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{"created":"2022-01-31T14:17:57.759228+00:00","id":"lit4245","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Marbe, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 279-296","fulltext":[{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot\u2019schen Gesetzes.\nVon\nKarl Marbe.\nMit einer Figur im Text.\nDas Gesetz des Talhot.\nWenn zwei Lichtreize successive und periodisch denselben Punkt der Netzhaut treffen, so entstehen entweder der Reihe nach mehrere Empfindungen oder aber eine einzige intensiv und qualitativ constante Empfindung. Letztere ist identisch mit derjenigen Empfindung, welche entstehen w\u00fcrde, wenn das w\u00e4hrend einer jeden Periode wirkende Licht gleichm\u00e4\u00dfig \u00fcber die Dauer der ganzen Periode vertheilt w\u00e4re1).\n1) Die Richtigkeit dieses, in weniger allgemeiner Form zuerst von Talbot (Philos. Magaz. Nov. 1834 S. 327) ausgesprochenen und unter dessen Namen bekannten Gesetzes ist durch v. Helmholtz (Handbuch der physiologischen Optik 2. Aufl. p. 483 ff.), Plateau (Bulletin de l\u2019Acad\u00e9mie royale 1835 Nr. 2, S. 52 u. Nr. 3, S. 89 u. Pogg. Ann. Bd. 35, S. 457 ff.), Kleiner (Pfl\u00fcgers Archiv Bd. 18, S. 542 ff.), Lehmann (Philos. Stud. Bd. 4, S. 232 ff), Wiedemann u. Messerschmitt (Wied. Ann. Bd. 34. [1888]. S. 463 ff.), G. N. Stewart (Proc. Roy. Soc. Edinb. 1888. 15, S. 441 ff.) experimentell best\u00e4tigt worden. \u2014 Dass, wenn die Reizdauern geringer als eine Achtmilliontelsecunde* sind, eigenth\u00fcmliche Farbenerscheinungen auftreten (Stewart ibid.), kann man nicht gegen die allgemeine G\u00fcltigkeit des Gesetzes ins Feld f\u00fchren, ebensowAiig die bekannten Versuche von Adolf Fick (M\u00fcllers Archiv 1863 S. 739 ff.). Mit Recht erblickt Aubert (Physiologie der Netzhaut S. 350 f. u. Physiol. Optik S. 516) in denselben geradezu eine Best\u00e4tigung des Talbot\u2019schen Satzes. Neuerdings hat E. S. Ferry (The physikal Review Bd. 1 [1894] S. 338 ff.) auf Grund von Experimenten behauptet, dass die nach dem Talbot\u2019schen Satze berechneten Helligkeiten gr\u00f6\u00dfer seien als","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nKarl Marbe.\nF\u00fcr zwei successiv-periodische Reize, welche pl\u00f6tzlich und f\u00fcr alle Retinapunkte gleichzeitig mit einander abwechseln, gibt es vier Momente, welche das Entstehen einer constanten Empfindung beg\u00fcnstigen :\nt) Die Verminderung der Reizdauern\n2)\tDie Vergr\u00f6\u00dferung des Unterschiedes der Reizdauem\n3)\tDie Verminderung des Unterschiedes der Reizintensit\u00e4ten\n4)\tDie Verst\u00e4rkung der mittleren Intensit\u00e4t der beiden Reise.\nBaader glaubte aus einer Reihe von Versuchen schlie\u00dfen zu k\u00f6nnen, dass die Zahl der w\u00e4hrend einer bestimmten Zeit erforderlichen Perioden mit der mittleren Intensit\u00e4t der Reize zun\u00e4hme1). Hiernach w\u00fcrde die Verst\u00e4rkung der Gesammtintensit\u00e4t nicht, wie ich unter 4) angegeben habe, f\u00fcr die Verschmelzung g\u00fcnstig, sondern vielmehr ung\u00fcnstig sein. Allein die. Baader\u2019sehen Versuche beweisen thats\u00e4chlich Nichts f\u00fcr den Einfluss der Gesammtintensit\u00e4t auf die kritische Periodendauer. Wenn man n\u00e4mlich, wie Baader, eine leuchtende und eine lichtlose Fl\u00e4che abwechselnd auf das Auge wirken l\u00e4sst, so verhalten sich, welche Lichtst\u00e4rke man der leuchtenden Fl\u00e4che auch geben mag, die mittleren Gesammtintensit\u00e4ten der Reize ebenso wie ihre Unterschiede. Und wenn man, der anderen Baader\u2019sehen Versuchsanordnung entsprechend, einer aus\ndie direct beobachteten, f\u00fcr den Fall, dass man Licht und Dunkelheit periodisch und so schnell auf das Auge wirken lasse, dass eine constante Empfindung entstehe. Nach Ferry ist der Fehler um so gr\u00f6\u00dfer, je k\u00fcrzere Zeit das Licht im Verh\u00e4ltniss zur Dunkelheit einwirkt. Da er aber keine besonderen Vorkehrungen getroffen hat, um falsches Licht auszuschlie\u00dfen, so darf man wohl annehmen, dass die Dunkelheit zwischen den einzelnen Reizen keine absolute war, was Ferry nicht in Rechnung zog. Es ist klar, dass sich dieser Fehler um so mehr geltend machen musste, je l\u00e4nger die Intermissionen im Verh\u00e4ltniss zu den Reizen dauerten. Die fraglichen Versuche d\u00fcrften daher eher gegen die Ferry\u2019sche Versuchsanordnung als gegen das Talbot-sche Gesetz sprechen. \u2014 Die von Br\u00fccke constatirte, bekannte That-sache, das\u00bb rotirende Scheiben bei Geschwindigkeiten, bei welchen noch keine constante Empfindung eintritt, heller erscheinen, als wenn sie eine constante Empfindung erzeugen (Molfschotts Unters, z. Naturlehre Bd. IX [1863] S. 367ff.), bildet gleichfalls keine Ausnahme des Talbot\u2019schen Gesetzes. Denn sie erstreckt sich auf Successionsgeschwindigkeiten, auf welche das Talbot\u2019sche Gesetz sich gar nicht bezieht.\n1) Baader, \u00dcb^r die Empfindlichkeit des Auges f\u00fcr Lichtwechsel. Diss. Freiburg i. B. 1891. S. 27 ff. u. S. 38.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot\u2019schen Gesetzes.