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{"created":"2022-01-31T14:30:08.114407+00:00","id":"lit4244","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kiesow, Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 255-278","fulltext":[{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\nVon\nFriedrich Kiesow.\n(Fortsetzung.)\nMit einer Figur im Text.\n* 0\n\u00a7 4. Compensations- und Mischungserscheinungen.\nDie nachstehenden Mittheilungen enthalten die Ergebnisse einiger Versuche, welche ich angestellt habe, um die aus einer Mischung verschiedener Geschmacksstoffe resujtirenden Erscheinungen einer Pr\u00fcfung zu unterwerfen. Eine Untersuchung dieser Verh\u00e4ltnisse musste um so mehr in dem Plane meiner Arbeiten liegen, als die wenigen Angaben, die sich hier\u00fcber in der Litteratur vorfinden, wohl nicht durchweg mit einander \u00fchereinstimmen. Die \u00e4ltesten Versuche dieser Art sind wohl diejenigen, welche seiner Zeit Petrus Luchtmann ver\u00f6ffentlicht hat* 1). Da aber L. nicht einfache Geschmacksstoffe, sondern Fl\u00fcssigkeiten von sehr zusammengesetzter Natur verwandte, so d\u00fcrften seine Versuche, wie dies bereits von Vintschgau2) hervorgehoben hat, heute f\u00fcr uns kaum noch in Betracht zu ziehen sein. Wichtiger f\u00fcr die Erkenntniss der Geschmacksfunctionen sind fast 100 Jahre sp\u00e4ter die Versuche geworden, welche Schirmer3) \u00fcber Mischungen von Geschmacks-\n\u2019 \u00cf\n1)\tSpecimen physico-medicum inaugurale de saporibus et gustu. 1758.\n2)\tHermann\u2019s Handbuch der Physiologie. III, 2. S. 220.\n3)\tNonnullae de gustu disquisitiones. Diss. 1856. \u2014 Einiges zur Physiologie des Geschmackssinnes. Deutsche Klinik, 1859. \u2014 von Vintschgau, Hermann\u2019s Handbuch. III, 2. S. 203 ff.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n17","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nFriedrich Kiesow.\nSubstanzen ausf\u00fchrte. Derselbe verwandte als solche L\u00f6sungen von Chlornatrium, Zucker, Essigs\u00e4ure und schwefelsaurem Chinin und fand meines Wissens als der erste, dass die Wirkung dieser Stoffe namentlich auf der Zungenspitze einer verschieden langen Per-ceptionszeit entsprach. Aus zw\u00f6lf Combinationen, welche er aus je zwei der genannten Substanzen herstellte, ergab sich, dass der salzige Geschmack aus einer Mischung stets am fr\u00fchesten erkannt wurde. Diesem folgten zun\u00e4chst der s\u00fc\u00dfe und sodann der saure Geschmack, w\u00e4hrend der bittere am sp\u00e4testen hervortrat. Die Ergebnisse dieser sorgf\u00e4ltig angestellten Versuche Schirmer\u2019s sind dann sp\u00e4ter durch die Versuche \u00fcber die Reactionszeiten, welche von Vintschgau und H\u00f6nigschmied f\u00fcr die vier Grundge-schm\u00e4cke ausf\u00fchrten, best\u00e4tigt worden '). Bei der Untersuchung der Compensationserscheinungen innerhalb des Geschmackssinnes werden diese Befunde stets in R\u00fccksicht gezogen werden m\u00fcssen. Ueber diese letzteren ist aber bisher nur sehr weniges bekannt geworden, namentlich d\u00fcrfte die Frage nach dem Grade, in welchem sich zwei Substanzen compensiren k\u00f6nnen, noch kaum endg\u00fcltig entschieden sein. F\u00fcr die M\u00f6glichkeit einer Compensation von Geschmackseindr\u00fccken ist Br\u00fccke eingetreten. Derselbe fasst seine Anschauungen in folgender Weise zusammen: \u00bbEs lehrt nun die Erfahrung, dass gewisse Geschmacksempfindungen einander compensiren k\u00f6nnen, ohne dass die chemischen Eigenschaften der erregenden K\u00f6rper einander compensiren. Es ist bekannt, dass etwas, was uns unangenehm sauer schmeckt, durch Zucker cor-rigirt werden kann, und dass es auch bis zu einem gewissen Grade durch Kochsalz corrigirt werden kann; und doch sind Zucker oder Kochsalz keine Substanzen, die die Eigenschaft der S\u00e4ure neutra-lisiren k\u00f6nnten. Man muss also zu der Anschauung kommen, dass die Erregungszust\u00e4nde im Centralorgan einander compensiren, denn man kann nicht annehmen, dass der Zucker oder das Salz die eine Art von Nerven, die, mit welchen wir Sauer schmecken,\n1) Archiv f\u00fcr die gesammte Physiologie. X. XII. XIV. Diese Versuche wurden vor dem durch Ludwig Lange in Wundt\u2019s Laboratorium erkannten Unterschiede zwischen der sensoriellen und motorischen Reactionszeit ausgef\u00fchrt. Eine Nachpr\u00fcfung derselben w\u00e4re im Interesse m\u00f6glichst genauer Werthe von diesem Gesichtspunkte aus vielleicht w\u00fcnschenswerth.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"257\nBeitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\nweniger erregbar mache f\u00fcr S\u00e4uren. Die Anschauung, dass es sich um eine Compensation der Empfindungen im Centralorgane handle, findet auch darin ihre Best\u00e4tigung, dass wir nicht sagen k\u00f6nnen,' dass die Geschmacksempfindung als solche schw\u00e4cher wird. Wenn S\u00e4uren durch Zucker oder Salz corrigirt werden, wird die Geschmacksempfindung dadurch nicht schw\u00e4cher, wir finden unsere Zunge nicht weniger afficirt, aber die Geschmacksempfindung wird weniger unangenehm, weniger l\u00e4stig. Darauf beruhen die Co'rri-gentia, sowohl in der Koch- als auch in der Receptirkunst1). Gegen diese Auffassung hat mit Recht H. Oehrwall hervorgehoben, dass es sich bei derselben nicht um die Empfindungen handle, sondern dass Br\u00fccke mehr den dieselben begleitenden Gef\u00fchlston zur Grundlage seiner Anschauung machte2). Dieser Ein wand ist gewiss berechtigt und ebenso muss Oehrwall zugestanden werden, dass man bei der Anwendung von Corrigentia, die nicht einmal immer demselben Sinnesgebiete anzugeh\u00f6ren brauchen, wohl immer nur die Erzeugung eines angenehmeren Gef\u00fchlstones im Auge hat. Ob aber hierbei nicht auch die einzelnen Componenten, wenn dieselben ausschlie\u00dflich Geschmackseindr\u00fccke sind, nach der intensiven Seite hin eine Aenderung erfahren, und ob weiter nicht auch die Resultante dieser Eindr\u00fccke qualitativ modifieirt erscheint, ist damit durchaus noch nicht entschieden, vielmehr d\u00fcrfte beides erst durch genauere Beobachtungen festzustellen sein. Wie weit der Gef\u00fchlston durch die Anwendung von Correctivmitteln ver\u00e4ndert wird, habe ich erst im n\u00e4chsten Theile meiner Arbeiten zu zeigen, hier habe ich nur die beiden ebenerw\u00e4hnten Fragen zu beantworten.\nWir werden dabei im letzteren Falle neben den qualitativen Ver\u00e4nderungen, welche aus der Mischung von Geschmacksstoffen f\u00fcr die Empfindung resultiren, besonders auch die Frage zu beantworten haben, ob es innerhalb des Geschmackssinnes Erscheinungen gibt, welche als denjenigen des Complementarismus der sogenannten Gegenfarben analoge aufzufassen sind, oder nicht. Die beiden soeben aufgeworfenen Fragen sind durchaus nicht iden-\n1)\tVorlesungen \u00fcber Physiologie. 2. Aufl. 1876. Bd. II. S. 247 f.\n2)\tSkandinavisches Archiv f\u00fcr Physiologie. 1891. Bd. II. S. 25 f.\n17*","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nFriedrich Kiesow.