daraus noch keine Vorstellungskraft der Materie selbst erfolge, weil viele Substanzen, von der Art in einem Ganzen verbunden, doch niemals eine denkende Einheit ausmachen k\u00f6nnen,\u00ab3)\nUeberall st\u00f6\u00dft man auf die Neigung und das planm\u00e4\u00dfige Streben, das Problem der Einheit des Denkens, das der Sensualismus nicht zu l\u00f6sen vermocht hatte, als ein noch ungel\u00f6stes hervorzuheben. Und dies spricht zur Gen\u00fcge f\u00fcr die historische Wichtigkeit der \u00bbTr\u00e4ume eines Geistersehers\u00ab. Die L\u00f6sung selbst freilich l\u00e4sst ihre Behandlung des Gegenstandes noch nicht einmal voraussehen. Aber schon das aufgeworfene Problem lieferte nicht allein einen neuen Gesichtspunkt f\u00fcr die Causalit\u00e4tsfrage, sondern barg auch den Keim zu einer Reform der gesammten Philosophie. Diese ist das Werk der Folgezeit, und umf\u00e4nglichere Werke von ver\u00e4ndertem Charakter m\u00fcssen sie durchf\u00fchren. Mit der in Rede stehenden Schrift schlie\u00dft aber eine ganze Entwickelung ab. Das Jahr 1766 ist Zeuge der ersten entschiedenen Versuche Kant\u2019s, in eine von Grund aus neue philosophische Bahn einzulenken. Das Problem der \u00bbdenkenden Einheit\u00ab \u00f6ffnet ihm alsbald die Augen \u00fcber das Irrige der Theorien, von denen Hume ausgegangen war, es wird selbst zum Ausgangspunkt eines neuen Systems, ja zum ersten Steine des neuen Baues.\nWir treten so \u00fcber die Schwelle der zweiten Periode der Kant\u2019schen Philosophie, der kritischen. Die Causalit\u00e4t wird in dieser als reiner Verstandesbegriff aufgefasst. Zu leichterem Ver-\n1)\tTr\u00e4ume eines Geistersehers. S. 71.\n2)\tEbenda, S. 67.\n3)\tEbenda, S. 68.","page":540},{"file":"p0541.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n541\nst\u00e4ndniss dessen aber, was das Wesen eines Verstandesbegriffes ausmaehe, wird an dieser Stelle eine kurze Betrachtung des Kant-schen Systems \u00fcberhaupt nicht zu umgehen sein.\nII.\nKurze Betrachtung des Kant\u2019schen Systems. \u2014 Zeit und Kaum als reine Anschauungsformen. \u2014 Zeit und Raum in der Mathematik. \u2014 Kant\u2019s Stellung zu Newton. \u2014 Erkenntniss durch Begriffe. \u2014 Theorie des objectiven Urtheils. \u2014 \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab. \u2014 Das Bewusstsein \u00fcberhaupt und das System der reinen Naturwissenschaft.\nDen Ansto\u00df zum Kriticismus gab. wie bemerkt, die Frage: Wie entsteht aus der Vereinigung der Empfindungen die denkende Einheit? Diese Frage dr\u00e4ngte sich als eine den Stah 1\u2019sehen Ideen verwandte unter dem reformirenden Einfluss der letzteren jedem Philosophen auf, der nach Locke und Hume auftrat. An sich ist sie, gleich fast allen philosophischen Fragen, keineswegs neu: ihre Existenz l\u00e4sst sich vielmehr in eine ferne Vergangenheit zur\u00fcckverfolgen, immerhin aber gelangt sie erst durch Kant dazu , nach ihrer ganzen Bedeutung empfunden zu werden.\nBereits in den Tagen des Epikur und des Lucretius finden wir der Schwierigkeit, zu begreifen, wie aus der Vereinigung von Atomen Empfindung entstehen k\u00f6nne, Erw\u00e4hnung gethan'). Und hiermit war sch\u00f6n an den Kern unserer Frage ger\u00fchrt. Unter anderer Gestalt begegnen wir dem Bewusstsein von dieser Schwierigkeit in der Speculation des 17. Jahrhunderts. Wie entstehen \u00fcberhaupt, so fragt man dort, die K\u00f6rper der Au\u00dfenwelt aus der Vereinigung der Atome? Und an die Seite dieser Frage tritt dann gem\u00e4\u00df der Erweiterung des Gesichtspunktes durch die j\u00fcngeren Wissenschaften noch die andere: Wie steht es um die objective Gewissheit alles dessen, was uns in der Natur als Gesetz erscheint?\nDie provisorische Antwort auf alle diese Fragen ward bis zu einem gewissen Punkte durch die Speculationen \u00fcber die letzten Qualit\u00e4ten der Materie und insbesondere durch die Leibniz\u2019schen\n1) Vergk F. A. Lange, Geschichte des Materialismus. 3. Aufl. Bd. I. Erster Abschnitt. \u00a7 IV, V.","page":541},{"file":"p0542.txt","language":"de","ocr_de":"542\nConstantin Radiilescu-Motru.\nUntersuchungen \u00fcber die Kraft, sowie zum Theil durch die mathematischen Postulate und Axiome, die sich ihrerseits wiederum auf die angeborenen Ideen und die Annahme einer unendlichen Substanz oder eines Gottes st\u00fctzten, gegeben. Gr\u00fcndlich und ausreichend aber wurden sie in dieser ganzen Periode nicht beantwortet.\nMit dem beginnenden Einfl\u00fcsse der englischen Philosophie bleiben nun zwar diese Fragen, im Grunde genommen, als solche an der Tagesordnung, sie erleiden indessen jetzt nothwendig eine wesentlich verschiedene Formulirung. Denn jene Doctrin behauptet, dass alles, was gegenw\u00e4rtig unseren Yorstellungs-, Meinungs-, kurz Bewusstseinsinhalt ausmacht, irgendwann fr\u00fcher einmal Empfindung gewesen und uns auf sinnlichem Wege zugelangt sei, dass alles Intellectuelle also im Sensoriellen wurzele. Und daraufhin nehmen unsere Fragen die folgende Fassung an. Erstens: Wie entsteht aus der Vereinigung der isolirt-subjectiven Empfindungen die einheitlich-objective Anschauung? Zweitens: Welches sind die Normen, nach denen unserVerstand jene subjectiven Eindr\u00fccke zu ordnen hat, um zu einer objectiven Gewissheit zu gelangen? Der Fortschritt innerhalb der Philosophie war jetzt durchaus daran gebunden, dass das Problem in dieser Form aufgenommen und definitiv behandelt wmrde. Zu dieser Ueberzeugung f\u00fchrten von verschiedenen Seiten her die atomistische sowohl wie sensualistische Speculation. Und dies hat auch Kant wohl begriffen, so zwar, dass er auf beide Fragen seine neue Philosophie basirt.\nDie Antwort auf die erste Frage brachte in ihren Grundlinien bereits die Dissertation vom Jahre 1770, wenn sie sagte: \u00bbDamit das Vielerlei des Gegenstandes, welches den Sinn erregt, in das Ganze einer Vorstellung sich zusammensetze, bedarf es eines inneren Princips der Seele, wodurch jenes Vielerlei nach festen und angeborenen Gesetzen eine gewisse Gestalt annimmt\u00ab1). Und bereits in derselben Schrift ist dies innere Princip als in seiner Th\u00e4-tigkeit zweifach \u2014 nach Raum und Zeit \u2014 Bedingtes angedeutet. Die definitive Antwort wird uns aber erst im ersten Theile der trans-cendentalen Elementarlehre der \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab gegeben. Zeit und Raum gewinnen hier die Bedeutung zweier reiner Formen\n1) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. (Ausg. Kirch-mann.) Seetio II. \u00a7 4.","page":542},{"file":"p0543.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Natnrcausalit\u00e4t.\n543\nder sinnlichen Anschauung, die im Gemiithe bereits a priori liegen, und die als nothwendige subjective Bedingungen des Vorstellens das Mannigfaltige der Erscheinungswelt unter ein bestimmtes Verh\u00e4ltniss bringen. Wie die Dinge an sich, d. h. abgesehen von aller durch diese specifische Receptivit\u00e4t unserer Sinnlichkeit bedingten Interpretation, seien, \u00bbist uns g\u00e4nzlich unbekannt. Wir kennen nichts als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigenth\u00fcmlich ist, die auch nicht nothwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muss. Kaum und Zeit sind die reinen Formen derselben Empfindung, \u00fcberhaupt die Materie. Jene k\u00f6nnen wir allein a priori d. h. vor aller wirklichen Wahrnehmung erkennen, und sie hei\u00dft darum reine Anschauung ; diese aber ist das in unserer Erkenntniss, was da macht, dass die Erkenntniss a posteriori d. i. empirische Anschauung hei\u00dft. Jene h\u00e4ngen unserer Sinnlichkeit schlechthin nothwendig an, welcher Art auch nothwendig unsere Empfindungen sein m\u00f6gen; diese k\u00f6nnen sehr verschieden sein\u00ab1}. Zeit und Kaum, als reine Formen gedacht, erm\u00f6glichen hiernach erst die Anschauung der Objecte; auf ihnen allein beruht die Synthesis der Apprehension, d. i. die Einheit des Bewusstseins im Gegens\u00e4tze zu der Mannigfaltigkeit der \u00e4u\u00dferen und inneren Perceptionen. Zeit und Raum sind die zwei nothwendigen Bedingungen, durch welche wir uns jedes \u00e4u\u00dferen Eindruckes bewusst werden. Die Hinausprojici-rung der Eindr\u00fccke sowie die Wahrnehmung ihres Zugleichseins und ihrer Aufeinanderfolge ist uns nur durch die subjective Beschaffenheit unseres Bewusstseins m\u00f6glich. Zeit und Kaum als die zwei reinen Formen bringen es zu Stande, dass wir statt zusammenhangsloser Eindr\u00fccke eine einheitliche Anschauung haben.\nWenn wir diese Resultate Kant\u2019s nicht als die Frucht der reinen Speculation betrachten sollen, so erkl\u00e4rt sich uns ihre Herkunft aus der Verwerthung des gesammten, ihm bekannt gewesenen wissenschaftlichen Materials. Seine Betonung der Zeit und des Raumes, k\u00f6nnen wir sagen, ist vielleicht eine Consequenz der wissenschaftlichen Anschauungen jener Periode, seine Art aber, beide in Verbindung zu bringen und so mit ihnen eine L\u00f6sung der genannten Frage anzubahnen, war jedenfalls eine wissenschaft-\n1) Kr. d. r. V. (Ausg. Kirehmann S. 90.) Wundt, Philos. Studien. IX.\n37","page":543},{"file":"p0544.txt","language":"de","ocr_de":"544\nCoustantin Radulescu-Motru.\nliehe Neuerung. Diese Annahme scheint uns angesichts dessen, dass Kant zweifellos auf der H\u00f6he der Naturwissenschaft seiner Zeit stand, die nat\u00fcrlichste, mindestens eine sehr beachtenswerthe. Machen wir indess die Probe darauf durch Pr\u00fcfung des einschl\u00e4gigen Materials der exacten Wissenschaften dieser Periode. Sehen wir zun\u00e4chst zu, welche Wissenschaften f\u00fcr Kant in Betracht kamen.\nBis zum 17. Jahrhundert herrschte die Mathematik unumschr\u00e4nkt; von der Zeit Newton\u2019s an ist aber, wie wir gesehen haben, ihr Einfluss auf die Philosophie in best\u00e4ndigem Sinken. Die Ansicht, dass auch andere Wissenschaften als die Mathematik auf Kant\u2019s Auffassung von Raum und Zeit von Einfluss gewesen seien, hat daher die Wahrscheinlichkeit nicht geradezu gegen sich. Gleichwohl lehrt die n\u00e4here Betrachtung, dass der mathematische Einfluss auf Kant der entscheidende blieb. Die biologischen Wissenschaften jener Zeit konnten allenfalls Material zu Generalisation\u00ab! \u00fcber den sinnlichen Ursprung unserer Vorstellungen liefern, sie waren aber schwerlich irgendwie im Stande, zu der Erkenntniss der speciellen Beschaffenheit des Vorstellungsprocesses beizutragen. Dies war die Lage der Dinge bis Kant und \u00fcber ihn hinaus, so zwar, dass wahrscheinlich erst mit J. M\u00fcller\u2019s Theorie der specifischen Sinnesenergien die selbst\u00e4ndige physiologische Auffassung dieses Problems beginnt. Vor dem Jahre 1770, mindestens also vor dem Erscheinen der Dissertation, konnte so gut wie keine Rede davon sein, dass die apriorische Auffassung von Zeit und Raum ihre Argumente der Physiologie entlehnte. Selbst wenn sich damals aus der Physiologie der Sinne einiges Material f\u00fcr die apriorische Auffassung h\u00e4tte gewinnen lassen, so w\u00fcrde doch dies gegen\u00fcber dem aus den mathematischen Wissenschaften zu Entlehnenden von untergeordneter Bedeutung sein. Und stellen wir gar diesem sp\u00e4rlichen Einfl\u00fcsse, welchen die physiologischen Wissenschaften auf die Auffassung von Zeit und Raum \u00fcben konnten, die stete Bedeutung und die schier unabsehbare Tragweite dieser Begriffe f\u00fcr die mathematische Wissenschaft selbst gegen\u00fcber, so k\u00f6nnen wir \u00fcber die eigentliche Quelle der Kant\u2019schen Theorie nicht l\u00e4nger im Zweifel bleiben.\nDescartes\u2019 Entdeckung der analytischen Geometrie brachte eine tiefgehende und entscheidende Behandlung des Raum- und des Zeitbegriffes mit sich. Und zu noch gesteigerter Bedeutung gelangten","page":544},{"file":"p0545.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t545\nsie durch die Infinitesimalrechnung, welche die Herbeiziehung der mathematischen Rechnung zur Erkl\u00e4rung der sinnlichen Erscheinungen auf dem Gebiete der Mechanik und Physik au\u00dferordentlich erleichterte. Raum und Zeit erlangten durch sie den Charakter zweier unabh\u00e4ngiger Variabein, mittelst welcher wir unsere sinnliche Wahrnehmung zum Ausdruck bringen. Eine Erkenntniss wird erst dadurch exact, dass sie in Relation zu diesen Begriffen tritt. Die Bewegungsgesetze, die die Mechanik feststellt, betreffen ausschlie\u00dflich Relationen zwischen Raum- und Zeittheilen. Wie aber steht es in dieser Beziehung um die Daten aller \u00fcbrigen Wissenschaften? Werden sich nicht die Gesetze alles Naturgeschehens, d. h. auch die Ergebnisse der Physik, Chemie und Biologie eines Tages als einfache Differentialverh\u00e4ltnisse darstellen? W erden sie nicht einst den Charakter reiner Relationen zwischen Raum- und Zeittheilen \u2014 wie das, wie gesagt, in der Mechanik bereits geschehen \u2014 annehmen?\nDie Bejahung dieser Frage erschien den Naturforschern jener Epoche \u00fcber allen Zweifel gewiss; Kant selbst zeigt dies f\u00fcr seine Person zur Gen\u00fcge. Zeit und Raum werden freilich hier nicht als irgend welche prim\u00e4re Vorstellungen im Gegens\u00e4tze zu anderen secund\u00e4ren gefasst \u2014 von dieser Seite her kommen sie f\u00fcr die Mathematik nicht in Betracht, \u2014 sondern als die geeignetsten Gr\u00f6\u00dfen f\u00fcr die Messung des Erfahrungsinhalts. Diesen Erfahrungsinhalt aber unter quantitative Verh\u00e4ltnisse zu bringen, ist die ganze Tendenz der neuen exacten Wissenschaft.\nEs nimmt nach dem Gesagten nicht Wunder, wenn Zeit und Raum auch nach dem Auftreten des englischen Sensualismus diese ihre aus der Entwickelung der Mathematik gegebene, so zu sagen apriorische Natur gegen\u00fcber den anderen Vorstellungen behalten haben. In dieser Pr\u00e4ponderanz w\u00e4ren sie jedem, der eine logische Classification des Inhaltes der exacten Wissenschaften unternommen h\u00e4tte, erschienen. Ja sogar im 18. Jahrhundert scheint ihnen noch eine weitere Best\u00e4tigung aus dem Ausbau des zweiten Theils der Infinitesimalrechnung, der Integralrechnung zu erwachsen. Das Problem der Cubatur der K\u00f6rper n\u00e4mlich und allgemein jede graphische Darstellung einer Integration lassen sich als ebenso viele Analogien f\u00fcr die Vorzugsrolle, welche die Kr. d. r. V. den","page":545},{"file":"p0546.txt","language":"de","ocr_de":"546\nConstantin Radulescu-Motru.\nRaum- und Zeitvorstellungen gegen\u00fcber den anderen zuweist, betrachten .\nKann man also aus allen zeitlichen Umst\u00e4nden folgern, dass Kant seine Theorie der reinen Anschauungsformen lediglich den mathematischen Wissenschaften der Zeit entnommen habe? Die Bejahung dieser Frage mag \u00fcberraschen, nichts desto weniger halten wir sie f\u00fcr ganz und gar berechtigt. Allerdings gibt es zwischen den mathematischen Theorien und derjenigen Kant\u2019s immer noch einen Abstand, welcher sie scheidet, auch bleibt der beiderseitige Gesichtspunkt ein anderer; allein diese Differenzen erkl\u00e4ren sich zum gro\u00dfen Theile, wenn wir die Stellung ins Auge fassen, welche eine zwischen Kant und den mathematischen Verallgemeinerungen vermittelnde Philosophie der Zeit und dem Raume zuweist. Diese vermittelnde Philosophie, die keine andere als die Newton\u2019s ist, zeigt uns den Uebergang zwischen Zeit und Raum als mathematischen Begriffen und Zeit und Raum als reinen Formen der Anschauung. Newton geht f\u00fcr seine Theorie von Raum und Zeit von dem wissenschaftlich Gegebenen aus; nur l\u00e4sst er sich bisweilen durch seine Tendenz, den Cartesianismus zu bek\u00e4mpfen, zu Speculationen \u00fcber die Materie und den leeren Raum hinrei\u00dfen, so zwar, dass er der Zeit und dem Raume auch noch andere Attribute beilegt, als die dem exacten Gebiete entlehnten. Diese Speculationen, die sich durch seine Werke zerstreut finden, schlagen eine Art Br\u00fccke zu denen Kant\u2019s hin\u00fcber. So finden wir gegen Ende seiner ber\u00fchmten \u00bbPhil. nat. princ. math.\u00ab den Begriff der Dauer und des Raumes mit dem Gottesbegriff in Beziehung gesetzt; Zeit und Raum werden danach gleichsam die Attribute Gottes, kraft deren er alles Sein in sich schlie\u00dft. In seiner Optik finden sich dieselben Speculationen \u00fcber den Raum noch ausf\u00fchrlicher. Dieser w\u00e4re gewisserma\u00dfen das Sensorium Gottes, von dem das Universum wirklich und unmittelbar zur\u00fcckgestrahlt wird. \u00bbIst das thierische Sensorium nicht dort, wo die empfindende Substanz selbst gegenw\u00e4rtig ist, der Ort, wohin die sinnlichen Eindr\u00fccke durch die Nerven und das Gehirn gef\u00fchrt werden, um dort dieser Substanz unmittelbar gegenw\u00e4rtig und also von ihm wahrgenommen zu werden? Und machen die Ph\u00e4nomene nicht wahrscheinlich, dass ein immaterieller, lebender, intelligenter, allgegenw\u00e4rtiger Gott","page":546},{"file":"p0547.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t547\nexistire, der im unendlichen Raume, gleich als w\u00e4re er sein Sensorium, allen Dingen ins Herz sieht (res ipsas intime cern\u00e2t), sie v\u00f6llig wahrnimmt und in ihrem ganzen Umfange hegreift, dadurch, dass sie wirklich und unmittelbar gegenw\u00e4rtig in ihm selbst sind, diese selben Dinge, deren blo\u00dfe Bilder unserem schwachen Sensorium durch die Sinnesorgane \u00fcbermittelt und dort gesehen und wahrgenommen werden, durch Das, was in uns sieht und denkt\u00ab1). Gott nimmt direct die Dinge wahr und nicht ihre Bilder; die Dinge sind in ihm: die Unendlichkeit der Zeit und des Raumes ist gleichsam ein ungeheures Sensorium, durch welches Gott das Universum in sich fasst2).\nIn allen diesen Newton\u2019s B\u00fcchern entnommenen Stellen darf der Name \u00bbGott\u00ab uns nicht irre f\u00fchren und uns glauben machen, dass wir ausschlie\u00dflich theologische Speculation vor uns h\u00e4tten. Indem Newton Zeit und Raum zu g\u00f6ttlichen Attributen macht, interpretirt er lediglich die Principien, die er seineT \u00bbMechanik\u00ab zur Basis gegeben hatte, in einer gewissen Richtung. Die Absoluta Zeit und Raum dieser letzteren werden hier die Anschauungsformen eines g\u00f6ttlichen Sensoriums, ohne darum ihrer fr\u00fcheren Natur zu widersprechen. Er h\u00e4tte sie ebenso gut in einer anderen Richtung interpretiren k\u00f6nnen: er h\u00e4tte die Absoluta Raum und Zeit ebenso gut als die Anschauungsformen eines idealen Bewusstseins betrachten k\u00f6nnen, d. h. eines Bewusstseins, dem das Universum durch das Prisma der exac.ten Wissenschaften zur\u00fcckgestrahlt wird. Von einem solchen Bewusstsein aber w\u00e4re nur ein Schritt bis zu einem g\u00f6ttlichen, wie es Newton sich vorstellte.\nEs ist h\u00f6chst wahrscheinlich, dass Kant auf demselben Wege auch zu seiner L\u00f6sung gelangte.\nJeder, der die Argumente aufmerksam analysirt, die Kant zur Aufrechterhaltung der Apriorit\u00e4t von Zeit und Raum, besonders in der ersten Auflage der Kr. d. r. Y., beibringt, wird den Eindruck davontragen, als h\u00e4tten diese Argumente vielmehr die geometrische Construction als die sinnliche Anschauung im Auge. Ohne diese Voraussetzung d\u00fcrften einige L\u00fccken in Kant\u2019s Be-\n1)\tIsaac Newton, Optice. Lib. Ill, quaestio XXVIII.\n2)\tVergl. ebenda, Lib. III. quaestio XXXI.","page":547},{"file":"p0548.txt","language":"de","ocr_de":"548\nConstantin Radulescu-Motru.\nhandlung ziemlich unerkl\u00e4rlich bleiben. Warum sind z. B. gewisse Qualit\u00e4ten der Empfindungen, die aus anderen Gesichtspunkten dieselbe Apriorit\u00e4t beanspruchen k\u00f6nnten, stillschweigend \u00fcbergangen? Ist z. B. die Farbe, so kann man fragen, nicht auch eine nothwendige Vorstellung a priori, die allen \u00e4u\u00dferen Anschauungen zu Grunde liegt? Man kann sich durchaus keine Vorstellung davon machen, dass es keine Farbe gebe, w\u00e4hrend man sie sich ganz wohl unabh\u00e4ngig von allem Gegenst\u00e4ndlichen denken kann. Es w\u00fcrde also nach Kant\u2019s Pr\u00e4missen auch die Farbe als \u00bbeine Bedingung der M\u00f6glichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen ahh\u00e4ngende Bestimmung\u00ab anzusehen sein. Sie w\u00e4re eine Vorstellung a priori, die noth wendiger Weise \u00e4u\u00dferen Erscheinungen zu Grunde liegt. Der Einwand, dass die Farbe als solche nicht existire, sondern nur verschiedene Farben, und dass sie folglich nicht eine Bedingung der M\u00f6glichkeit der Erscheinungen ausmachen k\u00f6nne, trifft hier nicht zu. Denn vom Raume und von der Zeit k\u00f6nnte man eben dasselbe behaupten; ein Raum, stetig und unendlich , existirt realiter \u00fcberhaupt nicht, \u2014 er ist nur eine wissenschaftliche Fiction auf Grund des Raumes, welcher uns durch die sinnliche Erfahrung gegeben ist. Und dieser letztere ist ganz gleicher Natur wie die reale Farbe. Das Bewusstsein, im psychologischen Sinne genommen, kennt keinen einheitlichen Raum, sondern nur mannigfaltige Raumempfindungen, gerade wie es nur Farbenempfindungen und keine Farbe kennt. Der Raum in der Bedeutung, wie ihn Kant genommen wissen will, ist eine blo\u00dfe, f\u00fcr wissenschaftliche Zwecke geschaffene Abstraction.