Open Access
{"created":"2022-01-31T12:35:57.585069+00:00","id":"lit4247","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Judd, Charles Hubbard","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 409-463","fulltext":[{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes,\nVon\nCharles Huhbard Judd.\nMit 1 Figur im Text.\nI. Zur Kritik der Methoden.\nMan darf wohl behaupten, dass fast alle die zahlreichen Forscher, die \u00fcber Raumwahrnehmungen im Gebiet des Tastsinnes Versuche ausf\u00fchrten und, wie nicht bezweifelt werden kann, zu h\u00f6chst wichtigen Ergebnissen gelangt sind, die von E. H. Weber herr\u00fchrende Methode ziemlich kritiklos angewandt haben. Freilich findet man in der Literatur auch einige andere Methoden erw\u00e4hnt, aber dieselben wurden mit wenigen Ausnahmen entweder bald wieder ganz aufgegeben, oder die durch dieselben gewonnenen Resultate wurden im Sinne derjenigen Theorien gedeutet, welche aus der Anwendung der Weber\u2019schen Methode hervorgegangen waren. Es ist aber begreiflich, dass die nach dieser Methode gewonnenen Resultate nur dann richtig verwerthet werden k\u00f6nnen, wenn man sich zuvor klar macht, welche Fragen hier zu beantworten sind, und wie weit die in Betracht kommende Methode zu der Beantwortung dieser Fragen brauchbar ist. Die Weber\u2019sche Methode will die \u00bbFeinheit des Ortssinnes\u00ab dadurch bestimmen, dass sie diejenige Distanz feststellt, bei welcher zwei empfundene Punkte auf der Haut als eben trennbar aufgefasst werden k\u00f6nnen. Diese eben merkliche Trennbarkeit der Punkte ist von der eben merklichen Gr\u00f6\u00dfe der Ausdehnung wohl zu unterscheiden. Dies hat schon","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nCharles Hubbard Judd.\nFechner folgenderma\u00dfen ausgef\u00fchrt1): \u00bbWenn ein wei\u00dfer Kreis auf schwarzem Grunde oder umgekehrt zu klein ist oder aus zu gro\u00dfer Ferne betrachtet wird, so wird er nicht mehr erkannt. Wenn zwei Punkte oder parallele F\u00e4den einander zu nahe sind oder aus zu gro\u00dfer Ferne betrachtet werden, so verflie\u00dfen sie f\u00fcr das Auge, und die Distanz derselben wird unmerklich. Die Grenze, wo das Erste eintritt, kann als Schwelle der erkennbaren Gr\u00f6\u00dfe, die, wo das Letzte eintritt, als Schwelle der erkennbaren Distanz bezeichnet werden.\u00ab\nDiese zwei Arten von Schwellen sind nun nicht immer klar von einander unterschieden worden, und es schien daher w\u00fcnschens-werth, eine Reihe von Versuchen anzustellen, die den Unterschied derselben und ihre Beziehung zu einander pr\u00fcfen sollten.\nBetrachten wir zun\u00e4chst die Weber\u2019sche Methode als eine Methode f\u00fcr die Messung der erkennbaren Distanz (den Begriff \u00bbDistanz\u00ab in dem von Fechner gebrauchten Sinne genommen, in welchem er nur die Trennung zweier Eindr\u00fccke bedeutet), so erheben sich Bedenken gegen diese Verfahrungsweise aus folgendem Grunde. Wenn zwei Eindr\u00fccke auf der Haut als verschiedene erkannt worden sind, so kann diese Unterscheidung nur durch den qualitativ verschiedenen Empfindungsinhalt derselben erm\u00f6glicht werden. Die Frage, wie diese qualitativen Unterschiede auf verschiedenen Stellen der K\u00f6rperoberfl\u00e4che entstanden sind, soll uns hier nicht besch\u00e4ftigen. Wir nehmen ihre Existenz als empirisch gegeben an und bezeichnen dieselben nach Lotze\u2019s2) Vorgang als Localzeichen. Dass nun f\u00fcr die Vergleichung von Localzeichen die W eh er \u2019sehe Methode keine g\u00fcnstigen Bedingungen bietet, ergibt sich schon aus den Principien, die Weber selbst aufgestellt hat. Denn er fand sowohl hei der Untersuchung von Druck- wie bei der von Temperaturempfindungen, dass sich successive Reize f\u00fcr die Vergleichung von Empfindungen besser eignen, als simultane. Ebenso hat er bereits darauf hingewiesen, dass man Geschmacks-wie Geruchsempfindungen nur successiv vergleichen k\u00f6nne. Ebensowenig ist ihm dies beim Tastsinn entgangen, wie aus folgender Stelle ersichtlich ist: \u201eFaciiius impressiones duas illas discernimus\n1)\tEiern, der Psychophys. Bd. I. S. 245.\n2)\tMedicinische Psychologie, S. 331.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t411\nseparatasque sentimus, si non eodem plane temporis momento ab utroque cruro attingimur, sed perbrevi quidem aliquo tarnen temporis spatio interposito1).\u00ab\nAber diese Beobachtung ist in den Artikel \u00fcber \u00bbTastsinn und Gemeingef\u00fchl\u00ab nicht wieder aufgenommen. Es scheint, dass er dieselbe f\u00fcr seine inzwischen ausgebildete Theorie nicht verwerthen konnte und sie deswegen nicht weiter verfolgt hat. Ebenso wei\u00df Funke2), dass die durch die Localzeichen gegebenen qualitativen Unterschiede bei successiven Beizen besser als bei simultanen erkannt werden.\nDie Einw\u00e4nde, welche durch K\u00f6lliker und Lotze gegen die Weber\u2019sche Theorie erhoben wurden, sind f\u00fcr Weber die Veranlassung zu einer neuen Untersuchung gewesen, in der er eine neue Methode zur Anwendung brachte3). Diese Methode war dem besonderen Zwecke der zu untersuchenden Frage angepasst. Sie bestand darin, dass man eine Hautstelle punctuell reizt und diese gereizte Stelle sodann von der Versuchsperson unter Ausschluss des Gesichtssinnes nachtastend aufsuchen las\u00e0t. Die Gr\u00f6\u00dfe des bei diesem Verfahren von der Versuchsperson begangenen Fehlers steht im umgekehrten Verh\u00e4ltniss zur Feinheit des Baumsinnes. Diese Methode geht augenscheinlich von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus wie die erstere, denn hier untersucht man nicht die ebenmerkliche Zweiheit der Eindr\u00fccke, sondern es handelt sich lediglich um die Localisationsf\u00e4higkeit f\u00fcr einen einzigen Hautreiz. Doch hat Weber die mit dieser Methode gewonnenen Besultate dennoch ganz im Sinne der Theorie verwerthet, zu deren Aufstellung ihn seine erste Methode gef\u00fchrt hatte. Die Methode selbst ist nicht einwurfsfrei. Schon Czermak4 5) hat gezeigt, dass die bei Anwendung derselben in Betracht kommenden Chancen der Art sind, dass in fast allen F\u00e4llen die wirklichen Fehler kleiner als die m\u00f6glichen werden, und .dass die Besultate aus diesem'Grunde nicht zu verwerthen seien. Mit Czermak stimmt auch Goltz6) \u00fcberein. Ebenso\n1)\tAnnotationes anat. et physiol. S. 62 ff.\n2)\tHermann\u2019s Handbuch der Phys. III, 2. S. 400.\n3)\tSitzungsber. d. s\u00e4chs. Ges. 1852. S. 85.\n4)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1855. S. 474 ff.\n5)\tDe s\u00e7atii sensu cutis. Inaug.-Diss. Leipzig 1858.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nCharles Hubbard Judd.\nhaben Kottenkamp und Ullrich1) nach dieser Methode eine Reihe von Versuchen ausgef\u00fchrt, deren Resultate sie jedoch nicht verwerthet haben. Auch Klug2) hat gefunden, dass die so gewonnenen Resultate zu variabel und daher nicht brauchbar waren. Neuerdings haben Bart3), Lewy4) und Pillsburry5) nach derselben Methode gearbeitet, der Letztere hat versucht sie gegen die von Czermak erhobenen Einw\u00e4nde zu vertheidigen. Neben diesen aus mathematischen Gesichtspunkten gegen die Methode gemachten Einw\u00fcrfen erheben sich gegen dieselbe auch noch aus praktischen Gr\u00fcnden Bedenken. Die Versuchsperson ist beim Nach tasten ge-n\u00f6thigt, zuweilen mehrere Hautstellen zu ber\u00fchren, bevor sie die ihr als richtig erscheinende Stelle trifft. Da nun der Beobachter hierdurch in der Nachbarschaft des betreffenden Punktes auch noch andere Hautempfindungen hat, so muss die Localisationsf\u00e4higkeit zugleich zweifellos beeintr\u00e4chtigt werden. Andere st\u00f6rende Elemente m\u00fcssen aus den das Aufsuchen begleitenden Muskel- und Gelenkempfindungen der Hand entstehen. Sie verursachen n\u00e4mlich erstens eine Lagevorstellung und lenken au\u00dferdem die Aufmerksamkeit von der eigentlich gereizten Stelle ab.