\ntisch und die getrennte Behandlung derselben mag darin ihre Berechtigung finden, dass der den sogenannten niederen Sinnen zu-'gez\u00e4hlte Geschmackssinn Eigenschaften aufweist, die eine absolut selbst\u00e4ndige Betrachtung erfordern und deren Verst\u00e4ndniss sodann zur entwickelungsgeschichtlichen Erkenntniss der h\u00f6heren Sinnesfunctionen vielleicht einen Beitrag zu liefern vermag.\nIch habe vorauszuschicken, dass ich die Versuche dieses Paragraphen zum weitaus gr\u00f6\u00dferen Theile an mir selber angestellt habe. Bei den Vorversuchen haben mir Herr Harlow Gale sowie einige andere Herren, denen ich an dieser Stelle meinen\u00bb besten Dank ausdr\u00fccken m\u00f6chte, mehrfach freundliche H\u00fclfe geleistet. Da aber die Versuche im Ganzen viele Zeit beanspruchen und zudem den einzelnen Theilnehmern gro\u00dfe und theilweise unausf\u00fchrbare Bel\u00e4stigungen auferlegen mussten, so glaubte ich von derartigen Zumuthungen absehen und mich im wesentlichen auf meine eigenen Beobachtungen beschr\u00e4nken zu m\u00fcssen. Wegen der Ver\u00e4nderungen, die das Geschmacksorgan in jedem einzelnen Falle erf\u00e4hrt, sowie wegen des oft l\u00e4ngere Zeit anhaltenden Nachgeschmacks habe ich an je einem der einzelnen Arbeitstage immer nur eine einzige Versuchsreihe angestellt. An diesen Tagen habe ich au\u00dferdem immer strenge Di\u00e4t gehalten und die Versuche zu immer gleichen Tageszeiten ausgef\u00fchrt. Die verwandten Geschmacksstoffe waren Kochsalz, Rohrzucker, Salzs\u00e4ure und Quassin1). Von diesen Substanzen hat mir Herr Dr. B\u00f6hrig mit gro\u00dfer Freundlichkeit in seinem Laboratorium stets einige concentrirtere L\u00f6sungen hergestellt, von denen ich mir die jeweils zu verwendenden Derivate leicht selber anfertigen konnte. Ich bemerke noch, dass ich die einzelnen Zuckerl\u00f6sungen vor jeder Versuchsreihe mit der sogenannten Fehling\u2019schen L\u00f6sung gepr\u00fcft habe.\nDie Application dieser Geschmacksreize erfolgte wie bei meinen fr\u00fcheren Versuchen mittelst eines Tropfrohres, welches Iccm Fl\u00fcssigkeit fasste und nach Zehntheilen von Cubikcentimetern eingetheilt war2). Als Schmeckstelle benutzte ich die Zungenr\u00e4nder, weil die\n1)\tDie Bekanntschaft mit diesem intensiv wirkenden Bitterstoff verdanke ich der freundlichen Mittheilung des Herrn Prof. Dr. Neumeister in Jena.\n2)\tDie verwandten Ma\u00dfinstrumente hat mir Herr Glasinstrumentenmacher G\u00f6tz in Leipzig f\u00fcr meinen Zweck gefertigt.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes,\t259\noben erw\u00e4hnten Unterschiede der Perceptionszeiten hier weniger st\u00f6ren und durch Zusatz von L\u00f6sung geringerer St\u00e4rken leicht ausglichen werden k\u00f6nnen.\nBei der Ausf\u00fchrung dieser Versuche hat man ferner eine genaue Scheidung zwischen Gef\u00fchlston und Empfindung zu machen. Will man die Gef\u00fchle untersuchen, so muss auch die Aufmerksamkeit ausschlie\u00dflich auf diese gerichtet sein, die Empfindung entzieht sich auf diese Weise mehr der Beobachtung. Soll aber umgekehrt die Empfindung beurtheilt werden, so hat man den dieselbe begleitenden Gef\u00fchlston au\u00dfer Acht zu lassen. Dass eine solche\no\nScheidung der subjectiven und objectiven Bewusstseinsinhalte nicht nur m\u00f6glich, sondern auch nothwendig ist, konnte ich nicht nur bei den in Rede stehenden Versuchen, sondern auch gerade bei der Untersuchung der innerhalb des Geschmackssinnes auftretenden Gef\u00fchle beobachten. Ich schicke voraus, dass ich die einzelnen Versuchspersonen im letzteren Falle an wies, nur auf den Gef\u00fchlston zu achten. Fragte ich nach Abgabe des Urtheils sodann, ob auch eine Intensit\u00e4ts\u00e4nderung der Empfindung eingetreten sei, so erhielt ich gemeinhin die Antwort: \u00bbDarauf habe ich nicht Acht gegeben.\u00ab Ebenso habe ich umgekehrt, ohne dass die Versuchspersonen die Absicht merkten, nach der eventuellen Ver\u00e4nderung des begleitenden Gef\u00fchls gefragt, wenn ich eine intensiv abgestufte Empfindungscurve aufzunehmen beabsichtigte. Ich erhielt auch in diesem Falle meistens die. gleiche Antwort. Lie\u00df ich diese Scheidung, wie dies bei einigen Versuchsreihen ebenfalls absichtlich geschah, au\u00dfer Betracht, so erhielt ich viel inconstantere Angaben. Es bedarf nach dem Vorstehenden kaum noch bemerkt zu werden, dass ich im vorliegenden Falle nur auf die Empfindungsalterationen die Aufmerksamkeit einstellte.\nDie Frage, oh die Componenten einer Mischung von Ge-schmacksstoffen an der ihnen urspr\u00fcnglich eigenen Intensit\u00e4t eine Einbu\u00dfe erleiden odej: nicht, ist, wie wir scheint, bereits durch Oehrwall\u2019s Ausf\u00fchrungen in gewissem Sinne bejahend beantwortet, trotzdem er die ganze Compensations- wie die Contrastlehre des Geschmackssinnes auf eine \u00bbunberechtigte Analogiefolgerung\u00ab aus den Erscheinungen des Farbensinnes zur\u00fcckzuf\u00fchren geneigt","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nFriedrich Kiesow.\nist1). Denn wenn derselbe hervorhebt, dass die Mischung von beispielsweise s\u00fc\u00dfen und bitteren Substanzen \u00bbsowohl s\u00fc\u00df und bitter, als auch nur eines von beiden\u00ab schmeckte2), so liegt in dieser letzten Angabe doch zweifellos das Zugest\u00e4ndniss einer wenigstens theilweisen Compensation der beiden Eindr\u00fccke. O ehr wall hat nur verabs\u00e4umt, diese Erscheinungen weiter zu verfolgen. Denn wenn die eine Componente einer Mischung die andere, wie er zugesteht, bis zur v\u00f6lligen Vernichtung aufzuheben vermag, so mussten die Fragen nahe liegen, ob nicht auch die diese Aufhebung des einen Eindrucks herbeif\u00fchrende andere Qualit\u00e4t abgeschw\u00e4cht w\u00fcrde und ob weiter durch die erstere nicht, je nach der Concentrationsstufe oder dem beigemengten Quantum derselben, eine gradweise Abschw\u00e4chung der letzteren zu erzielen m\u00f6glich sei. Mir scheint, dass schon die Erfahrungen des gew\u00f6hnlichen Lebens die M\u00f6glichkeit dieser Erscheinungen nahe legen, und Br\u00fccke hat gewiss nicht recht, wenn er, wie oben citirt wurde3), meint, dass in solchen F\u00e4llen die Geschmacksempfindung als solche nicht schw\u00e4cher werde. Ist uns z. B. eine Milchsuppe zu s\u00fc\u00df, so greifen wir fast instinctiv und automatisch zum Salzf\u00e4sschen, um den zu s\u00fc\u00df empfundenen Eindruck durch Zusatz von Salz in seiner Intensit\u00e4t abzud\u00e4mpfen.\nIn \u00e4hnlicher Weise verfahren wir bei anderen Geschmacksstoffen. Zweifellos kommt hierbei dem jedesmaligen Gef\u00fchlstone ein sehr \u00fcberwiegender Antheil zu, aber es ist ebenso gewiss, dass auch die betreffenden Empfindungen sich thats\u00e4chlich abschw\u00e4chen. Man braucht in dem angezogenen Beispiele nur allm\u00e4hlich mehr und mehr Salzkrystalle zuzusetzen und man wird beobachten, wie die anfangs stark s\u00fc\u00dfe Empfindung nach und nach an Intensit\u00e4t verliert, bis man eine Stufe erreicht, auf welcher das Salzige schlie\u00dflich derma\u00dfen \u00fcberwiegt, dass es nur noch allein empfunden wird, mithin die andere Qualit\u00e4t g\u00e4nzlich vernichtet hat.\n1)\ta. a. O. S. 26 u. 27.