\n281\neinem wei\u00dfen und einem schwarzen Sector bestehenden Scheibe verschiedene Beleuchtungen gibt^ so verhalten sich die mittleren Gesammtintensit\u00e4ten nahezu ebenso wie die Unterschiede der Reize, weil der schwarze Sector durch\u00ab die verschiedenen Beleuchtungen nur wenig an Helligkeit gewinnt und daher hinsichtlich seiner Intensit\u00e4t nahezu gleich Null ist. tWenn aber bei einer bestimmten Yersuchsanordnung gleichen Aenderungen der mittleren Intensit\u00e4t gleiche oder doch nahezu gleiche Aenderungen der Reizunterschiede entsprechen, so kann man offenbar einen sichern Schluss \u00fcber den Einfluss des einen oder andern der beiden Momente auf die kritische Periodendauer unter keinen Umst\u00e4nden ziehen und man darf die wachsende mittlere Intensit\u00e4t f\u00fcr die mit ihr parallel gehende Vergr\u00f6\u00dferung der in einer bestimmten Zeit erforderlichen Periodenzahl um so weniger verantwortlich machen, als es ja feststeht, dass die letztere mit wachsendem Reizunterschied gr\u00f6\u00dfer wird1). Beweisen sohiit die Versuche Baader\u2019s nichts hinsichtlich des Einflusses der mittleren Helligkeit auf die kritische Periodendauer, so folgt das Gegentheil der Baader\u2019sehen These aus einem Satz, welchen ich fr\u00fcher experimentell bewiesen habe. Dieser Satz lautet:\nEs ist f\u00fcr die Verschmelzung g\u00fcnstiger, wenn die Dauer des intensiveren Reizes, als wenn diejenige des weniger intensiven \u00fcberwiegt2).\nDies hei\u00dft nichts anderes, als dass (unter sonst vollkommen gleichen Bedingungen) die kritische Periodendauer mit wachsender mittlerer Intensit\u00e4t zunimmt.\nWenn man zur Erzeugung der successiven Reize Fl\u00e4chen anwendet, welche nacheinander am Fixationspunkt vorbeieilen, wie dies bei der Ben\u00fctzung rotirender Scheiben der Fall ist, so tritt zu den bisher genannten Momenten ein f\u00fcnftes hinzu, das der Conturenbewegung. Je langsame* sich n\u00e4mlich (unter sonst vollkommen gleichen Umst\u00e4nden, d. h. wenn die Reizdauern\u00bb ihre und der Reizintensit\u00e4ten Unterschiede sowie die mittlere Intensit\u00e4t der\n1)\tBaader a. a. O. S. 30 ff.\n2)\tPhilos. Stud. IX. S. 397 f. \u2014 Die*Richtigkeit dieses Satzes habe ich unterdessen wiederholt mit Herrn Henri ill Leipzig nachgepr\u00fcft und best\u00e4tigt gefunden.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nKarl Marbe.\nbeiden Reize f\u00fcr eine bestimmte Netzhautstelle unver\u00e4ndert bleiben) die Fl\u00e4chenconturen bewegen, desto weniger verschmelzen die Reize *).\t\u00bb\nAlles, was bis jetzt angef\u00fchrt wurde, gilt in gleicher Weise f\u00fcr farbiges und f\u00fcr farbloses Licht. F\u00fcr das Talbot\u2019sche Gesetz ist dies seit langer Zeit1 2) bekannt. D$ss auch der Einfluss der S. 280f. besprochenen f\u00fcnf Momente auf die Verschmelzung bei farbigem Licht derselbe ist, wie bei farblosem, davon habe ich mich durch eine Reihe von Experimenten und Ueberlegungen \u00fcberzeugt, welche ich im Anhang (S. 291 ff.) mitgetheilt habe3).\n1)\tFilehne, Graefe's Archiv, Bd. 31, Abt. 2, S. 20ff.; Bellarminow, ibid. Bd. 35. S. 39 ff.; Baader a. a. O. S.34ff. Auch ich habe die im Text erw\u00e4hnte Thatsache nach einer der fr\u00fcher (a. a. O. S. 386 ff.) beschriebenen \u00e4hnlichen Anordnung gemeinschaftlich mit Herrn Dr. Kie sow in Leipzig untersucht und best\u00e4tigt gefunden. Den von Filehne (a. a. O. S. 21) im speciellen angegebenen Verlauf der zusammengeh\u00f6rigen Sectoren- und Intermittenzzahlen (vergl. Filehne a. a\u201e0. S. 20) habe ich jedoch nicht constatiren k\u00f6nnen. Vielleicht waren meine Versuche in Folge der nothwendigen geringen Geschwindigkeiten der Scheibenumdrehungen zu ungenau.\nWenn man mittelst rotirender Scheiben Versuche \u00fcber die vier zuerst (S. 280) genannten Momente anstellt, so bedeutet die Conturenbewegung eine Fehlerquelle (Stern, Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. Bd. 7. S. 215 ff.). Wenn man aber stets nur zwei Sectoren anwendet, so darf man diesen Fehler vernachl\u00e4ssigen. (Baader a. a. O. S. 34.)\nDie vollst\u00e4ndigste Zusammenfassung der \u00fcber den Einfluss der f\u00fcr die Verschmelzung kritischen Momente handelnden Litteratur findet man bei Stern a. a. O. S. 251 ff. Vergl. au\u00dferdem die Arbeit von Kleiner, Z\u00fcricher Vierteljahrsschrift. 1874. S. 105 ff.\n2)\tv. Helmholtz, a. a. O. S. 485 f.\n3)\tAus den Arbeiten von Nichols (American Journal of science Bd. 28 [1884]\nS. 243 ff.) und Rood (ibid. Bd. 46 [1893] S. 173 ff.) folgt, dass der dureh den Farbenunterschied bedingte Einfluss auf die zur Verschmelzung erforderliche Geschwindigkeit zweier successiv periodischer Reize verschwindend klein ist gegen\u00fcber dem Einfluss der Helligkeiten. Dass aber der Farbenunterschied zweier Reize als solcher f\u00fcr die Verschmelzung ung\u00fcnstig ist, ist selbstverst\u00e4ndlich: zwei successiv-periodische Reize,'die sich nur durch die Lichtart unterscheiden, verschmelzen, wie wir gewiss ohne weiteres annehmen d\u00fcrfen, nur, wenn die genannten f\u00fcnf Momente gen\u00fcgend zur Anwendung gebracht sind. Die Untersuchungen des Einflusses des Farbenunterschiedes auf die zur Verschmelzung erforderlichen Verh\u00e4ltnisse W\u00fcrden f\u00fcr farhentheoretische Fragen von gro\u00dfer Fruchtbarkeit sein. Meine Bem\u00fchungen, die experimentellen Untersuchungen in dieser Richtung auszudehnen, sind bis jetzt an Versuchsschwierigkeiten gescheitert.