\nUeber die \u00fcbrigen in diesem Gebiete verwandten Methoden k\u00f6nnen wir uns k\u00fcrzer fassen. Die von Vierordt6) und seiner Schule angewandte Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle ist augenscheinlich nur eine Modification der ersten Web er\u2019sehen Methode. Sie dient nur dazu, die Messungen exact\u00e9r und leichter auszuf\u00fchren. Die von Fechner vorgeschlagene und von Camerer7) angewandte Methode der Aequivalente ist ebenfalls auf die erste Web er\u2019sehe Methode zur\u00fcckzuf\u00fchren. Das Wesentliche dieser Methode besteht in der Vergleichung von zwei \u00fcber der Schwelle liegenden Distanzen, indem der auf eine gewisse K\u00f6rperstelle ausge\u00fcbte Reiz constant bleibt und nun auf einer anderen Hautstelle\n1)\tZeitschr. f. Biol. 1870. Bd. VI. S. 45 ff.\n2)\tDu Bois-Reymond\u2019s Arch. f. Phys. (Phys. Abth.) 1877. S. 275 ff.\n3)\tInaug.-Diss. Juriew 1894.\n4)\tZeitschr. f. Psych, und Phys. d. Sinnesorg. VIII. S. 231 ff.\n5)\tAmer. Journal of Psych. 1895. VIL S. 42 ff.\n6)\tGrundriss der Physiol. 5. Aufl. 1877. S. 341 ff.\n7)\tZeitschr. f. Biol. XXIII. 1887. S. 509 ff.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnebmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n413\nein zweiter Reiz so lange variirt wird, bis derselbe dem ersten gleich zu sein scheint. In der objectiven Differenz dieser beiden Reize hoffte Camerer das Verh\u00e4ltniss der Feinheit des Raumsinnes zwischen diesen Hautstellen finden zu k\u00f6nnen. Dies w\u00e4re jedoch nur unter der Bedingung m\u00f6glich, dass beide Distanzen aus verschieden gro\u00dfen Empfindungseinheiten zusammengesetzt w\u00e4ren. Hieraus geht ganz deutlich hervor, dass Camerer die kleinste wahrnehmbare Ausdehnung als eine Empfindungseinheit betrachtete, und dass er glaubte, dass zwei als gleich beurtheilte Hautstrecken auch aus einer gleich gro\u00dfen Anzahl von Empfindungseinheiten zusammengesetzt sein m\u00fcssten. Camerer war sehr \u00fcberrascht, als die Resultate gegen seine Voraussetzung ausfielen. Er konnte dieselben nicht erkl\u00e4ren. Er hat aber augenscheinlich den Fehler begangen, dass er die Schwelle der erkennbaren Distanz mit derjenigen der Gr\u00f6\u00dfe identificirte.\nCzermak1) und nach ihm Goltz2) haben die von Weber und Lotze beobachtete Thatsache, dass zwei successive Reize leichter voneinander unterschieden wurden als simultane, weiter untersucht. Czermak fand auf diese Weise, dass in diesem Falle die Distanz zwischen zwei eben unterscheidbaren Punkten ungef\u00e4hr ein Drittel von derjenigen betr\u00e4gt, die nach der ersten Web er\u2019sehen Methode gefunden sind. Diese merkw\u00fcrdige Thatsache hat aber wenig Beachtung gefunden. Czermak selbst suchte durch sie nur seine eigene Theorie, die ebenfalls auf Grund der nach der ersten Web er\u2019sehen Methode gefundenen Resultate aufgestellt war, weiter zu befestigen.\nZur Messung der Schwelle der erkennbaren Gr\u00f6\u00dfe sind nur wenige Versuche ausgef\u00fchrt worden. Eisner3) gebrauchte aus Hartgummi gefertigte Cylinder, die einen verschiedenen Durchmesser besa\u00dfen, um durch einfaches Aufsetzen derselben auf die Haut die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Fl\u00e4chen zu messen. Er fand wichtige Resultate, die er jedoch im Sinne der Czermak-schen Theorie verwerthete, obwohl dieselben genau betrachtet gerade\n1)\tSitaungsber. d. W. Akad. 1855. XV. S. 466, XVII. S. 588 ff.\n2)\tDe spatii sensu cutis. S. 12 ff.\n3)\tBeurtheilung der Gr\u00f6\u00dfe und der Gestalt von Fl\u00e4chen. Inaug.-Diss. Erlangen 1888.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nCharles Hubbard Judd.\n,ein Argument gegen jene abgeben. Einige neuere Forscher wandten f\u00fcr diese Versuche Reize an, die aus continuirlichen Linien oder einfachen geometrischen Formgebilden bestanden. So hatz. B. Goldscheider1) derartige Linien als Reizmittel vorgeschlagen, obwohl er selbst bei seinen Arbeiten am meisten die erste Weber\u2019sche Methode gebrauchte. Doch muss hierzu noch bemerkt werden, dass er dieselbe modifieirte, da es ihm haupts\u00e4chlich auf die Unterscheidung der von ihm so bezeichneten specifischen Druckpunkte ankam. Hoffmann2) untersuchte die Unterscheidungsf\u00e4higkeit f\u00fcr Gestalten in einigen pathologischen F\u00e4llen. Eine umfangreiche Untersuchung \u00fcber den Zahl- und Raumbegriff, in der auch derartige Reizmittel in den verschiedensten Ab\u00e4nderungen Verwendung fanden, ist weiter von Nichols3) ver\u00f6ffentlicht worden. Ebenso hat Parrish4) continuirliche Reize angewandt, um die Wahrnehmung von ausgef\u00fcllten und leeren Zwischenr\u00e4umen auf der Haut zu untersuchen.\nSchlie\u00dflich sei noch in K\u00fcrze die Methode erw\u00e4hnt, welche von Henri5) und Pillsburry6) angegeben worden ist. Nach dieser Methode liegt das zu untersuchende K\u00f6rperglied (Hand oder Arm) der Versuchsperson in einer photographischen Nachbildung von nat\u00fcrlicher Gr\u00f6\u00dfe vor. Nachdem der Experimentator einen Hautpunkt des entsprechenden wirklichen K\u00f6rpertheils ber\u00fchrt hat, hat sodann die Versuchsperson die ber\u00fchrte Stelle auf der Photographie anzugeben. Diese Methode hat den Nachtheil, dass sie unter sehr complicirten Bedingungen arbeitet, indem sie als ein ganz neues Moment Gesichtseindr\u00fccke in die Untersuchung aufnimmt, die bei deT einfachen Localisation von Tasteindr\u00fccken nicht in diesem Ma\u00dfe wenigstens vorhanden sind. Pillsburry\u2019s Resultate zeigen den Einfluss der Visualisation in auffallender Weise. Man wird\n1)\tArch, f\u00fcr Anat. und Phys. 1885. Suppl. S. 84 ff. und 95 ff.\n2)\tStereognostische Versuche, angestellt zur Ermittelung der Elemente des Gef\u00fchlssinnes, aus denen die Vorstellungen den K\u00f6rper im Raume gebildet werden. Inaug.-Diss. Stra\u00dfhurg 1883.\n3)\tOur Notions of Number and Space. Boston 1894.\n4)\tAmer. Journ. of Psych. Vol. VI. S. 514 ff.\n5)\tArchives de Physiol. 1893. S. 619 ff.\n6)\tAmer. Journ. of Psych. VII, 1. S. 42 ff.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t415\naber zugeben m\u00fcssen, dass dieselbe mit der F\u00e4higkeit zu localisiren an sich noch nichts zu thun hahe. Es bedarf daher kaum eines weiteren Nachweises, dass die mit dieser photographischen Methode gewonnenen Resultate nicht die Grundlage f\u00fcr eine Erkl\u00e4rung der einfachen Localisationserscheinungen auf der Hautoberfl\u00e4che abgeben k\u00f6nnen, sondern selber wieder einer Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftig sind.\nDurch die vorstehende Kritik sollen die mit H\u00fclfe der besprochenen Methoden gewonnenen Resultate in ihrem Werthe in keiner Weise herabgesetzt werden. Die so gefundenen Resultate sind alle von hoher Bedeutung, aber sie sind nur dann vollg\u00fcltig zu verwerthen, wenn man einen verst\u00e4ndnisvollen Einblick in die ihnen zu Grunde liegenden elementaren Vorg\u00e4nge gewonnen hat.\nII. Eigene Versuche.\nWenn wir der sp\u00e4ter folgenden historischen Uebersicht unsere eigenen Versuche voranstellen, so geschieht dies, weil wir hoffen d\u00fcrfen, von dem durch die Versuche gewonnenen Standpunkte aus f\u00fcr die erstere ein besseres Verst\u00e4ndniss zu gewinnen.\nDer einfachste Vorgang im Gebiete des Raumsinnes der Haut ist die Wiedererkennung eines mehrmals nacheinander gereizten Hautpunktes. Diesem Vorg\u00e4nge parallel geht der, dass wir andere Hautpunkte als von diesem verschieden erkennen. Diese beiden Vorg\u00e4nge n\u00e4her zu untersuchen soll die erste Aufgabe dieser Arbeit sein. Es handelt sich demnach zun\u00e4chst um die Bestimmung der Schwelle der erkennbaren Distanz. Erst sp\u00e4ter kommen wir zu der Untersuchung der Schwelle der erkennbaren Gr\u00f6\u00dfe und zu der Beziehung zwischen beiden.