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{"created":"2022-01-31T14:22:24.805173+00:00","id":"lit4246","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Cohn, Jonas","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 297-306","fulltext":[{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe.\nEin Beitrag zur psychologischen Erfassung der Geschichte der Philosophie.\nVon\nJonas Cohn.\nMan hat die Entwickelung des philosophischen Denkens einen dialektischen Process genannt. Man wollte damit sagen, dass sich die Gedanken jedes Philosophen aus dem von ihm Vorgefundenen Stande der Probleme mit logischer Nothwendigkeit ergehen. So viel Wahres in dieser idealen Construction liegt, so sehr sie als regulatives Princip dienen kann, wenn es sich darum handelt, das Bedeutsame und F\u00f6rdernde aus den Gedanken eines Philosophen herauszusch\u00e4len, so wenig wird sie den Erscheinungen der philosophischen Entwickelung in ihrer ganzen Complication gerecht. Vielmehr zeigen sich in diesen Zusammenh\u00e4ngen au\u00dfer den logischen noch mannigfaltige andere Motive wirksam, welche wir, ohne noch etwas \u00fcber ihre m\u00f6gliche Natur auszusagen, als alogische bezeichnen k\u00f6nnen. Diese Motive entspringen der Gesammtheit der denkenden Pers\u00f6nlichkeit in ihrer historischen und individuellen Bedingtheit. Eine besondere Seite dieser Motive soll uns im Folgenden besch\u00e4ftigen.\nWir haben uns bisher und werden uns auch im weiteren Verlaufe wesentlich mit den eigentlich philosophischen Problemen besch\u00e4ftigen. Doch sei gleich von vornherein darauf hingewiesen, dass sich ganz \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse auch in der Entwickelung der nicht philosophischen Wissenschaften aufweisen lassen, wenn auch nicht \u00fcberall in gleicher St\u00e4rke.\nIndem der Begriff gewisse einzelne Momente unserer Vor-","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nJonas Gohn.\nStellungen heraushebt und f\u00fcr sich betrachtet, verzichtet er als solcher auf die M\u00f6glichkeit, vorgestellt zu werden. Wenn wir mit Begriffen operiren wollen, so machen wir dies in der Weise, dass wir dem Begriff eine bestimmte repr\u00e4sentative Vorstellung unterschieben, in derselben aber die im Begriffe nicht gesetzten, sondern nur zur Vorstellbarkeit n\u00f6thigen Determinationen als unwesentlich behandeln und bei unseren Schl\u00fcssen nicht ber\u00fccksichtigen. So verf\u00e4hrt zum Beispiel der Mathematiker, wenn er S\u00e4tze, die vom Dreieck \u00fcberhaupt gelten, an einem bestimmten Dreieck ABC beweist. Indessen kann als Repr\u00e4sentant des Begriffes in unser Bewusstsein auch sein Zeichen eintreten. Ich erinnere an die Art, wie der Arithmetiker seine Buchstabensymbole benutzt. Je allgemeiner und abstracter ein Begriff ist, desto mehr wird diese Repr\u00e4sentation durch das Zeichen statthaben. Als Zeichen dient nun in den weitaus meisten F\u00e4llen das durch die Sprache gepr\u00e4gte Wort. Dies Wort soll nur das bezeichnen, was ich als seine Bedeutung fixirt habe. Man sagt h\u00e4ufig, dies oder jenes folge aus einem Begriff, liege in einem Begriff. Sofern es sich hier nicht um Bestimmungen hand\u00e9lt, welche ich in der That bereits in den Begriff gelegt habe und nun nur aus gewissen Gr\u00fcnden besonders hervorhebe oder auf einen unter den Begriff subsumirten Fall anwende, ist dieser Ausdruck ungenau und, da er zu Irrth\u00fcmern schwerwiegendster Art f\u00fchren kann, verwerflich. Wenn ich z. B. ein Dreieck als eine von drei geraden Linien umschlossene ebene Figur definirt habe, so folgt der