\t*\n\u00ab","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"\u00bb\nTheorie des Talbot\u2019schen Gesetzes.\t283\n*\n*\nAllgemeine Theorie des Talbot\u2019schen Gesetzes.\nEine vollst\u00e4ndige Theorie des Talbot\u2019schen Gesetzes hat erstens zu erkl\u00e4ren, warum \u00fcberhaupt bei einer gewissen Successions-geschwindigkeit der Reize statt mehrerer successiver Empfindungen diejenige Empfindung entsteht, welche vorhanden w\u00e4re, wenn das w\u00e4hrend einer jeden Periode wirkende Licht auf die Dauer der ganzen Periode gleichm\u00e4\u00dfig vertheilt w\u00e4re, und zweitens, warum\ndie erw\u00e4hnten f\u00fcnf Momente die kritische Periodendauer in dem\n*\nangegebenen Sinn beeinflussen* 1).\nIch werde im Folgenden beide Aufgaben in Verbindung mit correcten physiologisch-psychologischen Grundanschauungen zu l\u00f6sen versuchen. Dabei werde ich vom Einfluss der Conturen-bewegung zun\u00e4chst absehen und denselben erst im dritten Capitel behandeln. Ich gehe aus von allgemeinen photochemischen That-sachen 2).\nWenn Licht einen Stoff bestAhlt, so bewirkt es mitunter eine chemische Zersetzung in demselben. Die Gr\u00f6\u00dfe des zersetzten Theiles, die sogenannte photochepiische Wirkung ist f\u00fcr Substanzen, welche nicht mit H\u00fclfe anderer regenerirt werden, eine Function des photochemischen Gesammteffectes. Dieser ist gleich der Summe der in den einzelnen Zeiten wirkenden Lichtintensit\u00e4ten oder der photochemischen ElementaVeffecte. Wenn somit ein Stoff\n*\n1)\tDie erste dieser Fragen suchte S. Exner (Pfl\u00fcger\u2019s Archiv Bd. 3 S. 217 ff.)\nzu beantworten und zwar f\u00fcr den speciellen Fall, dass ein Reiz periodisch durch einen lichtleeren Zwischenraum unterbrochen wird. Es soll dann w\u00e4hrend des Reizes die Erregung um ebensoviel steigen, als sie w\u00e4hrend der Intermission f\u00e4llt, und bei hinreichender Geschwindigkeit sollen die einzelnen Erregungsschwankungen nicht mehr bemerkt werden. Der Verlauf der Erregungen findet demnach nach Exner in einer s\u00e4geartigen Curve seinen Ausdruck und die constante Empfindung tritt bei einer gewissen geringen Gr\u00f6\u00dfe der S\u00e4gez\u00e4hne ein. Die obigen Ausf\u00fchrungen werden, wie ich hoffe, lehren, dass es \u00fcberfl\u00fcssig ist, so complicirte und exacte (vergl. Fick a. a. O. S. 748, der \u00fcbrigens vor Exner ganz \u00e4hnliche Betrachtungen angestellt* hatte) Functionsweisen der Retina zu hypostasiren. \u2014Auf den Exner\u2019schen \u00e4hnlichen Anschauungen beruht der \u00bbBeweist des Talbot\u2019schen Satzes von F. Boas, Annalen der Physik und Chemie. Neue Folge, Bd. 16 (1882).\t*\n2)\tDie Terminologie der Photochemiker ist, wie man aus dem folgenden Text ersehen wird, dem vorliegenden Zweck entsprechend etwas modificirt worden.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nf\nKarl ifarbe.\nw\u00e4hrend n Zeitelemente durch Eicht bestrahlt wird, so ist der photochemische Gesammteffect gleich \u00ab, + *2 +4 + \u2022 \u2022 \u2022\t2 + bi_i + in\nwobei die einzelnen t-Werthe die photochemischen ElementarefFecte repr\u00e4sentiren *).\nF\u00fcr den lichtempfindlichen Stoff in unserer Netzhaut, welcher zu denjenigen Substanzen geh\u00f6rt, deren Zersetzung gegebenen Falls mit H\u00fclfe anderer regenerirt wird^ ist die photochemische Wirkung (Erregung) keine Function des {\u00bbhotochemischen Gesammteffectes. Denn wenn wir eine wei\u00dfe Fl\u00e4che zwei Secunden lang fixiren, so ist die Empfindung nach der \u00abzweiten Secunde nicht intensiver und die Erregung demnach nicht gr\u00f6\u00dfer als nach der ersten. Auch sind die denselben Reizen entsprechenden Empfindungen jahraus jahrein gleich, was doch nicht m\u00f6glich w\u00e4re, wenn die entsprechenden Erregungen Functionen der Summe aller fr\u00fcher zur Wirkung gelangter Elementareffecte w\u00e4ren.\nKommt f\u00fcr die einem bestimmten Zeitelement entsprechende retinale Erregung auch der photochemische Gesammteffect nicht in Betracht, so ist dieselbe doch nicht durch den dem Zeitelement entsprechenden Elementareffect bedingt. Denn wenn jede Erregung lediglich eine Function derjenige!# Intensit\u00e4t wr\u00e4re, welche w\u00e4hrend derselben gerade das Auge afficirt, so k\u00f6nnten niemals mehrere successive Reize eine constante Empfindung erzeugen und der Satz des Talbot w\u00fcrde niemals zutreffen.\nWenn die retinale Erregung in einem bestimmten Augenblick weder eine Function des photocbemischen Gesammteffectes noch des dem betreffenden Augenblick entsprechenden Elementareffectes ist, so k\u00f6nnen wir vern\u00fcnftiger Weise nur annehmen, dass sie eine Function des gleichzeitigen und einiger direct vorangehender Elementafeffecte ist.