\nSchon in den fr\u00fcheren Arbeiten von Czermak1) und Goltz2) finden sich einige Andeutungen zur Gewinnung eines einfacheren Verfahrens. Dieses besteht darin, dass man nach deutlicher Auffassung einer ber\u00fchrten Hautstelle eine zweite ber\u00fchrt und diese mit der ersten vergleichen l\u00e4sst. Diese Vergleichung bezieht sich jedoch nur auf die Localisation der hervorgerufenen Eindr\u00fccke,\n1)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1855. XVII. S. 588.\n2)\tDe spatii sensu cutis. S. 12 ff.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nCharles Hubbard Judd.\nnicht auf die durch dieselben erzeugten Empfindungen des Drucks und der Temperatur. Um diese letzteren Eigenschaften, sowie auch die Gr\u00f6\u00dfe der jeweils untersuchten Hautstelle constant halten zu k\u00f6nnen, und um weiter die Abst\u00e4nde der in Betracht kommenden Hauteindr\u00fccke ohne Schwierigkeiten ablesen zu k\u00f6nnen, wurde f\u00fcr die Versuche ein Apparat verwandt, wie ihn die beifolgende Abbildung zeigt.\nAls Reizmittel diente eine am unteren Ende etwas abgestumpfte Stricknadel d von etwa 10 cm L\u00e4nge, welche aus Knochen gefertigt ist. Dieses Material wurde gew\u00e4hlt, um etwaige Temperaturunterschiede m\u00f6glichst auszuschalten. Am oberen Ende ist diese Nadel durch eine Bleiplatte g beschwert. Der auf diese Weise stets constant ausge\u00fcbte Druck entspricht einem Gesammtgewicht von etwa 27 g. Um die Nadel ferner stets senkrecht auf die Haut aufsetzen zu k\u00f6nnen, ist dieselbe durch ein Glasrohr rr gef\u00fchrt, dessen innerer Durchmesser so gro\u00df genommen ist, dass die bei der Durchf\u00fchrung der Nadel entstehende Reibung eben vermieden ist. Die Nadel senkt sich daher bei jedem einzelnen Versuche mit ihrem ganzen Gewichte auf den betreffenden Hautpunkt. Das erw\u00e4hnte Glasrohr ist am oberen Ende in einem wagerecht zu demselben stehenden Brettchen h befestigt. Das letztere dient somit als eine","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahmehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t417\nHandhabe f\u00fcr das genannte Glasrobr, welches au\u00dferdem in einer horizontal an einem Statif Sn befestigten Schiene BB leicht hin und her bewegt werden kann. Auf beiden Seiten der Schiene befindet sich eine Millimeter-Scala m. Verschiebt man nun das \u00fcber der oberen Kante der Schiene leicht hingleitende Brettchen, so ist man im Stande, die Entfernung der in Frage kommenden Hautstellen nach Millimetern leicht ablesen zu k\u00f6nnen. Auf diese Weise glauben wir alle die oben aufgez\u00e4hlten Bedingungen, welche f\u00fcr die Ausf\u00fchrung der Versuche n\u00f6thig sind, erf\u00fcllt zu haben. Die untersuchte K\u00f6rperstelle, auf welche sich alle von uns angestellten Versuche beziehen, befindet sich auf der Volarseite des rechten Unterarmes, ungef\u00e4hr in der Mitte zwischen Ellenbeuge und Handgelenk und ebenso in der Mitte der beiden Seitenr\u00e4nder dieser K\u00f6rperfl\u00e4chen. Der Arm der Versuchsperson ruhte auf einem niedrigen Tisch, der zugleich den Apparat trug. Um alle Gesichtsvorstellungen w\u00e4hrend der Versuche streng auszuschlie\u00dfen, befand sich zwischen dem Apparat und dem Auge der Versuchsperson ein aus Pappe gefertigter Schirm, durch welchen der zu untersuchende Arm gef\u00fchrt ward. Zwischen den Einzelversuehen wurden hinreichend lange Pausen eingeschoben, um einer bei den Versuchen m\u00f6glicherweise auftretenden Erm\u00fcdung vorzubeugen. Als Versuchspersonen dienten mir die Herren: Dr. E. Meumann, Dr. F. Kiesow, Mr. G. M. Stratton, Mr. F. D. Sherman und Dr. Bon, denen ich an dieser Stelle zugleich meinen Dank ausspreche.\nI. Mit dem beschriebenen Apparate wurden zwei Arten von Versuchsreihen ausgef\u00fchrt. In der ersten verwandten wir einfache successive Heize. Die Nadel ber\u00fchrte die Haut w\u00e4hrend drei Se-cunden; dieselbe wurde dann aufgehoben und nach m\u00f6glichst kurzer Zwischenzeit sofort wieder auf die gleiche oder auf eine andere Stelle niedergelassen. Im letzten Falle konnte sich die beim zweiten Aufsetzen der Nadel gereizte Stelle nach der Richtung der Ellenbeuge, nach dem Handgelenke hin oder rechts oder links von dem ersten Eindruck befinden. Nur diese vier Richtungen sind in den Versuchen in Betracht gezogen. Dieselben sind in den Tabellen mit E, II, B und L bezeichnet. Die verwandte Methode war die der minimalen Aenderungen, sowohl in der aufsteigenden wie in der absteigenden Reihe. Angefangen wurde stets mit dem Null-","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nCharles Hubbard Judd.\nwerthe der ersteren. Das Verfahren war insofern ein unwissentliches, als die zu w\u00e4hlende Richtung des zweiten Eindruckes dem Reagenten unbekannt war. In der absteigenden Reihe musste die Richtung nat\u00fcrlich der Versuchsperson bekannt sein. Aus den so entstehenden Verschiedenheiten der beiden Versuchsweisen folgt, dass man f\u00fcr die zu suchenden Mittelwerthe nicht beide Reihen zusammen verwenden darf. In den Tabellen sind daher die Resultate von beiden Reihen angegeben worden. Unterschieden sind dieselben durch dar\u00fcbergesetzte Pfeile (\u00ee I). Von der Versuchsperson wurden jedesmal zwei Antworten verlangt. Dieselbe hatte anzugeben, ob der zweite Reiz dieselbe oder eine andere Stelle getroffen h\u00e4tte, und wenn dies letztere der Fall war, au\u00dferdem die Richtung dieses zweiten Reizes zu bezeichnen. Die in der Tabelle I mitgetheilten Werthe geben in Centimetern diejenige Distanz an, bei welcher die Richtungsurtheile anfingen constant der Wirklichkeit zu entsprechen.\nWas uns in erster Linie aus der Tabelle entgegentritt, sind die auffallend niedrigen Schwellenwerthe. Tabelle II zeigt zum Vergleiche die Schwellen f\u00fcr zwei Spitzen, wenn dieselben gleichzeitig aufgesetzt werden. Diejenigen Werthe, welche in der ersten Reihe der zweiten Tabelle zusammengeordnet sind, sind aus dem Mittelwerthe der aufsteigenden. E- und ET-Reihe in Tabelle I gewonnen, indem aus diesen wiederum das Mittel gezogen ist. Dies ist geschehen, weil die Versuchsreihen, in denen zwei Spitzen gleichzeitig aufgesetzt sind, nur in der L\u00e4ngsrichtung angestellt wurden. Die Vergleichung dieser mit gleichzeitigen und successiven Reizen gewonnenen Werthe zeigt eine ann\u00e4hernde Uebereinstimmung mit den Resultaten, die Czermak und Goltz, wie oben (S. 415) erw\u00e4hnt, erhalten haben. Die Vergleichung zeigt augenscheinlich, dass die aus successiven Reizen resultirenden Schwellenwerthe viel niedriger liegen, als diejenigen, welche man bei simultanen Eindr\u00fccken erh\u00e4lt. Hieraus erhellt, dass die anatomischen Bedingungen f\u00fcr die Unterscheidung zweier punktartiger Eindr\u00fccke auf der Hautoberfl\u00e4che nicht so ung\u00fcnstige sein k\u00f6nnen, als man nach den gew\u00f6hnlich gefundenen extensiven Schwellenwerthen gemeinhin anzunehmen pflegt, denn die Wahrnehmung der Zweiheit kommt in der That unterhalb dieser Schwellen unter den g\u00fcnstigen Bedingun-","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"419\nUeber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\ngen, unter denen wir arbeiteten, vor. . Hierzu muss nocb bemerkt werden, dass die Thatsachen, welche die beigegebenen Tabellen enthalten, nocb nicht alles sind, was man als Beweis f\u00fcr die eben angef\u00fchrte Behauptung anf\u00fchren kann. Schon Czermak1) hat bemerkt: \u00bbdass man sehr oft mit aller Deutlichkeit die Lage des zweiten Eindruckes wahrzunehmen glaubt \u2014 somit jedenfalls schon die Vorstellung zweier getrennter Raumpunkte haben muss \u2014 die objective Lage der Eindr\u00fccke aber nichtsdestoweniger der vermeintlichen nicht nur nicht entsprechend, sondern sogar geradezu entgegengesetzt sein kann.