Satz, dass die Winkelsumme des Dreiecks zwei Rechte betr\u00e4gt, nicht aus diesem Begriff allein, sondern erst unter Hinzunahme von anderen allgemeinen Bedingungen der Raumanschauung; nach dem gew\u00f6hnlichen Beweis unter Hinzunahme der S\u00e4tze von den parallelen Linien. Wenn ich das Wirbelthier als ein Thier mit innerem dorsalem Skelet definirt habe, so folgt der Satz, dass jedes Wirbelthier ein dorsales Central-Nervensystem hat, nicht etwa aus dem Begriff des Wirbelthieres, sondern aus der Erfahrung, dass jene erst gesetzte Eigenschaft eines Thieres nie ohne diese zweite vorkommt. Durch solche Erfahrungen oder Deductionen mehren wir den Gehalt unserer Begriffe; sie erst machen uns die Begriffe werthvoll f\u00fcr das Erkennen.\nSo stellt sich der Begriff als ideale Forderung im Zusammen-","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe.\n299\nhange eines wissenschaftlichen Systems dar. In seiner historischen Wirklichkeit entspricht er dieser idealen Forderung nicht. Der Name, welcher den Begriff repr\u00e4sentirt, verbindet sich vielmehr mit allerlei schwer controlirbaren Nebenvorstellungen und Vorstellungsbeziehungen, er gewinnt infolgedessen auch Beziehung zum Ge- . f\u00fchlsieben. Er erh\u00e4lt einen gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfigen Werth, der, ohne dem Denkenden immer zu klar eingestandenem Bewusstsein zu kommen, doch in seinem Denken die bedeutendsten Folgen hat. Auch in einen klaren wissenschaftlichen Begriff kann ein Gef\u00fchlston aufgenommen sein, man denke an \u00bbsch\u00f6n\u00ab \u00bbgut\u00ab und andere Werthbegriffe, aber dann ist der Gef\u00fchlston gewisserma\u00dfen rationalisirt; dieser Fall soll im Folgenden nicht ber\u00fccksichtigt werden. Man k\u00f6nnte nun wohl sagen, dass jenes complexe Gebilde in seiner empirischen Getr\u00fcbtheit nicht mehr den Namen Begriff verdient. Indessen wird es dann h\u00e4ufig schwer sein, in den Gedankenbildungen, wie sie uns \u00fcberliefert sind, \u00fcberhaupt reine Begriffe zu finden. Ich werde daher im Folgenden diesen empirisch getr\u00fcbten Begriff ruhig als Begriff bezeichnen. Ein solcher Begriff ist dann gewisserma\u00dfen ein lebendes und sich ver\u00e4nderndes Gebilde. Eine der in der Lebensgeschichte dieses Gebildes waltenden Kr\u00e4fte soll in dieser Arbeit betrachtet werden. Nicht die trotz ihrer Trivialit\u00e4t noch von Manchen bestrittene Wahrheit, dass alogische Motive in der Geschichte der Philosophie wirken, soll bewiesen werden, vielmehr soll \u00fcber die Natur einer Seite dieser Motive n\u00e4heres ausgesagt werden. Dazu ist zuerst zu betrachten, wie Begriffe Gef\u00fchlston erlangen, dann ist die Entwickelungsgeschichte einer solchen Gef\u00fchlswerthung zu verfolgen, endlich die Bedeutung, der Einfluss dieser Erscheinung zu untersuchen.\nEhe ich mich aber daran mache, die Gef\u00fchlsbeziehungen der Begriffe zu betrachten, m\u00f6chte ich noch eine Forderung abwehren, die vielleicht an mich gestellt werden konnte, die Forderung n\u00e4mlich, mich \u00fcber meine Anschauung von dem Verh\u00e4ltniss der Vorstellungen und Gef\u00fchle zu erkl\u00e4ren. Es gen\u00fcgt hier, wenn ich auf einen allgemein anerkannten Thatbestand hin weise. Wenn eine Vorstellung einmal mit einem Gef\u00fchle verbunden war, so raft die Reproduction der Vorstellung h\u00e4ufig dies Gef\u00fchl wieder hervor. Wenn ich ein n\u00e4heres Eingehen auf Theorien hier abweise, so ge-","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"Jonas Cohn.\n300\nschieht dies, weil das Folgende mit jeder m\u00f6glichen Theorie bestehen kann.