\nWir k\u00f6nnen in dieser Beziehung den Inhalt der sinnlichen Erfahrung in beliebiger Weise zergliedern, von gewissen Merkmalen abstrahiren, ihm gewisse andere beilegen und auf diese Weise einen Begriff ohne reelle Existenz bilden. Solche logische Operationen sind bis zu einem gewissen Grade die nothwendigen Vorbedingungen jeder Wissenschaft. Eine Wissenschaft der Mathematik z. B. w\u00e4re nicht denkbar ohne die Abstraction einer stetigen unendlichen Gr\u00f6\u00dfe, auf die sie die Rechnung mit genauen Ma\u00dfen \u00fcbertragen kann. Und diesem Bed\u00fcrfnisse verdanken augenscheinlich die Begriffe des stetigen und unendlichen Raums und einer ebensolchen Zeit ihre Entstehung. Sie sind logische Erzeugnisse und m\u00fcssen darum in","page":548},{"file":"p0549.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\n549\nden Grenzen der Wissenschaft, in deren Interesse sie geschaffen wurden, eine Bedeutung haben, n\u00e4mlich in den Grenzen der Mathematik. Will man ihnen gleichwohl eine weitere Bedeutung leihen, d. h. ihre nat\u00fcrlichen Grenzen ausdehnen, so kann man dies wohl, muss aber dann \u2014 falls man nicht logischen Irrth\u00fcmem preisgegeben sein will \u2014 die praktischen Grenzen der betreffenden Wissenschaften entsprechend erweitern.\nMan kann z. B. Newton zugeben, dass ein Gott, der das Universum nach den Gesetzen der Mechanik betrachtet, eine absolute Zeitscala zu Auschauungsformen hat, \u2014 weil das Auge Gottes in diesem Falle nur das Auge eines idealen Mathematikers ist. Ebenso kann man einem Philosophen Zeit und Raum als zwei Formen a priori einr\u00e4umen, insoweit er die concrete Erfahrung, die unseren Sinnen vor aller wissenschaftlichen Schulung eignet, durch eine ahstracte Erfahrung ersetzt, eine, die ihre Objecte construirt wie die analytische Geometrie ihre Figuren. Anderseits k\u00f6nnte man ihm zeigen, dass sich au\u00dfer dem Raume und der Zeit auch wohl noch andere Anschauungsformen aufstellen lie\u00dfen, die dasselbe leisten w\u00fcrden wie jene, n\u00e4mlich die Gegenst\u00e4nde auf einen analytischen Ausdruck zu bringen, eine M\u00f6glichkeit freilich, die selbst unsrer Zeit nur schwer einleuchtet, wie viel weniger also erst dem 18. Jahrhundert einleuchten konnte. Es bed\u00fcrfte, um Zeit und Raum zu erkenntnisstheoretischer Bedeutung gelangen zu lassen, noch dessen, dass wir die Berechtigung bes\u00e4\u00dfen, die sinnliche Erfahrung durch die ahstracte zu ersetzen. Eine solche aber uns zuzugestehen hie\u00dfe so viel als einr\u00e4umen, dass es in der sinnlichen Erfahrung etwas gehen k\u00f6nne, was nicht Gegenstand der Mathematik zu werden verm\u00f6chte, und dass das Jahrhundert nach Newton und Leibniz etwas derartiges zugegeben h\u00e4tte, w\u00fcrde in hohem Grade befremden1). Der Verfasser der Theorie des Himmels mindestens h\u00e4tte diese M\u00f6glichkeit offenbar nicht zugegeben.\nMit dem Probleme des Raumes und der Zeit ist aber das Problem des einheitlichen Denkens erst zur H\u00e4lfte gel\u00f6st. Beide Formen der Anschauung haben uns Aufschluss dar\u00fcber gegeben, wie das\n1) Vergl. Ferd. Rosenberger, Die Geschichte der Phvsik in Grundz\u00fcgen' II. Theil. S. 215 f.","page":549},{"file":"p0550.txt","language":"de","ocr_de":"550\nConstantin Radnlescu-Motru.\nVielerlei eines die Sinne erregenden Objectes in das Ganze einer Vorstellung verschmilzt, sie reichen aber, wie die Anschauung selbst, nur bis zur Erkenntniss der Objecte als einzelner, und es fragt sich jetzt erst noch, nach welchen Principien die Vorstellungen unter einander in Beziehung treten, und welches die Natur dieser Beziehung sei. Die Anschauung allein macht nicht die ganze Erkenntniss aus, es m\u00fcssen daher au\u00dfer ihr noch andere Erkenntnissverm\u00f6gen vorhanden sein. \u00bbEs gibt aber au\u00dfer der Anschauung keine andere Art zu erkennen als die durch Begriffe. Also ist die Erkenntniss eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntniss durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern discursiv. Alle Anschauungen als sinnliche beruhen auf Affectionen, die Begriffe also auf Functionen. Ich verstehe aber unter Function die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter eine gemeinschaftliche zu ordnen. Begriffe gr\u00fcnden sich also auf der Spontaneit\u00e4t des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Receptivit\u00e4t der Eindr\u00fccke\u00ab1). Diese Spontaneit\u00e4t des Denkens wird, wie die Anschauung eine Synthesis der Apprehension, eine der Apperception erfordern. Unter die Synthesis der Apprehension fallen alle mannigfaltigen Vorstellungen der Anschauung, sofern sie uns gegeben werden, unter die der Apperception, sofern sie von dem Bewusstsein verbunden werden m\u00fcssen, \u00bbdenn ohne das kann nichts dadurch gedacht oder erkannt werden, weil die gegebenen Vorstellungen den Actus der Apperception: Ich denke, nicht gemein haben und dadurch nicht in einem Selbstbewusstsein zusammengesetzt sein w\u00fcrden\u00ab2). Der Verstand kann aber nach Kant\u2019s Aussagen keinen anderen Gebrauch von den Begriffen machen, als dass er dadurch urtheilt3). Demnach, \u00bbdie Functionen des Verstandes k\u00f6nnen ins-gesammt gefunden werden, wenn man die Functionen der Einheit in den Urtheilen best\u00e4ndig darstellen kann\u00ab4). Das Urtheil ist das Princip, durch das das Mannigfaltige der Vorstellungen sich \u00fcberhaupt unter die Einheit des Denkens bringen l\u00e4sst; durch seine\n1)\tKr. d. r. V. S. 112.\n2)\tKr. d. r. V. S. 142.\n3)\tKr. d. r. V. S. 112.\n4)\tKr. d. r. V. S. 113.","page":550},{"file":"p0551.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n551\nverschiedenen Modificationen oder Momente gelangen wir daher zu der Auffindung der Verstandesbegriffe. Gibt es unter den letzteren auch reine Verstandesbegriffe \u2014 wie in der Anschauung reine Anschauungsformen \u2014 so wird selbstverst\u00e4ndlich der Leitfaden zu ihrer Entdeckung im Wesen des Urtheils schon von vornherein gegeben sein.\nBevor wir aber auf die Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe, unter die, wie gesagt, die Causalit\u00e4t z\u00e4hlt, eingehen, empfiehlt es sich zu pr\u00fcfen, welchen Sinn Kant mit dem Worte Urtheil verbindet, denn davon wird hier nothwendig sehr viel abh\u00e4ngen. Fasst er das Urtheil im psychologischen Sinne auf, d. h. als Beziehung zweier Vorstellungen auf das Gesetz der Ideenassociation begr\u00fcndet, dann werden wir es bei ihm mit einer Weiterbildung der sensua-listischen Doctrin zu thun haben, wie sie in diesem ganzen Zeitabschnitte im Schwange ist; stellt es sich dagegen bei ihm anders definirt heraus, dann werden wir zuzusehen haben, ob sich nicht in diesem zweiten Theil derselbe Fall wiederholt wie in der transcen-dentalen Aesthetik, \u2014 der Fall also, dass die eine oder andere wissenschaftliche Voraussetzung, durch ihre Er\u00f6rterung von einem besonderen Gesichtspunkte aus, eine Verallgemeinerung erleidet, die \u00fcber das Gebiet, f\u00fcr das sie von vornherein galt, hinausgeht. Best\u00e4tigt sich diese Voraussetzung, dann werden wir Begriffen begegnen, die, aus der wissenschaftlichen Entwickelung hervorgegangen, in urspr\u00fcngliche Bedingungen der Erfahrung \u00fcberhaupt, ja sogar in noth-wendige Bedingungen jeder Erkenntniss umgewandelt worden sind.\nDiese vorl\u00e4ufige Aufgabe bietet keine besonderen Schwierigkeiten. Selbst wenn es uns an klaren Versicherungen Kant\u2019s selbst mangelte, w\u00fcrde uns doch die Natur des Gegenstandes, der in diesem zweiten Theile seines Werkes zur Er\u00f6rterung gelangt, an sich hinl\u00e4nglich zu Hilfe kommen. Was hier den Inhalt ausmacht, sind die Begriffe, also die Abstractionen, und der Ursprung dieser geistigen Producte ist leichter aufzudecken als der der Anschauungsformen. Ueberdies ist aber Kant keineswegs sparsam mit ganz unzweideutigen Erl\u00e4uterungen. In der \u00bbKr. d. r. V.\u00ab gibt er deren gen\u00fcgend, um uns eine Ansicht dar\u00fcber bilden zu lassen. Da ist z. B. der folgende Passus, den wir uns in seiner ganzen Ausdehnung anzuf\u00fchren gestatten: \u00bbIch habe mich niemals durch die Erkl\u00e4rung, welche die","page":551},{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"552\nConstantin Radulescu-Motru.\nLogiker von einem Urtheile \u00fcberhaupt geben, befriedigen k\u00f6nnen; es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verh\u00e4ltnisses zwischen zwei Begriffen. Ohne nun hier \u00fcber das Fehlerhafte der Erkl\u00e4rung, dass sie allenfalls nur auf kategorische, aber nicht hypothetische und disjunctive Urtheile passt (als welche letztere nicht ein Ver-h\u00e4ltniss von Begriffen, sondern selbst von Uxtheilen enthalten), mit ihnen zu zanken, .... merke ich nur an, dass, worin dieses Ver-h\u00e4ltniss bestehe, hier nicht bestimmt ist. Wenn ich aber die Beziehung gegebener Erkenntnisse genauer untersuche und sie, als dem Verst\u00e4nde angeh\u00f6rig, von dem Verh\u00e4ltnisse nach Gesetzen der reproductiven Einbildungskraft (welches nur subjective G\u00fcltigkeit hat) unterscheide, so finde ich, dass ein Urtheil nichts anderes sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen. Darauf zielt das Verh\u00e4ltnissw\u00f6rtchen ist in denselben, um die objective Einheit gegebener Vorstellungen von der subjectiven zu unterscheiden. Denn dieses bezeichnet die Beziehung derselben auf die urspr\u00fcngliche Apperception und die noth-wendige Einheit derselben, wenngleich das Urtheil selbst empirisch,\nmithin zuf\u00e4llig ist, z. B. die K\u00f6rper sind schwer........ Dadurch\nallein wird aus diesem Verh\u00e4ltnisse ein Urtheil, d. i. ein Verh\u00e4lt-niss, das objectiv g\u00fcltig ist und sich von dem Verh\u00e4ltnisse ebenderselben Vorstellungen, worin blo\u00df subjective G\u00fcltigkeit w\u00e4re, z. B. nach dem Gesetze der Association, hinreichend unterscheidet. Nach dem letzteren w\u00fcrde ich nur sagen k\u00f6nnen: wenn ich einen K\u00f6rper trage, so f\u00fchle ich einen Druck der Schwere ; aber nicht : er, der K\u00f6rper, ist schwer; welches so viel sagen will, als: diese beiden Vorstellungen sind im Object d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjectes verbunden und nicht blo\u00df in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen\u00ab1). Das Urtheil \u00fcbernimmt es also, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen ; es hat eine objective G\u00fcltigkeit zum Unterschiede von der blo\u00dfen subjectiven Ideenverkn\u00fcpfung.\nWas will aber dieses Wort \u00bbobjectiv\u00ab besagen\"? Welches sind die Merkmale, die uns zwischen den verschiedenen Vorstellungs-\n1) Kr. d. r. V. S. 145 f.","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n553\nVerkn\u00fcpfungen in unserem Bewusstsein unterscheiden lassen? Kant zeigt sie uns in gemeinverst\u00e4ndlicher Form, kann man sagen, in einem anderen Werke, das gleichsam ein Kesum\u00e9 der \u00bbKr. d. r. V.\u00ab ist, in seinen \u00bbProlegomena\u00ab. Er sagt daselbst: \u00bbDas Urtheilen, ist uns hier gesagt, kann zwiefach sein: erstlich, indem ich blo\u00df die Wahrnehmungen vergleiche und in einem Bewusstsein meines Zustandes, oder zweitens, da ich sie in einem Bewusstsein \u00fcberhaupt verbinde. Das erstere Urtheil ist blo\u00df ein Wahrnehmungs-urtheil, und hat sofern nur subjective G\u00fcltigkeit, es ist blo\u00df Verkn\u00fcpfung der Wahrnehmungen in meinem Gem\u00fcthszustande, ohne Beziehung auf den Gegenstand\u00ab1).\nDer Vergleich mit dem voraufgehenden Cit\u00e2t aus der \u00bbKritik\u00ab lehrt, dass dieser Art Verkn\u00fcpfung der Name Urtheil \u00fcberhaupt nicht beigelegt werden darf. Doch dies ist von untergeordneter Bedeutung. Folgen wir nun seiner Definition weiter: \u00bbDaher ist es nicht, wie man gemeiniglich sich einbildet, zur Erfahrung genug, Wahrnehmungen zu vergleichen und in einem Bewusstsein vermittelst des Urtheilens zu verkn\u00fcpfen; dadurch entspringt keine Allgemeing\u00fcltigkeit und Nothwendigkeit des Urtheiles, um deren-willen es allein objectiv g\u00fcltig und Erfahrung sein kann\u00ab. Welches sind nun die Bedingungen, ein Urtheil letzterer Art zu gewinnen? Kant bezeichnet sie uns wie folgt: \u00bbDie gegebene Anschauung muss unter einen Begriff subsumirt werden, der die Form des Urtheilens \u00fcberhaupt in Ansehung der Anschauung bestimmt, das empirische Bewusstsein der letzteren im Bewusstsein \u00fcberhaupt verkn\u00fcpft und dadurch den empirischen Urtheilen Allgemeing\u00fcltigkeit verschafft; dergleichen Begriff ist ein reiner Verstandesbegriff\na priori.....\u00ab2). Also kurz gesagt: Die Merkmale, die dem ob-\njectiven zum Unterschiede von dem Wahrnehmungsurtheile eignen, sind: die Subsumirung seiner Verh\u00e4ltnisse unter einen reinen Verstandesbegriff und das Beziehen auf ein Bewusstsein \u00fcberhaupt. Die \u00bbKr. d. r. V.\u00ab hat sich selbstverst\u00e4ndlich nur mit diesen ob-jectiven Urtheilen zu besch\u00e4ftigen; die anderen, die nur subjective\n1)\tProlegomena zu einer jeden k\u00fcnftigen Metaphysik. (Ausg. Kirchmann\nS. 53.)\n2)\tProlegomena, S. 53.","page":553},{"file":"p0554.txt","language":"de","ocr_de":"554\nConstantin Radulescu-Motru.\nG\u00fcltigkeit beanspruchen k\u00f6nnen, \u00fcberl\u00e4sst sie einer spe\u00e7iellen empirischen Wissenschaft, der Psychologie.\nLassen wir vorl\u00e4ufig die Subsumirung unter Verstandesbegriffe aus dem Spiel, um ihrer sp\u00e4ter \u2014 in der eigentlichen Betrachtung des Causalit\u00e4tsbegriffes, der nach Kant, wie wir wissen, ebenfalls ein reiner Verstandesbegriff a priori ist, \u2014 zu gedenken, und beschr\u00e4nken wir uns an dieser Stelle auf die zweite H\u00e4lfte der Definition des objectiven Urtheils, n\u00e4mlich auf das Bezogensein auf ein Bewusstsein \u00fcberhaupt.\nHier dr\u00e4ngt sich von selbst die Frage auf: Was ist unter einem Bewusstsein \u00fcberhaupt zu verstehen\u201c? Dass ein solches nicht identisch ist mit einem individuellen, psychologischen Bewusstsein, dies einzusehen ist kein besonderer Scharfsinn erforderlich : das individuelle Bewusstsein ist das fehlerhafte, das, was uns schon oben als empirisches charakterisirt wurde. Ist jenes dieses letztere aber nicht, was f\u00fcr ein Bewusstsein ist es dann \u00fcberhaupt? Wie kommen wir, oder, besser gesagt, wie kommt Kant zu der Annahme, dass es ein solches gebe, eines, das obendrein den Urtheilen die objective G\u00fcltigkeit verleihen soll?\nVom Gesichtspunkte des psychologischen Subjectivismus \u2014 der nat\u00fcrlichen Consequenz der englischen Schule \u2014 ist \u00bb ein Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab ein Unding, mindestens auf alle F\u00e4lle ein Abstrac-tum, das mehr als irgend eines unter Hume\u2019s Skepticismus f\u00e4llt. Nichtsdestoweniger l\u00e4sst Kant ein solches gelten, ohne sich auch nur die M\u00fche zu nehmen, es mit einer einzigen Zeile zu erl\u00e4utern oder irgend einen Beweis f\u00fcr seine Existenz beizubringen. Er nimmt es allenthalben als etwas Gegebenes an, als etwas, das gar keiner Erl\u00e4uterung bedarf.\nIst nun der Irrthum hier auf seiner Seite, oder liegt etwa ein Missverst\u00e4ndniss der hier vorausgesetzten Auffassung dieses Verh\u00e4ltnisses vor ? Offenbar das letztere, denn angesichts der h\u00f6chst wichtigen Rolle, die dem \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab in der Kant\u2019schen Kritik durchweg zugetheilt wird, muss ein Irrthum bez\u00fcglich seiner dort wohl ausgeschlossen gelten. In diesem Falle aber m\u00fcssen wir ihn selbst unrecht verstanden haben, und dies augenscheinlich insofern, als der Ursprung der Lehre von \u00bbeinem Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab","page":554},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t555\nanderswo als in der englischen Schule zu suchen ist. Wie fr\u00fcher, so vermuthen wir ihn in der Richtung Galilei-Newton.\nWenden wir uns denn zu ihnen und sehen wir zu, oh vielleicht innerhalb der Voraussetzungen der Erfahrungswissenschaften Raum f\u00fcr \u00bbein Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab ist. Der fl\u00fcchtigste Blick reicht hin, uns thats\u00e4chlich einen solchen gewahren zu lassen. Mit der blo\u00dfen Einf\u00fchrung des Experiments n\u00e4mlich, mit der Formulirung des allereinfachsten Gesetzes, setzen diese Naturforscher, um allen psychologischen Subjectivismus unbek\u00fcmmert, mittelbar \u00bbein Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab voraus. Und dies, indem sie voraussetzen, dass ein unter Ausschluss von Fehlerquellen angestelltes Experiment \u00fcberall und zu allen Zeiten durch jede neue Wiederholung best\u00e4tigt werden wird. Dies aber kommt auf das von uns weiter oben formulirte Postulat der Gleichf\u00f6rmigkeit des Natur Verlaufes hinaus. Nehmen wir jetzt im Sinne dieser selben Periode an, dass alle Erscheinungen des Universums eines Tages experimentell wiederholt, oder mindestens in dieser Gestalt begreiflich werden k\u00f6nnen, und setzen wir ein Wesen voraus, das sie als Ganzes \u00fcbersehen wird, und alsbald haben w\u00fcr ein Beispiel davon, was \u00bbein Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab sein k\u00f6nne. Es w\u00e4re eben das Bewusstsein eines Wesens, f\u00fcr das die ganze Natur ein gro\u00dfes Experiment ist, d. h. eine Folge von unter sich nach mathematischen Functionen, also den Gesetzen einer reinen Naturwissenschaft verkn\u00fcpften Erscheinungen. Einfacher noch k\u00f6nnte man auch sagen: \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab ist ein anderer Ausdruck f\u00fcr den Glauben an die Ausnahmslosigkeit und Unver\u00e4nderlichkeit der wissenschaftlich Testgestellten Gesetze. Bei den Philosophen des 17. Jahrhunderts f\u00e4llt die Rolle eines solchen Wesens gew\u00f6hnlich Gott zu: das \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab wird ihm als Attribut beigelegt. Aber, wie wir schon gelegentlich Newton\u2019s bemerkten, hat dies nichts mit Theologie zu thun. Der Begriff Gott erscheint in diesem Jahrhundert untrennbar von der allgemeinen Gesetzlichkeit der Natur; seine Allmacht manifestirt sich ausschlie\u00dflich nach mechanischem und physikalischen Gesetzen. \u00bbIch zeigte\u00ab, sagt Descartes, \u00bb\\welches die Naturgesetze sind, und bem\u00fchte mich, ohne meine Beweisf\u00fchrung auf irgend ein anderes Princip als die unendliche Vollkommenheit Gottes zu st\u00fctzen, alle diejenigen zu beweiseu, \u00fcber","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556\nConstantin Raduleseu-Motru.\ndie man irgendwie Zweifel hegen konnte, und zu zeigen, dass sie so geartet sind, dass, h\u00e4tte Gott auch mehr als eine Welt geschaffen, doch unter den geschaffenen keine sein k\u00f6nnte, die im Stande w\u00e4re, ihnen nicht zu gehorchen\u00ab1 2). Diese stolzen Worte Descartes\u2019 k\u00f6nnen uns eine ann\u00e4hernde Idee davon geben, welche Kraft der Glaube an die wissenschaftlichen Gesetze in jener Zeit besa\u00df, und in welchem Sinne die Allmacht Gottes aufgefasst wurde. Das \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab ist also etwas wie eine Voraussetzung f\u00fcr jedes System einer reinen Naturlehre. Man gibt dadurch ganz einfach dem Glauben Ausdruck, dass die wissenschaftlichen Gesetze f\u00fcr einen pers\u00f6nlich unbeeinflussten Betrachter zu allen Zeiten die gleiche Best\u00e4tigung finden m\u00fcssen. W\u00fcrde also ein solches pers\u00f6nlich Unbeeinflusstsein nicht vorausgesetzt, so h\u00e4tte augenscheinlich nie ein Naturgesetz formulirt werden k\u00f6nnen.\nKehren wir von diesen Betrachtungen zu Kant zur\u00fcck. Kant nimmt, wie wir gesehen haben, den Begriff eines \u00bbBewusstseins \u00fcberhaupt\u00ab an, ohne sich die M\u00fche zu nehmen, ihn zu erl\u00e4utern, er nimmt ihn gleichfalls als Gegebenes. Thut er dies nur darum, weil auch er eine reine Wissenschaft annimmt? Dies scheint in der That die einzig m\u00f6gliche Erkl\u00e4rung zu sein, angesichts dessen, dass eine psychologische Ableitung eines \u00bbBewusstseins \u00fcberhaupt* augenscheinlich ausgeschlossen ist. In der \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab und in den \u00bbProlegomena\u00ab findet \u00fcberdies diese unsere Erkl\u00e4rung ihre ungezwungene Best\u00e4tigunga).\nMit der Erkl\u00e4rung des \u00bbBewusstseins \u00fcberhaupt\u00ab sind wir aber nun auch \u00fcber das Wesen des Urtheils im Reinen. Das Urtheil, \u00bbals die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen\u00ab oder als die \u00bbVerbindung der Wahrnehmungen in einem Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab kommt auf ein und dasselbe hinaus: es ist zum Unterschiede von der subjectiven Ideenverkn\u00fcpfung eine Art Beziehung, die sich in ein System reiner Naturwissenschaft bringen l\u00e4sst. Darum also, dass ein Urtheil in Uebereinstimmung mit den \u00fcbrigen Theilen eines wissenschaftlichen\n1)\tRene Descartes, Discours de la m\u00e9thode. Cinqui\u00e8me partie.