\u00ab\nDiese von Czermak mitgetheilte Beobachtung k\u00f6nnen wir nach unsern Versuchen durchaus best\u00e4tigen. Die Versuchsperson konnte oftmals wahrnehmen, dass die zweite ber\u00fchrte Stelle von der zuerst gereizten verschieden war, ohne aber dabei die Richtung der Eindr\u00fccke zu erkennen; die letztere wurde in manchen F\u00e4llen als unsicher oder als \u00fcberhaupt unerkennbar angegeben. Verst\u00e4ndlich wird diese Erscheinung, wenn man die Selbstbeobachtungen der Versuchspersonen n\u00e4her ins Auge fasst. Diese Vorg\u00e4nge werden von den Versuchspersonen folgenderma\u00dfen beschrieben: Beim Aufsetzen des ersten Reizes ist die Aufmerksamkeit stark auf die Reizstelle gerichtet. Hierdurch wird eine Druckempfindung erzeugt, welche bei einer Gruppe von Beobachtern ein deutliches Gesichtsbild der getroffenen Armstelle durch Associationen mit sich bringt. Andere sehen in diesem Falle nur einen dunklen Umriss des betreffenden K\u00f6rpertheils, auf welchen sie den Eindruck dann localisiren. Bei einer dritten Gruppe von Personen fehlen bewusste Gesichtsassociationen g\u00e4nzlich, diese verlassen sich nur auf die durch die Structurverh\u00e4ltnisse bedingte Druckqualit\u00e4t. Beim Aufsetzen des zweiten Reizes wei\u00df man sofort, ob derselbe in das erste Gesichtsbild hineinpasst oder ob derselbe in F\u00e4llen, wo nur die Druckqualit\u00e4t in Betracht kommt, dem ersten Reize gleich oder ungleich ist. Ist nun das zweite Gesichtsbild oder die zweite Druckqualit\u00e4t dem ersten Eindruck nicht gleich, so ist der einfachste Fall der, in dem man sich des einfachen Nichtidentischseins der betreffenden Eindr\u00fccke bewusst wird, ohne dabei im Stande zu sein,\n1) Molesohott\u2019s Unters. 1856. Erster Band. S. 196.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n28","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nCharles Hubbard Judd.\nTabelle I.\nE |\tE ^\tHf\th;\t\t\tB4\tR|\tRichtung\nDr. F. Kiesow.\t\t\t\t\t\t\t\t\n13\t13\t13\t13\t13\t13\t13\t13\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,65\t0,29\t0,65\t0,35\t0,58\t0,28\t0,68\t0,29\tMittlere Schwelle\n0,17\t0,13\t0,24\t0,20\t0,12\t0,10\t0,11\t0,13\tMittlere Variation\n1,4\t0,5\t2,0\t0,7\t0,8\t0,5\t1,2\t0,7\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,4\t0,0\t0,4\t0,0\t0,4\t0,0\t0,3\t0,0\tKleinste Schwelle\nMr. G. M. Stratton.\t\t\t\t\t\t\t\t\n12\t12\t10\t10\t12\t12\t10\t10\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,73\t0,64\t0,59\t0,51\t0,73\t0,60\t0,72\t0,46\tMittlere Schwelle\n0,17\t0,13\t0,12\t0,17\t0,19\t0,18\t0,14\t0,12\tMittlere Variation\n1,2\t0,8\t1,0\t1,0\t1,4\t1,0\t1,2\t0,6\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,5\t0,3\t0,4\t0,2\t0,4\t0,2\t0,6\t0,1\tKleinste Schwelle\nMr. F. D. Sherman.\t\t\t\t\t\t\t\t\n10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,70\t0,60\t0,84\t0,60\t0,88\t0,62\t0,66\t0,52\tMittlere Schwelle\n0,20\t0,08\t0,14\t0,12\t0,22\t0,11\t0,11\t0,10\tMittlere Variation\n1,2\t0,8\t1,2\t1,0\t1,6\t0,8\t0,8\t0,6\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,4\t0,4\t0,6\t0,4\t0,6\t0,4\t0,4\t0,4\tKleinste Schwelle\nDr. E. Meumann.\t\t\t\t\t\t\t\t\n5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,82\t0,40\t0,96\t0,48\t0,70\t0,36\t0,94\t0,50\tMittlere Schwelle\n0,23\t0,08\t0,28\t0,26\t0,08\t0,19\t0,26\t0,24\tMittlere Variation\n1,4\t0,5\t1,6\t0,7\t0,9\t0,8\t1,6\t0,8\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,6\t0,2\t0,6\t0,0\t0,6\t0,0\t0,4\t0,0\tKleinste Schwelle\nDr. F. Bon.\t\t\t\t\t\t\t\t\n5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,54\t0,12\t0,54\t0,18\t0,55\t.0,18\t0,50\t0,16\tMittlere Schwelle\n0,07\t0,06\t0,07\t0,06\t0,11\t0,07\t0,08\t0,07\tMittlere Variation\n0,7\t0,2\t0,6\t0,3\t0,8\t0,3\t0,6\t0,3\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,5\t0,0\t0,4\t0,1\t0,3\t0,0\t0,4\t0,1\tKleinste Schwelle","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t421\nTabelle II.\nKi.\tSt.\tSh.\tM.\tB.\tBeobachter\n0,65\t0,66\t0,77\t0,89\t0,54\tAus Reihe I. \u2014- Mittlere Schwelle\n2,50\t2,03\t2,66\t3,49\t2,50\tMit 2 Spitzen. \u2014 Mittlere Schwelle\nTabelle III.\nEf\tE|\tHt\t\tLt\tLt\tRt\tR t\tRichtung\n0,82\t0,40\t0,96\t0,48\t0,70\t0,36\t0,94\t0,50\tAus Reihe I\n3,0\t1,0\t1,8\t0,4\t2,0\t1,0\t1,1\t0,2\t| Bestimmungen\nb6\t1,2\t3,2\t1,2\t0,6\t0,2\t1,6\t0,0\tj bei Erm\u00fcdung\nA\nirgendwelche positive Angaben \u00fcber ihre qualitativen Unterschiede machen zu k\u00f6nnen. Sollen nun die beiden hervorgerufenen Eindr\u00fccke mit Bezug auf ihre Lage n\u00e4her in Beziehung zu einander gesetzt werden, was f\u00fcr die Erkennung ihrer Richtung Bedingung ist, so m\u00fcssen die qualitativen Unterschiede derselben zuvor deutlich erkannt sein. Die Beziehung der Eindr\u00fccke zu einander ist aber immer sehr schwierig vorstellbar, wenn die qualitativen Unterschiede sehr gering sind. In diesen F\u00e4llen kommt man daher nicht weiter, als his zum Urtheil der blo\u00dfen Nichtidentit\u00e4t. Die Richtung ist hier so unbestimmt, dass sie nicht erkannt werden kann. Das Urtheil der Zweiheit aber kann in diesem Sinne bei minimalen Distanzen Vorkommen. Es kann sogar auftreten, wenn man dieselbe Stelle zweimal nacheinander reizt. Zur Erkl\u00e4rung des letzteren Falles l\u00e4sst sich zweierlei anf\u00fchren. Man kann einmal annehmen, dass eine Hautstelle, die bereits drei Secunden lang gereizt wurde, sich nicht mehr in dem anf\u00e4nglichen Zustande befindet. Die so nothwendig entstehenden Empfindungsunterschiede k\u00f6nnten, obwohl sie sehr gering sein m\u00fcssen, dennoch hinreichend gro\u00df sein, um eine sehr einge\u00fcbte Versuchsperson zu dem Urtheil \u00bbnicht gleich\u00ab zu veranlassen. Sodann muss hervorgehoben werden, dass es auch bei der gr\u00f6\u00dften Vorsicht fast unm\u00f6glich ist, denselben\n28*","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nCharles Hubbard Judd,\nHautpunkt absolut genau zum zweiten Male zu treffen, und ebenso, dass die Applicationsweise der beiden Reize in beiden F\u00e4llen nicht immer dieselbe sein d\u00fcrfte. Ich bin geneigt, auf diese letztere Ursache das meiste Gewicht zu legen, da die Nulldistanz in der aufsteigenden Reihe meistens als \u00bbgleich\u00ab beurtheilt wurde. Geringe I Distanzen von 2 mm aber gen\u00fcgten bereits, um die Ungleichheit der beiden Eindr\u00fccke bei einigen Versuchspersonen regelm\u00e4\u00dfig erkennen zu lassen. Au\u00dfer den F\u00e4llen, in denen die Richtung undeutlich erscheint, gibt es andere, in denen zwar eine Richtung angegeben wird, die aber doch der wirklichen nicht entspricht. Diese falschen RichtungsVorstellungen k\u00f6nnen, wie Czermak nach dem obigen Citate (S. 419) bereits bemerkte, der wirklichen Richtung gerade entgegengesetzt sein. Es verdient aber hervorgehoben zu werden, dass dies mehr eine Sache des Zufalls ist. Mitunter kommen auch in derselben Versuchsreihe noch unterhalb der Schwelle verschiedenartige falsche Richtungsurtheile vor. Dieselben d\u00fcrfen nicht immer der subjectiven Unsicherheit zugeschrieben werden, denn man kann das Urtheil einer falschen Richtung abgeben, auch wenn man glaubt, die richtige ganz deutlich erkannt zu haben. Dies ist oft der Fall bei sehr kleinen Distanzen von etwa 3 oder 4 mm. Die dunkel percipirte Zweiheit scheint in diesem Falle die Veranlassung f\u00fcr die Richtungsvorstellung zu sein. Da aber die qualitativen Unterschiede der Localzeichen nicht gro\u00df genug sind, um mit klarem Bewusstsein verglichen und in Beziehung gesetzt werden zu k\u00f6nnen, so kann die beurtheilte Richtung auch nicht von der wirklichen Empfindungsdifferenz abh\u00e4ngen, sondern nur von sich h\u00e4ufenden zuf\u00e4lligen Einfl\u00fcssen. Beim wissentlichen Verfahren beobachtet man, dass die Richtungen bei viel geringeren Distanzen als beim unwissentlichen erkannt werden. Dies erkl\u00e4rt sich aus dem Umstand, dass an die Stelle der zuf\u00e4lligen Einfl\u00fcsse die Kenntniss der Richtung tritt. Ein Blick in die Tabelle I wird dies best\u00e4tigen. Bei den absteigenden Versuchsreihen, in denen ein wissentliches Verfahren zum Ausdruck kommt, sind die Werthe ohne Ausnahme geringer, als in den aufsteigenden Reihen. In den absteigenden Reihen kommen au\u00dferdem nicht selten richtige Richtungsurtheile auch bei den Nulldistanzen vor. Diese Erscheinung ist jedoch, theilweise wenigstens, dem Einfl\u00fcsse der Erwartung","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t423\nzuzuschreiben, auf welche wir weiter unten zur\u00fcckkommen werden.