\n2)\ta. a. O. S. 26. Vergl. auch. S. 15 f. Wie sorgf\u00e4ltig Dr. Oehrwall bei\nseinen directen Versuchen verfahren ist, hoffe ich in einer sp\u00e4teren Ver\u00f6ffentlichung best\u00e4tigen zu k\u00f6nnen. Ich schicke voraus, dass ich wie er Papillen auf der Zungenoberfl\u00e4che |gefunden habe, welche thats\u00e4chlich nur bestimmten Geschmacksreizen angepasst zu sein scheinen.\t3) S. 257.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\t261\nEin analoges Verh\u00e4ltniss zwischen zwei Sinneseindr\u00fccken ist neuerdings von Zwaardemaker f\u00fcr den Geruchssinn beschrieben worden. Ich f\u00fcge diese Beobachtungen hier ein, weil der Geruchssinn in einer nahen Beziehung zum Geschmackssinne steht und weil namentlich die sehr sch\u00f6ne Bearbeitung, welche dieses Sinnesgebiet unl\u00e4ngst durch Zwaardemaker erfahren hat1), f\u00fcr mich eine Veranlassung wurde, die f\u00fcr den Geschmackssinn bereits festgestellten Verh\u00e4ltnisse hieraufhin nochmals durchzupr\u00fcfen.\nZwaardemaker konnte nun f\u00fcr den Geruchssinn das im allgemeinen schon Valentin2) bekannte Ph\u00e4nomen best\u00e4tigen, dass zwei qualitativ verschiedene, aber das Organ gleichzeitig treffende Geruchseindr\u00fccke nicht gleichzeitig zur Perception gelangen, sondern dass je nach dem Intensit\u00e4tsgrade derselben der eine Eindruck vor dem anderen empfunden wird und dass bei gleich intensiven Reizen, wie auch Ar,onsohn3) in einigen F\u00e4llen nachweisen konnte, ein Wettstreit in der Wahrnehmung dieser Eindr\u00fccke stattfinde4). Zwaardemaker\u2019s eigene Worte lauten hier\u00fcber unter anderen: \u00bbEinige vorl\u00e4ufige Versuche werden bereits beweisen, dass die meisten Ger\u00fcche nicht gleichzeitig gerochen werden k\u00f6nnen. Die Erwartung, dass einer physischen Mengung auch eine Vermengung der Wahrnehmungen entsprechen werde, wird nicht erf\u00fcllt, denn kaum eine einzige der Combinationen ergab eine zusammengesetzte Wahrnehmung\u00ab5 6 *). Obwohl der Verfasser, wie die Ausdr\u00fccke \u00bbmeistens\u00ab und \u00bbkaum\u00ab des vorstehenden Cit\u00e2tes erkennen lassen, diese Erscheinung wohl nicht ohne weiteres auf alle m\u00f6glichen Geruchs-combinationen \u00fcbertragen haben will8), so gewinnt diese Annahme doch dadurch sehr an Wahrscheinlichkeit, dass derselbe eine betr\u00e4chtliche Anzahl von Geruchssubstanzen hieraufhin untersucht hat und dass trotz seiner jahrelangen und vielseitigen Besch\u00e4f-\n1)\tZwaardemaker, Die Physiologie des Geruchs. Nach dem Manuscript \u00fcbersetzt von Dr. A. Junker von Lang egg. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann. 1895.\n2)\tLehrb. d. Physiol. 2. Auf!. Bd. II. 1848. Abth. II. S. 292.\n3)\tArchiv f\u00fcr Physiologie. 1886. S. 321.\n4)\tDie Physiologie des Geruchs. S. 165 ff.\n5)\tEbenda, S. 167.\n6)\tQb hier eine Ungenauigkeit in der Wiedergabe des deutschen Textes\nvorliegt, konnte ich nicht entscheiden.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nFriedrich Kiesow.\ntigung mit dem Gegenst\u00e4nde ein direct Gegenteiliges von ihm nicht erw\u00e4hnt wird. So lange demnach nicht positive Angaben dagegen sprechen, werden wir berechtigt sein, die hervorgehobene Zwaardemaker\u2019sche Einschr\u00e4nkung mehr als eine Sache der Vorsicht und nicht gerade als ein Zugest\u00e4ndniss anderer Eventualit\u00e4ten auffassen zu d\u00fcrfen. Es darf hierbei freilich nicht au\u00dfer Acht gelassen werden, dass die Grundqualit\u00e4ten der Geruchsempfindungen bedauerlicherweise immer noch nicht gefunden sind, und dass auch Zwaardemaker in Folge dessen gezwungen war, mit Substanzen von zusammengesetzter chemischer Constitution zu arbeiten1). Auf die qualitative Seite dieser Erscheinungen werden wir unten noch einmal zur\u00fcckkommen, was uns hier an Zwaarde-maker\u2019s Versuchen weiter interessirt, ist die von ihm constatirte Thatsache, dass er zwei Ger\u00fcche so vermengen konnte, dass nicht nur, wie dies seit langer Zeit bekannt und auch beim Geschmackssinne der Fall ist, ein st\u00e4rkerer Eindruck einen schw\u00e4cheren verdr\u00e4ngte, sondern dass er dieselben mittelst der von ihm erfundenen Riechmesser so gegen einander abstufen konnte, dass die beiden Qualit\u00e4ten bis zur v\u00f6lligen Vernichtung aufgehoben wurden. Dies war nicht nur der Fall, wenn er beide Geruchsstoffe in ein und dasselbe Nasenloch leitete, sondern auch, wenn dieselben mit H\u00fclfe des doppelten Riechmessers getrennt, durch je eines der beiden Nasenl\u00f6cher dem betreffenden Sinnesepithel zugef\u00fchrt wurden. Aus Zwaardemaker\u2019s eigenen Aufzeichnungen entnehme ich hierf\u00fcr folgende Belege: \u00bbJe nachdem ein oder der andere Reiz \u00fcberwog, bemerkte man entweder den einen oder den anderen Geruch, und wenn sie sehr genau mit einander aufgewogen wurden, empfing man im Ganzen gar keine Wahrnehmung oder einen sehr schwachen, unbestimmten Eindruck, der nur bei gro\u00dfer Aufmerksamkeit bemerkbar wurde und mit keinem der Componenten \u00fcbereinstimmte\u00ab2). \u00bbMan kann sogar ziemlich starke Reize anwenden, ohne eine gemischte Wahrnehmung zu erzeugen. Es wird entweder der eine oder der andere Geruch mehr oder weniger\n1)\tVergl. meine Besprechung des Zwaardemaker\u2019schen Werkes in der Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. X, S. 450 ff.\n2)\ta. a. O. S. 167.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\t263\ndeutlich hervortreten. Ist endlich das richtige Verh\u00e4ltniss gefunden, so versp\u00fcrt man nicht l\u00e4nger den geringsten Geruch. Die Elimi-nirung der Wahrnehmung ist daher absolut\u00ab1). \u00bbEs ist jedoch m\u00f6glich, unter den verschiedenen Combinationen\u00ab (von 2^ Essigs\u00e4ure und \\% Ammoniakl\u00f6sung) \u00bbsolche zu finden, bei welchen keiner der beiden Ger\u00fcche ein besonderes Uebergewicht gewinnt, wobei man h\u00f6chstens einen schwachen Geruch von einer der beiden Arten bemerkt; ja es wird sogar gelingen, schlie\u00dflich ein Verh\u00e4ltniss zu finden, bei welchem man mit beiden Nasenl\u00f6chern riechend nichts wahrnimmt, absolut keinen Eindruck empfindet. Dies wird auch dann noch g\u00fcltig bleiben, wenn man sehr kr\u00e4ftige Reize combinirt, von welchen jeder f\u00fcr sich allein einen starken Eindruck gemacht haben w\u00fcrde\u00ab2).\nNach dem Vorstehenden wird man die im ersten Cit\u00e2t als unbestimmt charakterisirte Empfindungsresultante kaum als Geruchsempfindung aufzufassen haben. Wir haben somit nach diesen Angaben f\u00fcr den Geruchssinn ein Sinnesorgan zu constatiren, welches die v\u00f6llige Compensation zweier Eindr\u00fccke zul\u00e4sst, ohne dass aus diesem Vorg\u00e4nge eine neue Qualit\u00e4t resultirt. Nach unserer bisherigen Kenntniss ist dieses eine im Gebiete s\u00e4mmtlicher Sinnesfunctionen einzig dastehende Erscheinung; denn auch das Wei\u00df bez. Grau des Farbencomplementarismus bleibt subjectiv so gut eine Farbenqualit\u00e4t, wie jeder andere Lichteindruck. Dazu kommt, dass es sich bei diesen Vorg\u00e4ngen nicht wie bei den Comple-ment\u00e4rfarben um Gegenempfindungen handelt; denn Zwaarde-maker fand, dass der Geruch des Kautschuks z. B. sowohl eine Compensation mit demjenigen von Cedernholz, wie mit dem von Benzo\u00eb, Paraffin, Wachs und Tolubalsam einging, wie dass andererseits Wachs und Tolubalsam wie Paraffin und Wachs sich gegenseitig compensirten3). Diese Erscheinungen sind demnach mit denen der Farbenlehre unvergleichbar. Es entsteht nunmehr aber die Frage, ob nicht der Geschmackssinn, der zu dem Geruchssinn in so naher Beziehung steht, dass nach Willibald Nagel4) die\n1) a. a. S. 170.