\nWenden wir uns nun dazu, zu untersuchen, in welcher Weise ein Begriff gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Beziehungen erlangt. Dabei kommt zun\u00e4chst sein Erkenntnisswerth in Betracht. Ein philosophisches Princip ist Erkenntnissquelle f\u00fcr all den Reichthum der Wirklichkeit oder soll es doch sein. Das Finden des Princips hat dem Denker M\u00fche gekostet und an das m\u00fchsam Errungene heftet sich unsere Z\u00e4rtlichkeit. Soweit hier die Werthsch\u00e4tzungen sich auf die erkenntnissm\u00e4\u00dfige Bedeutung des Begriffs beschr\u00e4nken, sind sie v\u00f6llig berechtigt; aber sie f\u00fchren leicht dazu, den Werth auf das durch den Begriff Bezeichnete zu \u00fcbertragen. So werden \u00e4sthetisch-ethische Werthgef\u00fchle mit den philosophischen Prin-cipien verbunden. Diese Verbindung ist keine ganz urspr\u00fcngliche. Aristoteles tadelt einmal die alten Naturphilosophen, weil sie ihre Principien nicht f\u00fcr gut erkl\u00e4rt haben. Ueberhaupt m\u00fcssen wir uns h\u00fcten, unsere \u00fcberlieferten Werthbestimmungen auf die primitiven Denker zu \u00fcbertragen. Man findet es z. B. \u00f6fters so dargestellt, als habe Anaximander seinem gestaltlosen unendlichen Urstoff eine pantheistische Verg\u00f6tterung zu theil werden lassen. Wie falsch das ist, beweist jenes einzige Fragment, in welchem uns, wie es scheint, eigene Worte des milesischen Denkers aufbewahrt sind. Hier hei\u00dft es, dass die Einzeldinge in das Princip aufgehen m\u00fcssen, um Strafe f\u00fcr ihre Ungerechtigkeit zu leiden. Die Hineintragung eines positiven Gef\u00fchlswerths in das Princip alles Seins ist erst sp\u00e4ter erfolgt. Es scheint mir, als habe bei dieser Werthbestimmung die Liebe eine Rolle gespielt, mit welcher der Philosoph den fruchtbaren Ausgangspunkt seines Erkennens umfasste. Dabei darf man nicht vergessen, dass dem griechischen Denker der besseren Zeit die Freude am Erkennen eine ungebrochene war. Wer sich dies v\u00f6llig zum Bewusstsein bringen will, der lese die begeisterten Verse, mit denen Parmenides den Begriff des Seins einf\u00fchrt. Diese freudige Zuversicht auf die sie-geniJa^Macht, der Erkenntniss erhQb sich auch nach ihrer ersten Bek\u00e4^i\u00c4fung durch die Sophisten wieder in ungetr\u00fcbtem Glanze. Hier rfh sind die Werth Verh\u00e4ltnisse sehr complicirt. Das wahrhaft Wert volle ist erkennbar, die Werthprincipien sind im Grunde","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe.\n301\nPrincipien klarer Erkenntniss. Was sich dem Erkennen nicht unterwerfen l\u00e4sst, ist verd\u00e4chtig, erh\u00e4lt eine negative Gef\u00fchlswer-thung. So geht es dem Begriffe \u00bbunendlich\u00ab. Nur das Begrenzte verm\u00f6gen wir zu erkennen. Die begrenzenden Principien sind die Principien der Ordnung nnd damit des Guten. Zuerst l\u00e4sst sich diese Werthung bei den Pythagoreern nachweisen. Sie besteht aber dann bei Plato und Aristoteles fort. Bei Aristoteles muss die Welt begrenzt sein, weil sie vollkommen ist, weil das Unbegrenzte als unvollkommen gedacht wird. Dies Argument f\u00fchlt man, auch wo es nicht ausdr\u00fccklich aufgef\u00fchrt wird, hinter den schwierigen Beweisf\u00fchrungen des Philosophen als treibende Kraft. So verwickelt sich der Erkenntnisswerth eines Begriffes mit anderen Werthen zu einer schwer controlirbaren Gef\u00fchlswirkung. Aehn-liches wie f\u00fcr den Begriff \u00bbunendlich\u00ab lie\u00dfe sich zum Beispiel auch f\u00fcr den Begriff \u00bbeinfach\u00ab nachweisen.1\nIm Verlaufe der Geschichte des menschlichen Denkens werden die Begriffe immer abstracter und