\nDie hervorgehobenen Thatsachen lassen keinen Zweifel dar\u00fcber zu, dass das Urtheil der Richtung ein weit complicirterer Vorgang ist, als das der Zweiheit. Das letztere kann, wie bereits ausgef\u00fchrt wurde, lediglich der einfachen Wahrnehmung des Nichtidentischseins der Eindr\u00fccke entstammen. Derjenige Vorgang jedoch, durch welchen die Erkennung der Richtung zum Bewusstsein kommt, mag folgenderma\u00dfen beschrieben werden. Von jedem Punkte der Haut aus ver\u00e4ndert sich allm\u00e4hlich die Qualit\u00e4t der Localzeichen. Wenn nun zwei derartige Localzeichen wahrgenommen werden, so m\u00fcssen ihre positiv\u00e8n qualitativen Empfindungsinhalte, damit sie in einer einzigen Vorstellung auf einander bezogen werden k\u00f6nnen, deutlich aufgefasst werden. Dies ist aber nur dann m\u00f6glich, wenn die Localzeichen deutlich von einander unterschieden werden, da dieselben sonst zu einem einzigen Eindr\u00fccke verschmelzen oder durch ihre Aehnlichkeit der deutlichen Perception der Zweiheit gro\u00dfe Schwierigkeit darbieten w\u00fcrden. Die Gebiete, in denen die Localzeichen v\u00f6llig gleich erscheinen, sind sehr klein und m\u00fcssen als Punkte betrachtet werden. Die qualitativen Unterschiede wachsen aber nur sehr langsam, so dass zwei Punkte, welche ganz deutlich verschiedene Qualit\u00e4ten liefern, die man, um zu einer neuen Gesammtvorstellung zu gelangen, untereinander vergleichen muss, schon eine ziemlich betr\u00e4chtliche Distanz annehmen m\u00fcssen. Diese Distanzen sind die Schwellenwerthe, welche in der Tabelle I angegeben sind. Dass aber diese Distanzen durch ein gleichzeitiges Aufsetzen von zwei Spitzen gemessen werden k\u00f6nnen, muss auf das Entschiedenste zur\u00fcckgewiesen werden. Was in diesem letzterw\u00e4hnten Falle vor sich geht, soll sp\u00e4ter untersucht werden. Vorl\u00e4ufig erscheint es hinreichend bewiesen, dass die Schwellenwerthe f\u00fcr diese Distanzen durch die von uns angewandte Methode einwurfsfreier bestimmt sind. Hiermit soll aber nicht gesagt sein, dass die Schwellenwerthe constant bleibende Gr\u00f6\u00dfen seien. Die mittleren Variationen sind, wie man aus den Tabellen ersieht, nicht unbetr\u00e4chtlich und der Unterschied zwischen den gr\u00f6\u00dften und kleinsten Schwellen ist manchmal ein recht bedeutender. Hieraus folgt jedoch nicht, dass die Methode unbrauchbar ist, sondern nur, dass","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nCharles Hubbard Judd.\ndas Richtungsurtheil ein zusammengesetzter, von vielen Bedingungen abh\u00e4ngiger Vorgang ist.\nVon gro\u00dfem Interesse ist der Einfluss der Erwartung1). Hat die Versuchsperson eine beliebige Richtung beurtheilt, so ben\u00fctzt dieselbe den n\u00e4chsten Versuch gewisserma\u00dfen, um das abgegebene Urtheil zu pr\u00fcfen. Nehmen wir nun an, dass die Versuchsperson bei sehr kleinen Distanzen zuf\u00e4llig irgend eine Richtung beurtheilt, und die Qualit\u00e4tsunterschiede auch beim n\u00e4chsten Aufsetzen noch so gering sind, dass das Urtheil nochmals durch zuf\u00e4llige Einfl\u00fcsse bestimmt wird, so wird die nun auftretende Erwartung das Urtheil derma\u00dfen beeinflussen, dass die unbestimmte Empfindung mit der Erwartung in Einklang zu sein scheint. Nach einer Reihe gleicher Urtheile befestigt sich die Erwartung immer mehr. Auf diese Weise kann sie auch manchmal den Schwellenwerth betr\u00e4chtlich erh\u00f6hen, denn unter diesen Bedingungen m\u00fcssen die qualitativen Verschiedenheiten erst sehr deutlich werden, um trotz der Erwartung erkannt zu werden. In anderen F\u00e4llen schwankt der Beobachter in seinem Urtheile zwischen zwei Richtungen und w\u00e4hlt endlich die falsche, die dann deutlicher erscheint und unter dem Einfl\u00fcsse der Erwartung das n\u00e4chste Urtheil erschwert.\nDer Einfluss der Erm\u00fcdung kam bei unseren Versuchen in der Regel nicht in Betracht, da zwischen den einzelnen Versuchsreihen, wie gesagt, immer l\u00e4ngere Pausen inne gehalten wurden. Doch m\u00fcssen einige F\u00e4lle besprochen werden, in denen sich die Versuchsperson schon beim Beginn der Versuche als sehr m\u00fcde erkl\u00e4rte. Dieselben sind trotz der anormalen Bedingungen, unter denen sie angestellt wurden, dennoch verwerthet worden, weil sich der Einfluss der Erm\u00fcdung in denselben in auffallender Weise zeigte. Doch sind sie f\u00fcr die Tabelle I unber\u00fccksichtigt geblieben. Die Tabelle III enth\u00e4lt die aus diesen Versuchen gewonnenen Resultate. Aus den 16 Reihen, welche diese Tabelle enth\u00e4lt, erkennt man unschwer die Herabsetzung der Empfindlichkeit und somit eine betr\u00e4chtliche Erh\u00f6hung der Schwellenwerthe im Zustande der\n1) Der Beobachter versuchte so viel wie m\u00f6glich die gegebene Empfindung ohne Vorurtheile aufzufassen. Trotzdem machte sich dieser Einfluss der Erwartung deutlich geltend.","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t425\nErm\u00fcdung. Was den Einfluss der Uebung betrifft, so ist ein solcher aus unseren Versuchen nicht nachweisbar gewesen, obwohl diese Reihen mit einer der Versuchspersonen (Dr. F. Kiesow) mit Ausnahme der Sonntage t\u00e4glich w\u00e4hrend eines Zeitraumes von vier Wochen fortgesetzt wurden.\nIn der Feinheit der Unterscheidungsf\u00e4higkeit besitzt nach unseren Beobachtungen keine der vier Richtungen einen besonderen Vorzug, wie man nach der Weber\u2019\u00e7chen Aussage, dass die Zweiheit leichter in der Quer- als in der L\u00e4ngsrichtung erkannt werde, vermuthen k\u00f6nnte. Die Schwellendistanzen in Tabelle I sind aber verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig klein. Auch wenn der zweite Reiz nach rechts oder links von dem ersten aufgesetzt wurde, traf derselbe noch nicht die eigentlichen Seitentheile des Armes. Die in Betracht kommenden Hautbezirke sind demnach nach allen Richtungen hin als ziemlich gleichwerthige anzusehen. Ebenso m\u00fcssen die Localzeichen auf diesen Gebieten ziemlich \u00bbgleichm\u00e4\u00dfig variiren.\nH. Eine zweite Versuchsreihe wurde unter ver\u00e4nderten Bedingungen angestellt. Wir benutzten f\u00fcr diese Versuche zwei Nadeln, wie die, welche oben (S. 416) beschrieben ist. Von diesen blieb die eine nach der Hervorrufung des ersten Eindrucks auf dem Hautpunkte ruhen, bis auch der mit der anderen Nadel ap-plicirte zweite Reiz erfolgt war. Der letztere folgte auf den ersten nach einer Zwischenzeit von 3 Secunden. Im Uebrigen war die Versuchsanordnung genau dieselbe, wie die der ersten Versuchsreihe. Die Resultate dieser Versuche sind in Tabelle IV angegeben. Dieselbe zeigt regelm\u00e4\u00dfig h\u00f6here Schwellenwerthe, als wir bei den erstbesprochenen Versuchen erhielten. In Tabelle V sind die Ergebnisse beider Versuchsanordnungen zum besseren Vergleiche zusammengestellt. Die einzigen Ausnahmen von der eben erw\u00e4hnten Beobachtung fanden sich in den absteigenden JE- und i\u00fc-Reihen bei Mr. F. Sherman und in beiden auf- und absteigenden jE-Reihen bei Herrn Dr. Meumann. Der Letztere zeigte in dieser Reihe die deutliche Tendenz, den zweiten Eindruck nach der Ellenbeuge hin zu localisiren. Dies ist der Grund, weswegen die Schwellen in der -H-Reihe, wie man sieht, betr\u00e4chtlich h\u00f6her und umgekehrt die der i?-Reihe bedeutend tiefer liegen. In geringerem Ma\u00dfe zeigte sich diese Tendenz auch bei Herrn Dr. Bon. Die Resultate dieser","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nCharles Hubbard Judd.