\t2) a. a. O. S. 171.\t3) a. a. O. S. 168.\n4) Untersuchungen \u00fcber den Geruchs- und Geschmackssinn etc. 1894. Bibliotheca zoologica. Heft 18. S. 49\u201462.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nFriedrich Kiesow.\nFunctionen beider Sinnesorgane auf niederen Thierstufen in eine einzige zusammenfallen sollen, \u00e4hnliche Erscheinungen aufweist, d. h. ob auch hier zwei Eindr\u00fccke derartig gegen einander wirken k\u00f6nnen, dass daraus f\u00fcr die Empfindung ein reines Nichts resultirt. Wir k\u00f6nnen diese Stufe als ein Indifferenzstadium bezeichnen, dessen Ueberschreiten nach der einen oder anderen Richtung hin ein Ueber-wiegen je eines der beiden Eindr\u00fccke bedingen w\u00fcrde. Zwaarde-maker scheint einen solchen indifferenten Empfindungspunkt bei zwei Geschmacksreizen anzunehmen; denn er verweist in seiner Darstellung auf \u00bbeinige Analogie mit der besser bekannten Compensation der Geschmacksempfindungen\u00ab >). Trotz der Bewunde-rung, die ich seinen Arbeiten entgegenbringen muss und die ich bereits an anderem Orte geb\u00fchrend zum Ausdrucke gebracht habe 2), kann ich jedoch an dieser Stelle die Bemerkung nicht unterdr\u00fccken, dass ich die Quellen, aus denen der Yerf. diese Angaben gesch\u00f6pft haben mag, nicht gefunden habe.\nAm einfachsten kann man diese Versuche anstellen, wenn man zu einer Geschmacksfl\u00fcssigkeit kleine Mengen eines chemisch reinen Stoffes einer anderen Qualit\u00e4t in fester Form zusetzt. Man genie\u00dft hierbei des Vortheils, dass man, wenn die fragliche Indifferenzstufe versehentlich bereits \u00fcberschritten sein sollte, durch Zusatz der gerade verwandten L\u00f6sung des Grundstoffes wiederum leicht auf die andere Seite desselben gelangen kann. Diese Versuche k\u00f6nnen nat\u00fcrlich nicht den W\u00fcrth exacter Messungen beanspruchen, sondern k\u00f6nnen nur vorl\u00e4ufigen Zwecken dienen, es m\u00fcsste aber doch zu hoffen sein, dass man auch auf diese Weise zum Ziele k\u00e4me, wenn das Ph\u00e4nomen \u00fcberhaupt besteht. Combi-niren wir so je zwei der Grundgeschm\u00e4cke, so erhalten wir folgende sechs Versuchsreihen, in denen sich der Indifferenzpunkt m\u00fcsste nachweisen lassen: 1. S\u00fc\u00df und Salz, 2. S\u00fc\u00df und Sauer, 3. S\u00fc\u00df Bitter, 4. Salz und Sauer, 5. Salz und Bitter, 6. Sauer und Bitter. Ich habe auf diese Versuche sehr viel M\u00fche verwandt und dieselben ebenso wie die weiter unten besprochenen, die nach einer messenden Methode ausgef\u00fchrt wurden, w\u00fceder und wieder gepr\u00fcft, bis ich mich entschlossen habe, dieselben zu ver\u00f6ffentlichen, so\n1) a. a. O. S. 172.\n2) Vergl. S. 262- Anmerk. 1.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\t265\ndass ich trotz des hervorgehobenen Nachtheils, dieselben gr\u00f6\u00dften-theils an mir allein angestellt zu haben, dennoch glaube, dass dieselben auf \u00eainige Zuverl\u00e4ssigkeit Anspruch erheben d\u00fcrften. Ich kam aber zu dem Ergebnisse, dass ich eine Stufe, auf welcher innerhalb der erw\u00e4hnten Gemenge die Empfindung wie bei den Zwaardemaker\u2019schen GeTuchspr\u00fcfungen v\u00f6llig gleich Null wird, d. h. die beiden combinirten Qualit\u00e4ten sich gegenseitig derart beeinflussen, dass ein absolutes Nichts daraus resultirt, niemals und in keiner der angegebenen sechs Versuchsreihen habe finden k\u00f6nnen. Dagegen vermag ich bei diesen Comhinationen deutlich zu erkennen, dass je zwei combinirte Empfindungen, von welcher Qualit\u00e4t dieselben auch sein m\u00f6gen, sich nach der intensiven Seite hin ahschw\u00e4chen, obwohl diese abschw\u00e4chende Wirkung bei den einzelnen Qualit\u00e4ten nicht gleich stark ist, sondern bei der einen intensiver als bei der anderen auftritt. Die Intensit\u00e4t einer Mischempfindung entspricht somit nicht einer Summe der St\u00e4rkegrade der in sie eingehenden Empfindungselemente.\nHervorzuheben habe ich hier jedoch eine Beobachtung, die Herr Professor Wundt an sich selber machte und die er mir freundlichst mittheilte. Derselbe that zu einer Tasse Cacao allm\u00e4hlich Zucker in trockenem pulverisirten Zustande, bis er an eine Stufe kam, auf der die Empfindung thats\u00e4chlich gleich Null wurde, das Indifferenzstadium also erreicht war. Herr Dr. Brahn theilte mir mit, dass auch er die gleiche Beobachtung mehrfach best\u00e4tigen konnte, auch hei ihm hatten sich das Bittere des Cacao und das S\u00fc\u00dfe des Zuckers bis zur v\u00f6lligen Vernichtung gegenseitig aufgehoben. Ich habe diesen Versuch mehrfach wiederholt und konnte die abschw\u00e4chende Wirkung beider Componenten gegeneinander mehrere Male so deutlich wahrnehmen, dass ich oft glaubte, der Indifferenzstufe sehr nahe zu sein. Aber ebenso leicht war dieselbe in jedem Falle \u00fcberschritten, so dass doch wieder der eine oder der andere Geschmack aus der Mischung leicht hervortrat. Auch hier machen sich demnach die ziemlich betr\u00e4chtlichen individuellen Unterschiede in unserem Sinnesgehiete bemerkbar, so dass ich trotz der angewandten Vorsichtsma\u00dfregel kaum erwarten darf, mit dieser Ver\u00f6ffentlichung endg\u00fcltige Facta festgestellt zu","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nFriedrich Kiesow.\nhaben. Erinnert sei aber f\u00fcr den vorstehenden Versuch noch daran, dass der Cacao kein einfacher K\u00f6rper ist.\nBei einer Combination von Qua&siin und Rohrzucker gelang mir die Compensation nicht bis zu diesem Grade der Abschw\u00e4chung. Eine \u00e4hnliche Abschw\u00e4chung bis zu fast v\u00f6lliger Indifferenz fand ich bei den Gemengen von Salz und Sauer, sowie bei Sauer und Bitter, doch ist mit Nachdruck hervorzuheben, dass dieselbe am besten immer nur bei niederen Concentrationsstufen der betreffenden L\u00f6sungen stattfand. Den geringsten Grad der Compensation konnte ich bei einer Mischung von S\u00fc\u00df und Sauer, den st\u00e4rksten hei einer solchen von S\u00fc\u00df und Salz beobachten. Im letzteren Falle ist es mir thats\u00e4chlich mehrfach gelungen, beide Qualit\u00e4ten aufzuheben. Aber da hierbei zugleich qualitative Ver\u00e4nderungen auftraten, so kann man doch nicht sagen, dass die resultirende Empfindung im Zwaardemaker\u2019schen Sinne gleich Null und damit ein v\u00f6lliges Indifferenzstadium des Geschmacks gefunden sei1).