\nWir rechnen das Zeitelement zu einer Tausendstelsecunde (1 0) und bezeichnen diejenigen Elementareffecte, welche f\u00fcr die Erregung\n1) Der Satz, dass gleichen photocbemischen Gesamteffecten gleiche Wirkungen entsprechen, scheint f\u00fcr intermittirendes, auf photographische Platten und dergl. wirkendes Licht unter gewissen Bedingungen falsch (Abney, \u00bbOn a failure of the law in photography etc.\u00ab Proc. Roy. Soc. 64,143\u201447 1893), unter andern (Scheiner, \u00bbEin neues Sensitometer\u00ab, Zeitschr. f. Instrumentenkunde. 1894, S. 203 f.) aber doch zutreffend zu sein.\ni","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot'schen Geseties.\n285\nin einem bestimmten Moment in Betracht kommen (mit Einschluss des dem betreffenden Zeitelement entsprechenden Effects), als die charakteristische Effectengruppe.\nUeber die Anzahl derjenigen Elementareffecte, aus welchen eine charakteristische Effectengruppe besteht, k\u00f6nnen wir uns aus Versuchen von S. Einer1) eine ungef\u00e4hre Vorstellung bilden. Aus den fraglichen Experimenten ergibt sich, dass, wenn ein gewisser Reiz im Dunkeln 8 o lang auf das Auge wirkt, am Ende der achten Tausendstelsecunde eine weniger intensive Empfindung und also eine geringere p\u00ff.otochemische Wirkung entsteht, als wenn der Reiz l\u00e4nger w\u00e4hrt. Ueberhaupt zeigt sieb, dass mit der Dauer des Reizes die Erregung w\u00e4chst, bis die Dauer einen bestimmten kritischen Werth erreicht hat; ob sie nur den letztem oder irgend einen gro\u00dfem Werth erreicht, ist f\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfe der Erregung gleichg\u00fcltig. Exner fand nun als kritische Dauer f\u00fcr den untersuchten Reiz, dessen absolute Intensit\u00e4t \u00fcbrigens nicht genau bestimmt wurde, den Werth 166o. Weil demnach in der hundertsechsundsechzigsten Tausendstelsecunde der Reizwirkung die Erregung gerade eben nicht mehr durch die Dunkelheit bestimmt wird, so ist die Anzahl der zur charakteristischen Effectengruppe geh\u00f6rigen Elementareffecte bei dem fraglichen Reiz und f\u00fcr das hundertsechsundsechzigste auf die Dunkelheft folgende Zeitelement gleich 166. \u2014 Diese Zahl gibt uns, wie gesagt, nur einen ungef\u00e4hren Anhalt f\u00fcr die Anzahl der charakteristischen Elementareffecte. Denn die Menge der f\u00fcr die Erregung in einem bestimmten Zeitelement factisch charakteristischen Elementareffecte schwankt offenbar mit der Gr\u00f6\u00dfe und Anordnung derjenigen Elementareffecte, welche f\u00fcr die Erregung in einem bestimmten Moment m\u00f6glicher Weise in Betracht kommen.\nDass nun die Erregungen in zwei verschiedenen Zeitelementen gleich sind, wenn sie durch gleiche charakteristische Effectengruppen bestimmt sind, ist selbstverst\u00e4ndlich und bedarf keines Beweises. Nach unseren gesammten psychophysischen Erfahrungen m\u00fcssen wir aber annehmen, dass nicht nur absolut gleichen charakteristischen Effectengruppen, sondern auch solchen, die sich nur wenig von\n1) Sitzungsber. der Wiener Akademie Bd. 58 (1868) S. 620.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"*\n286\tKarl Marbe.\neinander unterscheiden, gleiche Erregungen entsprechen, und in Anlehnung an unsere Kenntniss der Unterschiedsempfindlichkeit k\u00f6nnen wir schlie\u00dfen, dass der Unterschied, welchen zwei charakteristische Effectengruppen haben d\u00fcrfen, um eben noch gleiche Erregungen zu erzeugen, mit der mittleren Gr\u00f6\u00dfe der Eiernentareffecte dej beiden charakteristischen Effectengruppen w\u00e4chst *j.\nBei successiv-periodischen Reizen sind die aufeinanderfolgenden charakteristischen Effectengruppen unter sich um so \u00e4hnlicher, je gleichm\u00e4\u00dfiger das Licht auf die Zeit, w\u00e4hrend welcher successiv-periodische Reize wirkey, vertheilt ist. Mit der Gleichm\u00e4\u00dfigkeit der Lichtvertheilung w\u00e4chst aber nicht nur die Aehnlichkeit der charakteristischen Effectengruppen unter sich, sondern auch die Aehnlichkeit mit denjenigen charakteristischen Effectengruppen, welche vorhanden w\u00e4ren, wenn das Licht absolut gleichm\u00e4\u00dfig vertheilt w\u00e4re.\nDie Gleichm\u00e4\u00dfigkeit der Lichtvertheilung ist um so gr\u00f6\u00dfer, je kleiner erstens die Zeiten sind, w\u00e4hrend welcher gleich viel Licht ins Auge f\u00e4llt, und zweitens, je geringer die mittlere Variation der photochemischen Elementareffecte innerhalb dieser Zeiten ist.\nNach diesen Auseinandersetzungen k\u00f6nnen wir die Theorie des Talbot\u2019sehen Satzes direct ableiten und den Einfluss der vier zuerst genannten Momente (Ę) auf das Verschmelzungsph\u00e4nomen ohne weiteres verstehen.\nMit der Verminderung der Reizdauern nehmen n\u00e4mlich auch die Zeiten ah, innerhalb welcher gleichviel Licht auf das Auge einwirkt. Je k\u00fcrzer aber diese werden, desto gleichm\u00e4\u00dfiger vertheilt sich das Licht auf die gesammte Zeitstrecke, w\u00e4hrend welcher es die Retina bestrahlt. \u2014 Durch die Vergr\u00f6\u00dferung des Unterschiedes der\n1) Manche Gelehrte nehmen an, dass die Thatsachen der Unterschiedsschwelle nicht in den peripheren, sondern in den centralen Erregungsvorg\u00e4ngen oder auch in denjenigen der centripetalen Nerven oder endlich in allen drei Elementen ihr physiologisches Substrat finden; diese Forscher werden daher vielleicht den Satz, dass \u00e4hnliche charakteristische Elementareffecte unter Umst\u00e4nden gleiche Erregungen hervorrufen, nicht ohne weiteres f\u00fcr die retinalen Erregungen zugeben. Es ist aber leicht einzusehen, dass es f\u00fcr unser Problem gleichg\u00fcltig ist, ob wir diese oder jene der vier genannten Auffassungen zu Grunde legen. Der Einfachheit wegen sind alle Ausf\u00fchrungen im Text lediglich auf die retinale Erregung bezogen worden.