allgemeiner. Aber da die Namen der Begriffe dieselben bleiben, so spielen im Geiste der Denker die eigentlich ausgeschlossenen determinirenden Elemente weiter eine Rolle. Sie k\u00f6nnen ebenfalls zu eigenth\u00fcmlichen Gef\u00fchlsbetonungen f\u00fchren. Hier w\u00e4re an das Verhalten einiger neuerer Biologen gegen\u00fcber dem Begriff \u00bbEntwickelung\u00ab zu erinnern. Man hat sich etwa der Darwin\u2019sehen Selectionstheorie angeschlossen, man hat versucht, die organische Entwickelung mechanistisch zu erkl\u00e4ren. Dadurch hat man den Begriff eines erstrebten Zieles aus dem Entwickelungsbegriff ausgeschlossen. Dann aber schleicht sich doch wieder der \u00bbFortschritt\u00ab hinein, obwohl dieser Ausdruck nur da Sinn und Bedeutung besitzt, wo ein Ziel oder mindestens eine Richtung des Schreitens als werthvoll vorgestellt wird. Ist es hier ein ausdr\u00fccklich ausgeschlossenes Begriffsmoment, welches wieder hineingelegt wird, so ist in anderen F\u00e4llen ein Theil des unter dem Begriffsumfange Gedachten ma\u00dfgebend. Wenn der philosophirende Botaniker Alexander Braun sich in eingehender Untersuchung damit besch\u00e4ftigte, festzustellen, was bei der Pflanze das Individuum sei, so war es sicherlich der Werth der m\u00f6jpsch-lichen Individualit\u00e4t, welcher ihn leitete.\nSolche Verh\u00e4ltnisse werden erleichtert durch die Namt der","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nJonas Cohn.\nBegriffe. Diese Namen sind entweder schon vom gew\u00f6hnlichen Denken oder von der vorangehenden philosophischen Entwickelung mit einem reichen und in Folge des wechselnden Gebrauchs ungleichartigen Inhalt versehen worden. Selbst wenn genau bestimmt wird, welcher begrifflichen Beziehung der Name zu dienen hat, was bekanntlich durchaus nicht immer geschieht, so schleichen sich doch im Verlaufe der Er\u00f6rterungen sehr leicht die popul\u00e4ren oder traditionellen Bedeutungen mit ein. Wie leicht gerade mit einer Bezeichnung sich eine gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Werthung der bezeich-neten Sache verbindet, ist bekannt. Man denke z. B. an \u00bbSchulmeister\u00ab und \u00bbLehrer\u00ab. So gewinnen in der philosophischen Sprache Bezeichnungen wie \u00bbfr\u00fcher\u00ab, \u00bbh\u00f6her\u00ab, auch wenn sie sich auf eine Priorit\u00e4t im Erkennen beziehen, sehr leicht die Nebenbedeutung des Vorz\u00fcglicheren. Dabei kann entweder durch den Namen ein Gef\u00fchlselement in den Begriff hineinkommen, oder der irgendwie schon mit Gef\u00fchlen verbundene Name kann einem Begriff mit der uneingestandenen Absicht beigelegt werden, ein bestimmtes Gef\u00fchl f\u00fcr ihn zu erwecken. Man denke an die philosophischen Parteibezeichnungen.\nNachdem ich versucht habe, einige Motive, welche bei den Gef\u00fchlswerthungen der Begriffe ma\u00dfgebend werden, zu entwickeln, sei es mir erlaubt, an einem bestimmten Beispiel die Schicksale einer solchen Gef\u00fchlsbetonung vorzuf\u00fchren. Es wird kaum n\u00f6thig sein, hervorzuheben, dass es mir hier wie \u00fcberall in diesen Betrachtungen fernliegt, in den Gef\u00fchlsbestimmungen das einzige oder auch nur das wesentlichste Motiv der angef\u00fchrten begrifflichen Bestimmungen zu suchen. Nur ist es mir nat\u00fcrlich nicht m\u00f6glich, in diesem Zusammenh\u00e4nge auf die anderen treibenden Kr\u00e4fte, insbesondere auf den, durch alle Verh\u00fcllungen hindurch sich offenbarenden, logischen Fortschritt des Gedankens einzugehen. Als Beispiel f\u00fcr die Schicksale einer Gef\u00fchlswerthung w\u00e4hle ich den Begriff unendlich1).