\nThat ich zu einer Concentrationsstufe von S\u00fc\u00df, die meiner Reizschwelle f\u00fcr diese Geschmacksqualit\u00e4t am Zungenrande entspricht, einige Salzk\u00f6rner, so erreichte ich oft ein Stadium, auf welchem in der Mischung die beiden an sich deutlich percipirbaren Empfindungen sich gegenseitig so gut wie neutralisirt hatten. Mit Anstrengung der Aufmerksamkeit konnte ich in dieser Mischung das S\u00fc\u00df nicht l\u00e4nger wahrnehmen und ebenso war das Eigenth\u00fcmliche des salzigen Geschmacks v\u00f6llig verschwunden und an die Stelle dieser beiden Qualit\u00e4ten war eine Empfindung getreten, die ich am besten mit dem Ausdruck \u00bbfade\u00ab bezeichnen m\u00f6chte und die man dem unbestimmt Laugigen, das man bei gro\u00dfer Verd\u00fcnnung von Kali- und Natronlauge erh\u00e4lt, vergleichen k\u00f6nnte. Die Empfindung ist nicht gleich Null, sie entspricht auch nicht v\u00f6llig derjenigen des destil-lirten Wassers, sondern ist von so eigenartig neuer Qualit\u00e4t, dass sie unwissentlich schwer definirbar und eben in der angegebenen Weise am geeignetsten zu bezeichnen ist. Dieselbe Erscheinung haben mir mehrere Versuchspersonen best\u00e4tigt. Diesen Charakter beh\u00e4lt\n1) Dass neben der intensiven Abschw\u00e4chung bei allen untersuchten Com-binationen zugleich qualitative Ver\u00e4nderungen auftreten, ist weiter unten behandelt.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n267\ndie Mischung auch, wenn man in der Reihe der Concentrationen einige Stufen aufw\u00e4rts steigt. Jch konnte diese neue Qualit\u00e4t noch bei Zuckerl\u00f6sungen von 1, 2 und mehrfach deutlich beobachten. Bei einigen Controlversuchen, die ich, bereits am Abschl\u00fcsse der Untersuchungen angelangt, an Herrn Hanschmann anstellte, konnte ich diese Erscheinung bis zu 4proc. Zuckerl\u00f6sungen ebenso sicher constatiren. Ajif h\u00f6heren Stufen erkennt man mit stets wachsender Intensit\u00e4t immer wieder und immer deutlicher die beiden Componenten, -doch in so eigenartiger F\u00e4rbung, dass das erw\u00e4hnte Laugenhafte gewisserma\u00dfen den Grundgeschmack bildet, aus dem die Einzelempfindungen heraust\u00f6nen. Auf diese Eigenart einer Combination von S\u00fc\u00df und Salz hat mich Herr Professor Wundt\ni\nzuerst aufmerksam gemacht. Ich f\u00fcge diese Bemerkung an dieser Stelle mit um so gr\u00f6\u00dferem Danke ein, als dieselbe der ganzen hier behandelten Frage die Richtung gegeben hat und Herr Professor Wundt au\u00dfer dem lebhaften Interesse, das er derselben stetig entgegenbrachte, nicht m\u00fcde geworden ist, mich zu immer neuen Versuchen anzuregen und zu ermuthigen. Auch sind mir die innerhalb der S\u00fc\u00df-Salzreihe gefundenen Resultate, wie ich sie namentlich mittelst der unten beschriebenen messenden Methode gewann, von demselben durchaus best\u00e4tigt worden.\nWie bereits oben hervorgehoben wurde, wirken die einzelnen Qualit\u00e4ten in den Gemengen nicht mit gleicher Intensit\u00e4t gegeneinander, sondern die eine Qualit\u00e4t zeigt hierbei eine gr\u00f6\u00dfere Energie als die andere. So wirkt Salz intensiver auf S\u00fc\u00df, als umgekehrt. Im selben Sinne wirkt Salz auf einigen Stufen st\u00e4rker auf Sauer und Bitter ein, als die letzteren Qualit\u00e4ten auf das Salzige. In gleicher Weise ist die Wirkung des Sauren auf S\u00fc\u00df und namentlich auf Bitter eine intensivere, als im umgekehrten Falle, w\u00e4hrend in einer Combination von S\u00fc\u00df und Bitter die Wirkung der beiden Componenten wenigstens auf unteren Stufen ziemlich die gleiche ist. Auf mittleren Concentrationsstufen scheint nach meinen Resultaten das S\u00fc\u00dfe, auf den h\u00f6chsten dagegen wieder das Bittere leicht zu \u00fcberwiegen. Worauf diese Erscheinungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, will ich nicht im Einzelnen entscheiden, doch bin ich geneigt anzunehmen, dass zum Zustandekommen derselben einerseits der","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nFriedrich Kiesow.\nst\u00e4rkeren Tastempfindung, die namentlich Salz und Sauer begleitet1), wie andererseits der verschieden langen Nachdauer der einzelnen Qualit\u00e4ten ein hervorragender Antheil zuzuschreiben ist.\nUm diese soeben dargelegten Verh\u00e4ltnisse einer exacteren Methode zu unterwerfen, habe ich die Versuche innerhalb der mehrfach erw\u00e4hnten 6 Combinationsreihen dahin abge\u00e4ndert, dass ich in ein constant gehaltene* Fl\u00fcssigkeitsquantum ,einer bestimmten Con-centrationsstufe einer Empfindungsqualit\u00e4t (beispielsweise S\u00fc\u00df) von 0,5 ccm allm\u00e4hlich kleine Mengen der gleichen L\u00f6sungsstufe einer anderen Qualit\u00e4t (z. B. Salz) that, darauf diese Fl\u00fcssigkeiten hinreichend miteinander vermischte und nun den Versuch anstellte. Darauf wurden die gleichen Quanta in eine jedem einzelnen Falle angepasste Menge destillirten Wassers gethan und so die Wirkung jeder Componente controlirt. Gebrauchte ich, um dies deutlicher auszuf\u00fchren, z. B. 0,15 ccm Salzl\u00f6sung, um 0,5 ccm einer Zuckerl\u00f6sung zu compensiren, so controllirte ich die Wirkung des salzigen Geschmacks, indem ich das gleiche Quantum der Salzl\u00f6sung in 0,5 ccm destillirten Wassers that, und die des s\u00fc\u00dfen, indem ich 0,5 ccm dieser L\u00f6sung zu 0,15 ccm destillirten Wassers setzte. Auf diese Weise musste sich die abschw\u00e4chende Wirkung der einzelnem Componenten, die in der Resultante zum Ausdrucke kam, leicht und deutlich darthun lassen. Dass zwischen den Einzelversuchen der\nMund gesp\u00fclt wurde und hinreichend Zeit verfloss, um den Nach-\n* '\ngeschmack g\u00e4nzlich aufh\u00f6ren zu lassen, bedarf wohl kaum der Erw\u00e4hnung.\nAuf die Untersuchung der S\u00fc\u00df-Salzreihe habe ich eine besondere Sorgfalt verwandt. Ich theile aus diesen Versuchen im Folgenden einige Reihen mit, die das besprochene Ph\u00e4nomen deutlich veranschaulichen m\u00f6gen.\n1) Es konnte bereits nachgewiesen werden, dass alle unsere Geschmacksempfindungen von Tasteindr\u00fccken, obwohl im einzelnen von verschiedener Intensit\u00e4t, begleitet sind. Phil. Stud. X, S. 524.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n269\n1)\tRohrzucker \\%\t\tKochsalz \\%\n\t0,5 ccm\t0,1 ccm\t= S\u00fc\u00df \u00fcberwiegt\n\t0,5 \u00bb\t0,15 \u00bb\t= ebenso\n\t0,5 \u00bb\t0,2 \u00bb\t= schwaches Ueberwiegen von S\u00fc\u00df\n\t0,5 *\t0,25 \u00bb\t= fade, laugig\n\t0,5 \u00bb\t0,3\t>\t= Salz \u00fcberwiegt schwach.\n2)\tRohrzucker 2%\t\tKochsalz \u00ef%\n\t0,5 ccm\t0,1 ccm\t\u2014 S\u00fc\u00df \u00fcberwiegt deutlich\n\t0,5 \u00bb\t0,15 \u00bb\t= ebenso\n\t0,5 \u00bb\t0,2 \u00bb\t= laugig fade, vielleicht ein schwaches Durchklingen von Salz\n\t0,5 \u00bb\t0,25 \u00bb\t= Salz klingt deutlich durch.\n3)\tRohrzucker 4X\t\tKochsalz 4%\n\t0,5 ccm\t0,05 ccm\t\u2014 s\u00fc\u00dflich\n\t0,5 \u00bb\t0,1 \u00bb\t= fade, keine Qualit\u00e4t bemerkbar\n\t0,5 \u00bb\t0,15\t= schwache Andeutung von Salz.\n4)\tRohrzucker ()%\t\tKochsalz 6X\n\t0,5 ccm\t0,05 ccm\t= s\u00fc\u00dflich mit eigenartiger F\u00e4rbung\n\t0,5 \u00bb\t0,1 \u00bb\t= laugig fader Grundgeschmack, aus dem beide Qualit\u00e4ten leicht hervortreten\n\t0,5 \u00bb\t0,15 \u00bb\t= Salz tritt deutlich st\u00e4rker aus der Mischung hervor, deutliche Abschw\u00e4chung beider Componenten.\n5)\tRohrzucker 8X\t\tKochsalz 8X\n\t0,5 ccm\t0,05 ccm\t= S\u00fc\u00df \u00fcberwiegt,\n\t0,5\t>\t0,075 \u00bb\t= salzig laugig, zugleich ein wenig s\u00fc\u00df\n\t0,5 \u00bb\t0,1 \u00bb\t= Salz tritt st\u00e4rker aus dem Grundgeschmack hervor, beide Componenten sind stark abgeschw\u00e4cht.