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot'schen Gesetzes.\n287\nDauern wird die mittlere Variation der w\u00e4hrend einer Periode wirkenden Elementareffecte vermindert. (Sind n\u00e4mlich beide Reize gleich lang, so sind am wenigsten gleiche Elementareffecte vorhanden, die mittlere Variation derselben ist also am gr\u00f6\u00dften. Je mehr die Dauer eines Reizes auf Kosten derjenigen des andern w\u00e4chst, desto mehr gleiche Elementareffecte sind vorhanden, desto geringer wird daher die mittlere Variation.) Mit der Verminderung der mittleren Variation der w\u00e4hrend einer Periode wirkenden Elementareffecte wird aber gleichfalls die Gleichm\u00e4\u00dfigkeit der Licht-vertheilung erh\u00f6ht. \u2014 Dasselbe geschieht durch die Verminderung des Intensit\u00e4tsunterschiedes der beiden Reize; denn auch dadurch wird die mittlere Variation der w\u00e4hrend einer Periode wirkenden Elementareffecte verringert.\nWeil nun mit der Gleichm\u00e4\u00dfigkeit der Lichtvertheilung die aufeinander folgenden charakteristischen Effectengruppen unter sich \u00e4hnlicher werden und sich denjenigen charakteristischen Effectengruppen n\u00e4hern, welche vorhanden w\u00e4ren, wenn sich das Licht gleichm\u00e4\u00dfig auf seine Wirkungszeit vertheilte, weil ferner nicht absolute Gleichheit der charakteristischen Effect engr uppen, sondern nur hinreichen de A ehn-lichkeit f\u00fcr die Entstehung gleicher Erregungen n\u00f6thig ist,\u2014 so m\u00fcssen Verminderung der Reizdauern, Vergr\u00f6\u00dferung des Unterschiedes derselben und Verminderung des Unterschiedes der Reizintensit\u00e4ten, wenn sie gen\u00fcgend zur Anwendung gebracht werden, dieselben Erregungen erzeugen, welche bei absolut gleicher Lichtvertheilung vorhanden w\u00e4ren.\nDurch die Verst\u00e4rkung der Gesammtintensit\u00e4t der Reize werden die einzelnen Elementareffecte vergr\u00f6\u00dfert; hiermit wachsen aber die Unterschiede, welche die charakteristischen Effectengruppen haben m\u00fcssen, um verschiedene Erregungen zu erzeugen (S. 285). Es ist also auch begreiflich, dass durch die hinreichende Verst\u00e4rkung der Gesammtintensit\u00e4t in den einzelnen Zeitelementen gleiche Erregungen entstehen k\u00f6nnen, und dass also die Verst\u00e4rkung der Gesammtintensit\u00e4t die Verschmelzung beg\u00fcnstigt.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n19","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nKarl Marbe.\nTheorie der Co\u00fcturenbewegung.\nDie Theorie, welche bisher vorgetragen wurde, gilt unter allen Umst\u00e4nden f\u00fcr jeden einzelnen Netzhautpunkt. F\u00fcr den Fall, dass die beiden Reize gleichzeitig f\u00fcr alle Netzhautpunkte abwechseln [S. 280 f.), ist demnach nichts weiteres hinzuzuf\u00fcgen. F\u00fcr den Fall der Conturenbewegung (S. 281), wo die nebeneinanderliegenden Netzhautpunkte in den einzelnen Zeitelementen teilweise verschieden gereizt werden, bedarf es jedoch weiterer Ausf\u00fchrungen.\nNehmen wir an, wir fixiren einen Punkt der Fl\u00e4che ab cd (vgl. die Fig.). Ein Teil der Retina wird dann durch das von der Fl\u00e4che ausgestrahlte Licht, ein anderer durch das wei\u00dfe Licht der benachbarten Papierstellen afficirt. Wenn'wir die Fl\u00e4che so lange fixirt haben, dass vor der Fixation ins Auge gelangtes Licht f\u00fcr die Erregung in demselben nicht mehr in Betracht kommt, so sind die Erregungen f\u00fcr ein und denselben Netzhautpunkt in jedem Moment gleich und da, wo die Grenzen des Fl\u00e4chenbildes auf der Retina abgebildet werden, sto\u00dfen Netzhauttheile zusammen, f\u00fcr welche in jedem Zeitelement ganz verschiedene charakteristische Effectengruppen gelten. Wir sehen daher in jedem Zeitelement deutlich die Grenzen, welche die Fl\u00e4che mit dem \u00fcbrigen Gesichtsfeld bildet.\nNehmen wir nun \u00e4n, die Fl\u00e4che bewege sich ganz langsam auf der Bahn AB CD in der Pfeilrichtung, w\u00e4hrend sich unser Auge in absoluter Ruhe befindet. Es f\u00e4llt dann in jedem Zeitelement ebensoviel Licht ins Auge, als wenn sie sich nicht bewegt. Aber waren bei ruhender Fl\u00e4che die charakteristischen Effectengruppen","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot\u2019sehen Gesetzes.\n289\nf\u00fcr ein und denselben Netzhautpunkt in jedem Zeitelement gleich, stie\u00dfen ferner in jedem Moment an den Bildern der Fl\u00e4chengrenzen Retinatheile mit ganz verschiedenen charakteristischen Effecten-gruppen und daher verschiedenen Erregungen zusammen, so wechseln jetzt die Erregungen an ein und demselben Netzhautpunkt, und an denjenigen Eetinalinien, welche den ohjectiven Fl\u00e4chenconturen in jedem Zeitelement entsprechen, findet (nat\u00fcrlich sofern sie nicht der Bewegungsrichtung parallel laufen) kein pl\u00f6tzlicher, sondern ein allm\u00e4hlicher Uehergang der Erregungen statt.