\n2)\tVergl. Kr. d. r. Y. S. 136. Proleg. S. 28.","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t557\nSystems und somit unter die Einheit einer widerspruchslosen Welterkl\u00e4rung subsumirt erscheint, nennen wir es wahr oder, Kan tisch gesprochen, ein Urtheil mit objectiver G\u00fcltigkeit. Mit dem Wesen des Urtheils aber ist uns auch unmittelbar eine Auskunft \u00fcber die Spontaneit\u00e4t des Verstandes gegeben. Das Urtheil ist nach Kant, wie schon erw\u00e4hnt, das Princip, durch das das Mannigfaltige der Vorstellungen sich unter die Einheit des Denkens bringen l\u00e4sst; und die Functionen des Verstandes k\u00f6nnen insgesammt gefunden werden, wenn man die Function der Einheit in dem \u00fcrtheilen best\u00e4ndig darstellen kann. Ist aber die objective G\u00fcltigkeit des Urtheils an die Voraussetzung des \u00bbBewusstseins \u00fcberhaupt\u00ab gekn\u00fcpft, so folgt daraus auch von selbst, dass die Th\u00e4tigkeit des Verstandes, oder seine Spontaneit\u00e4t, nur insoweit f\u00fcr die kritische Philosophie in Betracht kommen kann, als sie an dieselbe Voraussetzung wie jene gekn\u00fcpft ist. Die allgemeine Schlussfolgerung aus alledem wird daher sein: das Erkennen durch den Verstand oder das Erkennen durch Begriffe ist nur unter der Voraussetzung eines Systems der reinen Naturwissenschaft m\u00f6glich. In der transcendentalen Aesthe-tik, bei der Entdeckung der reinen Anschauungsformen haben wir einen Schluss von derselben Art zu constatiren gehabt.\nHier angelangt ist die Uebersicht \u00fcber die kritische Philosophie Kant\u2019s, insoweit sie als Vorbereitung zum Verst\u00e4ndniss der Cau-salit\u00e4t dienen soll, als abgeschlossen zu betrachten. Wir haben gesehen, wie uns Kant durch die wichtigsten Punkte seines eigenen Systems auf die Wissenschaft und zwar auf Hypothesen derselben zur\u00fcckf\u00fchrt, die aus dem Beginne unserer modernen Aera stammen. Seine reinen Anschauungsformen sind nahezu Kaum und Zeit der analytisch-geometrischen Construction; seine Urtheilstheorie steht und f\u00e4llt \u2014 durch die Abh\u00e4ngigkeit der Kant\u2019schen Objectivit\u00e4t des Urtheils von einem Bewusstsein \u00fcberhaupt \u2014 mit denselben Voraussetzungen wie die Mechanik eines Galilei und Newton. Gehen wir nun, so vorbereitet, etwas n\u00e4her auf das Causalit\u00e4ts-problem ein.","page":557},{"file":"p0558.txt","language":"de","ocr_de":"558\nConstantin Radulescu-Motm.\nIII.\nDie Function des Denkens in dem Urtheil. \u2014 Die Theorie der reinen Verstandesbegriffe. \u2014 Die -wissenschaftliche Erfahrung und Erfahrung der Form des Denkens nach.\nWelches immer die Natur des Urtheils sei, ob es nun eine einfache Verkn\u00fcpfung zwischen zwei Vorstellungen, oder eine Zerlegung einer Gesammtvorstellung sei, es liegt auf der Hand, dass die Causalit\u00e4t, wofern sie \u00fcberhaupt unter eine Rubrik zu bringen ist, unter die der Abh\u00e4ngigkeitsurtheile f\u00e4llt ; und dies nicht allein nach dem, was wir gelegentlich der mathematischen Entwickelung im 17. Jahrhundert fanden, die, nebenbei gesagt, eng mit der aller exacten Wissenschaften verbunden ist, sondern auch nach dem von Kant selbst adoptirten Gesichtspunkte. \u00bbDie Function des Denkens in dem Urtheil\u00ab, sagt er, \u00bbist, wenn man von allem Inhalte ab-strahirt, unter vier Titel, deren jeder drei Momente enth\u00e4lt, zu bringen: n\u00e4mlich Quantit\u00e4t, Qualit\u00e4t, Relation und Modalit\u00e4t\u00ab1). Warum unter vier und nicht unter drei oder f\u00fcnf, dar\u00fcber haben wir hier nicht zu rechten; Kant hat sich f\u00fcr diese Anzahl wahrscheinlich der Uebereinstimmung mit der \u00fcberlieferten formalen Logik zu Liebe entschieden, die seit Aristoteles in den Schulen ihren Einfluss fort\u00fcbte, f\u00fcr uns Heutige aber in den Hintergrund getreten ist. \u00bbAbstrahiren von allem Inhalte\u00ab, \u00bbnur auf die blo\u00dfe Verstandesform Acht geben\u00ab2), davon gehen wir heut je l\u00e4nger je weniger aus. Begn\u00fcgen wir uns daher, seine Classification wiederzugeben, ohne uns irgendwie auf ihre Discussion einzulassen, zumal da diese Subsumirung unter Titel und Momente des Urtheils f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der Causalit\u00e4t in der Kant\u2019schen Philosophie nicht unbedingt geboten ist und mehr die Architektonik des Systems angeht als seinen Inhalt. Das Entscheidende werden wir unmittelbar ber\u00fchren, sobald wir auf die reinen Verstandesbegriffe zu sprechen kommen.\nDie drei Momente der Relation sind nun zufolge der \u00bbKr. d. r. V.\u00ab die nachstehenden: 1) Die Verh\u00e4ltnisse des Pr\u00e4dicats zum\n1)\tKr. d. r. V. S. 114.\n2)\tKr. d. r. V. S. 114.","page":558},{"file":"p0559.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\n559\nSubject: kategorische Urtheile; 2) des Grundes zur Folge: hypothetische Urtheile; und 3) der eingetheilten Erkenntniss und der gesammelten Glieder der Eintheilung unter einander: disjunctive Urtheile1). Unter die zweite Rubrik wird die Causalbeziehung zu subsumiren sein. Das Yerh\u00e4ltniss von Grund und Folge ist also demnach die formale Seite, oder, besser gesagt, die logische Grundlage, auf die sich die Causalit\u00e4t (eine Art Beziehung zwischen Erfahrungsthatsachen) st\u00fctzen wird. In welcher Weise unser Denken von allem Inhalte abstrahirend zu diesem Satze von Grund und Folge gelangt, der nicht mehr eine beliebige, sondern eine sehr bestimmte und immer und in allen F\u00e4llen bewusst erkannte und angewandte Beziehung ist, und wie er in Geltung tritt, das ist augenscheinlich schwer zu begreifen. Wir sind weit eher geneigt, eine solche rein formale Th\u00e4tigkeit des Denkens als etwas wie eine Illusion zu betrachten. Aber bleiben wir innerhalb der \u00e4lteren Logik: \u00bbGrund und Folge\u00ab machen eine rein formale Begr\u00fcndung aus. Eine andere Frage dr\u00e4ngt sich gleichwohl auf: es ist die folgende: Warum zwischen den Verh\u00e4ltnissen von \u00bbGrund und Folge\u00ab und \u00bb eingetheilter Erkenntniss und der gesammelten Glieder der Eintheilung unter einander \u00ab als zweitem und drittem Momente unterscheiden? Die Gliederung einer Gesammtvorstellung und die gegenseitige Abh\u00e4ngigkeit der Theile ist, so scheint es uns, wenn nicht die einzige, so doch die auff\u00e4lligste Form, unter der die Beziehung nach Grund und Folge f\u00fcr unser Bewusstsein vor sich geht. \u00bbDas Verh\u00e4ltniss der Abh\u00e4ngigkeit als solches\u00ab, sagt mit vielem Rechte Wundt, \u00bbsetzt schon als anschauliche Grundlage immer nur eine Gesammtvorstellung voraus, die sich in Theilvorstel-lungen gliedert. Sobald dann das Ganze jener Gesammtvorstellung als bestimmt durch gewisse Eigenschaften begrifflich fixirt wird, m\u00fcssen auch die zugeh\u00f6rigen Theilvorstellungen als die von einander abh\u00e4ngigen Glieder des Ganzen gedacht werden\u00ab2). Unter diesen Umst\u00e4nden bliebe zwischen dem zweiten und dritten Urtheilsmomente kaum noch eine Verschiedenheit bestehen.\n1)\tKr. d. r. V. S. 116.\n2)\tSystem der Philosophie. Leipzig 1889. S. 84.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n38","page":559},{"file":"p0560.txt","language":"de","ocr_de":"560\nConstantin Radulescu-Motru.\nNun sagt uns aber Kant, dass \u00bbGrund und Folge\u00ab sich mit \u00bbhypothetischem Urtheil\u00ab deckt, was nicht aus dem Auge zu verlieren ist. Ja, wir haben hier sogar das Motiv, das ihn zwischen dem zweiten und dritten Momente unterscheiden lie\u00df. Durch die Identificirung von Grund und Folge mit dem hypothetischen Urtheile erreicht Kant in der That, was er von seinem streng formalen Gesichtspunkte aus nie erreicht h\u00e4tte. Das hypothetische Urtheil tr\u00e4gt eine geringe Differenz in die Definition, die, wie leicht sichtbar, auf Rechnung des Erfahrungsinhaltes kommt, der den Pr\u00e4missen zufolge von den rein formalen Operationen des Verstandes ausgeschlossen bleiben sollte, der nichtsdestoweniger aber so n\u00f6thig war, um den Uebergang zur Causalit\u00e4t zu vermitteln. \u00bbEs ist nur die Consequenz, die durch dieses Urtheil gedacht wird\u00ab1), sagt uns Kant und f\u00fcgt, um die Scheidung vom disjunctiven Urtheile weiter zu pr\u00e4cisiren, in Betreff dieses letzteren hinzu: Das disjunctive Urtheil enth\u00e4lt ein Verh\u00e4ltniss zweier oder mehrerer S\u00e4tze gegeneinander \u00bbaber nicht der Abfolge, sondern der logischen Entgegensetzung\u00ab . . . Das Verh\u00e4ltniss des hypothetischen Urtheils bleibt also als eine Abfolge zu erfassen, als ein Verh\u00e4ltniss zwischen Antecedens und Consequens: eine in der gleichzeitigen Schule un vertretene Lehre, gegen die sich Chr. Wolff2) erkl\u00e4rt hatte. Es k\u00f6nnte sein, dass logische Beweisgr\u00fcnde Kant gedr\u00e4ngt h\u00e4tten, bei Gelegenheit dieses hypothetischen Urtheils von der Ueberlieferung abzuweichen und einer Theorie beizutreten, die seit Boethius verlassen war, aber Zweifel daran lassen sich gleichwohl nicht unterdr\u00fccken. Chr. Wolff erblickte zwischen derartigen Urtheilen \u2014 den hypothetischen \u2014 und den disjunctiven Urtheilen nur einen grammatikalischen Unterschied, und ich wei\u00df nicht, wie man ihm hier wiedersprechen k\u00f6nnte, vorausgesetzt, dass man sich streng innerhalb der Grenzen der formalen Logik h\u00e4lt, und also einen Inhalt, welcher es immer sein m\u00f6ge, ausschlie\u00dft. Die ganze formale Logik st\u00fctzt sich lediglich auf grammatikalische Differenzen. In der Consequenztheorie, glauben wir, fand Kant nur ein gelegenes Mittel, um sp\u00e4ter die Zeitfolge, die ihm f\u00fcr die Causalit\u00e4t so un-\n1)\tKr. d. r. V. S. 116.\n2)\tVergl. B. Erdmann, Logik, I. S. 413.","page":560},{"file":"p0561.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung yon Kant's Theorie der Naturcausalitiit.\n561\nentbehrlich war, zu adoptiren. Dies ist in unseren Augen sein Hauptmotiv, und das Folgende wird lehren, ob die Thatsachen uns Recht geben. Die Zeit spielt bei Kant stets eine doppelte Rolle .... einmal ist sie Anschauungsform, ein andermal wieder Denkform! So oder so aber, und mag nun Kant unter der Consequenz des hypothetischen Urtheils eine Zeitfolge verstanden haben oder nicht, es bleibt gleichwohl wahr, dass in Folge seines Ausgangspunktes, nach den Pr\u00e4missen der formalen Logik, auch f\u00fcr ihn die Voraussetzung besteht : Grund und F'olge und somit das hypothetische Urtheil m\u00fcssen in ihrer formalen Sph\u00e4re bleiben und d\u00fcrfen den Erfahrungsinhalt durchaus nicht in Anspruch nehmen. Sie sind formale Beziehungen und ganz und gar aus dem Wesen des Urtheils im allgemeinen gesch\u00f6pft, sie haben f\u00fcr den Inhalt der Erfahrung keinerlei verbindende Kraft. Wie aber gestaltet sich nun der Uebergang? Wie entsteht nach dem Typus dieser formalen Abh\u00e4ngigkeit auch eine andere f\u00fcr den Inhalt der Erfahrung ?\nDie reinen Verstandesbegriffe, antwortet uns Kant, machen das Unm\u00f6gliche m\u00f6glich. Der Einheit im Urtheilen correspondirt, gem\u00e4\u00df der Function des Verstandes, eine andere in der Anschauung: der reine Verstandesbegriff. \u00bbDieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit gibt, sie gibt auch der blo\u00dfen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedr\u00fcckt, der reine Verstandesbegriff hei\u00dft\u00ab. \u00bbDerselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen vermittelst der analytischen Einheit die logische Form eines Urtheils zu Stande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung \u00fcberhaupt, in seine Vorstellungen einen transcendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe hei\u00dfen, die a priori auf Objecte gehen, welches die allgemeine Logik nicht leisten kann\u00ab1). Mithin wohnt also unserem Verst\u00e4nde nicht allein die Kraft inne, eine logische Einheit der Vorstellungen zu bilden, sondern auch eine solche Einheit der Anschauungsmannigfaltigkeit, mittelst welcher seine Vorstellungen transcendentalen Inhalt erlangen und a priori auf Objecte gehen\n1) Kr. d. r. V. S. 120 f.\n38*","page":561},{"file":"p0562.txt","language":"de","ocr_de":"562\nConstantin Radulescu-Motru.\nsollen. Diese letztere Kraft, die man in der Sprache Kant\u2019s das Verm\u00f6gen unseres Verstandes reine Begriffe a priori zu bilden nennen k\u00f6nnte, macht in der That den gordischen Knoten des Problems aus. Von seiner L\u00f6sung h\u00e4ngt es ah, welche Wendung die Cau-salit\u00e4t nehmen kann. Ist eine Synthesis a priori des Erfahrungsinhaltes m\u00f6glich, die der der logischen von Grund und Folge entspricht, dann werden wir in der Causalit\u00e4t, insofern nach der Natur des hypothetischen Urtheils diese Synthesis keine andere sein k\u00f6nnte als die reale Causalit\u00e4t, einen reinen Verstandesbegriff besitzen, der von allen Ergebnissen Hume\u2019s unber\u00fchrt bleibt. Im entgegengesetzten Falle beh\u00e4lt die Frage nach wie vor die Gestalt, die Hume ihr gegeben hat. Das Mannigfaltige der Anschauung ist dann ohne nothwendigen Zusammenhang, es stellt sich in unserem Bewusstsein als eine Summe aus getrennten und losen Theilen dar. Somit kommt alles auf die Pr\u00fcfung dieser Annahme der reinen Verstandes-begriffe hinaus, und alles, was f\u00fcr dieselben sprechen wird, wird auch f\u00fcr das apriori der Causalit\u00e4t sprechen. Die Erkl\u00e4rung dieser letzteren in der kritischen Philosophie f\u00e4llt ganz und gar zusammen, so kann man sehr wohl sagen, mit der Theorie der Verstandesbe-griffe. Und hierin liegt die Originalit\u00e4t sowohl wie vielleicht auch die Schw\u00e4che des ganzen Systems.\nWas ist es eigentlich, was Kant berechtigt, diesen neuen Gesichtspunkt in die Geschichte der Causalit\u00e4t einzuf\u00fchren? Die Beantwortung dieser Frage wird zugleich die der folgenden speciel-leren sein. In welchem Ma\u00dfe und unter welcher Gestalt subsumirt sich der Inhalt der Erfahrung dem reinen Verstandesbegriffe? Eine Hypothese dr\u00e4ngt sich bez\u00fcglich dessen unmittelbar auf. Man k\u00f6nnte sagen, dass genau so, wie Raum und Zeit die nothwendigen unmittelbaren Bedingungen der Sinnlichkeit sind, so h\u00e4tten die reinen Verstandesbegriffe \u2014 oder die Kategorien, wie Kant sie zur Erinnerung an Aristoteles auch nennen will, als die nothwendigen Bedingungen f\u00fcr das Denken zu gelten, die die nothwendige Einheit jedes Verstandesinhaltes bewirken. So leicht aber diese Hypothese sich aufstellt, so leicht widerlegt sie sich auch. Es gibt auf dem Gebiete des Verstandes nicht die gleiche Einfachheit wie auf dem der Sinnlichkeit. Die reinen Verstandesbegriffe zwingen sich nicht dem Verstandesinhalte auf wie Zeit und Raum der sinnlichen Vor-","page":562},{"file":"p0563.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t563\nStellung^, au\u00dfer ihrer Synthesis gibt es noch andere Synthesen, die, wenn auch nicht von gleicher Bedeutung, so doch vorhanden sind. Dieser Unterschied ergibt sich von selbst nach dem, was, wie wir sahen, Urtheile von objectiver und Urtheile von subjectiver G\u00fcltigkeit bedeuten. Die reinen Verstandesbegriffe sollten demzufolge die objective Synthesis in einem Bewusstsein \u00fcberhaupt und nicht die subjectiven Bedingungen eines individuellen Denkens sein. \u00bbDaher zeigt sich hier eine Schwierigkeit, die wir im Felde der Sinnlichkeit nicht antrafen, wie n\u00e4mlich subjective Bedingungen des Denkens sollten objective G\u00fcltigkeit haben, d. i. Bedingungen der M\u00f6glichkeit aller Erkenntniss der Gegenst\u00e4nde abgebenj denn ohne Functionen des Verstandes k\u00f6nnen allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden\u00ab1). Nehmen wir z. B. den Begriff der Ursache, welcher eine besondere Art der Synthesis bedeutet, da auf etwas A etwas ganz verschiedenes B nach einer Kegel gesetzt wird. \u00bbEs ist a priori nicht klar, warum Erscheinungen etwas dergleichen enthalten sollten (denn Erfahrungen kann man nicht zum Beweise anf\u00fchren, weil die objective G\u00fcltigkeit dieses Begriffes a priori muss dargethan werden k\u00f6nnen), und es ist daher a priori zweifelhaft \u2014 ob ein solcher Begriff nicht etwa gar leer sei und \u00fcberall unter den Erscheinungen keinen Gegenstand antreffe....... Denn es k\u00f6nnten wohl allenfalls Erscheinungen so\nbeschaffen sein, dass der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gem\u00e4\u00df f\u00e4nde und alles so in Verwirrung l\u00e4ge, dass z. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darb\u00f6te, was eine Regel der Synthesis an die Hand g\u00e4be und also dem Begriffe der Ursache und Wirkung entspr\u00e4che, so dass mithin dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung w\u00e4re\u00ab2).\nWoher nehmen wir daher die Berechtigung, dass wir, wenn wir von der Causalit\u00e4t sprechen (um diesen Verstandesbegriff beizubehalten), ihr trotzdem einen Erfahrungsinhalt beilegen und sie als eine nothwendige Verkn\u00fcpfung der Erfahrungsthatsachen darstellen? \u00bbEs sind nur zwei F\u00e4lle m\u00f6glich\u00ab \u2014\u2022 kommt uns hier wieder Kant zu H\u00fclfe \u2014 \u00bbunter denen synthetische Vorstellung und ihre\n1)\tKr. d. r. V. S. 132.\n2)\tKr. d. r. V. S. 132/3.","page":563},{"file":"p0564.txt","language":"de","ocr_de":"564\nConstantin Radulescu-Motrii.\nGegenst\u00e4nde Zusammentreffen, sich auf einander nothwendiger Weise beziehen und gleichsam einander begegnen k\u00f6nnen. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegenstand allein m\u00f6glich macht. Ist das Erstere, so ist diese Beziehung nur empirisch, und die Vorstellung ist niemals a priori m\u00f6glich. Und dies ist der Fall mit Erscheinungen in Ansehung dessen, was an ihnen zur Empfindung geh\u00f6rt. Ist aber das Zweite, weil Vorstellung an sich selbst (denn von der Causalit\u00e4t, vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Bede) ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hervorbringt, so ist doch die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdann a priori bestimmend, wenn durch sie allein es m\u00f6glich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen\u00ab1). Folglich m\u00fcsste die Causalit\u00e4t und m\u00fcssten somit die Verstandeshegriffe sich in diesem zweiten Falle befinden, um zu diesem Anspruch auf Erfahrung berechtigt zu sein. Ist aber diese Annahme nicht der fr\u00fcheren widersprechend'/ Sie ist gerade diejenige, an der zu zweifeln wir fr\u00fcher so viel Grund hatten! Es leuchtet nun von selbst ein, dass die Anschauungsformen Baum und Zeit in Ansehung des Gegenstandes bestimmend sind, weil eine dingliche Anschauung allein durch sie m\u00f6glich wird. Dass die Verstandesbegriffe aber auch vorausbestimmend seien, das ist, wenn wir nicht auf Seiten des Platonischen Idealismus, demzufolge die Erscheinungen Abbilder der Ideen sind, stehen, offenbar minder einleuchtend. Hat uns Kant doch selbst gesagt: \u00bbEs k\u00f6nnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, dass der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gem\u00e4\u00df f\u00e4nde und alles so in Verwirrung l\u00e4ge\u00ab, u. s. w.\nDieser anscheinende Widerspruch wird aber sogleich aufgehoben, wenn wir die fr\u00fchere Charakteristik der Verstandesbegriffe n\u00e4her ins Auge fassen. Dort hie\u00df es: die Verstandesbegriffe seien nicht subjective Bedingungen des Erkenntnissactes, sondern sie bildeten die objective Synthesis in einem Bewusstsein \u00fcberhaupt. Einen Gegenstand durch die Verstandesbegriffe erkennen bedeutet demnach nicht, einen Gegenstand nach irgend welchen subjectiven Bedingungen bestimmen, sondern ihn objectiv, in Beziehung auf\n1) Kr. d. r. V. S. 134.","page":564},{"file":"p0565.txt","language":"de","ocr_de":"Zar Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalitiit.\n565\nein Bewusstsein \u00fcberhaupt feststellen. Die Erfahrung der Verstandesbegriffe ist von der der Anschauungsformen verschieden. Diese letzteren beziehen sich nur auf die empirische, die sinnliche Erfahrung, die sie ausbilden; die Verstandesbegriffe hingegen auf die objective, allgemeing\u00fcltige. Demnach besteht der Widerspruch nur so lange, als wir hier nicht unterscheiden, d. h. so lange wir die Erkenntniss der Dinge durch Verstandesbegriffe als Bestimmung sinnlicher Erscheinungen nach subjectiven Bedingungen auffassen. Vermeiden wir diese Verwirrung, so erscheint uns jene Annahme, dass die Verstandesbegriffe in Ansehung der Gegenst\u00e4nde auch im voraus bestimmend sein k\u00f6nnen, \u00fcberhaupt nicht mehr widersprechend. Eine zweite Art der Erfahrung im Gegens\u00e4tze zur sinnlichen, eine objective, allgemeing\u00fcltige Erfahrung enth\u00e4lt die Verstandesbegriffe in derselben Weise als a priori, wie die sinnliche Erfahrung die Anschauungsformen enth\u00e4lt. Welcher Natur aber ist diese zweite Erfahrung und wie kommt sie zu Stande? Eine Ueber-sicht \u00fcber diese verschiedenen Erfahrungsauffassungen wird hier von Nutzen sein, insofern vielleicht eine von ihnen gerade die ist, die Kant bei seinen Verstandesbegriffen im Auge hatte.