\nEs ist schon darauf hingewiesen worden, wie das Unendliche als Ungeordnetes, Unbestimmtes, Unerkennbares von den altgriechischen Denkern bis Aristoteles mit einer Nebenbestimmung des\n1) F\u00fcr die n\u00e4here Begr\u00fcndung des Folgenden m\u00f6chte ich auf eine in Vorbereitung befindliche Arbeit \u00fcber \u00bbdie Geschichte desUnendlichkeitsproblems\u00ab verweisen.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe.\n303\nWerthlosen gedacht wurde. Der siegesmuthige Verstand jener k\u00fchnen Pfadfinder im Reiche der Philosophie verg\u00f6tterte gewisserma\u00dfen sich selbst und glaubte in dem, was er selbst am klarsten erfassen konnte, auch das wirklich H\u00f6chste zu erfassen. So wurde das Unerkennbare mit Misstrauen betrachtet. Aber das Denken wurde bald an sich selber irre. Die praktische Tendenz der sp\u00e4teren Schulen, die quietistische und rein negative Abzweckung des Skepti-cismus zeigen den Wendepunkt. Die Denker mussten geneigt werden, das H\u00f6chste, G\u00f6ttliche, dessen sie bei der Ueberzeugung ihrer Schw\u00e4che um so mehr bedurften, als unerkennbar zu setzen, und wie k\u00f6nnte hierf\u00fcr in dem Schatz der philosophischen Begriffe ein passenderer Ausdruck gefunden werden, als der des Unendlichen ? Von den Neupythagoreern und Philo vorbereitet, wird diese Lehre vom G\u00f6ttlichen als einem Unendlichen bei Plotin mit voller Energie durchgef\u00fchrt. Nun fand aber diese Umwerthung nicht im bewussten Gegensatz zu Plato und Aristoteles statt. Vielmehr wurde an einzelne verwandte Lehren dieser Denker angekn\u00fcpft. Auch blieb die alte Werthung neben der neuen bestehen. Es wird so eine doppelte Unendlichkeit aufgestellt, eine Unendlichkeit aus Mangel, welche der Materie verbleibt, und eine Unendlichkeit aus unbegreiflicher Erhabenheit, welche dem G\u00f6ttlichen zukommt. Aber mehr und mehr ger\u00e4th jene schlechte Unendlichkeit in Vergessenheit, die Unendlichkeit \u00fcberhaupt, wo sie auch auftritt, wird schlie\u00dflich als werthvoll empfunden. Diese Vorstellung von Gott als dem absolut unendlichen Wesen geht auf die Kirchenv\u00e4ter und durch diese auf das Mittelalter \u00fcber. In der Bl\u00fcthezeit der Scholastik tritt nun aber wiederum der Beginn einer Wandlung ein. Man sucht sich verstandesm\u00e4\u00dfig dem G\u00f6ttlichen zu n\u00e4hern, und man glaubt, gerade in jenem Begriff des Unendlichen einen Angriffspunkt f\u00fcr eine solche Erfassung zu haben. So lehrt Thomas von Aquino, dass alles so weit erkennbar ist, als es actu, d. h. in Wirklichkeit, nicht nur der M\u00f6glichkeit nach, existirt. Gottes Unendlichkeit ist daher das am meisten Erkennbare, wenn sie auch von einem endlichen Geiste, dessen Schranken sie \u00fcberschreitet, nicht ad\u00e4quat erkannt werden kann. Die volle Unerkennbarkeit bleibt dann jener schlechten potentiellen Unendlichkeit der Materie.\nAls nun die Philosophie die Bande der Tradition zu sprengen Wunat, Philos. Studien. XII.\t20","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nJonas Cohn.\nbegann, da machte diese Rationalisirung des Unendlichen weitere Fortschritte. Die Mystik, welche damals m\u00e4chtiger wurde als je, legte mehr und mehr den Nachdruck auf das Wissen der Dinge vermittelst des Unendlichen; die Unerkennbarkeit des Unendlichen trat dagegen zur\u00fcck. In der Entwickelung des Nicolaus Cusanus kann man dies verfolgen. In seinen sp\u00e4teren Schriften wird das Unendliche gleichzeitig Erkenntnissziel und Erkenntnissmittel. Bei ihm beginnt auch eine andere Uebertragung. Die Welt wird wieder als werthvoll empfunden und so wird ihr auch das Pr\u00e4dicat