\nWeil n\u00e4mlich die Erregungen in jedem Zeitelement Functionen einer ganzen Reihe von Elementareffecten sind, so ist z. B. in dem Moment, wo ein Netzhautpunkt eben von dem dunkeln Licht der Fl\u00e4che gereizt wird, auch noch das wei\u00dfe Licht ma\u00dfgebend, von welchem er kurz vorher gereizt wurde; und wenn ein Netzhautpunkt einige Zeit vom dunkeln Licht der Fl\u00e4che und vorher vom wei\u00dfen Licht der Umgebung gereizt wurde, so ist, wie gro\u00df die Anzahl der zu einer charakteristischen Effectengruppe geh\u00f6rigen Elementareffecte in jedem Fall auch sein mag, die Erregung offenbar um so gr\u00f6\u00dfer, je k\u00fcrzere Zeit er vom dunkeln Licht gereizt wurde. Die Retinalinie, welche der ohjectiven Linie bd entspricht, bildet somit in jedem Moment der Bewegung nicht die Grenze zwischen g\u00e4nzlich verschieden erregten Netzhautpunkten, sondern zwischen ihr und einer andern ihr parallelen, zwischen den Bildern von ac und bd verlaufenden Linie (etwa e 'Q gehen die Erregungen der nebeneinanderliegenden Netzhautpunkte allm\u00e4hlich von der Wei\u00dferregung zur Dunkelerregung \u00fcber. \u2014 Aus ganz analogen Betrachtungen- l\u00e4sst sich schlie\u00dfen, dass in jedem Moment der Bewegung auch zwischen dem Netzhautbild von ac und dem einer andern Linie (etwa rj dj die Erregungen der nebeneinanderliegenden Retinaelemente von der Dunkelerregung zur Wei\u00dferregung \u00fcbergehen.\nDie Gr\u00f6\u00dfe, welche die Rechtecke acd-rj und h d e \u00e7 in jedem Zeitelement haben, ist (wie man nach den bisherigen Ausf\u00fchrungen von selbst einsehen wird) um so kleiner, je langsamer sich die Fl\u00e4che ab cd bezw. ihre Conturen ac und bd bewegen; je kleiner nun die fraglichen Rechtecke in einem bestimmten Zeitelement sind, desto pl\u00f6tzlicher findet der Uebergang der Erregungen innerhalb dieser Rechtecke statt, desto verschiedener sind daher inner-\n19*","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nKarl Marbe.\nhalb derselben die in der Bewegungsrichtung aneinandersto\u00dfenden Netzhautpunkte in jedem Zeitelemente erregt.\nNehmen wir nun an, statt der einen Fl\u00e4che ab cd bewegten sich eine Reihe dunkler Fl\u00e4chen in constanten Abst\u00e4nden ganz langsam am Fixationspunkt vorbei. An jedem idealen Conturen-bild auf der Retina entstehen dann den Figuren acrj-9- und bdet analoge Rechtecke. Mit abnehmender Bewegungsgeschwindigkeit der Fl\u00e4chen bezw. ihrer Conturen nimmt auch jetzt die Gr\u00f6\u00dfe der besagten Rechtecke ab, w\u00e4hrend die Unterschiede der innerhalb der Rechtecke in der Bewegungsrichtung aneinandersto\u00dfenden Retinapunkte wachsen. Mit den Erregungsunterschieden der den fraglichen Rechtecken zugeh\u00f6rigen Retinapunkte wachsen die mittleren Unterschiede der Erregungen der Netzhautpunkte schlechthin.\nWir haben bisher angenommen, dass sich die succedirenden Fl\u00e4chen nur ganz langsam bewegen. Dies ist nun freilich, wenn die Reize wirklich zur Verschmelzung gelangen, niemals der Fall. Die Verh\u00e4ltnisse liegen dann auch nicht so einfach als hei langsamer Bewegung der Fl\u00e4chen: die oft erw\u00e4hnten Rechtecke \u00fcberdecken sich. Aber, wTie sehr dies auch der Fall sein mag, immer sind die Unterschiede der erregten nebeneinanderliegenden Netzhautpunkte um so gr\u00f6\u00dfer, je langsamer sich die Conturen bewegen.\nWeil dies der Fall ist, weil aber die Gr\u00f6\u00dfe der einzelnen ob-jectiven, wei\u00dfen und schwarzen Fl\u00e4chen ohne Einfluss ist auf den mittleren Erregungsunterschied der verschiedenen Netzhautstellen, \u2014 so ist es f\u00fcr die Verschmelzung ung\u00fcnstiger, wenn Fl\u00e4chen von der Gr\u00f6\u00dfe a und der Geschwindigkeit b am Auge vorheiziehen, als wenn solche von der Gr\u00f6\u00dfe 2 a und der Geschwindigkeit 2 b am Fixationspunkt vor\u00fcberziehen. Die Verlangsamung der Conturen-bewegung muss daher f\u00fcr die Entstehung constanter Empfindungen ung\u00fcnstig sein1).\n1} Weil, wenn die Conturenbewegung unter Gleichbleiben der Momente 1\u20144 (S. 280) verlangsamt wird, die in jedem Zeitelement auf der Retina abgebildeten Fl\u00e4chen sich verkleinern und daher zu gleicher Zeit in demselben Retinalbezirk mehr verschieden helle Fl\u00e4chen abgebildet werden, hat Baader (a. a. 0 S. 36) im Gegensatz zu Filehne (a. a. O. S. 22) es f\u00fcr m\u00f6glich gehalten, dass dieser Umstand und nicht die Verlangsamung der Conturenbewegung als solche","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot'schcn Gesetzes.