\n6)\tRohrzucker 10X\t\tKochsalz 10X\n\t0,5 ccm\t0,02 ccm\t= S\u00fc\u00df \u00fcberwiegt\n\t0,5 \u00bb\t0,025 \u00bb\t= ebenso\n\t0,5 \u00bb\t0,03\t>\t= beide Qualit\u00e4ten klingen abgeschw\u00e4cht durch\n\t0,5 \u00bb\t0,05\t\u00bb\t= Salz klingt st\u00e4rker durch.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nFriedrich Kiesow.\nUm die starke abschw\u00e4chende Wirkung der beiden Componenten sehr deutlich zu erkennen, habe ich mehrere Versuche mit einer Mischung ausgefiihrt, die aus einer 40proc. Zucker- und aus einer 20proc. Salzl\u00f6sung zusammengesetzt wurde. Ich theile hier\u00fcber die folgende Versuchsreihe aus meinen Protocollen mit:\nRohrzucker 40X 0,5 ccm\n0,5 \u00bb\n0,5 \u00bb\nKochsalz 20X\n0,3 ccm = eigent\u00fcmlich gef\u00e4rbte Misch-\u00ab\tempfindung, in der S\u00fc\u00df vorherrscht.\n0,35 \u00bb\t= neben dem S\u00fc\u00dfen klingt bereits\nauch Salz leicht aus der Mischung heraus, beide Componenten sind jedoch stark abgeschw\u00e4cht.\n0,4 \u00bb\t= Salz klingt bedeutend st\u00e4rker aus\ndem Grundgeschmack neben S\u00fc\u00df hervor.\nIn* \u00e4hnlicher Weise habe ich die \u00fcbriger* Combinationsreihen in den verschiedensten Concentrationsstufen durchgepr\u00fcft. Da ich aber auch auf diese Weise zu den gleichen Ergebnissen gelangte, die ich oben bereits im allgemeinen dargestellt habe, und da Einzelangaben hier au\u00dferdem nur einen sehr allgemeinen Werth beanspruchen k\u00f6nnen, so beschr\u00e4nke ich mich auf diese Mittheilungen. Bemerkt sei hierzu noch1, dass die erhaltenen Resultate sich stetig verschieben m\u00fcssen, je nachdem man die zu mischenden Concentrationsstufen der beiden gerade verwandten Stoffe ver\u00e4ndert oder je nachdem man etwa zu einer schw\u00e4cheren L\u00f6sung der einen Substanz eine mehr oder minder intensivere der andern mischt. Will man demnach nicht mit der Combination von Salz und S\u00fc\u00df eine Ausnahme machen, so muss ich Oehrwall1) zustimmen, dass in dieser Beziehung innerhalb des Geschmackssinnes Verh\u00e4ltnisse, die denen der Gegenfarben analog w\u00e4ren, nicht bestehen. Es kann aber andererseits ebenso wenig geleugnet werden, dass die Qualit\u00e4ten sich gegenseitig abschw\u00e4chen, so dass eine theilweise Compensation in diesem Sinnesgebiete vorhanden ist. Eine Analogie f\u00fcr dieselbe ist aber nicht beim Gesichtssinne, sondern, wie oben hervorgehoben, beim Geruchssinne zu suchen.\n1) Skandin. Arch. f. Physiol. II. S. 25.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\t271\nWenn nun aber in den Beobachtungen, die \u00fcber Combinationen von Geruchsempfindungen angestellt wurden, ausdr\u00fccklich hervorgehoben wird, dass die in die Mischung eingehenden Empfindungselemente keine eigentliche Verschmelzung miteinander eingehen, sondern f\u00fcr die Wahrnehmung in einen Wettstreit gerathen1), so liegen die Verh\u00e4ltnisse beim Geschmackssinne bereits wesentlich folders. Ich habe einen solchen Wettstreit zweier Empfindungen bei den einzelnen Combinationen zweier Geschmacksstoffe freilich ebenfalls mehrfach beobachten k\u00f6nnen und diese Erscheinung ist mir von mehreren Beobachtern best\u00e4tigt worden, aber im allgemeinen und in den meisten F\u00e4llen liegen die Verh\u00e4ltnisse hier doch so, dass die einzelnen Empfindungselemente zu einem abgerundeten Ganzen verschmelzen, aus dem nur die in eine solche Verschmelzung eingegangenen Componenten erkennbar heraust\u00f6nen. Es entsteht auf diese Weise f\u00fcr die Wahrnehmung, was wir gew\u00f6hnlich als einen Miscbgeschmack bezeichnen. Derselbe ist dann aber nicht nur gleich einer Summe zweier an sich unvergleichbarer Qualit\u00e4ten, sondern es resultirt daraus zugleich bei allen Combinationen ein qualitativ Neues, das in die erzeugte Mischung als Grundgeschmack eingeht, aus dem man dann die denselben verursachenden Einzelempfindungen je nach der verwandten L\u00f6sungsstufe der letzteren herauserkennt. Dieser resultirende Grundgeschmack ist bei den Mischungen von Salzig und S\u00fc\u00df, sowie bei denjenigen von Salzig und Sauer und Sauer und Bitter von so eigenartig qualitativer F\u00e4rbung, dass man daf\u00fcr gar keine Bezeichnungen finden kann. Bei den anderen Zusammensetzungen k\u00f6nnen wir diese Bezeichnungen wenigstens Stoffen entlehnen, f\u00fcr deren Geschmack die Sprache bereits solche vorbereitet hat. Wir sprechen von einem s\u00fc\u00dfsauren, einem bitters\u00fc\u00dfen, einem bittersalzigen Geschmack und associiren denselben mit der Wahrnehmung bestimmter Substanzen aus dem Pflanzen- und Mineralreiche, die uns denselben verursachen k\u00f6nnen, aber wir sprechen eigentlich nicht von einem salzs\u00fc\u00dfen, salzsauren und bittersauren Geschmack. Alle diese Erscheinungen entsprechen\n1) Zwaardemaker, a. a, O. S. 166 u. 167. Wie weit diese Beobachtungen allseitige Bedeutung haben, d\u00fcrfte freilich noch einer besonderen Untersuchung werth sein.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n18","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nFriedrich Kiesow.\ndurchaus denjenigen, die Wundt der Darstellung seiner Empfindungslehre zu Grunde gelegt und in seinen Werken ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert hat. Mir scheint aber, dass Wundt diese Verh\u00e4ltnisse auch im Gebiete des Geschmackssinnes in gleicher Weise bereits fr\u00fcher erkannt haben muss, wenigstens kann ich die folgende Stelle aus seiner \u00bbMenschen- und Thierseele\u00ab nur im angegebenen Sinne verstehen. Es hei\u00dft dort S. 69: \u00bbWenn wir alles ausscheiden, wa^ nicht dem Geschmackssinne selbst zugeh\u00f6rt, so bleiben wohl nur sechs scharf geschiedene Empfindungen \u00fcbrig: das S\u00fc\u00dfe, das Saure, das Laugenhafte oder Alkalische, das Metallische1), das Bittere und das Salzige. Es ist damit nicht gesagt, dass diese sechs die einzigen Geschmacksempfindungen \u00fcberhaupt seien. Wir k\u00f6nnen ja offenbar, indem wir z. B. S\u00fc\u00df und Bitter vereinigen, einen Geschmack erzeugen, der weder s\u00fc\u00df noch bitter ist, obgleich er von beiden etwas hat. Die Empfindung scheint daher in diesem Fall eine Mischempfindung, keine qualitativ einfache Empfindung zu sein.\u00ab Andere Beobachtungen dieser Verh\u00e4ltnisse sind mir nicht bekannt geworden. Ich f\u00fcge hinzu, dass mir auch diese Erscheinung von mehreren Beobachtern, an denen ich diese Versuche controliren durfte, durchaus best\u00e4tigt wurde.\nSuchen wir f\u00fcr diese Verh\u00e4ltnisse bei den anderen Sinnesgebieten nach Analogien, so ergibt sich, dass man dieselben sowohl der Verschmelzung von einfachen Tonempfindungen, wie den sogenannten Mischfarben des Gesichtssinnes vergleichen, obwohl mit denselben nicht identificiren darf. Aus der zusammengesetzten Tonempfindung pflegt das ge\u00fcbte Ohr ebenfalls die Partialt\u00f6ne herauszuh\u00f6ren, und dies ist um so mehr der Fall, je einfacher eine Zusammensetzung ist, d. h. je geringer die Anzahl der Elemente ist, die in dieselbe eingehen. Ebenso erkennen wir bei vielen Farbencombinationen die Componenten, aus welchen dieselben gebildet sind. Aus dem Hering\u2019schen \u00bbBoth\u00ab erkennt jedes einigerma\u00dfen ge\u00fcbte Auge die Farben heraus, welche den Purpur ton desselben zusammensetzen. Fassen wir das Schwarz als subjective\n1) Ueber den alkalischen und metallischen Geschmack hat Wundt seine Anschauung in seiner neuesten Darstellung modifient. Vergl. Grundriss der Psychologie. S. 63.