\nEine Auffassung der Erfahrung, die von der uns als sinnliche, naive Erfahrung bekannten abweiclit. wird uns vom Beginn der Wissenschaften an gegeben. Indem wir sie mit einem Worte die wissenschaftliche Erfahrung1) nennen, finden wir, dass ihr haupts\u00e4chliches Merkmal, das sie von der anderen, der sinnlichen, unterscheiden l\u00e4sst, ihr Anspruch auf einen allgemein oder objectiv g\u00fcltigen Inhalt ist. Die wissenschaftliche Erfahrung h\u00e4lt sich, anders gesagt, frei von jenen vor\u00fcbergehenden Beeinflussungen, denen ein individuelles Bewusstsein in der Betrachtung und Beobachtung der \u00e4u\u00dferen Welt stets unterworfen ist. Die Welt der Platonischen Ideen z. B. ist eine Erfahrung in diesem Sinne, sie erhebt Anspruch darauf, dass ihr Bestand allein wahr und wirklich, die Welt der\n1) \u00bbErfahrung\u00ab ist hier augenscheinlich nicht der rechte Ausdruck, wir behalten ihn gleichwohl bei, um dem Texte Kant\u2019s treu zu bleiben. Offenbar ist hier eine transsubjective Natur gemeint, die zu der Verstandeserkenntniss oder allgemein der objectiven Erkenntniss in dem Verh\u00e4ltnisse st\u00fcnde, in dem die sinnliche Welt zur Wahrnehmung steht; \u00fcbrigens werden wir uns im Nachfolgenden dar\u00fcber klar machen.","page":565},{"file":"p0566.txt","language":"de","ocr_de":"566\nConstantin Radulescu-Motru.\nErscheinungen aber nur eine ihr mehr oder minder gem\u00e4\u00dfe Summe von Schein sei. Ebenso hatte die Aristotelische Logik zum Ziel, die wirkliche und wahre Erfahrung der Formen im Gegensatz zu der unrealen, stofflichen zu schaffen. Im ganzen Alterthum aber erfuhr dieser Unterschied zwischen den beiden Erfahrungen eine ganz andere Auffassung als die, auf die man sich h\u00e4tte beschr\u00e4nken sollen. Anstatt sie beide als verschiedene Grade unserer Abstrac-tionsth\u00e4tigkeit zu betrachten, lie\u00df man einen Abgrund zwischen ihnen sich aufthun, erblickte man in ihnen gleichsam zwei verschiedene Welten, eine der Substanzen (oder der Formen), und eine der Abbilder, deren letztere sich dadurch, dass sie mit dem Zufall behaftet war, als die tieferstehende kennzeichnete.\nDiese Unterscheidung zwischen zweierlei Erfahrungen dauert fort beim Inslebentreten der Wissenschaften nach der Renaissance ; sie nimmt aber andere Gestalt an. Die Erfahrung der unverg\u00e4nglichen und unver\u00e4nderlichen Ideenwelt Plato\u2019s gestaltet sich dem Charakter der exacten Wissenschaften eines Galilei und Newton entsprechend. Und da uns der Unterschied zwischen diesen Wissenschaften und der griechischen Philosophie wohl bekannt ist, so m\u00fcssen wir auch auf einen analogen Unterschied zwischen den beiderseitigen Auffassungen der wissenschaftlichen Erfahrung gefasst sein. In der That ist dies leicht einzusehen.\nDas, was die modernen Wissenschaften in erster Linie verfolgen, ist die Aufstellung der Gesetze der Naturvorg\u00e4nge, der Gesetzlichkeit des Naturgeschehens, w\u00e4hrend die Alten ihre Aufmerksamkeit mehr dem Probleme des Seins, den letzten Elementen aller Wirklichkeit zuwandten'). Daher also bei diesen die gro\u00dfe Wichtigkeit, die man den Speculationen \u00fcber die Qualit\u00e4ten der Materie beima\u00df, das Vorherrschen der Substanzableitungen in allen philosophischen Systemen, von der jonischen Schule bis auf Aristoteles. Dahingegen macht die wissenschaftliche Erfahrung f\u00fcr die Modernen, die umgekehrt den quantitativen Verh\u00e4ltnissen die h\u00f6chste Wichtigkeit beimessen, als auf diese basirt, nicht l\u00e4nger\n1) Vergl. C. G\u00f6ring, System d. krit. Philosophie, II. S. 234. W. Wundt, System der Philosophie. S. 446f. K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik, II, passim.","page":566},{"file":"p0567.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n567\nwie f\u00fcr die Alten eine Welt f\u00fcr sich, aus Substanzen oder Ideen, aus, sondern sie ist einfach eine h\u00f6here Stufe der sinnlichen Erfahrung. Zum Unterschiede von der letzteren wird die wissenschaftliche Erfahrung vorgestellt als eine Erfahrung, innerhalb deren alle Objecte streng nach Bewegungsgesetzen verkn\u00fcpft sind, und alle Ereignisse im voraus und absolut sicher mathematisch errechnet werden k\u00f6nnen. Indem wir uns das weiter oben besprochene \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab vergegenw\u00e4rtigen, sehen wir leicht ein, wie eine derartige wissenschaftliche Erfahrung und das \u00bb Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab einander begrifflich erg\u00e4nzen und gleichsam die zwei Seiten einer und derselben Voraussetzung sind. Mehr als irgend wer ist es vielleicht der geniale Laplace gewesen, der mit seinem Werke \u00fcber die Wahrscheinlichkeit dazu beigetragen hat, den Glauben an einen solchen mechanischen Determinismus zu st\u00e4rken; er hat uns auch seine pr\u00e4cisirte Formulirung gegeben. \u00bbAlle Ereignisse\u00ab, sagt er in seinem philosophischen Essai \u00fcber die Wahrscheinlichkeit, \u00bbselbst die, die ihrer Kleinheit halber von den gro\u00dfen Gesetzen der Natur nicht abzuh\u00e4ngen scheinen, sind\neine ebenso nothwendige Folge davon wie die Uml\u00e4ufe der Sonne...\nWir haben also den gegenw\u00e4rtigen Zustand des Universums als Wirkung eines voraufgegangenen Zustandes desselben zu verstehen. Eine Intelligenz\u00ab \u2014 Laplace wird uns jetzt Kant\u2019s \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab schildern \u2014 \u00bbdie in einem gegebenen Augenblicke alle Kr\u00e4fte kennte, die die Natur beleben, und das Wechselver-h\u00e4ltniss zwischen den Wesen, die sie bilden, w\u00fcrde, wenn sie sonst umfassend genug w\u00e4re, um alle diese Daten der Analyse zu unterwerfen, in ein und derselben Formel die Bewegungen der gr\u00f6\u00dften Weltk\u00f6rper so gut wie die des unw\u00e4gbaren Atoms umschlie\u00dfen: nichts w\u00e4re ungewiss f\u00fcr sie, und die Zukunft wie die Vergangenheit w\u00e4ren ihrem Auge gleich gegenw\u00e4rtig\u00ab b. Von diesen Zeilen kann man sagen, dass sie die Ueberzeugung der ganzen Periode seit Galilei zum Ausdruck bringen. In ihnen gipfelt der Geist des 17. Jahrhunderts, ohne Zweifel des productivsten Jahrhunderts, das die Menschheit bis heute durchlebt hat.\n1) Laplace, Essai philosophique sur les probabilit\u00e9s. 2. Aufl. Paris 1814. S. 2 f.","page":567},{"file":"p0568.txt","language":"de","ocr_de":"568\nConstantin Radulescu-Motru.\nSo grandios aber diese Auffassung immer sein mag, man darf ihren relativen Charakter nicht aus den Augen verlieren. Was die moderne und die alte Anschauung mit einander gemein haben, ist, dass weder diese noch jene dem menschlichen Bewusstsein anders als durch Begriffe vermittelt werden kann. Eine Intuition der Welt der Substanzen sowohl wie eine Intuition der Gesetze des Weltalls ist eine reine Unm\u00f6glichkeit. Man mag sich ein menschliches Bewusstsein so \u00fcberlegen vorstellen wie man will, es gelangt doch nie zur Intuition der wissenschaftlichen Erfahrung. Dies ist selbstverst\u00e4ndlich. Durch die wissenschaftlichen Disciplinen erzeugt und unterhalten, kann die wissenschaftliche Erfahrung nur gleicher Natur sein mit diesen, n\u00e4mlich begrifflicher Natur. W\u00e4re aber gleichwohl eine solche nichtsubjective Anschauung, wie es die wissenschaftliche Erfahrung sein m\u00fcsste, anders m\u00f6glich, wozu dann alle Untersuchungen Kant\u2019s \u00fcber objective und subjective Gewissheit? Und vor allem, wie h\u00e4tte dann der menschliche Geist die Anschauung der Substanzen mit einer solchen der Naturvorg\u00e4nge vertauschen k\u00f6nnen'?\nOffenbar kann man in abstracto stets von einem Gotte, von einem \u00bb Bewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab sprechen, die sich die wissenschaftlichen Gesetze intuitiv vorzustellen verm\u00f6gen, nur sind dies eben Abstractionen und Postulate und keine Gegebenheiten. Die wissenschaftliche Erfahrung ist nur eine Verallgemeinerung, wie alle anderen wissenschaftlichen Verallgemeinerungen auch, ein Symbol der Realit\u00e4t und nicht die Realit\u00e4t selbst. Der menschliche Verstand kann es jederzeit mit einem anderen vertauschen, dadurch dass er den Gesichtspunkt wechselt, unter dem er seine Begriffe im allgemeinen construirt. W\u00e4hlt er statt des Platonisch-Aristotelischen den von Galilei-Newton, so wird auch die wissenschaftliche Erfahrung eine andere, wie wir gezeigt haben ; aus einer Welt der Substanzen wird sie zum mechanistischen Determinismus. Und wer steht uns gut daf\u00fcr, dass in Zukunft nicht noch ein anderer Gesichtspunkt gefunden werden wird? einer z. B., aus dem heraus auch die Fernewirkung sich erkl\u00e4rte und mit dergleichen Leichtigkeit unter Gesetze gebracht. w\u00fcrde wie heutzutage die allereinfachste Ortsver\u00e4nderung! Und vor allem, wird man stets die Vorstellung von einem Gesetze beibehalten, wie wir sie seit","page":568},{"file":"p0569.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\n569\nGalilei haben? Sie ist geschichtlichen Ursprungs, warum sollte sie nicht auch ein geschichtliches Ende nehmen?\nDie wissenschaftliche Erfahrung also, um auf unseren Gegenstand zuriickzukommen, ist etwas wie eine relative Anticipation des Inhalts der reellen Erfahrung von Seiten der Wissenschaften. Sie st\u00fctzt sich auf unsere Gewissheit von der Gleichf\u00f6rmigkeit des Naturverlaufs und von der Gleichf\u00f6rmigkeit unseres logischen Denkens. Wenn man von ihren Objecten spricht, so darf man nicht Objecte gleich denen der sinnlichen Erfahrung darunter verstehen, sondern allein Begriffe, Abstractionen von den Objecten der sinnlichen Erfahrung. Gerade diese ihre Bedingung ist es, die bewirkt, dass man ihr objective Gewissheit beimisst. Allein deshalb, weil sie die Dinge nur nach gewissen Merkmalen erfasst, weil sie mit Abstractionen operirt, gelingt es ihr auch, einen widerspruchslosen Zusammenhang aller Ereignisse f\u00fcr die Zukunft zu bilden. Die sinnliche Erfahrung bleibt neben ihr etwas Unfestgestelltes, an dem es immer zu interpretiren gibt, das man nie ersch\u00f6pft.\nIn der That beginnt unser Wissen und hat unsere Gewissheit b\u00fcnn erst insoweit, als wir die F\u00e4higkeit haben Begriffe zu con-struiren. Die Auffassung der wissenschaftlichen Erfahrung kann mithin, soweit sie Anspruch auf Gewissheit erhebt, nur die Natur der Wissenschaft selbst theilen.\nV erfolgen wir diesen Vergleich zwischen den wissenschaftlichen Systemen und der Auffassung der wissenschaftlichen Erfahrung noch etwas weiter, und das Ergebniss wird uns bald auf die Kant\u2019sche Theorie der Verstandesbegriffe zur\u00fcckf\u00fchren. Zwischen den verschiedenen Begriffen, die das System unserer Naturerkenntniss ausmachen, bleibt stets zu unterscheiden. Es sind ihrer darunter, die im Vergleiche zu den anderen eine h\u00f6here Wichtigkeit besitzen, die wie S\u00e4ulen sind, auf die sich das ganze System st\u00fctzt. Nennen wir sie mit einem Worte die Grundbegriffe. Auf diese Grundbegriffe sto\u00dfen wir bei der Analyse aller \u00fcbrigen, sie sind gleichsam unumg\u00e4ngliche Componenten unserer Erkenntniss. In einigen F\u00e4llen verkn\u00fcpfen sie sich direct mit den Postulaten, die die Grundlage des Systems ausmachen, und bilden dann eine Art Skelet f\u00fcr k\u00fcnftige Errungenschaften ; in anderen F\u00e4llen sind sie durch eine neue Abstraction aus den \u00fcbrigen engeren Begriffen hervorgegangen.","page":569},{"file":"p0570.txt","language":"de","ocr_de":"570\nConstantin Radulescu-Motru.\nNennen wir z. B. die Begriffe der Einheit, der Zahl, der Quantit\u00e4t, der Function etc. . . . Ohne M\u00fche sieht man, dass, wenn man diese Begriffe mit anderen vergleicht, wie dem der Sph\u00e4re, der Fallbewegung, der Ausdehnung der K\u00f6rper, des G\u00e4hrungsprocesses etc., die Rolle, die wir ihnen oben zutheilten, sich wie von selbst ergibt. Sie sind gleichsam das Grundger\u00fcst, dem sich die engeren, begrenzteren Begriffe jeder Wissenschaft einf\u00fcgen werden. Das vollst\u00e4ndige Verzeichniss dieser Grundbegriffe ergibt sich augenscheinlich aus einer Analyse unserer gesammten systematischen Erkenntniss, oder, wenn die Mathematik zuletzt statt aller anderen stehen kann, durch eine Analyse dieser Wissenschaft. Von einem \u00bbvollst\u00e4ndigen Verzeichniss\u00ab ist nat\u00fcrlich nur relativ die Rede ; die Entwickelung unserer Erkenntniss ist nie abgeschlossen, mithin auch die Zahl der Grundbegriffe nie endg\u00fcltig gegeben. Sehen wir jetzt zu, ob sich ein solcher Unterschied auch zwischen den Elementen einer wissenschaftlichen Erfahrung machen l\u00e4sst! Welchen Antheil haben hier die Grundbegriffe, die wahrscheinlich mit den Wissenschaften, die diese Erfahrung begr\u00fcnden, in sie gelangt sind ? Behalten sie hier ein f\u00fcr allemal eine Art Ausnahmestellung'? Ein Beispiel wird uns die Antwort auf diese Frage vielleicht besser als jede abstracte Auseinandersetzung an die Hand gehen. Halten wir uns vor allem an eine bestimmte Auffassung der wissenschaftlichen Erfahrung, um das Problem besser zu begrenzen: etwa die letztber\u00fchrte, die Galilei-Newton\u2019sche. Ihr zufolge, sagten wir, ist ein Gegenstand A Gegenstand der wissenschaftlichen Erfahrung, wenn er mittelst ihrer sich unter den Be-griffscomplex der exacten Wissenschaften bringen l\u00e4sst und demzufolge als ein Ring in der nothwendigen Kette der Ereignisse erscheint. Je mehr er von verschiedenen Gesichtspunkten behandelt ist, um so vollst\u00e4ndiger wird seine Erkenntniss sein, um so mehr objective Wahrheit seiner Existenz zukommen. Es sei nun dieser Gegenstand A ein neuer Planet, den ein Astronom zuf\u00e4lligerweise aufgefunden habe. Die einzige B\u00fcrgschaft f\u00fcr seine Existenz ist der optische Eindruck des Beobachters. Er kann jetzt entweder wirklich vorhanden sein, oder es kann sich um eine Sinnest\u00e4uschung seitens dieses Beobachters handeln. Insofern macht er zwar einen Bestandtheil der sinnlichen, aber noch keinen der wissenschaftlichen Erfahrung aus. Wir besitzen bez\u00fcglich seiner die gleiche sinnliche","page":570},{"file":"p0571.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit.\t571\nGewissheit wie bez\u00fcglich der sonstigen bereits bekannten und erforschten Planeten Jupiter, Saturn etc. Denn die Existenz aller dieser verb\u00fcrgt uns allein der optische Eindruck. Inwiefern macht er dann aber nicht auch wie diese letzteren einen Bestandtheil der wissenschaftlichen Erfahrung aus, d. h. der Galilei-Newton\u2019schen? Nach dem fr\u00fcher Entwickelten ergibt sich die Antwort von selbst. Das Erscheinen des neuen Planeten ist noch nicht unter feste Gesetze gebracht, es ist noch \u00abzuf\u00e4llig\u00ab, k\u00f6nnten wir sagen, das Wort ohne allen metaphysischen Beigeschmack genommen. Soll der neue Himmelsk\u00f6rper jetzt Gegenstand der wissenschaftlichen Erfahrung werden, so wird die ihn betreffende Wahrnehmung nicht nur f\u00fcr unser subjectives Bewusstsein, sondern auch f\u00fcr ein \u00bbBewusstsein \u00fcberhaupt\u00ab G\u00fcltigkeit erlangen m\u00fcssen; sie wird, anders gesagt, Allgemeing\u00fcltigkeit zu erlangen haben. Und dies geschieht allein dadurch, dass wir sie in die begriffliche Construction, die die widerspruchslose Verkn\u00fcpfung aller bekannten Weltereignisse ausmacht, hineinziehen und somit jedem m\u00f6glichen Bewusstsein verb\u00fcrgen. Gesetzt den Fall, die betreffende Wahrnehmung gestatte diese Einverleibung \u2014 es handelt sich, wie wir wissen, um einen Gesichtseindruck \u2014 wie stellt sich dann dieser Process des n\u00e4heren dar? Wir werden offenbar die zusammenhangslosen sinnlichen Daten von dem Planeten A begrifflich zu verkn\u00fcpfen suchen, wir werden seine Bahn mit irgendwelcher geometrischen Curve zu identificiren, seine Umlaufszeit mit unseren Zeitma\u00dfen auszudr\u00fccken, seine Masse quantitativ zu bestimmen suchen u. s. w. Das Ergebniss von alledem kann aber sein, dass der Planet A sich mit den bekannten Planeten begrifflich nicht deckt. Seine Bahn f\u00e4llt vielleicht mit keiner der bekannten Curven zusammen, seine Umlaufszeit folgt vielleicht dank ihm eigenth\u00fcmlicher St\u00f6rungen von au\u00dfen her nicht einfach aus Kepler\u2019s Gesetzen. Thatsachen wie diese bilden gleichwohl kein Hinderniss f\u00fcr die Einverleibung des neuen Himmelsk\u00f6rpers in die wissenschaftliche Erfahrung. Denn diese ist damit erreicht, dass die Grundbegriffe auf ihn Anwendung finden k\u00f6nnen. Dass z. B. der Begriff der Quantit\u00e4t, der Function etc. zu seiner Defini-rung ebenso brauchbar sei wie zu der des Jupiter, des Saturn etc., dass, mit anderen Worten, der festzustellende engere Begriff des Planeten A die Grundbegriffe zu Componenten habe. Ist dieser","page":571},{"file":"p0572.txt","language":"de","ocr_de":"572\nConstantin Radutescu-Motru.\nBedingung gen\u00fcgt, dann ist auch das Erscheinen des Planeten A durch unsere Messungsmittel bestimmbar und unter ein Functions-verh\u00e4ltniss zu den bereits bekannten planetarischen Erscheinungen zu bringen u. s. w., d. h. es steht seiner exacten Erkenntniss fernerhin nichts im Wege; der Planet A ist Bestandtheil der wissenschaftlichen Erfahrung geworden, weil er dadurch, dass die Grundbegriffe auf ihn Anwendung finden konnten, f\u00fcr die exacte Erforschung begrifflich hinreichend fixirt ist. Seine k\u00fcnftigen Erscheinungen lassen sich von nun an vorherbestimmen. Gelingt die Vorher-bestimmung dennoch nicht, trotzdem dass der Planet A quantitativ nach Ort und Zeit fixirt und in Function zu anderen regelm\u00e4\u00dfigen Erscheinungen gebracht ist; widersprechen sich die von ihm erlangten Daten, und ist bez\u00fcglich dessen jeder subjective Irrthum ausgeschlossen, so ist daraus kein anderer Schluss zu ziehen, als der, dass die ganze Grundlage der exacten Wissenschaften, das Princip der Permanenz in der Mathematik wie das Princip der Gleichf\u00f6rmigkeit des Naturgeschehens, falsch und folglich die Galilei-Newton\u2019sche Auffassung der wissenschaftlichen Erfahrung eine g\u00e4nzlich grundlose oder den Thatsachen nur theilweise Rechnung tragende Speculation ist. Die M\u00f6glichkeit eines solchen Falles bleibt f\u00fcr uns, die wir diese letztere Auffassung zur Voraussetzung nehmen, au\u00dfer Betracht: der Planet A macht von den bekannten Gesetzen der Mechanik keine Ausnahme.\nWorin bestand demnach unser Verfahren? Wir brachten dem neuen Gegenst\u00e4nde eine bestimmte Anticipation entgegen, eben unsere Auffassung der wissenschaftlichen Erfahrung, und dieser suchten wir ihn anzupassen. Diese Operation wurde auf der Basis gewisser uns zu Gebote stehender Grundbegriffe ausgef\u00fchrt, eben der, die eine widerspruchslose Welterkl\u00e4rung erm\u00f6glichten. Durch Anwendung dieser Grundbegriffe auf den Gegenstand gewann dieser letztere begriffliche Gestalt und seine Erkenntniss die objective G\u00fcltigkeit. Von da an sind wir in den Stand gesetzt, das Erscheinen unseres Himmelsk\u00f6rpers vorherbestimmen zu k\u00f6nnen, ohne auf neue sinnliche Wahrnehmungen warten zu m\u00fcssen : der Gegenstand ist eben unserer Anticipation ad\u00e4quat. Verdankt diese letztere aber, wie jedermann zugeben wird, ihren Ursprung allein der logischen Function des Denkens, so kann man auch mit Recht sagen,","page":572},{"file":"p0573.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t573\nunser Denken, unser Verstand bestimmt die Erkenntniss der Gegenst\u00e4nde im voraus. Zur Richtigkeit dieser Behauptung bedarf es allein der Fernhaltung des Missverst\u00e4ndnisses, dass die sinnliche Erfahrung selbst Gegenstand der Anticipation sei. Die sinnliche Erfahrung zu liefern sind wir ganz und gar nicht im Stande, es sind allein die Begriffe, die sich, insoweit als es sich um Gewissheit handelt, unseren Erwartungen anpassen.\nDie gleiche Betrachtung l\u00e4sst sich jetzt f\u00fcr die Grundbegriffe im besonderen wiederholen. Als Basis des wissenschaftlichen Systems, auf welches sich die Auffassung der wissenschaftlichen Erfahrung st\u00fctzt, gehen sie auch der Erkenntniss der Gegenst\u00e4nde vorauf, und werden falsch verstanden, wenn man in ihnen, statt Grundbedingungen einer widerspruchsloseren Welterkl\u00e4rung, was sie in Wirklichkeit sind, subjective Bedingungen eines jeden sinnlichen Ereignisses erblickt.