\n291\nSchlussbemerkungen. Wir sind hiermit am Ende unserer Theorie des Talbot\u2019sehen Satzes angelangt. Unsere Ausf\u00fchrungen gelten ebenso wie die Thatsachen, auf die sie sich beziehen, f\u00fcr farbiges und f\u00fcr farbloses Licht. Sie besagen, dass unser Gesetz insoweit durch centrale Vorg\u00e4nge bedingt ist, als das Sehen \u00fcberhaupt in solchen sein physiologisches Substrat findet. Die Thatsachen des Talbot\u2019schen Satzes sind aber peripher, insofern das, was wir in jedem Zeitelement sehen, durch die in dem fraglichen Zeitelement vorhandenen Retinalerregungen bestimmt wird, oder besser (mit Ber\u00fccksichtigung der Zeit, die zwischen den peripheren und den ihnen zugeh\u00f6rigen centralen Erregungen verflie\u00dft), insofern es durch diejenigen Erregungen bestimmt wird, welche kurz vor den ihnen entsprechenden Empfindungen in der Retina vorhanden sind.\nAnhang.\n(Experimente aus dem psychologischen Institut des Herrn Prof. Martius in Bonn.)\nIn der vorstehenden Arbeit (S. 282) sind Versuche erw\u00e4hnt, aus denen ich geschlossen habe, dass farbiges successive und periodisch wirkendes Licht, sowie farbiges und farbloses unter denselben Bedingungen eine constante Empfindung erzeugt wie successive farblose Reize. Im Folgenden sollen nun eine Reihe von Tabellen, welche aus den fraglichen Versuchsergebnissen gewonnen sind, mit-getheilt werden.\nBei den Experimenten, auf welche sie sich beziehen, fungirten die Herren Christian Birch-Reichenwald-Aars und Friedrich Kretzmann und ich selbst als Beobachter.\nS\u00e4mmtliche Versuche wurden bei Gasgl\u00fchlichtbeleuchtung und in der Dunkelkammer ausgef\u00fchrt. Als Beobachtungsobjecte benutzte ich rotirende Scheiben mit zwei verschiedenen Sectoren, von denen entweder nur einer oder beide farbig waren. Als Rotations-\nf\u00fcr die Verschmelzung ung\u00fcnstig sei. F\u00fcr diese Annahme l\u00e4sst sich meines Erachtens nichts positives angeben. Im Gegentheil, die gr\u00f6\u00dfere Anzahl der zu gleicher Zeit die Netzhaut reizenden Fl\u00e4chen d\u00fcrfte eher die Verschmelzung beg\u00fcnstigen (Synkrasie, Mischung durch Juxtaposition). \u2014 Ueber die mit der Theorie der Conturenbewegung zusammenh\u00e4ngende allgemeine Theorie der Bewegungswahrnehmung vgl. Stern a. a. O. S. 321 ff.","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nKarl Marbe. '.-is': T\napparat diente ein von Herrn Mechaniker Zimmermann in Leipzig nach meinen Angaben gebautes Instrument1), welches durch einen Wassermotor getrieben wurde und mit einem gro\u00dfen, festen Windfl\u00fcgel und einem der Achse anliegenden Tourenz\u00e4hler versehen ist. Die Umdrehungsgeschwindigkeit wurde dadurch variirt, dass der Assistent den Wasserleitungshahn mehr oder weniger \u00f6ffnete, wodurch sehr feine Einstellungen erzielt werden k\u00f6nnen.\nIm \u00fcbrigen war der Gang der Versuche im wesentlichen identisch mit demjenigen, den ich fr\u00fcher2) beschrieben habe. Auch die gesammte Versuchsanordnung war, abgesehen von den erw\u00e4hnten Aenderungen, ebenso wie die in der fraglichen Arbeit ben\u00fctzte. Die Berechnung der Beizdauern wurde gleichfalls wie fr\u00fcher ausgef\u00fchrt. Unter Dauer eines Beizes verstehe ich auch jetzt die Zeit, w\u00e4hrend welcher der betreffende Beiz einen Eetinapunkt trifft. Die Zahlen in allen Tabellen bedeuten Tausendstelsecunden.\nDie Tabellen I\u2014V enthalten nun in der dritten Columne die f\u00fcr die Entstehung einer constanten Empfindung erforderliche Ge-sammtdauer. Wenn diese den notirten Werth oder einen geringeren erreicht hat, so verschmelzen die Beize. Die fraglichen Werthe sind jeweils die arithmetischen Mittel dreier Beobachtungsresultate. Die vierte Columne der Tabellen enth\u00e4lt die mittlere Variation der drei Zahlen, aus denen die dritte Columne gewonnen ist. Die Werthe in Columne 1 und 2 bezeichnen die Dauern der einzelnen Beize; sie sind aus Columne 3 durch Eechnung gewonnen.\nTabelle I\u2014III beziehen sich auf Versuche, in denen als Beize Grau, Gelb und Blau verwandt wurden. Grau war viel heller als blau, aber dunkler als Gelb. Das Gemisch von 180\u00b0 Blau -f- 180\u00b0 Gelb ergab ein ganz unges\u00e4ttigtes Gelb.\n1)\tDer Preis desselben bel\u00e4uft sich auf ca. 40 M.\n2)\tZur Lehre von den Gesichtsempfindungen, welche aus successiven Reizen resultiren. Philos. Stud. Bd. IX. S. 389 ff. : \u00bbBei den Versuchen mit constanter Beleuchtung wurde folgenderma\u00dfen verfahren . . . .\u00ab","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talhot\u2019schen Gesetzes.\n293\nTabelle I.\nBeobachter: Aars.\tReize: Gelb und Blau.\nDauer des gelben blauen Reizes.\t\tGesammtdauer.\tMittlere Variation.\n3,5\t59,8\t63,3\t3,6\n13,5\t40,5\t54,0\t0,0\n20,7\t20,7\t41,3\t0,9\n43,0\t14,3\t57,3\t0,9\n71,1\t4,2\t75,3\t7,2\n\tTabelle II.\t\t\nBeobachter\t: Aars.\tReize: Gelb und Grau.\t\nDauer des gelben grauen Reizes.\t\tGesammtdauer.\tMittlere Variation.\n3,9\t66,1\t70,0\t0,0\n11,5\t34,5\t46,0\t5,3\n20,4\t20,4\t40,8\t0,7\n43,5\t14,5\t58,0\t2,7\n71,1\t4,2\t75,3\t1,8\n\tTabelle III.\t\t\nBeobachter: Aars.\t\tReize: Grau und Blau.\t\nDauer des grauen\tblauen Reizes.\tGesammtdauer.\tMittlere Variation.\n3,7\t62,3\t66,0\t5,3\n11,7\t35,0\t46,7\t1,8\n21,4\t21,4\t42,7\t3,6\n37,5\t12,5\t50,0\t2,7\n66,8\t3,9\t70,7\t0,9\nAus allen drei Tabellen ergibt sich, dass bei einer gleichen Dauer der einzelnen Reize die geringste Gesammtdauer n\u00f6thig ist; mit wachsendem Unterschied der Dauer w\u00e4chst auch die Gesammtdauer, welche die Reize haben d\u00fcrfen, wenn sie noch verschmelzen sollen. Wenn man sich den oben eingetheilten Helligkeitsunterschied der Reize vergegenw\u00e4rtigt, so sieht man sofort, dass eine geringere Gesammtgeschwindigkeit erforderlich ist, wenn der intensivere Reiz der k\u00fcrzere von beiden ist, als im umgekehrten Fall.