\nTabelle IV.\nEf\tE|\tHf\t\tL |\t14\tRf\tR|\tRichtung\nDr. F. Kiesow.\t\t\t\t\t\t\t\t\n10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,87\t0,47\t1,43\t0,61\t0,93\t0,52\t0,91\t0,49\tMittlere Schwelle\n0,12\t0,04\t0,26\t0,05\t0,07\t0,08\t0,08\t0,09.\tMittlere Variation\n1,0\t0,5\t2,4\t0,9\t1,0\t0,6\t1,0\t0,7\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,6\t0,4\t1,0\t0,5\t0,7\t0,4\t0,8\t0,4\tKleinste Schwelle\nMr. G. M. Stratton.\t\t\t\t\t\t\t\t\n10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n1,24\t0,67\t1,12\t0,57\t1,18\t0,63\t1,22\t0,63\tMittlere Schwelle\n0,23\t0,14\t0,21\t0,10\t0,22\t0,09\t0,24\t0,11\tMittlere Variation\n1,90\t0,90\t1,70\t0,70\t1,50\t0,80\t1,70\t0,9\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,70\t0,40\t0,90\t0,40\t0,70\t0,50\t0,90\t0,5\tKleinste Schwelle\nMr. F. D. Sherman.\t\t\t\t\t\t\t\t\n10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\t10\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n1,16\t0,49\t1,18\t0,58\t1,20\t0,62\t1,20\t0,66\tMittlere Schwelle\n0,19\t0,14\t0,22\t0,13\t0,18\t0,12\t0,26\t0,16\tMittlere Variation\n1,5\t0,7\t1,7\t0,9\t1,5\t0,9\t1,7\t0,9\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,9\t0,0\t0,9\t0,4\t0,9\t0,5\t0,7 <\t0,5\tKleinste Schwelle\nDr. E. Meumann.\t\t\t\t\t\t\t\t\n5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,74\t0,20\t1,46\t0,66\t1,14\t0,54\t1,06\t0,52\tMittlere Schwelle\n0,13\t0,16\t0,12\t0,13\t0,13\t0,09\t0,13\t0,10\tMittlere Variation\n0,9\t0,4\t1,70\t0,9\t1,3\t0,7\t1,3\t0,7\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,5\t0,0\t1,3\t0,5\t0,9\t0,4\t0,9\t0,4\tKleinste Schwelle\nDr. F. Bon.\t\t\t\t\t\t\t\t\n5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\t5\tAnzahl d. Einzelbestimm.\n0,56\t0,20\t1,22\t0,40\t0,98\t0,38\t0,90\t0,36\tMittlere Schwelle\n0,07\t0,16\t0,14\t0,08\t0,22\t0,06\t0,16\t0,17\tMittlere Variation\n0,7\t0,4 j 1,5\t\t0,5\t1,3\t0,5\t1,3\t0,6\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,5\t0,0\t1,0\t0,3\t0,7\t0,3\t0,7\t0,0\tKleinste Schwelle","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Tabelle^;\nOeber Raumwahrnebmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n427\n\t\t\tff o\t\tff \u2019 g\t\n\t\t\u00fc\t'S\tg\ts\tff\n\t\u00d6D c\tOQ .2\tOQ\t\u00e0 ht 0>\t03 s\t\u00ab\n\u00ab3 rff\t-*-S rff\tCd\ts\tXi GQ\tCd\tfU\n<D\t\u2022 2\th\t\t\th\t\nPh\tpH\to\td\tfd\tn\to\n\t->\tOS\tCO\tGS\tco\t\n\tPh\t\tCO^\ti\u00df\tco^\tco\n\t\to\to\tO\to\to\n\t\t05\tco\to\tGS\tco\n\t\tGS\t\ti\u00df\ti\u00df\t\n\tPh\tO\to\to\to\to\n\t\t\tcs\tCO\to\to\nt\u20141\tPh\t\tcs^\t\tGS^\t05^\n\t\tO\t\t\t'rH\to\n\t\tQO\tcs\t1+1\to\to\n\t\tCO\tt-\t05\tco\ti\u00df\n\t05\tO\to\to\to\to\n\t\tCS\tCO\tT*\tcs\t00\n1\u2014<\t\ti\u00df^\tCC^\ti\u00df\tcq_\tco\n\t\to\to\to\to\to\n\t\t00\to\t9\tCO\tcs\tQ0\n\t\tcs\tCO\tCO\tco\t1\n\tl-H\to\to\to\to\to\n\t\tCO\t00\t\to\t00\nUl\t\t05^\t\t\tcs\t05^\n\t\tO\t\t\t1\u20141\to\n\t\t00\tCO\t. o\t00\ti\u00df\nhH\t\ti\u00df\tr-\tt\u2014\t00\ti\u00df\n\tHt\to\tcT\to\to\to\n\t\t\tr\u2014\tco\t00\to\nUl\tw\tCO\ti\u00df^\tCO\ti\u00df_\t\n\t\to\to\to\to\to\n\t\tl\u00df\t1-1\t00\to\t00\nH-i\ttd\teo^\t\t\u2022sr\tCO^\tT*1\n\t\to\to\to\to\t\n\t\t\tcs\tCO\t00\tGS\n\u25ba-t\ttri\t\t\trf^\t\t\u00ab\n\t\t\tTi\t\t\t\n\t\t\t05\tCO\t\t\n\t\tCO\ti\u00df\t05\t00\ti\u00df\n\tcd\to\to\to\to\to\n\t\t\t0,67\to\t0,49\t0,20\nt\u2014<\tCd\to'\t\tcT\t\t\n\t\t\t\to\to\tcs\n\t->\u25a0\tGS\tCO\t\u25a0S\u2019\tco^\t\n\ts\to\to\to\to\to\n\t<-\t\t\tr*\tco\t0,56\nHH\tCd\to'\t\to'\t-\t\n\t\t\t\tGS\to\t\nt\u20141\t\tcp\tr\u2014\tCO_\t\t\u2022\u00df^\n\tCd\to\to\to\to\to","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nCharles Hubbard Judd.\nganzen Versuchsreihe zeigen, dass die Bedingungen f\u00fcr die Beurthei-lung der Richtung hei dieser Versuchsanordnung nicht so g\u00fcnstige, wie bei den fr\u00fcheren Reihen sind. Dies stimmt auch mit den Angaben aller Versuchspersonen \u00fcberein, nach welchen das Urtheil bei diesen Versuchen schwerer ist, als bei der ersten Anordnung. Diese Erschwerung wird sich aus der n\u00e4heren Betrachtung folgender Begleiterscheinungen erkl\u00e4ren. In einigen F\u00e4llen lautete das Urtheil nach der Applicirung des zweiten Reizes einfach auf Druckvermehrung, die zuweilen von einem Stumpferwerden oder einer diffusen Ausstrahlung der Empfindung begleitet war. Dies entspricht augenscheinlich dem Gleichheitsurtheil der ersten Reihe, obwohl die Distanzen in diesem Falle gew\u00f6hnlich gr\u00f6\u00dfere waren. In anderen F\u00e4llen wurde der zweite Reiz nahe an der Grenze der den ersten umstrahlenden Zone empfunden. Hier haben wir ohne Zweifel das Ph\u00e4nomen vor uns, das von Mei\u00dfner1) als Irradiationskreis bezeichnet wurde. Nach Mei\u00dfner wird durch jeden punktartigen Hautreiz ein ziemlich gro\u00dfer Bezirk in Mitleidenschaft gezogen, der sich um einen gewissen Kernpunkt herumlagert und von hier aus nach der Peripherie hin allm\u00e4hlich abklingt. Kommt nun der zweite Reiz innerhalb der Grenze eines solchen Irradiationsbezirkes zu liegen, so kann dieser zweite Reiz wohl als verschieden von dem Mittelpunkt der ersten, aber doch nicht als von diesem getrennt erkannt werden. R\u00fccken jedoch die zwei Reize weiter auseinander, so k\u00f6nnen sie als deutlich verschieden wahrgenommen werden, obwohl ihre Irradiationskreise in einander greifen. In diesem Falle empfindet man dieselben als mit einander verbunden. Diese Verbindungsempfindung wird um so schw\u00e4cher, je mehr die beiden Reize aus einander r\u00fccken. Alle diese Stadien wurden bei unseren Versuchen beobachtet. Der erste Augenblick nach der Application des zweiten Reizes ist f\u00fcr die Beurtheilung der g\u00fcnstigste; denn Unterschiede, welche in diesem Momente klar percipirt werden, werden dann undeutlich und verschwinden allm\u00e4hlich. Mitunter tritt an die Stelle der Zweiheit eine unbestimmte ausgedehnte Empfindung. Alle diese bisher aufgef\u00fchrten Thatsachen lassen sich durch peripherische Bedingungen hinreichend erkl\u00e4ren.\n1) Beitr\u00e4ge zur Anatomie und Physiologie der Haut. Leipzig 1853. S. 44.","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t429\nAber es ist wohl darauf zu achten, dass es sich in allen diesen F\u00e4llen um positive Nebenempfindungen handelt., nicht um Ausfallserscheinungen.\nEine weitere Reihe von Thatsachen betrifft die Schwankungen der Aufmerksamkeit. Es schien der erste Eindruck beim Aufsetzen des zweiten Reizes sich oft zu schw\u00e4chen oder ganz zu verschwinden. Die Versuchsperson stellte sogar oftmals an den Experimentator die Frage, ob der erste Reiz bei der Application des zweiten aufgehoben worden sei. Es ist schon oben bei der Darstellung der ersten Versuchsanordnung darauf hingewiesen worden, dass man gemeinhin auf den ersten Eindruck die Aufmerksamkeit einstellt, bis der zweite erfolgt, und sodann die ganze Aufmerksamkeit auf diesen zweiten Eindruck lenkt. Nehmen wir an, dass sich derselbe Vorgang auch bei diesen Versuchen vollzieht, so bietet die Erkl\u00e4rung f\u00fcr das Aufh\u00f6ren des ersten Reizes nach dem Auftreten des zweiten keine weitere Schwierigkeit mehr. Dieses Verschwinden des ersten Reizes kam am h\u00e4ufigsten bei Hrn. Dr. F. Kiesow vor, bei ihm finden sich auch in den Schwellenwerthen, die in beiden Reihen gefunden wurden, die geringsten Differenzen.