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\t273\nQualit\u00e4t auf, so erkennen wir aus den verschiedenen Abstufungen des Braun die einzelnen intensit\u00e4tsgrade, die dasselbe in der Combination mit dem Orange eingegangen ist. So ist es in vielen anderen F\u00e4llen. Man macht hiervon sogar in der Kunst wie in Technik vielseitigen Gebrauch. Es w\u00e4re um die Malerei z. B. schlecht bestellt, wenn der aus\u00fcbende K\u00fcnstler die Componenten, welche die Farbe seines darzustellenden Gegenstandes zusammensetzen, nicht erkennen w\u00fcrde. Dabei ist aber immer wieder anzuerkennen, dass die Verschmelzung au\u00dfer der als fade bezeicbneten Besultante bei niederen L\u00f6sungsstufen von S\u00fc\u00df und Salz keine so vollst\u00e4ndige, ist, wie hei den Farben. Au\u00dferdem werden wir heim\nSz\n\u2022 BrSz\nBrSr\nSs Sr\nIn dieser Figur bedeutet Sz Salz, Ss S\u00fc\u00df, Sr Sauer und Br Bitter; dementsprechend bedeutet Sz Sr Salzsauer, Ss Sr S\u00fc\u00dfsauer etc.\nGeschmackssinne in der Erkennung der in eine Mischung eingehenden Elemente einmal darin unterst\u00fctzt, dass die Anzahl der Empfindungsqualit\u00e4ten hier eine geringere ist, zum anderen aj)er auch dadurch, dass die t\u00e4gliche Aufnahme der Nahrung uns hierbei in stetiger Uebung erh\u00e4lt.\nEine Zusammenfassung des soeben dargelegten Thatbestandes f\u00fchrt uns somit zu dem Ergebnisse, dass f\u00fcr unser Sinnesgehiet zwar noch gewisse Beziehungen zu dem Geruchssinne nachweisbar\n18*","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nFriedrich Kiesow.\nsind, dass dasselbe aber, wenn nicht weitere Untersuchungen uns anders belehren werden, im Ganzen demselben gegen\u00fcber psychologisch einen Fortschritt bedeutet, dass dasselbe weiter gewisse Analogien zu den beiden h\u00f6heren Sinnen des Geh\u00f6rs und des Gesichts aufweist, dass aber die resultirende Verschmelzung seiner Empfindungsqualit\u00e4ten in der Vollst\u00e4ndigkeit hinter derjenigen der Farben zur\u00fcckbleibt und somit Verh\u00e4ltnisse aufweist, die eine durchaus selbst\u00e4ndige W\u00fcrdigung beanspruchen.\nSuchen wir diese Erscheinungen in ein Schema zu bringen, so d\u00fcrfte sich uns f\u00fcr die Geschmacksempfindungen und ihre Com-binationen ein zweidimensionales System ergeben, das, wie die nebenstehende Figur zeigt, in Form eines Kreises auf der Peripherie die vier Grundqualit\u00e4ten und ihre Combinationen tr\u00e4gt. Die Vereinigung der gegen\u00fcberliegenden Grundgeschm\u00e4cke w\u00fcrden sodann theils die eigenth\u00fcmlich neue neutrale Qualit\u00e4t des Laugigfaden und der \u00fcbrigen salzs\u00fc\u00dfen Mischungen, theils die Mischung von Bittersauer ergeben1).\nIn der neutralen Qualit\u00e4t des Laugigfaden, die sich bei niederen Concentrationsstufen von Salz und S\u00fc\u00df ergibt, haben wir vielleicht eine Vorstufe und Andeutung eines Complementarismus, wie derselbe bei den sogenannten Gegenfarben seine gr\u00f6\u00dfte Vollkommenheit erreicht, zu erkennen. Da S\u00fc\u00df und Salz sich au\u00dferdem contrastirend zu einander verhalten, so k\u00f6nnte man hier vielleicht von Gegen-geschm\u00e4cken reden.\nDer oben erw\u00e4hnte Wettstreit der Empfindungen macht sich besonders auf der Zungenspitze bemerkbar, wenn man den Unterschied zwischen den Perceptionszeiten derselben durch verst\u00e4rkte Concentrationsstufen fast ausgeglichen hat. An den Zungenr\u00e4ndern, auf welchen Stellen dieser Unterschied kein so erheblicher ist, konnte ich diese Erscheinung weniger oft beobachten.\n1) Herr Prof. Wundt hat diese Auffassung nach meinen Untersuchungen bereits in seinem soeben erschienenen \u00bbGrundriss der Psychologie\u00ab verwerthet (S. 63).","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n275\n\u00a7 5. Ueber den Nachgeschmack.\n*\nAuch die Beobachtung, dass manche Substanzen ihren Geschmack l\u00e4ngere Zeit im Munde zur\u00fccklassen, ist die Veranlassung gewesen, dass man beim Geschmackssinne ein dem Gesichtssinne analoges Verhalten vermuthet hat. Man glaubte in dem Nachgeschm\u00e4cke ein den Nachbildern \u00e4hnliches zu erblicken. Unterst\u00fctzt wurde diese Vermuthung noch dadurch, dass man neben dem gleichen Eindr\u00fccke, den die meisten Schmeckstoffe zur\u00fccklassen, auch solche Empfindungen beobachtete, die von dem urspr\u00fcnglichen Reize verschieden waren. Diese Erscheinungen wurden dann im Sinne der gleichfarbigen und complement\u00e4ren Nachbilder des Auges gedeutet. So hatte Horn beobachtet, dass der Nachgeschmack gew\u00f6hnlich bitter sei und dass alle gerbstoffhaltigen Substanzen besonders einen s\u00fc\u00dfen Eindruck als Nachgeschmack hinterlie\u00dfen. Von diesen Beobachtungen ausgehend, haben dann die namhaftesten Forscher das Ph\u00e4nomen best\u00e4tigt gefunden (Joh. M\u00fcller2), Funke-Gr\u00fcnhagen3), Bidder4), Wagner5), Valentin6), Ur-bantschitsch7) u. a.). Bei Wagner5) hei\u00dft es z. B.: \u00bbViele Substanzen zeigen im Anfang einen anderen Geschmack als am Ende. Es entsteht ein sogenannter Nachgeschmack, der vermuthlich seinen Grund theils in der gr\u00f6\u00dferen Ausbreitung der Substanz mittelst der Imbibition, theils in eirfer gr\u00f6\u00dferen Nervenber\u00fchrung hat, theils von der muthma\u00dflichen Verschiedenheit in der Sensation zwischen dem N. glossoph. und Ramus ling, trigemini oder mit andern Worten auf der Zungenwurzel und der Zungenspitze herr\u00fchrt. Saure und salzige Substanzen haben h\u00e4ufig einen bitteren, andere Substanzen einen s\u00fc\u00dfen Nachgeschmack.\u00ab \u00bbJa, die Nachgeschm\u00e4cke durchlaufen selbst gewisse Stadien, zeigen sich in Momenten verschieden und verhalten sich hier \u00e4hnlich wie die Nachbilder im Auge, wozu sie eine Parallele geben, die sich freilich nicht in so scharfe Scalen theilen l\u00e4sst.\u00ab\nIch habe bei meinen Versuchen auch diesen Erscheinungen\n1) a. a. O. S. 96.\t2) Handb. der Physiol. Bd. II, 1840.\n3)\tPhysiol. 6. Aufl. Bd. IL S. 81.\n4)\tWagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Phys. Ill, I. 1846.\n5)\tPhysiol. 3. Aufl. Bd. I. 1845. S. 341.\n6)\tEbenda, 2. Aufl. Bd. II, 2. 1848. S. 394.\t7) Anomalien etc. 1876.","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nFriedrich Kiesow.