\nHier angelangt kehrt unsere Erinnerung fast unwillk\u00fcrlich zu dem zur\u00fcck, was wir \u00fcber Kan t\u2019s Verstandesbegriffe gesagt haben. Die Uebereinstimmung ist in der That \u00fcberraschend. Auch dort hatten wir eine Erfahrung zu begreifen, die nicht identisch ist mit der sinnlichen, und unter dieser Bedingung nur konnten die Verstandesbegriffe daf\u00fcr gelten, die Erkenntniss der Gegenst\u00e4nde im voraus zu bestimmen. Gerade so hier bei den Grundbegriffen der Galilei-Newton\u2019schen Erfahrung. \u00bbDie objective G\u00fcltigkeit der Verstandesbegriffe als Begriffe a priori\u00ab, so lautet die Fortsetzung unseres letzten Kant\u2019schen Cit\u00e2tes, \u00bbberuht darauf, dass durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) m\u00f6glich sei\u00ab. Die objective G\u00fcltigkeit der Grundbegriffe, also Begriffe a priori, werden wir unsererseits sagen k\u00f6nnen, beruht darauf, dass durch sie allein Erfahrung (der exacten modernen Wissenschaft nach) m\u00f6glich sei. In dieser Hinsicht entsprechen Verstandesbegriffe und Grundbegriffe einander vollkommen. Und ihre Aehnlichkeit ist darauf nicht beschr\u00e4nkt. Kant\u2019s m\u00f6gliche Erfahrung der Form des Denkens nach und die m\u00f6gliche Erfahrung den exacten Wissenschaft nach scheinen noch in anderer Hinsicht \u00fcbereinzustimmen. In allen beiden ist eine und dieselbe Voraussetzung gleichsam der Kitt gewesen, der die Ableitung der Verstandesbegriffe wie die Aufstellung der Grundbegriffe einheitlich gestaltet hat. Eine Voraus-","page":573},{"file":"p0574.txt","language":"de","ocr_de":"574\nConstantin Radnlescn-Motm.\nSetzung, die ganz und gar nicht formaler Natur ist, wie man wohl nach Kant\u2019s Ausdruck \u00bbErfahrung der Form des Denkens nach\u00ab zu glauben geneigt w\u00e4re, sondern vielmehr so geartet ist, dass sie ausdr\u00fccklich auf den Inhalt einer beliebigen Erfahrung anwendbar sein will. Diese Voraussetzung ist die der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit der Naturerscheinungen, sie, die Kant sowohl wie die Naturforscher vor ihm postulirt hatten. Wenn man Kant an einigen Stellen seiner \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab h\u00f6rt, w\u00e4re die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit einfach aus der Apriorit\u00e4t der Kategorien abgeleitet und nicht umgekehrt diese letztere aus jener. So sagt er uns bez\u00fcglich dessen am Schl\u00fcsse des ersten Buches der Transcendentalen Analytik zusammenfassend, dass: \u00bballe Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach, unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (blo\u00df als Natur \u00fcberhaupt betrachtet) als dem urspr\u00fcnglichen Grunde ihrer nothwendigen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit (als natura formaliter spectata) abh\u00e4ngt\u00ab. Man bemerkt ohne gro\u00dfe M\u00fche, dass Kant hier einer Selbstt\u00e4uschung unterliegt. Nicht allein insofern, als er sich durch diese Umkehrung in Widerspruch mit der Hypothese eines Bewusstseins \u00fcberhaupt setzt, einer Hypothese, zu deren Gunsten gar nichts spr\u00e4che, sobald man diese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit nicht zug\u00e4be, sondern auch durch den Vergleich mit zahlreichen anderen Stellen der \u00bbKritik d. r. V.\u00ab selbst und besonders der Prolegomena. Einer der scharfsinnigsten Ausleger der Kant\u2019sehen Erkenntniss-theorie, J. Volk eit, scheint uns hier\u00fcber endg\u00fcltig geurtheilt zu haben, wenn er sagt: \u00bbGanz besonders handgreiflich zeigt die Ableitung der Kategorien in den Prolegomenen, dass Allgemeingiiltig-keit, Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit von Kant ohne weiteres vorausgesetzt werden. Es steht ihm unzweifelhaft fest, dass wir im Besitze einer reinen Naturwissenschaft von apodiktischer Nothwendigkeit sind 1 2 3 4), dass es ,allgemeine Naturgesetze12), eine ,notwendige Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit der Erfahrung13), ,objective G\u00fcltigkeit der Erfahrungsurtheile'J) gibt, und wie seine Ausdr\u00fccke f\u00fcr die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit unserer Vor-\n1)\tProlegomena. (Ausg. Rosenkr.) III. S. 54.\n2)\tEbenda, III. S. 54.\n3)\tEbenda, III, S. 56.\n4)\tEbenda, III. S. 58.","page":574},{"file":"p0575.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n575\nStellungen sonst lauten m\u00f6gen. Die Kategorien ergeben sich nun, indem er diese mit den wesentlichen 'Merkmalen der nothwendigen Allgemeing\u00fcltigkeit ausgestattete Erfahrung ,zergliedert1 (III, S. 60) \u00abr;. Alle diese Aehnlichkeiten, die wir zwischen der m\u00f6glichen Erfahrung Kant\u2019s und der wissenschaftlichen Erfahrung aufgedeckt haben, sind an und f\u00fcr sich sehr auff\u00e4llig, sie reichen aber gleichwohl nicht hin, um aus ihnen den Schluss zu ziehen und uns dahin zu \u00fcberzeugen, Kant habe nichts anderes gethan als die Ergebnisse seiner Vorg\u00e4nger in andere Form gebracht. Dazu fehlt es an dem Beweise, dass Kant, gleich den fr\u00fcheren Naturforschern, die m\u00f6gliche Erfahrung und die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit stets und ausschlie\u00dflich zeitlich aufgefasst habe. Nur in diesem Falle aber k\u00f6nnten wir speciell f\u00fcr die Theorie der Causalit\u00e4t eine Ueberein-stimmung zwischen Kant und der fr\u00fcher entwickelten wissenschaftlichen Theorie des 17. Jahrhunderts erwarten. Dieser wichtige Punkt bedarf einer besonderen Besprechung.\nIV.\nDer Schematismus der reinen Verstandesbegriffe. \u2014 Die Zeit als Medium f\u00fcr synthetische Urtheile. \u2014 Die Auffassung der Zeit bei Kant und in den erkl\u00e4renden Naturwissenschaften.\n\u00bbIn allen anderen Wissenschaften, wo die Begriffe, durch die der Gegenstand allgemein gedacht wird, von denen, die diesen in concreto vorstellen, wie er gegeben wird, nicht so unterschieden und heterogen sind, ist es unn\u00f6thig wegen der Anwendung der ersteren auf den letzteren besondere Er\u00f6rterung zu geben\u00ab. Bei den reinen Verstandesbegriffen aber, die in Vergleichung mit empirischen (ja \u00fcberhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig sind und niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden k\u00f6nnen, da entsteht die Frage: \u00bbWie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen m\u00f6glich, da doch niemand sagen wird: diese,\n1) J. Volkelt, J. Kant\u2019s Erkenntnisstheorie. Leipzig 1879. S. 198 f., vergl. auch H. Cohen, Kant\u2019s Theorie der Erfahrung. 2. Aufl. Einleitung. Wundt, Philos. Studien. IX.\t39","page":575},{"file":"p0576.txt","language":"de","ocr_de":"576\nConstantin Radulescu-Motru.\nz. B. die Causalit\u00e4t, k\u00f6nne auch durch die Sinne angeschaut werden und sei in der Erscheinung enthalten?\u00ab1) Anders gesagt, wir nehmen z. B. zwei Naturerscheinungen wahr und gelangen durch hinl\u00e4ngliches Experimentiren oder durch andersartige Untersuchung dahin, sie unter den Begriff der mathematischen Gleichung zu subsumiren, d. h. diese Erscheinungen begrifflich so zu gestalten, dass sie jetzt als zwei \u00e4quivalente Factoren einer Gleichung betrachtet werden k\u00f6nnen, \u2014 dann haben wir, nach Kant, nichts Ueberraschendes gethan; wir sind auf wissenschaftlichem Gebiete geblieben, und dieser Begriff der mathematischen Gleichung, unter den die Erscheinungen zu subsumiren sind, bedarf keiner besonderen Er\u00f6rterung. Seine Anwendung auf das Naturgeschehen hat nichts Unnat\u00fcrliches an sich, er ist vielmehr gleichartig mit den zu subsumirenden Erscheinungen. Subsumirt man hingegen jetzt dieselben zwei Erscheinungen unter den Causalit\u00e4tsbegriff als reinen Verstandesbegriff, dann \u00e4ndert sich die Sache, und der Metaphysiker muss sich fragen, wie ein Verstandesproduct, ein formaler Bestandtheil mit der Sinnlichkeit in Ber\u00fchrung kommen k\u00f6nne. \u00abNun ist klar\u00ab, antwortet hier Kant, \u00bbdass es ein Drittes geben m\u00fcsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit den Erscheinungen in Gleichartigkeit stehen muss und die Anwendung der ersteren auf die letzteren m\u00f6glich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellectuell, andrerseits sinnlich sein\u00ab2). Danach ist dieses Dritte das, was die Verstandesbegriffe aus ihrer reinen und hohen Sph\u00e4re herabziehen und in Contact mit der sinnlichen Anschauung bringen soll, ein Etwas, dessen Bedeutung wohl nicht zu hoch angeschlagen werden kann. Was ist nun dieses Dritte? H\u00f6ren wir die \u00bbKr. d. r. V.\u00ab weiter: \u00bbDie Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verkn\u00fcpfung aller Vorstellungen, enth\u00e4lt ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Nun ist eine transcendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie (die die Einheit derselben ausmacht) sofern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung\n1)\tKr. d. r. V. S. 169.\n2)\tKr. d. r. V. S. 169.","page":576},{"file":"p0577.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n577\nsofern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist. Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinuugen m\u00f6glich sein vermittelst der transcen-dentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt\u00ab1). Das Dritte ist also in der Zeit gegeben. Die Zeit macht die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren sowohl wie des \u00e4u\u00dferen Sinnes aus, sie besitzt also alle Eigenschaften des gesuchten Dritten, das die Anwendung der Kategorien auf die Erscheinungen vermitteln soll.\nBei dieser Gelegenheit wird uns eine Unklarheit des Kant\u2019schen Systems f\u00fchlbar, die sich uns bisher nicht als solche aufdr\u00e4ngte, hier aber, wo es %ich um die formale Bedingung des inneren Sinnes handelt, nicht l\u00e4nger entgehen konnte. Es ist die Unklarheit, die durch die ganze Ausdrucksweise Kant\u2019s hindurchgeht, wo es sich um Synthesis mit objectiver G\u00fcltigkeit handelt. Kant spricht oft davon, dass unser Verstand eine Synthesis zu Stande bringe, bez\u00fcglich des \u00bbWie\u00ab aber dieser Synthesis haben wir stets vermieden, uns auf den Kant\u2019schen Text zu beziehen. Wir h\u00e4tten dort in der That nur unbestimmte Erl\u00e4uterungen angetroffen und sogar solche, die im Widerspruche zu dem Gesichtspunkte stehen, von dem das ganze System ausgeht. An einer Stelle sagt er z. B. : \u00bbDie Synthesis \u00fcberhaupt ist, wie wir k\u00fcnftig sehen werden, die blo\u00dfe Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir \u00fcberall gar keine Erkenntniss haben w\u00fcrden, der wir aber selten nur einmal bewusst sind\u00ab2). Diese Einbildungskraft kann allein in psychologischem Sinne genommen werden, und so sehen wir uns denn aufs Neue in den Irrthum, den wir zu eliminiren trachteten, verwickelt, den Irrthum n\u00e4mlich, aus der Synthesis der Verstandesbegriffe eine einfache subjective Synthesis zu machen. Kant hat in der That diesen Widerspruch empfunden und darum die Bedeutung dieser Einbildungskraft etwas herabgemildert, indem er aus ihren Synthesen eine Art Pr\u00e4liminarien solcher machte, an denen sich weiterhin die Function des Verstandes\n1)\tKr. d. r. V. S. 169/70.\n2)\tKr. d. r. Y. S. 119.\n39*","page":577},{"file":"p0578.txt","language":"de","ocr_de":"578\nConstantin Radulescu-Motru.\nbeth\u00e4tigt. Und so erg\u00e4nzt er denn auch den weiter oben citirten Ausspruch durch den folgenden: \u00bbAllein diese Synthesis\u00ab \u2022\u2014 d. h. die Synthesis der blo\u00dfen Wirkung der Einbildungskraft \u2014 \u00bbauf Begriife zu bringen, das ist eine Function, die dem Verst\u00e4nde zukommt und wodurch er uns allererst die Erkenntniss in eigentlicher Bedeutung verschafft\u00ab1). Und noch eingehender wenige Zeilen tiefer: \u00bbDas Erste, was uns zum Behuf der Erkenntniss aller (Dinge) Gegenst\u00e4nde a priori gegeben sein muss, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das Zweite, gibt aber noch keine Erkenntniss. Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben und lediglich in der Vorstellung dieser nothwendigen synthetischen Einheit bestehen, thun das Dritte zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes und beruhen auf dem Verst\u00e4nde\u00ab2).\nAlle diese Unterschiede, die Kant zwischen dem Verst\u00e4nde und der Einbildungskraft gelten lassen will, werden nun, scheint es, ganz und gar gegenstandslos gegen\u00fcber der gro\u00dfen Rolle, die er die vorgenannte transcendentale Zeitbestimmung oder das Schema der Verstandesbegriffe spielen l\u00e4sst. Dieses erst gibt uns Aufschluss \u00fcber die Bildung der Synthesis mit objectiver G\u00fcltigkeit im Unterschiede von der blo\u00df subjectiven. Die Einbildungskraft, die Function des Verstandes in der Kategorie treten mehr und mehr in den Hintergrund, ihre Bedeutung verblasst mehr und mehr. \u00bbDieser Schematismus unseres Verstandes\u00ab \u2014 denn Schematismus nennt Kant das Verfahren mit den Schematen \u2014-, \u00bbin Ansehung der Erscheinungen und ihrer blo\u00dfen Form, ist eine vorborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt vor Augen legen werden. So viel k\u00f6nnen wir nur sagen: das Bild ist ein Product des empirischen Verm\u00f6gens der productiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Product und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst m\u00f6glicl\\ werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema,\n1)\tKr. d. r. V. S. 120.\n2)\tKr. d. r. Y. S. 120.","page":578},{"file":"p0579.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t579\nwelches sie bezeichnen, verkn\u00fcpft werden m\u00fcssen und an sich demselben nicht v\u00f6llig congruiren. Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gem\u00e4\u00df einer Hegel der Einheit nach Begriffen \u00fcberhaupt, die die Kategorie ausdr\u00fcckt, und ist ein transcendentales Product der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes \u00fcberhaupt, nach Bedingungen ihrer Form (der Zeit) , in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, sofern diese der Einheit der Apperception gem\u00e4\u00df a priori in einem Begriffe Zusammenh\u00e4ngen sollten\u00ab1). In Wirklichkeit ist die Einbildungskraft \u00fcberall in den drei von Kant im Voraufgehenden vorgesehenen F\u00e4llen zugegen, nur dass sie von Fall zu Fall etwas verschieden pr\u00e4dicirt wird: einmal als productive, sodann als reine, im letzten Falle scheinbar als pr\u00e4dicatlos, wie sie es aber sehr gut sein k\u00f6nnte, als transcendental. Gerade durch diese Wiederholung jedoch will Kant zu viel beweisen und beweist darum zu wenig. Indem er die Einbildungskraft \u00fcberall einf\u00fchrt und ins Spiel bringt, entzieht er ihr nach und nach alle ihre Unterschiede und macht sie nahezu inhaltlos. Er nimmt zu der Einbildungskraft seine Zuflucht, wenn jede andere Erkl\u00e4rung versagt, und daher seine Unklarheit, seine Vieldeutigkeit des Ausdrucks jedes Mal, wo es sich um Synthesis bei ihm handelt.\nEs ergibt sich aus der angef\u00fchrten Stelle deutlich, dass es das Schema ist, das die sinnlichen Erscheinungen zur m\u00f6glichen Erfahrung (der Form des Denkens nach) erhebt. Die productive Einbildungskraft hat nur eine nebens\u00e4chliche Bedeutung. Kant wollte das Schema als etwas Organisches, Lebendes darstellen, und dies konnte er am besten dadurch erreichen, dass er es mit der Einbildungskraft in Verbindung brachte. Der einzige Wegweiser und Leitfaden zum Verst\u00e4ndniss der Synthesis ist das Schema, die Hypothese der Einbildungskraft hingegen k\u00f6nnte allenfalls in diesem Theile des Systems fehlen.\nAuch die Zahl und die Gestalt der Kategorien h\u00e4ngt allein von der Annahme dieses Schemas ab. Nach einigen Stellen der \u00bbKr. d. r. V.\u00ab k\u00f6nnte diese Behauptung falsch erscheinen. Kant gibt\n1) Kr. d. r. V. S. 171 f.","page":579},{"file":"p0580.txt","language":"de","ocr_de":"580\nConstantin Radu\u00eeescu-Motru.\n\\\n\\\nsich \u00f6fters den Anschein, als stelle er die Kategorien voran als Ergebnisse der reinen Th\u00e4tigkeit des Verstandes und greife erst hinterdrein und nur zur Erl\u00e4uterung ihrer Anwendung auf die sinnliche Welt, zum Schematismus. Diese Reihenfolge hat \u00fcbrigens in den Citaten im Beginne dieses Paragraphen klaren Ausdruck gefunden. F\u00fcgen wir, um noch besser hier\u00fcber aufzukl\u00e4ren, die folgenden hinzu: \u00bbAlso sind die Schemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objecte, mithin Bedeutung zu verschaffen, und die Kategorien sind daher am Ende von keinem anderen, als einem m\u00f6glichen empirischen Gebrauche, indem sie blo\u00df dazu dienen, durch Gr\u00fcnde einer a priori nothwendigen Einheit (wegen der noth wendigen Vereinigungen alles Bewusstseins in einer urspr\u00fcnglichen Apperception) Erscheinungen allgemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen und sie dadurch zur durchg\u00e4ngigen Verkn\u00fcpfung in einer Erfahrung schicklich zu machen\u00ab. \u00bbIn der That bleibt den reinen Verstandesbegriffen allerdings, auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingungen, eine, aber nur logische Bedeutung der blo\u00dfen Einheit der Vorstellungen, denen aber kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Objecte abgeben k\u00f6nnte \u00ab ').\nSieht man aber n\u00e4her zu, erw\u00e4gt man, welche Reihenfolge am besten zu den Pr\u00e4missen des ganzen Systems stimmt, dann bemerkt man ohne weiteres, dass die Theorie, derzufolge die Verstandesbegriffe irgend eine Bedeutung haben au\u00dfer der, die ihnen von der Zeitbestimmung kommt, ganz und gar ohne St\u00fctze bleibt. Die Aufgabe, die sich die transcendentale Logik von Anfang an gestellt hatte, war gerade die, dass sie zum Unterschiede von der allgemeinen Logik sichtbar machte, welches der transcendentale Inhalt sei, den der Verstand vermittelst seiner Functionen bei den Objecten voraussetzt. Die Synthesen mit transcendentalem Inhalte hie\u00dfen die reinen Verstandesbegriffe. Nun ist aber klar, dass, wenn ein Inhalt a priori von dem Verst\u00e4nde gedacht werden soll, dies nicht geschehen kann, ohne dass diesem Inhalte gleichzeitig eine gewisse Ordnung beigemessen wird. Bei der sinnlichen Erfahrung besteht\n1) Kr. d. r. V. S. 174 f.","page":580},{"file":"p0581.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n581\ndiese Ordnung in der Anschauung unseres Bewusstseins; bei der wissenschaftlichen Erfahrung bestand diese Ordnung \u2014 wie dies im vorigen Paragraphen entwickelt wurde \u2014 in der Voraussetzung der Gleichf\u00f6rmigkeit, die die Mechanik bez\u00fcglich der Natur des Naturgeschehens gemacht hatte. Die Gegenst\u00e4nde k\u00f6nnen uns sinnlich gegeben sein, oder wir k\u00f6nnen sie begrifflich ausdr\u00fccken, in beiden F\u00e4llen k\u00f6nnen sie dieser Ordnung nicht entrathen. Der Fehler, den Kant in den letzten Citaten begeht, ist nun gerade der, dass er die Kategorien mit transcendentalem Inhalte als m\u00f6glich dachte, auch wenn sie diese Bedingung nicht erf\u00fcllten. Dieser Fehler ist aber nur einer des Ausdrucks, weil Kant in Wirklichkeit das Schema als Ordnung des Inhaltes allenthalben dachte, wo die Architektonik des Systems dadurch ungef\u00e4hrdet blieb. Die Zeit ist ihm stets eine Art Medium, das den transcendentalen Inhalt so gestaltet, dass die weitere Synthesis auf ihn Anwendung finden k\u00f6nne. Dies ergibt sich klar z. B. aus dem folgenden Passus, einem der wichtigsten der ganzen \u00bbKr. d. r. V.\u00ab. Er findet sich in dem Abschnitte \u00bbVon dem obersten Grunds\u00e4tze aller synthetischen Urtheile\u00ab. \u00bbIm analytischen Urtheile bleibe ich bei dem gegebenen Begriffe, um etwas von ihm auszumachen. Soll es bejahend sein, so lege ich diesem Begriffe nur dasjenige bei, was in ihm schon gedacht war (mit demselben); soll es verneinend sein, so schlie\u00dfe ich nur das Gegentheil desselben von ihm aus. In synthetischen Urtheilen aber soll ich aus dem gegebenen Begriffe hinausgehen, um etwas ganz Anderes, als in ihm gedacht war, mit demselben im Verh\u00e4ltniss zu betrachten, welches daher niemals weder ein Verh\u00e4ltniss der Identit\u00e4t, noch des Widerspruchs ist und wobei dem Urtheile an ihm selbst weder die Wahrheit noch der Irrthum angesehen werden kann\u00ab. Bis hierher ist Kant nicht neu, er wiederholt nur kurz das ganze Problem seiner Philosophie. Nur dass die Sch\u00e4rfe, mit der er zwischen analytischen und synthetischen Urtheilen unterscheidet, wohl zu beachten ist, zumal da sie den nun folgenden Zeilen eine gr\u00f6\u00dfere Wichtigkeit verleiht. Also zugegeben, dass man aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen m\u00fcsse, um ihn mit einem anderen synthetisch zu vergleichen, so ist ein Drittes n\u00f6thig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann. Was ist nun aber dieses Dritte, als das","page":581},{"file":"p0582.txt","language":"de","ocr_de":"582\nConstantin Radulescu-Motru.