\nDie umgekehrte Erscheinung, dass der zweite Reiz gar nicht percipirt wurde, kam ebenso in einigen F\u00e4llen vor. Die Wiederholung des Versuches auf denselben Punkten gen\u00fcgte zuweilen, um den zweiten Eindruck zur Wahrnehmung zu bringen. Wurde derselbe auch diesmal nicht empfunden, so wurde er bei einer dritten Reizung, da in diesem Falle auch f\u00fcr den zweiten Punkt ein Signal vorher ging, ausnahmslos percipirt. Hier muss man annehmen, dass die Aufmerksamkeit so sehr auf den ersten Reiz concentrirt war, dass der zweite ganz verloren ging. Freilich k\u00f6nnen in den beiden eben genannten F\u00e4llen peripherische Bedingungen mitwir-ken; denn wenn die von einem Reize getroffene Stelle nur sehr wenig empfindlich oder abgestumpft ist, muss die Wahrnehmung erschwert sein. Dass diese Erkl\u00e4rung aber nicht ausreicht, geht daraus hervor, dass man bei hinreichend starker Aufmerksamkeit im letzten Falle den Eindruck oft nach der Wiederholung und stets nach dem zweiten Signal wahrzunehmen vermochte. Au\u00dferdem muss hier noch hervorgehoben werden, dass in dem oben angef\u00fchrten ersten Fall der erste Reiz stets percipirt wurde, das Ver-","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\tCharles Hubbard Judd.\nschwinden desselben ist demnach nicht peripher zu erkl\u00e4ren. Hierzu kommt ferner, dass der schwer wahrgenommene Reiz in einigen F\u00e4llen keine sehr unempfindliche, sondern eine gut empfindliche Stelle getroffen zu haben schien, wie die Versuchsperson angab, nachdem sie die Empfindung wahrgenommen hatte. Diese F\u00e4lle m\u00fcssen als von psychischen Bedingungen abh\u00e4ngig gedacht werden und sind daher als Erscheinungen der Aufmerksamkeit aufzufassen.\nEin dritter Fall, der nur durch die Wirkung der Aufmerksamkeit erkl\u00e4rt werden kann, ist folgender. Nahm die Versuchsperson zwei Punkte deutlich als zwei wahr und versuchte dann, die Aufmerksamkeit zu gleicher Zeit auf beide Eindr\u00fccke einzustellen, so kamen hier h\u00e4ufig Schwankungen in der Deutlichkeit derselben vor, indem das eine Mal der eine und dann wieder der andere Eindruck im Bewusstsein st\u00e4rker hervortrat. Von einer Versuchsperson wurde diese Erscheinung sogar dem Wettstreite der Empfindungen im Gebiete des Gesichtssinnes verglichen. Das Gleiche ist auch von Czermak beobachtet worden. Er lie\u00df innerhalb eines Empfindungskreises zwei Gl\u00e4schen auf die Haut einwirken, von denen das eine mit warmer, das andere mit kalter Fl\u00fcssigkeit gef\u00fcllt war. Die durch diese Versuchsanordnung gefundenen Resultate beschreibt Czermak folgenderma\u00dfen1): \u00bbMan unterscheidet unter den angegebenen Bedingungen den K\u00e4lteeindruck des einen Gl\u00e4schens deutlich von dem W\u00e4rmeeindruck des anderen, allein (und dies versetzt den Beobachter in eine eigenth\u00fcmliche, nicht zu beschreibende Verwirrung) man hat keine Ahnung von ihrem Nebeneinander, man kann durchaus nicht angeben, ob der W\u00e4rmeeindruck rechts oder links, nach vorn oder hinten von dem K\u00e4lteeindruck sich befindet. Manchmal glaubt man zwar die r\u00e4umliche Disposition der Eindr\u00fccke wahrzunehmen, gibt dann aber regelm\u00e4\u00dfig das gerade Gegentheil von dem an, was wirklich stattfindet. So scheint unter Umst\u00e4nden ein Schwanken der Wahrnehmung, \u00e4hnlich dem beim sogenannten Wettstreite der Sehfelder, Platz zu greifen.\u00ab Die Neigung, die Wahrnehmung r\u00e4umlicher Verschiedenheiten unterhalb der Schwelle zu leugnen, entspringt wohl aus dem Umstande, dass Czermak selber in seiner eigenen Theorie\n1) Sitzungsber. d. W. Akad. 1855. XV. S. 500.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n431\nzu befangen war. Das von ihm beobachtete Ph\u00e4nomen ist augenscheinlich dem von uns oben beschriebenen gleich.\nAuch wenn die zwei Reize nach der successiven Aufsetzung l\u00e4ngere Zeit auf der Haut gelassen werden, beobachtet man mitunter, dass die betreffenden Eindr\u00fccke n\u00e4her aneinander zu r\u00fccken, oder auch ihre relative Lage zu ver\u00e4ndern scheinen. Alle diese eben hervorgehobenen Thatsachen zeigen ganz deutlich, warum das Urtheil in dieser zweiten Reihe schwerer ist, als in der ersten. Denn einmal sind die peripheren Bedingungen ' nicht in gleicher Weise g\u00fcnstig und an\u00dferdem entstehen f\u00fcr die gleichzeitige Wahrnehmung zweier Punkte durch die Zerstreuung der Aufmerksamkeit gr\u00f6\u00dfere Schwierigkeiten.\nDie \u00fcbrigen Ergebnisse dieser Reihe sind ganz \u00e4hnlich denjenigen, die wir bei der Besprechung der ersten bereits namhaft gemacht haben. Die Zweiheit wird fr\u00fcher wahrgenommen als die Richtung, ebenso gehen eine Anzahl falscher Richtungsurtheile der Erkennung der wahren Richtung gew\u00f6hnlich vorauf. Diese Resultate sind in analoger Weise zu erkl\u00e4ren. Die Reihe scheint in der Mitte derjenigen zu stehen, die mit successiv und simultan applicirten Reizen angestellt wurden. Zur Erkl\u00e4rung der Unterscheidung von zwei Eindr\u00fccken, die bei simultaner Reizung hervorgerufen wurden, wird man sehr vieles von den hier beschriebenen Resultaten verwenden k\u00f6nnen. Doch wird diese Sache nach der Betrachtung einer dritten von uns angestellten Yersuchsanordnung noch verst\u00e4ndlicher werden.\nIII. Diese Reihe hat zur Aufgabe, die Schwelle der erkennbaren Gr\u00f6\u00dfe, wie Fechner sie genannt hat, zu bestimmen. Bei dieser dritten Versuchsanordnung benutzten wir als Reizmittel con-tinuirliche Linien. Dieselben bestanden aus den R\u00e4ndern von d\u00fcnnen Cartonstreifen und variirten in einer L\u00e4nge von 1\u201450 mm. Damit die Endpunkte dieser so gefertigten Cartonr\u00e4nder bei den Versuchen m\u00f6glichst wenig st\u00f6rend einwirken konnten, waren die Ecken derselben abgeschnitten. Bei allen nach dieser Methode angestellten Versuchen wurde dieselbe Hautstelle untersucht, welche wir bei den fr\u00fcheren Versuchen benutzten. Dabei kamen folgende vier Richtungen in Betracht: l\u00e4ngs (1), quer (q), schr\u00e4g von rechts nach links (r\u20141) und schr\u00e4g von links nach rechts (1\u2014r). Der","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nCharles Hubbard Judd.\nWinkel der Schr\u00e4grichtung betrug in jedem Falle 45\u00b0 und wurde vor jeder Versuchsreihe mit Tinte markirt. Das Verfahren war hier ebenfalls insofern ein unwissentliches, als die untersuchte Richtung der Versuchsperson unbekannt war. Da man bef\u00fcrchten musste, die Versuchspersonen zu erm\u00fcden, weil die Anzahl der Einzelbestimmungen bei jedem Versuch immer ziemlich betr\u00e4chtlich sein muss, so wurden die Versuche dieser Reihe nur in der aufsteigenden Richtung angestellt. Es wurde immer mit so kleinen Reizen angefangen, dass diese subjectiv als Punkt erschienen, und diese nun allm\u00e4hlich bis zur Wahrnehmung der Ausdehnung anwuchsen. Die Versuchsperson hatte zweierlei Urtheile abzugeben, n\u00e4mlich erstens, ob ein Punkt oder eine Strecke wahrgenommen wurde, und wenn dies letztere der Fall war, in welcher Richtung sich diese Ausdehnung befand. Tabelle VI enth\u00e4lt die Schwellenwerthe, bei welchen die Ausdehnung als solche ohne R\u00fccksicht auf die Erkennung der Richtung eben wahrnehmbar wird. Die hier angegebenen Werthe sind nicht ganz mit denen, die die fr\u00fcheren Tabellen enthalten, vergleichbar; denn jene zeigen die Distanzen, in denen die Richtung erkannt wird. Die auffallende Aehnlichkeit aber zwischen den Werthen in den Tabellen IV und VI zeigt ganz deutlich, dass das Urtheil der Richtung im fr\u00fcheren Fall und das Urtheil der Ausdehnung in diesem in nahem Verh\u00e4ltnisse zu einander stehen, und damit ist zu gleicher Zeit die Beziehung der Schwelle der erkennbaren Gr\u00f6\u00dfe zu derjenigen der erkennbaren Distanz angedeutet. Nach den fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen h\u00e4ngt das Urtheil in jenem Falle von der deutlichen Unterscheidung zweier Localzeichen ab, und auch hier muss man annehmen, dass eine Ausdehnung als solche nur dann wahrgenommen werden kann, wenn ihre Endpunkte voneinander unterscheidbar sind. Hiermit ist aber keineswegs gesagt, dass die Unterscheidung im letzteren Falle mit klarem Bewusstsein vollzogen wird. Durch den linienartigen Eindruck wird eine ganze Reihe von Localzeichen in Empfindungen umgesetzt, welche alle Stufen von qualitativen Verschiedenheiten darstellen k\u00f6nnen. Aber diese Verschiedenheiten k\u00f6nnen nur dann die Veranlassung zur Vorstellung einer Ausdehnung geben, wenn sie als nicht identisch wahrgenommen werden. Wir brauchen hier nur wie bei der ersten Reihe eine dunkle Vorstellung des Nichtidentischseins der ver-","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Ranmwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes. Tabelle VI.