\nDiese Versuche zeigen demnach, dass die Verminderung der Reizdauern, die Vergr\u00f6\u00dferung des Unterschiedes der Reizdauern und (vergl. S. 280f.) die Verst\u00e4rkung der mittleren Intensit\u00e4t die Verschmelzung beg\u00fcnstigen.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nKarl Marbe.\nTabelle IV und V beziehen sich auf Versuche, bei denen Roth und Violett als Reize dienten. Roth war nur um weniges heller als Violett.\nTabelle IV.\nBeobachter :\tKretzmann.\tReiz: Roth und Violett.\t\nDauer des rothen violetten Reizes.\t\tGesammtdauer.\tMittlere Variation.\n4,6\t77,4\t82,0\t1,3\n15,2\t45,5\t60,7\t0,9\n30,0\t30,0\t60,0\t0,0\n49,5\t16,5\t66,0\t7,0\n80,0\t4,7\t84,7\t3,6\n\tTabelle V.\t\t\nBeobachter:\tVerfasser.\tReize: Roth und Violett.\t\nDauer des rothen violetten Reizes.\t\tGesammtdauer.\tMittlere Variation.\n5,7\t97,6\t103,3\t6,0\n19,3\t58,0\t77,3\t3,6\n36,7\t36,7\t73,3\t3,6\n66,0\t22,0\t88,0\t2,7\n120,2\t7,1\t127,3\t7,5\nBeide Tabellen lehren dasselbe wie die drei ersten; dass die Werthe der Gesammtdauer hier im allgemeinen gr\u00f6\u00dfer sind als in Tabelle I\u2014III, wird offenbar damit Zusammenh\u00e4ngen, dass der Helligkeitsunterschied der Pigmente hier geringer war als dort.\nDass auch bei farbigen Sectoren die Verlangsamung der Con-turenbewegung die Verschmelzung der Reize st\u00f6rt, habe ich gleichfalls durch Experimente festgestellt.\nAls Reize dienten bei der einen Versuchsgruppe Purpur und Blaugr\u00fcn, bei der andern Gelb und Grau und bei der dritten Roth und Blau. Purpur war wenig dunkler als Blaugr\u00fcn, Blau nur wenig dunkler als Roth. Das ben\u00fctzte Grau war dunkler als das oben erw\u00e4hnte und an Helligkeit viel schw\u00e4cher als Gelb.\nDie folgenden auf diesen Versuchen beruhenden Tabellen enthalten in der ersten Columne die Anzahl der unter sich stets gleichgro\u00dfen Sectoren, in der zweiten die gr\u00f6\u00dfte mittlere Scheibenumdrehungsdauer, die bei der Verschmelzung ein tritt. Die in Columne","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Theorie des Talbot'schen Gesetzes.\n295\nzwei stehenden Werthe sind jeweils aus drei Versuchen gewonnen. Die dritten Columnen enthalten die mittlere Variation der Roh-werthe, auf denen die zweiten beruhen.\nTabelle VI.\nBeobachter :\tAars.\tReize: Blaugr\u00fcn\tund Purpur.\nSectorenzahl.\tBauer\teiner Scheibenumdrehung.\tMittlere Variation.\n2\t\t77,3\t3,3\n4\t\t90,0\t0,4\n6\t\t120,7\t7,2\n\t\tTabelle VII.\t\nBeobachter:\tKretzmann.\tReize: Roth und Blau.\t\t\nSectorenzahl.\tDauer\teiner Scheibenumdrehung.\tMittlere Variation.\n2\t\t57,3\t2,2\n4\t\t102,7\t6,7\n6\t\t122,7\t7,8\n\t\tTabelle VIII.\t\nBeobachter :\tKretzmann.\tReize: Gelb und Grau.\t\t\nSectorenzahl.\tDauer\teiner Scheibenumdrehung.\tMittlere Variation.\n2\t\t48,0\t0,0\n4\t\t80,7\t6,2\n6\t\t112,7\t4,9\nDie \u00bbDauern einer Scheibenumdrehung\u00ab nehmen, wie man auf den ersten Blick sieht, langsamer zu als die Sectorenzahlen. Mit der Verlangsamung der Conturenbewegung nimmt also die Geschwindigkeit zu, welche die einzelnen Perioden haben m\u00fcssen, damit eine constante Empfindung entsteht. Also auch hei farbigem Licht, sowie bei der Verbindung farbigen und farblosen Lichtes ist die Verlangsamung der Conturenbewegung f\u00fcr die Verschmelzung ung\u00fcnstig. Die gro\u00dfen Werthe f\u00fcr die Dauer einer Scheibenumdrehung in den Tabellen VI und VII m\u00fcssen offenbar wieder mit dem geringen Helligkeitsunterschied der ben\u00fctzten Pigmente Zusammenh\u00e4ngen.\nDass die Verminderung des Helligkeitsunterschiedes farbiger Reize, sowie desjenigen farbiger und farbloser factisch die Entstehung einer constanten Empfindung beg\u00fcnstigt, folgt \u00fcbrigens","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nKarl Marbe. Theorie des Talbot\u2019schen Gesetzes.\nauch aus der allgemein bekannten Thatsache, dass alle rotirenden Scheiben um so leichter verschmelzen, je weniger intensiv sie beleuchtet werden. Dies kann nur daher r\u00fchren, dass mit abnehmender Beleuchtung die Helligkeitsunterschiede der Reize ahnehmen, wie aus der vorstehenden Polemik gegen Baader (S. 280 f.) und aus der Thatsache, dass auch hei farbigen Reizen die Verminderung der mittleren Helligkeit f\u00fcr die Verschmelzung ung\u00fcnstig ist, unmittelbar einleuchtet. Auch bei farbigem, Licht und bei der Mischung farbigen und farblosen Lichtes wird also das Entstehen einer constanten Empfindung durch die Verminderung des Unterschieds der Helligkeiten beg\u00fcnstigt1).\n1) Vorstehende Arbeit ist Anfangs M\u00e4rz dieses Jahres als Habilitationsschrift der Universit\u00e4t W\u00fcrzburg erschienen.","page":296}],"identifier":"lit4245","issued":"1896","language":"de","pages":"279-296","startpages":"279","title":"Theorie des Talbot\u2018schen Gesetzes","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:17:57.759234+00:00"}