\nviel Aufmerksamkeit geschenkt und bin zu folgenden Ergebnissen gekommen :\nMan hat zu unterscheiden zwischen gleichartigen und qualitativ von der applicirten Substanz verschiedenen Nachgeschm\u00e4cken. F\u00fcr die ersteren bedarf es kaum einer weiteren Darlegung, da diese Erscheinungen als hinreichend bekannt vorauszusetzen sind. Ich will nur hinzuf\u00fcgen, dass ich bei der Pr\u00fcfung der Zeitdauer, die f\u00fcr die Nachgeschm\u00e4cke der einzelnen Qualit\u00e4ten unseres Sinnesgebietes eine verschiedene ist, gefunden habe, dass das Bittere am l\u00e4ngsten nachdauert; diesem folgen der Reihe nach die Empfindungen des Salzigen, S\u00fc\u00dfen und Sauren. Letztere Sensation dauert somit im Nachgeschmack die k\u00fcrzeste Zeit fort. Ebenso f\u00fcge ich hier die mir mehrfach best\u00e4tigte Beobachtung ein, dass schon schwache S\u00e4urel\u00f6sungen einen ziemlich intensiven bitteren Nachgeschmack am besten beseitigen. Die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig lange Nachdauer der Geschm\u00e4cke im hinteren Mundtheile findet wohl zum gr\u00f6\u00dften Theile darin ihre Begr\u00fcndung, dass au\u00dfer der gr\u00f6\u00dferen Scdimeckfl\u00e4che, die hier von der Substanz getroffen wird, die neuerdings von Rabl angestellten Untersuchungen endg\u00fcltig erwiesen haben, dass auch die Epiglottis des Menschen, wie bereits Verson, Schoffield, K\u00f6nigschmied, Kremse u. a. behaupteten und wie Gottschau, sowie Michelson und Langendorff physiologisch gezeigt zu haben glaubten, thats\u00e4chlich Geschmacksknospen besitzt1). Bei der zweiten Art der Nachgeschm\u00e4cke muss wiederum nach zwei Seiten hin ein Unterschied gemacht werden. Dieser besteht einmal darin, dass wir bei manchen Personen einen an sich schon im Munde befindlichen Grundgeschmack anzunehmen haben, der, sobald die erste Sensation vor\u00fcber ist, als Nachgeschmack nacht\u00f6nt, wie er, bevor der Reiz die Schwelle passirte, als Vorgeschmack gewisserma\u00dfen voraufging, zum anderen aber betrifft derselbe die Erscheinungen, die sich unabh\u00e4ngig davon als Nachempfindungen offenbaren.\nF\u00fcr den ersten Punkt verweise ich auf das schon in einer fr\u00fcheren Ver\u00f6ffentlichung Mitgetheilte. Um diesen specifischen Grundgeschmack zu finden, fand ich am besten, einfach destillirtes\n1) Hans Rabl, Notiz zur Morphologie der Geschmacksknospen auf der Epiglottis. Anat. Anz. Bd. XI. No. 5. 1895. S. 153\u2014156.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n277\nWasser zu appliciren. In diesem Falle zeigt sicli fast immer an der Zungenbasis ein bitterer Geschmack1). Bei anderen ist derselbe im ganzen Mundraume verbreitet, bei wieder anderen empfindet die Zungenspitze den gleichen Beiz s\u00fc\u00df, der Rand jederseits sauer. Dieser specifische Grundgeschmack \u00e4u\u00dfert sich, wie schon mehrfach dargethan, als Nachgeschmack und ich m\u00f6chte die Yermuthung aussprechen, dass das in dieser Beziehung in der Forschung so h\u00e4ufig beobachtete Ph\u00e4nomen des Bitteren auf diese Erscheinung zur\u00fcckzuf\u00fchren ist. Am besten zeigte sich dies bei Reizen, die sich nicht sehr weit von der Schwelle entfernten. Mit zunehmender Concentration associiren sich damit leicht andere Eindr\u00fccke, auf den h\u00f6chsten Stufen \u00fcberdauert der gleichartige Nachgeschmack in dem Grade, dass der specifische meistens \u00fcbersehen wird.\nNeben diesem Nachgeschm\u00e4cke habe ich nur noch einen s\u00fc\u00dflichen beobachten k\u00f6nnen. Derselbe ist abh\u00e4ngig von gewissen Substanzen und findet sich mehr auf der Zungenspitze, als auf den \u00fcbrigen Schmeckfl\u00e4chen. Zum wenigsten habe ich denselben mit Sicherheit nur auf der Spitze constatiren k\u00f6nnen. Diese Substanzen waren bei uns Kochsalz und Salzs\u00e4ure. Aber auch bevor diese Schmeckstoffe die Schwelle erreichen, werden sie vielfach als S\u00fc\u00df percipirt. Mit zunehmender Concentration \u00fcberdauert auch hier immer mehr die gleichartige Sensation, so dass der Nachgeschmack leicht \u00fcbersehen wird. Derselbe erscheint auch in diesem Falle am deutlichsten eine Strecke oberhalb der Schwelle.\nMit dieser letzteren Art des Nachgeschmackes geht der bei einigen Personen sich findende specifische leicht Associationen ein, so dass die Empfindung des Bitters\u00fc\u00dfen daraus Tesultirt. Es ist aber auch hier wieder dieselbe Erscheinung, welche in diesen F\u00e4llen unterhalb der Schwelle erscheint.\nAu\u00dfer diesen eben mitgetheilten Erscheinungen habe ich ein sogenanntes Abklingen der Geschm\u00e4cke, das man demjenigen der Nachbilder des Auges vergleichen k\u00f6nnte, weder bei meinen Versuchspersonen, noch bei mir selber finden k\u00f6nnen. Ich glaube auch kaum, dass man dieselben mit den contr\u00e4ren Nachbildern der Farben vergleichen k\u00f6nnte, sondern halte daf\u00fcr, dass man sie besser\n1) Oft associiren sich damit Ekelempfindungen.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278 Friedrich Kiesovv. Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\neinfach als Thatsachen hinstellt, his uns durch die weitere Forschung das Verst\u00e4ndniss f\u00fcr dieselben erschlossen werden wird.\nSodann erw\u00e4hne ich hier noch eine Beobachtung, die ich beim Studium der Nachgeschm\u00e4cke an mir selber gemacht habe, und die ich dann hei Concentrationsstufen, die der Empfindungsschwelle entsprachen, genauer verfolgen konnte. Ich bemerkte beim Ausklingen der Nachgeschm\u00e4cke subjective Schwankungen in der Empfindung, die genau dem entsprechen, was als Schwankungen der Aufmerksamkeit im Gebiete des Gesichts- und des Geh\u00f6rsinnes in der Psychologie seit l\u00e4ngerer Zeit bekannt ist. Die Erscheinung trat bei allen vier Geschmacksqualit\u00e4ten auf, am deutlichsten jedoch hei Salzig und S\u00fc\u00df, am wenigsten deutlich bei Bitter. Ich konnte dieselbe au\u00dferdem im hinteren Mundtheile deutlicher wahrnehmen, als auf den \u00fcbrigen Schmeckfl\u00e4chen. Bei L\u00f6sungsstufen, die der Schwelle entsprachen, konnte ich diese Schwankungen besonders am Zungengrunde bei Salz und S\u00fc\u00df sehr deutlich wahrnehmen.\nEndlich sei noch bemerkt, dass, wenn beim Ausklingen der Nachgeschm\u00e4cke die specifische Empfindung bereits vor\u00fcber und keine Qualit\u00e4t mehr percipirbar ist, doch noch die Empfindung einer ganz unbestimmten Erregung nachbleibt, die dann auch noch mehrere Minuten, bei h\u00f6heren L\u00f6sungsstufen bis zu einer Viertelstunde und dar\u00fcber andauern kann. Vielleicht entspricht diese Erscheinung dem oben erw\u00e4hnten . \u00bb unbestimmten Eindruck \u00ab Zwaardemaker\u2019s1). Da die Erscheinung am besten bei Salz-und S\u00e4urel\u00f6sungen auftritt, bei S\u00fc\u00df aber nur in h\u00f6heren Concentrationen und bei einem reinen Bitterstoff wie Quassiin nur von sehr geringer Intensit\u00e4t ist, so bin ich geneigt, hierin die den Geschmackseindruck begleitende Tastempfindung wieder zu erkennen2). Auch diese unbestimmte Erregungsempfindung w\u00e4hrt an den hinteren Schmeckfl\u00e4chen l\u00e4ngere Zeit, als an der Spitze und an den B\u00e4ndern der Zunge. Diese letztere Beobachtung habe ich ebenfalls nur an mir selber anstellen k\u00f6nnen.\n____________ (Fortsetzung folgt.)\n1)\ta. a. O. S. 167.\n2)\tVergl. meine fr\u00fchere Ver\u00f6ffentlichung, Phil. Stud. X, S. 524.","page":278}],"identifier":"lit4244","issued":"1896","language":"de","pages":"255-278","startpages":"255","title":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes, Fortsetzung","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:30:08.114413+00:00"}