des Werthvollen beigelegt. Schon dem Cusaner ist die Welt unendlich und zwar von werthvoller Unendlichkeit, wenn auch diese Bestimmung immer wieder abgeschw\u00e4cht wird. Klarer tritt der Zusammenhang zwischen Unendlichkeit der Welt und Weltverg\u00f6tterung in Bruno's gl\u00fchenden Schriften hervor. Gleichzeitig ist hier in der Rationalisirung des Unendlichen fortgeschritten. Vollendet wird diese Entwickelungsreihe durch Spinoza; hier f\u00e4llt im Unendlichen Gott und Welt zusammen, und zugleich ist das Unendliche das am tiefsten Erkannte. W\u00e4hrend also im Alterthum die Wandlungen im Vertrauen auf die Erkenntniss eine Umwerthung des Unendlichen zur Folge hatten, wurde beim neuerwachten Vertrauen auf das Erkennen vielmehr das Unendliche mit beibehaltener Gef\u00fchls-werthung rationalisirt. Es ist nat\u00fcrlich, dass bei ver\u00e4nderter Werthung der Begriff selbst nicht unangetastet derselbe bleibt. So hat der Begriff unendlich anfangs mehr der Unbegrenztheit r\u00e4umlichen Fortgangs, nach der positiven Werthung mehr der unendlichen wirkenden Kraft gegolten. Doch blieb damit die andere Bedeutung immerhin verbunden und gewann z. B. bei Bruno wieder die Oberhand.\nDa der Begriff, wie er in der Geschichte der Wissenschaften auftritt, ein complexes Gebilde ist, aus mannigfachen Beziehungen und Eigenschaften sich zusammensetzt, so kann nat\u00fcrlich die Verschiedenheit der Gef\u00fchlswirkung nicht ohne Einfluss auf seine Gestaltung bleiben. Sie wird stets zur Hervorhebung der Seiten f\u00fchren, die ihr jeweilig entgegenkommen. Wo aber bei allen diesen Aende-rungen die Ueberzeugung bestehen bleibt, dass es sich um die alten Begriffe handelt, da werden die widerstrebenden Seiten nicht vernichtet, sondern nur zur\u00fcckgedr\u00e4ngt werden, und man wird ruhig von der Umwerthung und Umbildung des alten Begriffs reden d\u00fcrfen.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe.\n305\nWenn wir uns die Bedeutung der Gef\u00fchlsbeziehungen philosophischer Begriffe klar machen, so treten sie uns zun\u00e4chst als verwirrende Elemente entgegen. Aber sie k\u00f6nnen auch anregend wirken. Der Ansto\u00df zu wichtigen Untersuchungsreihen kann von ihnen ausgehen. Alexander Braun\u2019s schon erw\u00e4hnte Werthsch\u00e4tzung des Individuums im Pflanzenreiche durch Unterschiebung der vollen menschlichen Individualit\u00e4t f\u00fchrte diesen Forscher zu h\u00f6chst wichtigen Untersuchungen \u00fcber die Verzweigung der Pflanzen. An dem ungeheuren Eifer, mit welchem die neuere Biologie den Erscheinungen der Entwicklung nachgesp\u00fcrt hat, ist jene falsche Werthunterschiebung durch den Begriff des Fortschritts gewiss nicht ohne Einfluss geblieben. Ohne die traditionelle Werthsch\u00e4tzung des Unendlichen h\u00e4tte Nikolaus von Cues kaum mit solchem Eifer sein Genie in den Dienst mathematischer Unendlichkeitsfragen gestellt, h\u00e4tte Bruno kaum mit so gl\u00fchendem Feuer die neue Auffassung der Sternenwelt vertreten.\nIn den Werthungen der Begriffe kommen zudem Probleme, wenngleich in unklarer, fast verstohlener Art, zum Ausdruck, welche trotz ihrer ungeheuren Wichtigkeit nur selten oder nie mit der geb\u00fchrenden Aufmerksamkeit gew\u00fcrdigt worden sind. Nicht nur unserem \u00e4sthetischen und ethischen Schaffen und Urtheilen liegen Werthsch\u00e4tzungen zu Grunde, auch der Gang unseres Erkennens ist \u00fcberall von ihnen geleitet. Man denke an die Forderung der Einfachheit erkl\u00e4render Hypothesen, an den alten Satz, dass die Principien nicht ohne Noth zu vervielf\u00e4ltigen sind. Alle Werth-principien nun