\nMedium aller synthetischen Urtheile? \u00bbEs ist nur ein Inbegriff: darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, n\u00e4mlich der innere Sinn und die Form desselben a priori, die Zeit\u00ab1).\nNoch eine dieser voraufgehende Stelle der \u00bbKr. d. r. V.\u00ab l\u00e4sst sich in demselben Sinne aus2). Aber unser Zweck erfordert es nicht, dass wir l\u00e4nger dabei verweilen. Wir begn\u00fcgen uns mit diesem Ergebniss, das wir constatirt haben, dass die Zeitbestimmung in der Bildung der Synthesis die gr\u00f6\u00dfte Rolle spielt. Sei es nun auch, dass der Ansto\u00df zur Bildung dieser letzteren von au\u00dfen kommt, von der Einbildungskraft oder vom Verst\u00e4nde, so bleibt es darum doch nicht minder wahr, dass ohne die Form des inneren Sinnes, ohne die Zeit, keine synthetischen Verbindungen statthaben k\u00f6nnen. Die Zeit ist die nothwendige Bedingung jeder apriorischen Synthesis mit transcendentalem Inhalte. Lie\u00dfe sich das Mannigfaltige der \u00e4u\u00dferen Sinne nicht zeitlich auffassen, und w\u00e4re andererseits der Verstand unverm\u00f6gend, Begriffe nach dem Schema zu erzeugen, so w\u00e4re es um unsere apriorische Erkenntniss geschehen. Diese Feststellung l\u00e4sst \u00fcbrigens die Bedeutung der Einheit der Apperception intact, obwohl sich bez\u00fcglich ihrer Vieles von dem \u00fcber die Einbildungskraft Gesagten wiederholen lie\u00dfe. Indem wilder Rolle der Apperception in einer zweiten Abhandlung n\u00e4her gedenken, begn\u00fcgen wir uns hier mit diesem Resultat, n\u00e4mlich dem, dass in der Kant\u2019schen Philosophie die Form des inneren Sinnes das ist, was das Mannigfaltige f\u00fcr die Synthesis des Verstandes pr\u00e4disponirt. Will man sich noch genauer ausdr\u00fccken und zugleich die Wichtigkeit der Zeit f\u00fcr das Problem der Causalit\u00e4t mehr hervorheben, so kann man sagen: Das Verm\u00f6gen unseres Verstandes, synthetische Urtheile zu bilden \u2014 aus Etwas etwas Anderes zu schlie\u00dfen ist nur zeitlich m\u00f6glich, d. h. nur Zeitbestimmungen allein k\u00f6nnen, auch wenn nicht analytisch erschlossen, objective G\u00fcltigkeit beanspruchen.\nSollte hiermit nicht der von uns gesuchte Beweis geliefert sein, dass die m\u00f6gliche Erfahrung und die reinen Verstandesbegrifie\n1)\tKr. d. r. V. S. 180.\n2)\tS. 156 f.","page":582},{"file":"p0583.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\n583\nIva nt s sich mit dem mechanistischen Determinismus und seinen Grundbegriffen decken ? Wenn wir uns an das erinnern, was in der Einleitung \u00fcber die Zeitbestimmung und ihre Rolle in den neuen Wissenschaften gesagt worden ist, so sind wir gewiss von der Co-incidenz \u00fcberrascht. Stets \u2014 dort wie hier bei Kant \u2014 ist es die Zeit, der wir auf dem Grunde des ganzen Geb\u00e4udes begegnen. Missen um vorher zu wissen, im Voraus zu wissen, scheint in einem wie im anderen Falle der Ausgangspunkt oder das Ziel \u2014 wie man es nun ansehen will \u2014 alles Strebens zu sein.\nBei alledem k\u00f6nnte, ungeachtet dieser Coincidenz, die bejahende Antwort falsch sein. Es k\u00f6nnte sehr wohl sein, dass, obwohl die Ausdr\u00fccke die gleichen sind, die Dinge sich dennoch unterscheiden : dass n\u00e4mlich die Zeit, als die Form des inneren Sinnes, bei Kant anderer Natur ist, als die Zeit bei Galilei. Bei diesem ebenso wie bei allen seinen Nachfolgern enth\u00e4lt die Idee nichts Psychologisches: die .Zeit ist, wie wir gesehen haben, eine einfache Abstraction von eher geometrischem Charakter, ein fingirtes genaues Ma\u00df f\u00fcr das Naturgeschehen, w\u00e4hrend die Zeit Kant\u2019s sehr wohl einen anderen Sinn haben k\u00f6nnte. Wir werden demnach, ehe wir uns endg\u00fcltig entscheiden, auch diesem Einwande begegnen m\u00fcssen. In unserer Uebersicht \u00fcber die Kritik der reinen Vernunft haben wir gesehen , dass es, was die Zeit als Anschauungsform anlangt, sehr wahrscheinlich ist, dass sie von Kant, gleichwie der Raum, m einem mathematischen Sinne genommen wird. Denn besonders gelegentlich dieses letzteren haben wir hervorgehoben, dass die Merkmale der Stetigkeit, der Unendlichkeit sich keinesfalls mit einer psychologischen Auffassung verbinden lassen. Es er\u00fcbrigt uns jetzt, die Zeit unter diesem anderen Gesichtspunkte, als Form des inneren Sinnes, zu pr\u00fcfen und zuzusehen, welches die Theorie ist, die sich den Aeu\u00dferungen Kant\u2019s am besten anpasst. \u00bbWir k\u00f6nnen uns keine Linie denken\u00ab, sagt eine Stelle der Kritik, \u00bbohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die \u00e4u\u00dferlich fig\u00fcrliche Vorstellung der Zeit sein soll) blo\u00df auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir","page":583},{"file":"p0584.txt","language":"de","ocr_de":"584\nConstantin Radulescu-Motru.\nden inneren Sinn successiv bestimmen, und dadurch auf die Succession dieser Bestimmung in demselben Acht haben\u00ab1). Und wenige Zeilen sp\u00e4ter ist wieder gesagt, dass \u00bbwir die Zeit .... uns nicht anders vorstellig machen k\u00f6nnen, als unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen k\u00f6nnten, imgleichen, dass wir die Bestimmung der Zeitl\u00e4nge, oder auch der Zeitstellen f\u00fcr alle inneren Wahrnehmungen, immer von dem hemehmen m\u00fcssen, was uns \u00e4u\u00dfere Dinge Ver\u00e4nderliches darstellen . . . ,\u00ab2). Dieses Ziehen einer Linie, dem wir hier allenthalben begegnen, ist augenscheinlich nichts Anderes, als der von uns oben erw\u00e4hnte Schematismus, die allgemeine Regel, nach der wir die Begriffe construiren, unser einziges Mittel zu einer Erkenntniss zu gelangen. Die blo\u00dfe Form der \u00e4u\u00dferen sinnlichen Anschauung, der Raum, ist noch keine Erkenntniss; \u00bber gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu einer m\u00f6glichen Erkenntniss. Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muss ich sie ziehen und als eine bestimmte Verbindung der gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen\u00ab u. s. w.3), oder dieselben Gedanken ohne das Bild des Ziehens: \u00bbIn der That liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenst\u00e4nde, sondern Schemata zu Grunde. Dem Begriffe von einem Triangel w\u00fcrde gar kein Bild desselben jemals ad\u00e4quat sein .... Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existiren und bedeutet eine Regel der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Raume .... Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierf\u00fc\u00dfigen Thieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzelne besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes m\u00f6gliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschr\u00e4nkt zu sein\u00ab4). \u2014 Demnach ist die Zeit, die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, nicht das Bestimmte unserer Wahrnehmungen, nicht das, was wir unseren Empfindungen als Zeitl\u00e4nge beilegen,\n1)\tKr. d. r. V. S. 154.\n2)\tKr. d. r. V. S. 155.\n3)\tKr. d. r. V. S. 143.\n4)\tKr. d. r. V. S. 171.","page":584},{"file":"p0585.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalitiit.\n585\nsondern eine blo\u00dfe abstracte Form, die sich dem Ziehen einer Linie, dem Schema der geometrischen Gebilde, vergleichen l\u00e4sst. Und damit sind wir \u00fcber alles psychologische Gebiet hinaus. Wir verm\u00f6gen unter solchen Voraussetzungen nur bildlich von einer Zeit zu sprechen, denn die reale Zeit, die unser Bewusstsein wahrnimmt, verl\u00e4uft nicht so einfach wie das Ziehen einer Linie. Ein \u00bbsucces-siver Fortgang von einem Augenblicke zum anderen, wo durch alle Zeittheile und deren Hinzuthun endlich eine bestimmte Zeitgr\u00f6\u00dfe erzeugt wird\u00ab wie Kant1) ihn nennt, ist, wenn der Fortgang in psychologischem Sinne genommen werden soll, eine blo\u00dfe Selbstt\u00e4uschung der inneren Beobachtung. In Wirklichkeit verhalten sich die Zeittheile im realen Bewusstsein nicht so einfach, dass durch ihr Hinzuthun eine bestimmte Zeitgr\u00f6\u00dfe erzeugt w\u00fcrde, sie sind vielmehr an viele andere complicirtere Bedingungen gebunden, von denen uns die Psychologie bis heute nur einen kleinen Theil, und auch diesen nur mit allem Vorbehalt, an die Hand gegeben hat. Die Zeit Kant\u2019s, als ad\u00e4quat dem \u00bbZiehen einer Linie\u00ab und dem \u00bbSchematismus\u00ab, kann daher \u2014 so k\u00f6nnen wir mit aller Wahrscheinlichkeit schlie\u00dfen \u2014 nur mit der Zeit, der wir zu Anfang bei den Naturforschern des 17. Jahrhunderts begegneten, gleichartig sein. Und in der That nimmt sie in der Philosophie Kant\u2019s dieselbe Stellung ein, und sind ihre Merkmale die gleichen wie dort, trotz der Verschiedenheit der Ausdr\u00fccke. Die Zeit und nur die Zeit' allein ist nach Kant die Form, in der die synthetischen Urtheile sich bilden, oder das Medium, welches es erm\u00f6glicht, dass man aus Einem auf Anderes schlie\u00dft, sie ist endlich nicht psychologisch, sondern abstract, als eine stetige mathematische Gr\u00f6\u00dfe aufzufassen. \u2014 Dieses Ergebniss aber ist, wie Jedermann sehen kann, im Grunde nur eine andere Formulirung einer Wahrheit, die zwei Jahrhunderte vor der \u00bbKr. d. r. V.\u00ab entdeckt wurde, der n\u00e4mlich, dass alle unsere Erkenntniss der Natur nur insoweit objectiv, allgemeing\u00fcltig ist, als sie selbst unter dem genetischen Gesichtspunkt erlangt ist. Nur insoweit als wir die Naturerscheinungen unter die Form einer stetigen durch Bewegung erzeugten Gr\u00f6\u00dfe zu bringen verm\u00f6gen, nur inso-weit unterstellen wir sie auch unserem Verm\u00f6gen, sie vorauszusehen\n1) Kr. d. r. Y. S. 187.","page":585},{"file":"p0586.txt","language":"de","ocr_de":"586\nConstantin Radulescu-Motru.\nund vorauszusagen. Dieses Voraussehen ist nichts anderes, als das Verm\u00f6gen synthetische Urtheile zu bilden. Dies ist auch der Grund, warum die analytische Geometrie und die Infinitesimalrechnung von so hoher Wichtigkeit f\u00fcr den Fortschritt der Wissenschaften gewesen sind. Die eine wie die andere sind mehr als irgend etwas sonst das Mittel gewesen, diese Naturanschauung zu erreichen. Das Verfahren dieser beiden Wissenschaften, das Erzeugen der Gr\u00f6\u00dfe nach bestimmten mathematischen Verh\u00e4ltnissen, nennt nun Kant den Schematismus der Verstandesbegriffe. Neu ist hier einzig der Ausdruck.\nV.\nReine Mathematik und reine Physik. \u2014 Ist der Begriff der mathematischen Function von Kant als Voraussetzung angenommen? \u2014 Mechanische Causa-lit\u00e4t und die Definition der Causalit\u00e4t in der Kr. d. r. V.\nDie Resultate der voraufgehenden Paragraphen legen uns die entscheidende Frage nahe und nehmen sogar in gewissem Sinne ihre L\u00f6sung vorweg, mit der wir nunmehr unseren seitherigen Untersuchungen ihre nat\u00fcrliche Einheit zu gehen gedenken, die Frage: Nimmt der reine Verstandesbegriff der Causalit\u00e4t in Kant\u2019s \u00bbm\u00f6glicher Erfahrung der Form des Denkens nach\u00ab dieselbe Stellung ein, besitzt er denselben geschichtlichen Ursprung wie der Grundbegriff der Causalit\u00e4t in dem Systeme der Naturwissenschaften, zu dem Galilei und Newton den Grund gelegt haben? Sind sie beide, der Verstandesbegriff sowohl wie der wissenschaftliche Grundbegriff, der Anwendung der mathematischen Abh\u00e4ngigkeit auf die realen Ph\u00e4nomene entsprungen ? Alle Aehnlichkeiten zwischen den beiden Conceptionen, denen wir bisher begegneten, convergirten in der Richtung auf diese Frage hin. \u2014 Im Falle, dass die Antwort bejahend ausf\u00e4llt, werden wir einen Grund mehr haben, mit der Tradition zu brechen, die in der Kant\u2019schen Philosophie eine unvermittelte Erscheinung, ein von keiner Vergangenheit vorbereitetes Ereigniss erblickt. Im Gegentheil sehen wir die historische Con-tinuit\u00e4t in der Kant\u2019schen Philosophie fast au\u00dfergew\u00f6hnlich klar best\u00e4tigt, weil alle Beweise f\u00fcr die Kant\u2019schen Theorien aus denselben Quellen gesch\u00f6pft sind, aus denen auch die erkl\u00e4rende","page":586},{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t587\nNaturwissenschaft, die zwei Jahrhunderte fr\u00fcher begonnen, sch\u00f6pft. Die Theorie eines \u00bbBewusstseins \u00fcberhaupt\u00ab, die Definition eines \u00bbUrtheils mit objectiver G\u00fcltigkeit\u00ab, einer \u00bbm\u00f6glichen Erfahrung\u00ab, \u00bbder Zeit und des Baumes als reiner Anschauungsformen\u00ab sind der einen wie der anderen gemeinsam; nur die Namen, nur die Perspectiven sind verschieden.\nEinen Umstand, der uns mit gen\u00fcgender Sicherheit annehmen l\u00e4sst, dass der reine Verstandesbegriff der Causalit\u00e4t bei Kant der Theorie der Causalit\u00e4t, die sich, wie wir sahen, vom Beginne der exacten wissenschaftlichen Forschung aufdr\u00e4ngte, wesensverwandt ist, k\u00f6nnen wir in dem erblicken, was an anderer Stelle von der logischen Function des Verstandes im Urtheilen gesagt wurde. In der That sahen wir im Paragraph III dieses Capitels Kant zwischen den Momenten der Relation der Urtheile, nach kategorischen, hypothetischen, disj unctiven unterscheiden und unter dem hypothetischen Urtheil die logische Beziehung des Grundes zur Folge verstehen. Diesen logischen Functionen im Urtheile entsprechen nun die reinen Verstandesbegriffe, die a priori auf Gegenst\u00e4nde der Anschauung \u00fcberhaupt gehen, und besonders im hypothetischen Urtheil der Begriff der Causalit\u00e4t.' Die Beziehung des Grundes zur Folge w\u00e4re so die logische Function, die der realen Abh\u00e4ngigkeit entspr\u00e4che, ganz wie in der von uns im Anf\u00e4nge entwickelten Theorie; nur mit einem einzigen Unterschiede, insofern hier bei Kant die mathematische Abh\u00e4ngigkeit nicht dieselbe Vermittlerrolle zu spielen scheint wie dort. Ist aber diese mathematische Abh\u00e4ngigkeit vielleicht vorausgesetzt, wie Kant oft bez\u00fcglich der wissenschaftlichen Resultate, die er vorfindet, zu thun pflegt? Ganz gewiss, wenn man die mathematische Abh\u00e4ngigkeit voraussetzt, ergibt sich die Synthese des Kant\u2019sehen Verstandesbegriffs mit Leichtigkeit; die Hauptschwierigkeit, die sich dem entgegenstellen k\u00f6nnte, ist damit bereits \u00fcberwunden. Denn das Haupthinderniss, was sich dem Entstehen der Causalit\u00e4tstheorie bot, war, wie wir gesehen haben, gerade dies, dass man nicht daran glaubte, das Mannigfaltige der Anschauung lasse sich ohne Rest in mathematische Beziehungen bringen. Und erst nach jahrhundertelangen Bem\u00fchungen wurde dies Hinderniss \u00fcberwunden ! Es vollzog sich gleichsam eine Revolution im menschlichen Denken, als Galilei und Kepler","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"588\nConstantin Radulescii-Motru.\ndie ersten Versuche machten, die neue Bahn zu betreten. Diese Anwendung der mathematischen Abh\u00e4ngigkeit war eine Revolution, auch wenn sich die correspondirende logische Function, der Satz vom Grunde, seit dem ersten Lallen der Wissenschaft, ja seit von einem menschlichen Denken \u00fcberhaupt die Rede war, beth\u00e4tigt hatte. Wenn jetzt Kant die M\u00f6glichkeit einer solchen Anwendung der Mathematik ein f\u00fcr alle Mal voraussetzte, dann war die Aufgabe eines reinen Verstandesbegriffes der Causalit\u00e4t bereits zur H\u00e4lfte erf\u00fcllt. Die Antwort auf die Frage Hume\u2019s: \u00bbWas ist das Wesen aller Begr\u00fcndung in Bezug auf Thatsachen?\u00ab ist durch Kant\u2019s Vorgehen so leicht als m\u00f6glich gemacht. Dieses Wesen, so antwortet jeder, kann nicht anders als identisch mit dem der mathematischen Begr\u00fcndung sein, sobald die Thatsachen sich dieser unterordnen lassen! Ist aber einmal der Boden so geebnet, der Begriff der Welt der Thatsachen so gestaltet, dass einer voll durchgef\u00fchrten und allgemeinen Anwendung der Mathematik nichts mehr im Wege steht, dann ist die Spontaneit\u00e4t des Verstandes auch ihrerseits berechtigt, ihre Synthesen mit transcendentalem Inhalte zu construiren. Oder wie wollte man ihr diese Berechtigung absprechen, wenn man au\u00dfer Frage l\u00e4sst, ob der Verstand berechtigt oder nicht berechtigt sei, die mathematische Function als Gesichtspunkt f\u00fcr die Einordnung der Begriffe in ein Wissenschaftssystem zu w\u00e4hlen\"? Diese Wahl ist der wichtigste Act, der von der Spontaneit\u00e4t des Verstandes jemals ausgegangen ist. Er allein h\u00e4tte gen\u00fcgt, die Irrth\u00fcmlichkeit des psychologischen Automatismus oder des Hume\u2019schen Skepticismus zu erweisen. Aber wir kommen auf diesen Punkt sogleich des weiteren zur\u00fcck. Folgen wir also jetzt dem Kant\u2019schen Texte, sehen wir zu, ob die mathematische Abh\u00e4ngigkeit wirklich Voraussetzung bei Kant ist.\nDie Vorrede zur zweiten Auflage der \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab enth\u00e4lt einen kostbaren Hinweis darauf. Es sind dort Mathematik und Physik f\u00fcr Kant die \u00bbbeiden theoretischen Erkenntnisse der Vernunft, welche ihre Objecte a priori bestimmen sollen\u00ab. \u2014 Kant nimmt sie also als von Anfang an bekannt, wie wir bereits des \u00f6fteren gesehen, weshalb wir jetzt dabei nicht zu verweilen brauchen; was uns aber nun zu wissen interessirt, ist dies: in welchem Sinne werden Mathematik und Physik hier genommen? Als","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t589\nreine Mathematik und Physik ! h\u00f6ren wir antworten. Sehr wohl, aber hier entsteht eine andere Frage: Was soll hier \u00bbreine\u00ab hei\u00dfen? Gibt es eine andere als reine Mathematik oder Physik, oder hat es je eine solche gegeben? Sind Mathematik und Physik mit derZeit, im Laufe ihrer historischen Entwickelung, reine Wissenschaften geworden? H\u00f6ren wir Kant seihst dar\u00fcber! Was die Mathematik betrifft, sagt er, so \u00bbglaube ich, dass es lange mit ihr (vornehmlich noch unter den Aegyptern) beim Herumtappen geblieben ist, und diese Um\u00e4nderung einer Revolution zuzuschreiben sei, die der gl\u00fcckliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zu Stande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen m\u00fcsste, nicht mehr zu verfehlen war und der sichere Gang einer Wissenschaft f\u00fcr alle Zeiten und in unendliche Weiten eingeschlagen und vorgezeichnet war. Die Geschichte dieser Revolution der Denkart, welche viel wichtiger als die Entdeckung des Weges um das ber\u00fchmte Vorgebirge, und des Gl\u00fccklichen, der sie zu Stande brachte, ist uns nicht auf behalten. Doch beweist die Sage, welche Diogenes der Laertier uns \u00fcberliefert . . . ., dass das Andenken der Ver\u00e4nderung, die durch die erste Spur der Entdeckung dieses neuen Weges bewirkt wurde, den Mathematikern \u00e4u\u00dferst wichtig geschienen haben m\u00fcsse und dadurch unvergesslich geworden sei. Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrirte (er mag nun Thaies oder wie man will gehei\u00dfen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, dass er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem blo\u00dfen Begriffe derselben nachsp\u00fcren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte (durch Construction), hervorbringen m\u00fcsse, und dass er, um sicher etwas a priori zu wissen, der Sache nichts beilegen m\u00fcsse, als was aus dem nothwendig folgte, was er seinem Begriffe gem\u00e4\u00df selbst in sie gelegt hat\u00ab1).\nMit der historischen Peinlichkeit der Zeit Kant\u2019s darf man es im Einzelnen nicht eben streng nehmen, und daher den etwas aufs Gerathewohl angef\u00fchrten Thaies weder f\u00fcr noch gegen Kant ver-werthen wollen ; davon abgesehen ist aber die Umw\u00e4lzung im\n1) Kr. d. r. Y. S. 24.","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"590\nConstantin Radulescu-Motru.\nGebiete der Mathematik, die wir bereits im Anf\u00e4nge unserer Studie hervorhoben, im Grunde genau wiedergegeben. Augenscheinlich beabsichtigte Kant hier von der Einf\u00fchrung des neuen Gesichtspunktes in die Mathematik zu sprechen. Die Ber\u00fccksichtigung der Verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfigkeit statt der Messbarkeit der Gr\u00f6\u00dfen war, wie wir wissen, die nat\u00fcrliche Folge der Einf\u00fchrung der gebrochenen und negativen Zahlen, und entwickelte sich dann weiterhin, dank den Schriften Euklid\u2019s und Diophant\u2019s, bis zum 17. Jahrhundert, wo sie zur vollen Iieife gelangte und in der Function eine neue Grundlage der Mathematik schuf. Nachdem der Begriff der Function als Grundlage gegeben ist, kann man jetzt von der Mathematik mit Kant sagen, dass sie die geometrischen Figuren, die Construction vorschreibe; es geht eben die Beziehung dem Bilde vorauf als a priori.