h\u00e4ngen innig zusammen, sind als solche nur aufzuzeigen, nicht zu beweisen. Die Aufgabe besteht \u00fcberall darin, sie zur vollen Deutlichkeit des wissenschaftlichen Bewusstseins zu erheben. Geschieht dies nicht, so verderben sie die reine Klarheit der wissenschaftlichen Conception, ohne dabei selbst zu ihrem vollen Recht zu gelangen. Ein Beispiel wird die Sache etwas klarer machen. Man hat die Seele gern als einfach gesetzt und diese Bezeichnung mit Emphase vertheidigt. Im Hintergr\u00fcnde schwebte dabei fast immer der Wunsch, aus der Einfachheit die Unzerst\u00f6rbarkeit abzuleiten. Nur das Zusammengesetzte kann durch Auseinanderfallen seiner Theile aufgel\u00f6st werden, das Einfache bleibt als letztes Element stets unver\u00e4ndert. Man verga\u00df, dass dasjenige, was","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\tJonas Cohn. Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe\nman erhalten wollte, denn doch gerade jener hochcomplicirte Zusammenhang geistiger Bet\u00e4tigungen war. Zu einem fast komischen Ausdruck gelangt die Verwechselung, wenn die Materialisten, um f\u00fcr die Sterblichkeit zu entsch\u00e4digen, auf die Erhaltung von Kraft und Stoff hinweisen. Als ob uns an der Erhaltung der ungeformten Elemente irgend etwas gelegen sein k\u00f6nnte! Wenn man aus der Sehnsucht nach Unsterblichkeit die roheren Momente bei Seite setzt, so bleibt der Wunsch \u00fcbrig, mit unserer Arbeit und M\u00fche, mit unserem Freuen und Leiden nicht ins Zwecklose zu versinken, sondern an unzerst\u00f6rbaren Zusammenh\u00e4ngen Theil zu haben und mitzustreben. Es bleibt also, wenn man vom individuellen Lebensdurst absieht, der Wunsch nach ewiger Erhaltung der geistigen Werthe bestehen. Ob dieser Wunsch Berechtigung besitzt, ob die Art dessen, was wir von dem Weltzusammenhang wissen oder ahnen, f\u00fcr ihn Befriedigung hoffen l\u00e4sst oder unser Sehnen unerbittlich vernichtet, das bleibt eine wichtige philosophische Frage. Bejahende und verneinende Antworten m\u00fcssen hier in gleicher Weise discutirt und gepr\u00fcft werden. Nur soll man wagen, der eigenen Consequenz ins Auge zu blicken und nicht Steine statt Brod geben. Die Einsicht in diese innere Natur unseres Sehnens nach Unsterblichkeit wird mehr und mehr auch den mystischen Bann l\u00f6sen, mit dem selbst heute noch der Begriff \u00bbeinfach\u00ab in der Psychologie umh\u00fcllt ist.\nSo greifen die Gef\u00fchlswerthe \u00fcberall m\u00e4chtig in den Entwickelungsgang der Begriffe ein. Dieses Verh\u00e4ltniss macht die ohnehin wichtige Aufgabe einer klaren Darlegung der herrschenden Werthprincipien f\u00fcr jede k\u00fcnftige Philosophie nur um so dringender. Die Tragweite der geschilderten Verbindungen erstreckt sich \u00fcbrigens weit \u00fcber die angef\u00fchrten Beispiele hinaus. In der Geschichte der Begriffe \u00bbFreiheit\u00ab und zwar sowohl im \u00f6konomischen und politischen, wie im moralischen Sinne genommen, \u00bbnothwendig\u00ab, \u00bbzuf\u00e4llig\u00ab, \u00bba priori\u00ab, \u00bbVernunft\u00ab, \u00bbErfahrung\u00ab u. s. w. werden sich \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse nachweisen lassen. Ueberall empf\u00e4ngt der Denker Worte und Begriffe mit einer gewissen Werthung versehen, \u00fcberall wird er diese Werthung je nach seiner Kraft und Individualit\u00e4t fortleiten oder ver\u00e4ndern.","page":306}],"identifier":"lit4246","issued":"1896","language":"de","pages":"297-306","startpages":"297","title":"Die Gef\u00fchlswirkung der Begriffe","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:22:24.805179+00:00"}