\nIst aber auch auf dem Gebiete der Physik eine gleiche Umw\u00e4lzung erfolgt? \u00bbMit der Naturwissenschaft ging es weit langsamer\nzu, bis sie den Heeresweg der Wissenschaft traf.............. Als\nGalilei seine Kugeln die schiefe Fl\u00e4che mit einer von ihm selbst gew\u00e4hlten Schwere herabrollen, oder Toricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassers\u00e4ule gleich gedacht hatte, tragen lie\u00df..........., so ging allen\nNaturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entw\u00fcrfe hervorbringt, dass sie mit Principien ihrer Urtheile nach best\u00e4ndigen Gesetzen vorausgehen und die Natur n\u00f6thigen m\u00fcsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich allein gleichsam am Leitbande g\u00e4ngeln lassen m\u00fcsse; denn sonst h\u00e4ngen zuf\u00e4llige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem nothwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muss mit ihren Principien, nach denen allein \u00fcbereinkommende Erscheinungen f\u00fcr Gesetze gelten k\u00f6nnen, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualit\u00e4t eines Sch\u00fclers, der sich Alles vorsagen l\u00e4sst, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen n\u00f6thigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar die Physik die so vortheilhafte Revolution","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t591\nihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken...............................Hier-\ndurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein blo\u00dfes Herumtappen gewesen war\u00ab1).\nWir fragen nun : kann man sich unter einer solchen Naturwissenschaft eine andere vorstellen, als eine, die auf Best\u00e4tigung der mathematischen Abh\u00e4ngigkeit in den Naturerscheinungen hinzielt? Unm\u00f6glich, denn welche h\u00e4tte die Vernunft sonst an die Hand geben k\u00f6nnen? Welche Gesetze h\u00e4tte sie in der Natur anders suchen und fordern sollen? Doch nicht die qualitativen Gegens\u00e4tze eines Aristoteles oder Empedokles?\nUnd nun das wichtige Ergebniss, zu welchem alle diese Betrachtungen hinfiihren :\n\u00bbIch sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine auf einmal zu Stande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, w\u00e4ren merkw\u00fcrdig genug, um dem wesentlichen St\u00fccke der Um\u00e4nderung der Denkart, die ihnen so vortheilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen, so viel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zuifi. Versuche nachzuahmen. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniss m\u00fcsse sich nach den Gegenst\u00e4nden richten; aber alle Versuche \u00fcber sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniss erweitert w\u00fcrde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenst\u00e4nde m\u00fcssen sich nach unserer Erkenntniss richten........\u00ab2)\nSo sehen wir Kant sich mehr und mehr \u00fcber seinen Ausgangspunkt klar werden, die wissenschaftliche Grundlage, die die Basis seiner Speculation ausmacht, mehr und mehr als solche andeuten. Und damit f\u00e4llt neues Licht auf jene dunklen Worte wie Schemata der reinen Verstandesbegriffe, Regel oder Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, Ziehen einer Linie etc. Und wenn er von der von ihm aufgestellten Tafel der Kategorien sagt, sie sei\n1)\tKr. d. r. V. S. 25.\n2)\tKr. d. r. V. S. 27.\nWundt, Philos. Studien. IX.\n40","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"592\nConstantin Radulescu-Motru.\nunentbehrlich, um \u00bb den Plan einer Wissenschaft, sofern sie auf Begriffen a priori beruht\u00ab, vollst\u00e4ndig zu entwerfen, ja sogar sie \u00bbenthalte alle Elementarbegriffe des Verstandes vollst\u00e4ndig, ja selbst die Form eines Systems derselben im menschlichen Verst\u00e4nde\u00ab, \u2014 so wissen wir jetzt, wie wir dies alles auffassen sollen. Ohne das historische Ergebniss: die Aufstellung der quantitativen Beziehungen als Ziel und einzige Methode der Wissenschaft, h\u00e4tte Kant\u2019s Tafel niemals eine Anwendung erlebt. Ein a priori aber, das so an ein historisches Ergehniss gekn\u00fcpft ist, ist es \u00fcberhaupt noch ein a priori ? Hatte es sich nicht zu allen Zeiten der Vernunft aufgen\u00f6thigt, und k\u00f6nnte dann nicht eine Zeit kommen, wo es in der Gestalt, wie es Kant verstanden wissen will, aufs neue gegenstandslos wird?\nDieselbe Umw\u00e4lzung steht aber auch dem Verstandesbegriffe der Causalit\u00e4t als eng mit der reinen Naturwissenschaft verkn\u00fcpft in Aussicht. Diese unsere Erwartung ist leicht best\u00e4tigt. Die klarste Stelle in Kant\u2019s Schriften ist in Bezug darauf vielleicht die folgende aus den Prolegomena, deren Wiedergabe wir, so gern wir h\u00e4ufige lange Ci t\u00e4te vermeiden, nicht umgehen k\u00f6nnen. \u00bbWenn man die Eigenschaften des Zirkels betrachtet, da durch diese Figur so manche willk\u00fcrliche Bestimmungen des Baumes in ihr sofort in einer allgemeinen Kegel vereinigt, so kann man nicht umhin, diesem geometrischen Dinge eine Natur beizulegen. So theilen sich n\u00e4mlich zwei Linien, die sich einander und zugleich den Zirkel schneiden, nach welchem Ohngef\u00e4hr sie auch gezogen werden, doch jederzeit so regelm\u00e4\u00dfig, dass das Kechtangel aus den St\u00fccken einer jeden Linie dem der anderen gleich ist. Nun frage ich: \u00bbliegt dieses Gesetz im Zirkel, oder liegt es im Verst\u00e4nde\u00ab, d. i. enth\u00e4lt diese Figur, unabh\u00e4ngig vom Verst\u00e4nde, den Grund dieses Gesetzes in sich, oder legt der Verstand, indem er nach seinen Begriffen (n\u00e4mlich der Gleichheit der Halbmesser) die Figur selbst construirt hat, zugleich das Gesetz der einander in geometrischer Proportion\nschneidenden Sehnen in dieselbe hinein?........... Erweitern wir\ndiesen Begriff nun, die Einheit mannigfaltiger Eigenschaften geometrischer Figuren unter gemeinschaftlichen Gesetzen noch weiter\nzu verfolgen, und betrachten den Zirkel als einen Kegelschnitt....\nGehen wir von da noch weiter, n\u00e4mlich zu den Grundlehren der physischen Astronomie, so zeigt sich ein \u00fcber die ganze materielle","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"Zar Entwickelung yon Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t593\nNatur verbreitetes physisches Gesetz der wechselseitigen Attraction, deren Regel ist, dass sie umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernungen von jedem anziehenden Punkt ebenso abnehmen, wie die Kugelfl\u00e4chen, in die sich diese Kraft verbreitet, zunehmen, welches als nothwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen scheint, und daher auch als a priori erkennbar vorgetragen zu werden pflegt. So einfach nun auch die Quellen dieses Gesetzes sind, indem sie blo\u00df auf dem Verh\u00e4ltnisse der Kugelfl\u00e4chen von verschiedenen Halbmessern beruhen............... Nun frage ich : liegen diese\nNaturgesetze im Raume, und lernt sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jenem liegt, blo\u00df zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verst\u00e4nde und in der Art, wie dieser den Raum nach den Bedingungen der synthetischen Einheit, darauf seine Begriffe insgesammt auslaufen, bestimmt?\u00ab1)\nSie liegen freilich im Verst\u00e4nde und in seiner Art den Raum zu bestimmen! Diese Art der Bestimmung ist aber, historisch genommen, keineswegs eine andere als die, die wir bereits im Beginne kennen lernten und die unser Cit\u00e2t deutlich genug hervortreten l\u00e4sst: die Functionenlehre. Und dieser, Kant und der Naturwissenschaft seit Galilei gemeinsame Ausgangspunkt musste nun auch dazu f\u00fchren, dass beide zu einer \u00fcbereinstimmenden L\u00f6sung des Causalit\u00e4ts-Problems bestimmt wurden. Ebenso wie den Mathematikern seiner Zeit die Natur als in einer analytischen Formel darstellbar galt, so galt sie auch Kant daf\u00fcr. Derselbe mechanistische Determinismus findet sich bei diesem wie bei jenen, nur dass Kant eine ungleich complicirtere Sprache gebraucht, wenn er sich dar\u00fcber ausl\u00e4sst. Er nennt m\u00f6gliche Erfahrung, was jene wissenschaftliche oder hypothetische, objectiv-g\u00fcltige nennen w\u00fcrden; die Zeitbestimmung haben sie Beide mit einander gemein, nur dass Kant sie auf einem l\u00e4ngeren Umwege entdeckte, die logische Beziehung endlich galt wiederum dem Einen wie den Anderen als Ziel der Naturgesetze. Und nun h\u00f6ren wir Kant\u2019s Kritik der reinen Vernunft: \u00bbDass also etwas geschieht, ist eine Wahrnehmung, die zu einer m\u00f6glichen Erfahrung geh\u00f6rt, die dadurch wirklich wird, wenn ich die Erscheinung ihrer Stelle nach in der Zeit als bestimmt, mithin\n1) Prolegomena, S. 77.\n40*","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"594\nConstantin Radulescn-Motru.\nals ein Object ansehe, welches nach einer Regel im Zusammenh\u00e4nge der Wahrnehmungen jederzeit gefunden werden kann. Diese Regel aber, etwas der Zeitfolge nach zu bestimmen, ist: dass in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. nothwendiger Weise) folgt. Also ist der Satz vom zureichenden Grunde der Grund m\u00f6glicher Erfahrung, n\u00e4mlich der objectiven Erkenntniss der Erscheinungen, in Ansehung des Verh\u00e4ltnisses derselben, in Reihenfolge der Zeit\u00ab1). Und noch deutlicher spricht die folgende Stelle, mit der Kant\u2019s specielle\nA\nAusf\u00fchrungen \u00fcber Causalit\u00e4t in der Kritik schlie\u00dfen: \u00bb So ist demnach, ebenso wie die Zeit die sinnliche Bedingung a priori von der M\u00f6glichkeit eines continuirlichen Fortganges des Existirenden zu dem Folgenden enth\u00e4lt, der Verstand, vermittelst der Einheit der Apperception, die Bedingung a priori der M\u00f6glichkeit einer continuirlichen Bestimmung aller Stellen f\u00fcr die Erscheinungen in dieser Zeit, durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen, deren die ersteren der letzteren ihr Dasein unausbleiblich nach sich ziehen und dadurch die empirische Erkenntniss der Zeitverh\u00e4ltnisse f\u00fcr jede Zeit (allgemein), mithin objectiv g\u00fcltig machen\u00ab2).\nEs ist also das Causalverh\u00e4ltniss ein dem Verst\u00e4nde a priori innewohnendes Postulat, dem stets Gen\u00fcge werden muss, damit wir f\u00fcr unsere Erkenntniss eine objective G\u00fcltigkeit zu beanspruchen verm\u00f6gen. Dadurch, dass sie sich als diese \u00bbReihe von Ursachen und Wirkungen\u00ab gestaltet, wird die empirische Erkenntniss eine objectiv g\u00fcltige, d. h. f\u00fcr alle Zeiten, f\u00fcr das Bewusstsein \u00fcberhaupt g\u00fcltige. Lassen wir nun aber das a priori des Verstandes bei Seite, so sehen wir, wie das Ergebniss kein anderes ist, als eins, zu dem auch ein streng mechanistischer Determinist h\u00e4tte gelangen k\u00f6nnen. Die einzige Behauptung Kant\u2019s, der ein den Galilei-Newton\u2019schen Principien treu gebliebener Naturforscher nicht zustimmen, oder in die er keinen rechten Sinn legen konnte, ist die von der Apriorit\u00e4t. Ist diese Differenz aber so wesentlich ? Welches ist die L\u00fccke in der Galilei-Newton\u2019schen reinen Wissenschaft, die Kant mit dieser seiner Erg\u00e4nzung f\u00fcllt? Bisher\n1} Kr. d. r. V. S. 216.\n2) Kr. d. r. V. S. 223.","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Natureausalit\u00e4t.\n595\nhaben wir die Apriorit\u00e4t Kant\u2019s, die bei allen seinen Ergebnissen eine Rolle spielt, als ganz und gar mit der Richtung Galilei-Newton vereinbar betrachtet und so unterlassen, sie f\u00fcr sich zu er\u00f6rtern: jetzt aber muss dieser Punkt besonders beleuchtet werden, um damit die letzte Dunkelheit, die auf unseren voraufgehenden Untersuchungen noch liegen k\u00f6nnte, zu zerstreuen.\nVI.\nDie wissenschaftliche Methode in der geschichtlichen Behandlung des Kant sehen Apriori. \u2014 Die rationalistische und empiristische Auffassung des Bewusstseins. \u2014\u2022 Theorie des einheitlichen individuellen Bewusstseins. Kant s idealistisches System und seine Stellung in der Geschichte der Philosophie.\nEs wird ohne allen Zweifel befremden, dass wir die Frage des \u00bba priori\u00ab an letzter Stelle behandeln. Eine Erkl\u00e4rung der Kant-schen Philosophie, die nicht mit der Er\u00f6rterung des \u00bba priori\u00ab beginnt, ist sie nicht noth wendig ein Missverst\u00e4ndnis? Mit dem \u00bba priori\u00ab w\u00e4re eine solche Darlegung zu er\u00f6ffnen, denn in ihm gipfelt der Umschwung in dem philosophischen Denken, den Kant f\u00fcr alle Zeiten bewirkt hat, oder doch bewirken wollte. Die Einheit der Verstandesfunctionen ist es, nach Kant, deren Beth\u00e4tigung die Natur und ihre Gesetzlichkeit schafft. Die Natur ist nicht vor dem Verst\u00e4nde da. um sich in ihm zu spiegeln; nein, sie ersteht erst im Verst\u00e4nde, durch den Verstand. Die Erscheinungen als solche haben keine Regel, keine Ordnung, kein Gesetz in sich1]. Bedingt es also nicht die Logik, mit der Einheit der Verstandesfunctionen zu beginnen, sie klar darzustellen und von ihr aus zur Wissenschaft fortschreitend die M\u00f6glichkeit dieser letzteren, nachdem die Mitwirkung der apriorischen Elemente zuvor bewiesen worden ist, er-kenntnisstheoretisch zu begr\u00fcnden? \u00bbNichts anderes als diese ersten Bedingungen aller Erfahrung im Denken und in der Sinnlichkeit aufzusuchen, ist der n\u00e4chste Zweck der Kritik der reinen Vernunft\u00ab2). Was liegt daher n\u00e4her, als von diesen ersten Bedingungen auszugehen? .... Oder, da die Philosophie nach Anderen \u00bbdie Wissen-\n1)\tVergl. dar\u00fcber C. Stumpf, Psychologie und Erkenntnisstheorie. Abh. d. k. bayr. Acad. d. Wiss. I. Cl. XIX. Bd. II. Abth. S. 7.\n2)\tF. A. Lange, Geschichte des Materialismus. 2. Aufl. II. S. 28.","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596\nConstantin Radulescu-Motru.\nSchaft und Kritik der Erkenntniss\u00ab ist. und die Erkenntnistheorie \u00fcberhaupt \u00bbdie apriorischen Erfahrungsbegriffe betrifft\u00ab'), hei\u00dft es nicht dem System Kant\u2019s seinen gesammten philosophischen Charakter nehmen, wenn man seinem \u00bba priori\u00ab nicht die erste Stelle einr\u00e4umt? Nun, es ist zweifellos, die Kant\u2019sche Philosophie erscheint, wenn sie in dem Sinne, wie hier vorgeschlagen, behandelt wird, in gl\u00e4nzenderem Lichte als nach unserer Methode er\u00f6rtert. Die Architektonik des Systems bleibt mehr bewahrt, und nicht ohne Genugtuung sieht man, mit welcher Leichtigkeit die L\u00f6sungen sich eine der anderen anreihen, wie Eines aus dem Anderen folgt, wenn die Pr\u00e4missen einmal aufgestellt sind! Aus der synthetischen Einheit der Apperception flie\u00dfen die obersten Principien alles Verstandesgebrauches, diese letzteren wiederum machen die objectiven Urtheile m\u00f6glich, und so weiter von den logischen Functionen der Urtheile, den Kategorien und ihren Schematen bis zu den untersten wissenschaftlichen Einzelbegriffen. Das einzige wissenschaftliche Verfahren, die Philosophie Kant\u2019s nach ihrer geschichtlichen Entwickelung und in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Geschichte der Philosophie \u00fcberhaupt verst\u00e4ndlich zu machen, ist nichtsdestoweniger gerade das umgekehrte von dem empfohlenen. Dieses \u00bb a priori\u00ab, in das Kant den Umschwung des Denkens setzte, ist lediglich eine philosophische Erg\u00e4nzung zu der Summe der schon vor ihm vorhandenen Einzelerkenntnisse, und seine geschichtliche Wichtigkeit wird erst greifbar, nachdem man zuvor dargethan hat, wo es erg\u00e4nzend eintritt, welche L\u00fccke es f\u00fcllt. Oder welchen philosophischen Fortschritt d\u00fcrfte man im Kant\u2019schen a priori \u00fcberhaupt erblicken, au\u00dfer dem durch eine solche Rolle gegebenen? Und wie wollte man das Bed\u00fcrfniss nach ihm f\u00fchlbar machen, wenn man es einfach voraussetzt, d. h. aus ihm eine schlechthin unentbehrliche Hypothese macht? Auf diese Beweggr\u00fcnde hin m\u00fcssen wir, wie auch an anderer Stelle gesagt, ein Vorgehen im Sinne des unsrigen f\u00fcr das einzige halten, das \u00fcberhaupt eine gen\u00fcgende Erkl\u00e4rung der Kant\u2019schen Philosophie verb\u00fcrgt. Beginnen seine Vorz\u00fcge ja doch schon mit der Problemstellung selbst merklich zu werden, da f\u00fcr uns jetzt die\n1) A. Riehl, Der philosophische Kriticismus. II. Bd. Erster Theil. S. 11. II. Bd. Zweiter Theil. S. 15.","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t597\nFrage nicht l\u00e4nger die ist, welchen Sinn Kant mit seinem a priori verbinde, oh es psychologisch oder rein erkenntnisstheoretisch gemeint sei, ob es von Leibniz erborgt sei oder nicht. Und doch stellen sich diese Fragen der traditionellen Behandlung Kant\u2019s von vornherein sphinxartig in den Weg und dringen auf Beantwortung, ehe ein weiterer Schritt gethan werden kann. Man musste alsbald in dem einen oder anderen Sinne Partei ergreifen, und dann blieb es der Dialektik des Erl\u00e4uternden \u00fcberlassen, diejenigen Theile des Kant\u2019schen Systems in den Vordergrund zu r\u00fccken und zu betonen, die mit der voraufgenommenen L\u00f6sung harmonijten: die psychologischen, wenn er sich f\u00fcr das psychologische a priori entschieden hatte, die erkenntnisstheoretisch en, wenn f\u00fcr das erkenntnisstheo-retische. Das Endergebniss war bis heutigen Tages, dass die Philosophie Kant\u2019s entweder nach der Tagesmeinung, oder aber so zurechtgelegt ward, dass sie zu dem eigenen philosophischen Systeme eines jeden Erl\u00e4uterers die gew\u00fcnschte Stellung einnahm: sie blieb dabei stets deutungsf\u00e4hig und wurde nie gedeutet. Bei der Behandlung des Stoffes nach jener anderen Methode, in deren Anwendung sich \u2014 ob mit Gl\u00fcck, ber\u00fchrt die Sache selbst nicht \u2014 unser eigener Essay versucht, verliert das Kant\u2019sche a priori seinen r\u00e4thselhaften Charakter vollkommen. Ueber seine Natur entscheidet nicht l\u00e4nger die Inspiration des Dialektikers, sie ist vielmehr ganz und positiv durch die historische Entwickelung der Einzelwissenschaften bestimmt. Wo tritt es erg\u00e4nzend ein? Welche L\u00fccke f\u00fcllt es\u201c? Wie wurde die L\u00fccke als solche soweit f\u00fchlbar, dass ein Philosoph sich veranlasst sah, sie auszuf\u00fcllen? .... Dies sind jetzt unsere Fragen, und die Natur des a priori wird uns mit ihrer Beantwortung ein f\u00fcr alle Mal an die Hand gegeben sein. Und soweit diese Beantwortung uns jetzt zur Vervollst\u00e4ndigung der Causalit\u00e4ts-theorie von N\u00f6then ist, bietet sie sich uns hinl\u00e4nglich in dem That-sachenmaterial der voraufgehenden Capitel. Kehren wir denn neuerdings zu unserem Ausgangspunkte zur\u00fcck, \u2014 erinnern wir uns der beiden wissenschaftlichen Richtungen, deren Verfolgung das 17. Jahrhundert und das 18. bis auf Kant besch\u00e4ftigt, und sehen wir, sobald wir sie uns klargemacht haben, zu, ob der Widerspruch, den wir in Bezug auf die Theorie der Causalit\u00e4t zwischen ihnen fanden, nicht auf irgend eine Weise zu heben war; ferner warum weder","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598\nConstantin Radulescu-Motru.\ndie rationalistische noch die englische Philosophie ihn zu heben vermochten, und schlie\u00dflich, ob die Kant\u2019sehe Philosophie dies Bed\u00fcrfniss befriedigte.\nIm ersten Capitel sahen wir, welches die Richtung der Wissenschaft und der Philosophie des 17. Jahrhunderts war. Auf der einen Seite fanden wir die durch die Mathematiker der Renaissanceperiode ins Leben gerufenen Wissenschaften: Galilei wendet zum ersten Mal mit Gl\u00fcck die mathematische Function auf die sinnliche Erscheinung der Ortsbewegung der K\u00f6rper an und wird so der Sch\u00f6pfer der Dynamik; Kepler thut das Gleiche in Bezug auf die Bewegung der Himmelsk\u00f6rper. Und mehr und mehr entwickeln sich diese Anf\u00e4nge mit den Fortschritten in der Functionsrechnung, der Entdeckung der analytischen Geometrie, der Differentialrechnung u. s. w., bis die ganze Basis zir einem System reiner Naturwissenschaft gelegt ist. Auf der anderen Seite fanden wir die Philosophie, wie sie, gleichfalls auf die Klarheit und das Deductions-verfahren der Mathematik gest\u00fctzt, sich bem\u00fcht, mit zahllosen ontologischen Deductionen und Speculationen \u00fcber die Materie oder Gott diesen Wissenschaften, den mechanischen, wie man sie zu nennen pflegte, ihre Einheit zu geben und ihre Gewissheit durch Nachweis des Bandes, das sie mit den unmittelbaren Aussagen des Bewusstseins verkn\u00fcpft, in ihrem ganzen Umfange an den Tag zu legen. Das Ergebniss ist eine Art von universellem Intelleetualismus, der im Spinozismus seine sch\u00e4rfste Auspr\u00e4gung findet. Was die Gegebenheiten des Intellects anlangt, so blieb dieses ganze Jahrhundert dogmatisch; d. h. die Philosophen dieser Epoche nahmen alle Deductionen, die \u00bbmore geometrieo\u00ab aus einander folgten, ohne alle weitere Kritik f\u00fcr wahr, f\u00fcr wirklich an. Es wurde so nat\u00fcrlich die Beziehung der realen Causalit\u00e4t vollkommen mit der logischen Beziehung, der enger mit dem Bewusstsein verkn\u00fcpften, verwechselt. Die Tendenz nun des folgenden, des 18. Jahrhunderts ist umgekehrt das Streben nach vertiefter Kenntniss von diesem Intellect, nach Analyse dieser Quelle, der alle Wahrheiten entflossen, dieses Werkzeuges, mittelst dessen alle Deductionen des 17. Jahrhunderts ausgef\u00fchrt wurden. Das zweite Capitel hat uns in allgemeinen Umrissen gezeigt, welche Einzelforschungen diese Tendenz zur Grundlage hatte und zu welchen Resultaten sie gelangt war. Die Vernunft,","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kaufs Theorie der Naturcansalitiit.\t599\nh\u00f6rten wir die Vertreter des 18. Jahrhunderts sagen, ist nichts anderes als die Summe der Empfindungen, die uns durch die Sinne zugelangen, wie die physiologischen Forschungen beweisen; \u2014 es ist also falsch, in ihr die h\u00f6chste Instanz zu sehen, die das Problem der Gewissheit l\u00f6sen k\u00f6nne, falsch, auf sie alle Allgemeing\u00fcltigkeit und Nothwendigkeit zu begr\u00fcnden. Die rationellen, more geometrico erlangten Wahrheiten sind nur der R\u00fcckstand von dem, was uns durch die Sinne zugelangt ; ihre Gewissheit kommt also erst in zweiter Reihe, nach der der Anschauung. Und diesem Ideengange entsprechend sahen wir Hume f\u00fcr jede Behauptung einen Eindruck als Basis fordern, das Bereich des Bewusstseins in lauter isolirte Empfindungen aufl\u00f6sen und damit das Problem der Causalit\u00e4t im skeptischen Sinne l\u00f6sen. In dieser doppelten Auffassung der Causalit\u00e4t, der wir bereits im Anf\u00e4nge begegnet sind, spiegeln sich die Besonderheiten der beiden philosophischen Richtungen, des rationellen Dogmatismus einerseits, des psychologischen Empirismus anderseits, am klarsten wieder. Lie\u00df sich indes gleichwohl auf ebendieselben wissenschaftlichen Elemente, die diesen beiden Denkrichtungen zur Unterlage dienten, eine neue L\u00f6sung des Causalit\u00e4tsproblems begr\u00fcnden1]? Eine L\u00f6sung, die zugleich, ungleich der rationalistischen, zwischen ihm und dem Satze vom Grunde und, ungleich der empiristischen, zwischen ihm und der Ideenassociation schied. Die voraufgehenden Paragraphen haben uns bereits die vollendete Thatsache vor Augen gef\u00fchrt. Aber nicht als Ganzes, als einheitlichen Bau haben wir dort diese L\u00f6sung gesehen, sondern eher in Gestalt von Bausteinen. Eine nach der anderen haben wir die Theorien gepr\u00fcft, die die Basis dieser L\u00f6sung ausmachen, vie die Bauenden das Material zu einem Baue, ohne R\u00fccksicht auf den Gesammtplan; wir haben gesehen, wie diese\n1) Wir sprechen hier von einer L\u00f6sung der Causalit\u00e4t, obwohl wir ganz ebenso gut von einer neuen Philosophie \u00fcberhaupt sprechen k\u00f6nnten, wenigstens im Einkl\u00e4nge mit Kant, wenn es bei ihm hei\u00dft: \u00bbDa es mir nun mit der Aufl\u00f6sung des Hu me\u2019sehen Problems nicht blo\u00df in einem besonderen Falle, sondern in Absicht auf das ganze Verm\u00f6gen der reinen Vernunft gelungen war, so konnte ich sichere obgleich immer nur langsame Schritte thun, um endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft .... nach allgemeinen Principien zu bestimmen, welches denn dasjenige war, was Metaphysik bedarf, um ihr System nach einem sicheren Plan auszuf\u00fchren \u00ab. Prolegomena. S. 7 f.","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600\nConstantin Radulescu-Motru.\nTheorien fast ausnahmslos der von Galilei begr\u00fcndeten exacten Wissenschaft, wie wir sagen, entlehnt sind, und so schlagend waren die Aehnlichkeiten mit dem geschichtlich Yorhandenen, dass wir fast nach jedem Paragraphen versucht waren zu fragen: Wo ist der Fortschritt, den wir Kant verdanken? Was sollen die alten Theorien in neuem Gew\u00e4nde?\nAber der Augenblick ist da, mit der Analyse des Details abzuschlie\u00dfen und uns zur Betrachtung des ganzen Geb\u00e4udes und seiner planvollen Einheitlichkeit zu erheben. Denn hier, in der That, stehen wir vor Kant\u2019s wahrer Urspr\u00fcnglichkeit, hier nur war anderseits eine L\u00fccke, die philosophisch ausgef\u00fcllt werden konnte!\nHinter Allem, was die beiden Denkrichtungen zu trennen schien, gewahrte Kant\u2019s Auge den Punkt, gegen den hin sie beide, wie verschieden ihre Methoden und Resultate sein mochten, con-vergirten. Dieser Punkt lag f\u00fcr beide geistige Tendenzen in ihrer Stellung zum Bewusstsein, in der ihm zugewiesenen Rolle bei der Gestaltung einer Naturerkl\u00e4rung \u00fcberhaupt. Die Philosophie Descartes\u2019, Spinoza\u2019s und Leibniz\u2019 ging von seinen unmittelbaren Aussagen, von der Annahme angeborener Ideen aus, um auf ontologischem Wege die Einheit der Wissenschaften und eine Naturanschauung \u00fcberhaupt zu construiren; die Philosophie Locke\u2019s und Hume\u2019s anderseits lief, obwohl sie diese ihm zugesprochenen Vorz\u00fcge (Angeborensein, Spontaneit\u00e4t) principiell und aufs entschiedenste bestritt, nichts destoweniger, sobald das Bewusstsein einmal automatisch, als Association von Eindr\u00fccken, erkl\u00e4rt war, wie die der Anderen darauf hinaus, auf diesen Automatismus eine philosophische Theorie des Wissens zu begr\u00fcnden. Dort war die Naturgesetzlichkeit nach Analogie des mit angeborenen Ideen ausger\u00fcsteten Bewusstseins, hier die Beziehung von Ursache und Wirkung wiederum nach Analogie des Bewusstseins, aber diesmal als Summe getrennter und isolirter Empfindungen aufgefasst. Und dieser charakteristische und gemeinsame Zug in den beiden gegens\u00e4tzlichen Denkrichtungen entging Kant\u2019s Scharfblicke nicht. Und wie konnte er es auch, als starkes Argument f\u00fcr die Solidit\u00e4t des Idealismus, zu dem Kant, von Natur k\u00f6nnen wir sagen, hinneigte! Wenn zwei philosophische Gegenpole darin \u00dcbereinkommen, dass sie dem Bewusstsein die centrale Stellung einr\u00e4umen, dass sie mit allen","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausaiitiit.\n601\nihren Theorien gegen diese hin convergiren, ist damit nicht der Sieg des Idealismus schon zur H\u00e4lfte zugestanden? Und es bedurfte nicht einmal der nat\u00fcrlichen Sympathien f\u00fcr den Idealismus, um dieses Band, diesen Zusammenhang zwischen den Gegnern erkennen zu lassen; eine gr\u00fcndliche Kenntniss beider Anschauungen h\u00e4tte f\u00fcr sich schon dazu bef\u00e4higt. Kant war aber ohne allen Zweifel mit einer solchen ausger\u00fcstet. Seit dem Beginne seiner schriftstellerischen Th\u00e4tigkeit finden wir ihn mit der Philosophie Newton\u2019s vertraut; er bekleidete selbst eine Professur der Mathematik und Logik: Descartes\u2019 und Leibniz\u2019 Philosophie waren ihm gel\u00e4ufig, Umst\u00e4nde, die ihn im Glauben an die rationalistischen L\u00f6sungen nicht anders als best\u00e4rken konnten, die ihn zum mindesten hindern mussten, mit der Leichtfertigkeit an sie heranzutreten, die ihnen so viele sensualistische Philosophen seiner Epoche entgegenbrachten. Anderseits wiederum versenkte er sich als Geist, der jeder neuen Wahrheit im h\u00f6chsten Ma\u00dfe offen stand, nicht weniger ersch\u00f6pfend in die L\u00f6sungen der Gegenrichtung. In unserer Darlegung seiner vorkritischen Periode haben wir gesehen, wie weit er dieser letzteren besonders in seiner Schrift \u00fcber den \u00bbBegriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen\u00ab entgegenkommt. Dazu wei\u00df er stets, so oft er sich \u00fcber die Philosophie der Engl\u00e4nder ausl\u00e4sst, zumal in seinen sp\u00e4teren Werken, zwischen den direct auf den Einzelforschungen der Physiologie hasirenden Wahrheiten und den entlegeneren Speculationen zu unterscheiden, die Locke und Hume aus jenen ableiten, aber als mit ihnen gleichartig angesehen wissen m\u00f6chten. Dass er hier in solchem Ma\u00dfe zu unterscheiden wusste, das zeichnet Kant aufs h\u00f6chste vor seinen Zeitgenossen aus, die dessen nie f\u00e4hig waren. War nun aber das Band, das beide Denkrichtungen mit einander verkn\u00fcpfte, einmal als solches erkannt, so wies sich damit Kant\u2019s Genie auch schon zur Gen\u00fcge die Bahn, auf der sich ihm die Aufl\u00f6sung jenes Widerspruches darbieten musste. Die Thatsache, dass sich auf das Bewusstsein zwei weit verschiedene Grundtheorien des Wissens aufhauen lie\u00dfen, je nach dem Gesichtspunkte, unter dem man es betrachtete, je nachdem man es zum Zweck der Uebereinstimmung mit den mathematischen oder mit den physiologischen Wahrheiten interpretirte, mehr als dieser Thatsache bedurfte es f\u00fcr ihn nicht. Nicht in den Einzelerkenntnissen, dies sah er, war jener Wider-","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602\nConstantin Radulescu-Motru.\nsprach begr\u00fcndet, sondern in der Auffassung des Bewusstseins selbst. Der Fehler, den seine Vorg\u00e4nger gemacht, lag offenbar in ihrer unkritischen Weise, das Bewusstsein und seine Functionen zu verstehen. Hier war der Angriffspunkt f\u00fcr neue Forschungen, und hier ging Kant ans Werk. Gelang es ihm, zu entdecken, worauf jener Zwiespalt beruhte, so musste sich ihm auch ergeben, welche von beiden Richtungen die Wahrheit f\u00fcr sich hatte, oder aber er vermochte, wenn sich beide Theile im Irrthume befangen zeigten. die Kriterien einer neuen Philosophie aufzustellen, die f\u00e4hig war, die einander bek\u00e4mpfenden Einzelforschungen, als deren Vertreter sich hier Mathematiker und Physiologen gegen\u00fcberstanden, durch Verschmelzung zu einer h\u00f6heren wissenschaftlichen Einheit \u00fcber ihre Differenzen hinauszuheben.\nZwanzig Jahre unabl\u00e4ssigen Bem\u00fchens widmete Kant diesem Ziele, bis zum Jahre 1781, in dem seine \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab erschien, und das also seine \u00bbvorkritische Periode\u00ab beschloss, unerm\u00fcdlich im Sichten, Pr\u00fcfen, Vergleichen und Berichtigen der beiderseitigen L\u00f6sungen. Auf Seiten 11 nine\u2019s oder Descartes\u2019 oder beider, dies stand f\u00fcr ihn fest, musste man zu weit gegangen sein, um den gleichen Begriff des Bewusstseins zu solchen Gegens\u00e4tzen entwickelt zu haben.\nZuerst scheint Kant das Ueberschreiten des Zul\u00e4ssigen bei Hume gewahrt zu haben. Seine Theorie der losen und isolirten Empfindungen, der Automatismus, auf den es f\u00fcr ihn bei allen intellectuellen Operationen hinauskam, sie lie\u00dfen ihm die denkende Einheit schlechterdings unerkl\u00e4rt, von der Hume kaum etwas zu ahnen schien, die mindestens kein Problem f\u00fcr ihn war, zu der aber Kant, der zu einer Zeit lebte, in der die animistischen Theorien Stahl\u2019s mehr und mehr herrschend wurden, so gestellt war, dass ihm das Zustandekommen dieser Einheit jedenfalls bewiesen werden musste. In der That fanden wir gelegentlich unserer Analyse der \u00bbTr\u00e4ume eines Geistersehers\u00ab, dass er bereits seit dem Jahre 1762, ihrer Tragweite voll bewusst, die Frage aufwirft: Was macht die denkende Einheit aus\u201c? Mit dieser Frage aber war ja der Ansto\u00df zu einem neuen Denken bereits gegeben, war es auch immer nur ein erster Ansto\u00df. Lag aber nun Hume\u2019s Irrthum f\u00fcr Kant zu Tage, so fiel ihm jetzt die Aufgabe zu, zu pr\u00fcfen, in wiefern","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalitiit,\n603\ndas Bewusstsein, in seiner neuen Auffassung als einheitliches, die Basis f\u00fcr eine neue Theorie des Wissens zu gew\u00e4hren verm\u00f6ge. Das, was Hume ausschlie\u00dfen zu sollen geglaubt hatte, die Annahme der Allgemeing\u00fcltigkeit, der Nothwendigkeit unseres Wissens in Bezug auf die Thatsachen, war es nicht mit dem neu Erworbenen, eben der denkenden Einheit, aufs Neue zu begr\u00fcnden? Folgten aber diese Allgemeing\u00fcltigkeit und Nothwendigkeit aus der Einheit des Denkens, dann h\u00e4tte ja eine Philosophie wie die Descartes\u2019, die jene in so weitem Umfange gelten lie\u00df, darum wissen, ja von ihr ausgehen m\u00fcssen! War dem so? Man sieht, Kant ward auch dazu gef\u00fchrt, die rationalistische Auffassung vom Bewusstsein zu pr\u00fcfen. Was verstanden Descartes, Spinoza, Leibniz unter angeborenen Wahrheiten, wie dachten sie sich diese vereinbar mit dem realen Best\u00e4nde des Bewusstseins? Fassen sie ein individuelles Bewusstsein ins Auge? Alle diese Fragen dr\u00e4ngen sich von selbst auf, sobald man unternimmt, beide Denkrichtungen zu vergleichen. Und ihre Beantwortung wurde Kant insofern erleichtert, als er bald dahinter kam, dass die Rationalisten einen analogen Fehler begingen wie die Anh\u00e4nger der englischen Schule. Bei diesen war der Fehler die Au\u00dferachtlassung der Einheit, bei jenen die Au\u00dferachtlassung der Individualit\u00e4t des Bewusstseins : die nat\u00fcrliche Erkl\u00e4rung f\u00fcr den psychologischen Automatismus, die Reduction alles Wissens auf Ideenassociationen auf Seite der Engl\u00e4nder, und wiederum f\u00fcr den universellen Intellectualismus die Umsetzung alles Wissens in Logik auf Seite der Rationalisten. Es waren demnach in letzter Linie beide Philosophien dogmatische, sie bearbeiteten jede von ihnen die von den Einzelwissenschaften \u00fcberkommenen Ergebnisse, ohne Kritik daran zu \u00fcben; weder der einen noch der anderen fiel es hei zu pr\u00fcfen, oh die Natur des Bewusstseins mit den aus den einzelwissenschaftlichen Resultaten gewonnenen Verallgemeinerungen harmonire oder nicht. F\u00fcr Descartes bedurfte es eines Bewusstseins, das uns durch seine unmittelbaren Aussagen \u00fcber alle Erfahrung hinaus die Natur der Dinge enth\u00fcllt; f\u00fcr Locke und Hume, die von der Beobachtung der Sinnesorgane ausgingen, eines Bewusstseins, das, in hohem Grade passiv, nichts weiter ist als die einfache Summe der verschiedenen Empfindungen. Mit der Entdeckung der M\u00e4ngel der beiden Richtungen war aber auch die","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nConstantin Radiilescu-Motru.\nAufgabe, die sich einer neuen Philosophie stellte, hinl\u00e4nglich vorgezeichnet! Dieselbe hatte jetzt, von denselben Einzelwissenschaften ausgehend, diesen ihre Einheit zu geben, und zwar durch jenen neuen Begriff des Bewusstseins, der sich kritisch aus der Entwickelung der voraufgegangenen Systeme ergeben hatte. Nicht die Mathematik oder die Physiologie (insbesondere die Physiologie der Sinnesorgane) zu begr\u00fcnden, lag der neuen Philosophie ob -\u2014 diese wie jene waren von ihr als begr\u00fcndet vorauszusetzen \u2014, sondern es war ihre Aufgabe, von dem neuen idealistischen Gesichtspunkte aus, d. h. dem Begriffe eines einheitlichen individuellen Bewusstseins, eine allgemeine Theorie des Wissens aufzustellen, die zugleich die Nothwendigkeit und die Allgemeinheit der mathematischen S\u00e4tze sowohl wie die Lehre vom empirischen Urspr\u00fcnge der Vorstellungen in sich sehloss. Was die Theorie der Causalit\u00e4t im Besonderen angeht, so bestand diese Aufgabe darin, zu zeigen, dass die Aufsuchung der Verkettung der Naturereignisse, als nothwendig nach Ursache und Wirkung! die das Ziel der reinen Naturwissenschaft von Galilei an bei allen ihren Bestrebungen, die mathematische Abh\u00e4ngigkeit in den sinnlichen Erscheinungen best\u00e4tigt zu finden, gewesen war, nicht allein nicht unvereinbar mit dem Bewusstsein nach Hume'scher Auffassung, anderseits aber auch nicht nothwendig nach rationalistischer Vorstellung, sondern dass sie eine noth wendige allgemeine Regel gegen\u00fcber dem Naturgeschehen war, weil die Natur eines individuellen, einheitlichen Bewusstseins selbst sie bedingte.\nEs war also ein idealistisches System, aber eines, das sowohl endg\u00fcltig dem psychologischen Automatismus der englischen Schule Schranken setzte, als auch dem universellen Intellectualismus die metaphysischen Fl\u00fcgel beschnitt, was von der Entwickelung der Philosophie gefordert war. Die Kant\u2019sche Philosophie entsprach dieser Forderung, soweit wir sie bis\u2019 jetzt kennen gelernt haben, vor allem durch ihre Unterscheidung zwischen den zwei Quellen der Erkenntniss. Diese, \u00bbderen erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Receptivit\u00e4t der Eindr\u00fccke), die zweite das Verm\u00f6gen, durch jene Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneit\u00e4t der Begriffe) , . . . \u00ab zu scheiden, hie\u00df dies nicht ein f\u00fcr alle Mal mit den Widerspr\u00fcchen der Vergangenheit abrechnen? \u00bbAnstatt im Verst\u00e4nde und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Entwickelung von Kant's Theorie der Naturcausalit\u00e4t.\t605\nVorstellungen zu suchen, die aber nur in Verkn\u00fcpfung objectiv-g\u00fcltig urtheilen k\u00f6nnten, hielt sich ein jeder dieser gro\u00dfen M\u00e4nner nur an eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge an sich selbst bez\u00f6ge, indessen dass die andere nichts that, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen \u00ab ').\nUnd welchem Bed\u00fcrfniss sonst kamen alle anderen Theorien Kant\u2019s, mit denen wir bisher Bekanntschaft machten, entgegen! Zeit und Kaum als reine Anschauungsformen a priori \u2014 mit ihnen r\u00e4umte Kant Newton\u2019s Theorie, die aus jenen absolute wahre Gr\u00f6\u00dfen oder auch Attribute Gottes gemacht hatte, die selbstgeschaffenen Hindernisse aus dem Wege. Und die Umformung der wissenschaftlichen Erfahrung in Erfahrung der Form des Denkens nach, der Grundbegriffe der erkl\u00e4renden Naturwissenschaft in reine Verstandesbegriffe a priori, der mathematischen Construction der\nGr\u00f6\u00dfe als Function der Zeit im Schematismus u. s. w........, dies alles\ndiente demselben Zwecke.\n\u00bbUnsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbare weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so \u00fcberhaupt erkennt, sondern muss vielmehr mit einer' Sph\u00e4re verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Kr\u00fcmmung des Bogens auf ihrer Oberfl\u00e4che (der Natur synthetischer S\u00e4tze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begr\u00fcndungen derselben mit Sicherheit angeben l\u00e4sst\u00ab1 2).\nAls unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene hatten sie aber die philosophischen Vorg\u00e4nger Kants gefasst, ohne etwas von ihrer Einheit und Individualit\u00e4t und dem, was aus diesen folgte, zu ahnen und dadurch den eigenen Uebergriffen vorzubeugen. Indem Kant\u2019s System diese Uebergriffe als solche aufdeckte, brachte es den Einzelwissenschaften seiner Zeit die philosophische Erg\u00e4nzung, deren sie bed\u00fcrftig waren. Die naturwissenschaftlichen Grundvoraussetzungen eines Galilei, eines Newton erschienen jetzt nicht allein vereinbar mit der Grundbedingung eines einheitlichen, individuellen Bewusstseins, sondern sogar als ihre nothwendigen Consequenzen.\n1)\tKr. d. r. V. S. 275.\n2)\tKr. d. r. V. S. 593.","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606 Constantin Radulescu-Sotru. Zur Entwickelung von Kant\u2019s Theorie der Naturcausalit\u00e4i.\nWir sahen, welche Gestalt Kant\u2019s System der L\u00f6sung des Causalit\u00e4tsproblems gab. Aus einem wissenschaftlichen Postulat, das sie f\u00fcr eine reine Naturwissenschaft wie die Galilei\u2019s oder Newton\u2019s sein- und bleiben sollte, machte er die Causalit\u00e4t zu einem reinen Verstandesbegriffe.\nHatte aber Kant, so fragen wir uns jetzt am Schl\u00fcsse, der Causalit\u00e4tstheorie ihre definitive, letzte Gestalt gegeben, die keine weitere Ausbildung \u00fcber sich hinaus zulie\u00df'? Wurde durch ihn den Einzel Wissenschaften jede nochmalige Erg\u00e4nzung durch die Philosophie, deren sie bis auf ihn bed\u00fcrftig gewesen waren, entbehrlich gemacht ?\nDiese Pr\u00e4gen m\u00fcssten unklar gestellt sein, um auch nur gleicli--sehr bejahbar wie verneinbar zu erscheinen.\nDie Bedeutung des Kant\u2019schen Systems ist gleich der aller ihm voraufgegangenen Systeme eine geschichtliche, das hei\u00dft, es hat in einem gegebenen Zeitpunkte die concreten Wissenschaften unter einem h\u00f6heren Gesichtspunkte geeint; es hat die Widerspr\u00fcche, die, obwohl von ihrer eigenen Entwickelung erzeugt, zu Schranken zwischen ihnen geworden waren, die ihr Zusammenwirken je l\u00e4nger je mehr begrenzten, indem er sie ihrer Relativit\u00e4t \u00fcberf\u00fchrte, als Hemmnisse beseitigt und den Fortschritt jener gef\u00f6rdert, wie dies andere Philosophien vor ihm in der von ihrer Zeit geforderten Weise, d. h. gegen\u00fcber den zeitgen\u00f6ssischen Wissenschaften, getlian oder doch zu thun versucht hatten. Beerbte Kant aber Vorg\u00e4nger, wie sollten seiner nicht Erben warten! Die Fortentwickelung der Wissenschaften musste Gegens\u00e4tze erzeugen, deren Auss\u00f6hnung schlechterdings nicht zu anticipiren war. Nicht zum letzten Male hat sich die Philosophie in Kant verk\u00f6rpert.\nDruck von Breitkopf & H\u00e4rtel in Leipzig.","page":606}],"identifier":"lit4241","issued":"1894","language":"de","pages":"528-606","startpages":"528","title":"Zur Entwicklung von Kant\u2018s Naturcausalit\u00e4t, Schluss","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:59:38.859600+00:00"}