\nKi.\tSt.\tM.\tSh.\tB.\tBeobachter\n40\t40\t20\t20\t20\tAnzahl d. Einzelbestimmungen\n0,94\t1,18\t0,72\t0,82\t0,73\tMittlere Schwelle\n0,23\t0,31\t0,14\t0,17\t0,13\tMittlere Variation\nM\t1,6\t1,2\t1,2\t1,0\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\n0,4\t0,4\t0,4\t0,6\t0,6\tKleinste Schwelle\nA.\nTabelle VII.\nB.\nDr. F. Kiesow.\nl\t<1\tr\u2014l\t1\u2014r\n3,6\t1,8\t3,8\t3,4\n2,8\t2,4\t(5,0)\t2,6\n3,2 *\t2,4\t4,8\t2,6\n3,0\t2,8\t4,2\t3,2\n2,4\t2,0\t3,4\t4,0\n2,6\t1,6\t3,6\t2,8\n2,8\t1,2\t4,0\t(5,0)\n2,6\t2,0\t3,8\t2,6\n2,4\t3,0\t3,6\t3,8\n2,2\t1,4\t(5,0)\t2,8\nMr. G. M. Stratton.\nl\t?\tr\u2014l\tl\u2014r\n2,6\t2,8\t3,2\t3,8\n1,6\t2,4\t3,8\t3,6\n3,0\t3,4\t4,0\t3,2\n2,2\t2,0\t4,2\t3,0\n2,4\t4,8\t3,4\t(5,0)\n4,0\t3,6\t(5,0)\t3,4\n.2,8\t2,6\t4,8\t4,4\n4,4\t2,4\t(5,0)\t4,4\n2,8\t2,4\t3,4\t(5,0)\n4,6\t1,6\t4,4\t2,0\n433","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nCharles Hubbard Judd.\nC.\nD.\nDr. E. Meumann.\nl\t?\tr\u20141\tl\u2014r\n2,0\t2,8\t3,7\t(5,0)\n1,2\t(5,0)\t2,6\t2,8\n2,8\t3,4\t(5,0)\t2,0\n2,4\t1,6\t2,6\t2,0\n2,6\t2,8\t4,8\t(5,0)\nMr. F. D. Sherman.\nl\t1\tr\u2014l\tl\u2014r\n2,8\t3,8\t3,2\t(5,0)\n2,4\t2,8\t(5,0)\t4,2\n4,8\t3,2\t(5,0)\t3,4\n2,6\t3,6\t3,4\t(5,0)\n4,8\t3,0\t4,4\t4,8\nE.\nDr. F. Bon.\nl\t?\tr\u2014l\tl\u2014 r\n2,0\t4,4\t3,4\t4,8\n2,4\t2,8\t2,8\t3,6\n3,4\t3,0\t3,8\t(5,0)\n2,4\t(5,0)\t4,0\t2,6\n3,0\t3,2\t3,2\t2,8\nschiedenen Localzeichen zu besitzen, um in diesem Falle das Urtheil Linie zu gewinnen. Dass die Wahrnehmung der ebenmerklichen Ausdehnung nicht aus der deutlichen Auffassung der positiven Qualit\u00e4ten der beiden Endpunkte resultirt, wird dadurch bewiesen,","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t435\ndass die Schwelle f\u00fcr die Richtung viel h\u00f6her liegt, als die f\u00fcr die Ausdehnung. Bei der Wahrnehmung der eben merklichen ^Ausdehnung haben wir nur n\u00f6thig anzunehmen, dass mehrere Localzeichen eben als nicht identisch zum Bewusstsein kommen. Dies ist scheinbar ein Widerspruch mit der fr\u00fcheren Erscheinung, dass bei der ungef\u00e4hr gleichen L\u00e4nge in Reihe II die qualitativen Unterschiede der einzelnen Localzeichen wirklich klar wahrgenommen wurden. Dieser Widerspruch wird aber aufgehoben, wenn man annimmt, dass die peripheren und physischen Bedingungen f\u00fcr die Unterscheidung hier noch ung\u00fcnstigere sind, als in Reihe II. Der Grund hierf\u00fcr ist darin zu suchen, dass hei der Wahrnehmung der eben merklichen Ausdehnung nicht wie in den Reihen I und II zwei successive Localzeichen, sondern mehrere simultan gereizte in Betracht kommen und dass, wie wir bereits in der zweiten Reihe gezeigt haben, die gleichzeitige Reizung zweier Localzeichen der deutlichen Auffassung ihrer positiven Qualit\u00e4t st\u00f6rend entgegenwirkt. Diese Undeutlichkeit kann sich, wenn die Reizausdehnung eine sehr kleine ist, so weit steigern, dass man trotz der Wahrnehmung der Verschiedenheit in den Localzeichen die Linie als solche doch nicht wahrzunehmen vermag. Thats\u00e4chlich kann man oft noch unterhalb der Schwellenwerthe, welche in der Tabelle VI zusammengestellt sind, einen linearen deutlich von einem punktartigen Eindruck unterscheiden, doch wird jener in diesem Falle nicht als Linie, sondern als unbestimmt und stumpf fl\u00e4chenhaft empfunden. L\u00e4sst man nun von diesem Punkte aus den objectiven linearen Eindruck allm\u00e4hlich an Ausdehnung wachsen, so zieht sich der anfangs in einem unbestimmten Umfang diffus empfundene Eindruck in der Richtung des einen Durchmessers allm\u00e4hlich l\u00e4nglich aus, und wird so schlie\u00dflich als Linie aufgefasst. Wir werden nun des weiteren zu zeigen haben, wie durch immer gr\u00f6\u00dfere Ausdehnung des objectiven Eindrucks auf diese Stufe, auf welcher nur erst die Linie als solche erkannt wird, eine sp\u00e4tere folgt, auf der dann auch die Richtung dieses linienartigen Eindrucks allm\u00e4hlich per-cipirt wird. Bevor wir jedoch auf die Tabelle VII A\u2014E n\u00e4her ein-gehen, wird es zweckm\u00e4\u00dfig sein, einige Reihen ausf\u00fchrlicher zu besprechen.\nWundt, Philos. Studien. XIL\n29","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nCharles Hubbard Judd.\n1. Versuchsperson: Dr. F. Kiesow. 12. Nov. 1895. Richtung 1\u2014r.\nDistanz 0,2\u20140,6 cm empfunden als Punkt.\n\u00bb\t0,8\u20141,0\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tstumpfe Ber\u00fchrung.\n\u00bb\t1,2\t\u00bb\t\u00bb\t\tLinie querliegend.\n\u00bb\t1,4\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie querliegend oder r\u20141.\n\u00bb\t1,6\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie l\u00e4ngs oder r\u20141.\n\u00bb\t1,8\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie ganz deutlich aber keine Richtung er-\n\t\t\t\t\tkennbar.\n\u00bb\t2,0\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tebenso.\n7>\t2,2\t7>\t\u00bb\t\u00bb\tLinie l\u00e4ngs oder 1\u2014r.\n\u00bb\t2,4-3,0\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie l\u00e4ngs, zuweilen mit geringen Abwei-\n\t\t\t\t\tchungen nach 1\u2014r.\n\u00bb\t3,2\u20143,8\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie 1\u2014r deutlich.\nDie Schwelle f\u00fcr die Perception der einfachen Linie liegt demnach hei einer Distanz von 1,2 cm, die f\u00fcr die Wahrnehmung der Richtung jedoch erst bei einer Ausdehnung von 3,2 cm.\n2. Versuchsperson: Mr. G. M. Stratton. 15. Nov. 1895. Richtung r\u20141.\nDistanz 0,4\u20140,6 cm empfunden als Punkt.\n0,8\n1,0\n1,2\n1.4-\t2,4 2,6\n2,8\n3,0\u20143,2\n3.4\u2014\t4,0 4,2\n4,4\n4,6\n4,8\n5,0\nvielleicht Linie, querliegend.\nLinie, l\u00e4ngs.\nLinie, 1\u2014r oder l\u00e4ngs.\nLinie, 1\u2014r zuweilen ganz deutlich. Linie, quer oder 1\u2014r.\nLinie, quer.\nLinie, quer oder 1\u2014r.\nLinie, quer.\nLinie, r\u20141.\nLinie, quer oder r\u20141.\nLinie, quer.\nLinie, quer oder r\u20141.\nLinie, quer.\nGr\u00f6\u00dfere objective Ausdehnungen konnten bei der schr\u00e4gen Richtung nicht benutzt werden, weil sie in Folge der W\u00f6lbung des Armes ihrer ganzen L\u00e4nge nach nicht gleichzeitig aufgesetzt werden konnten. Ein successives Aufsetzen musste selbstverst\u00e4ndlich aus-\ngeschlossen bleiben, da in diesem Falle ein ganz anderes Ph\u00e4nomen als das unserige untersucht worden w\u00e4re. Ueber 5,0 cm hinaus sind diese Versuche daher niemals angestellt worden, auch wenn keine Richtungsschwelle gefunden wurde. Das Vorkommen dieser F\u00e4lle ist in den Tabellen durch die Parenthese ( ) angegeben. In der","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n437\nvorstehenden Reihe betr\u00e4gt der Schwellenwerth f\u00fcr die Wahrnehmung einer einfachen Linie 1,0 cm.\n3. Versuchsperson: Dr. Bon. 26. Nov. 1895. Richtung r\u20141.\nDistanz 0,2\u20140,4\tcm empfunden als\tPunkt.\n\u00bb\t0,6\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tunbestimmter\tEindruck.\n\u00bb\t0,8\u20142,6\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie, l\u00e4ngs,\toft\tmit\tder\nAngabe; ganz deutlich.\n>\t2,8\u20143,6\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tLinie, r\u20141.\nSchwelle f\u00fcr die Auffassung der Linie 0,8 cm, f\u00fcr die Wahrnehmung der Richtung 2,8 cm.\n4. Versuchsperson: Mr. F. Sherman. 21. Nov. 1895. Richtung l\u00e4ngs.\nDistanz\t: 0,4\u20140,8 cm\tempfunden als Punkt.\t\n\u00bb\t1,0\t\u00bb\t> kleine Linie, vielleicht quer.\n3>\t1,2\t>\t\u00bb Linie, quer.\n\u00bb\t1,4\t\u00bb\t\u00bb Linie, quer oder r\u20141.\n>\t1,6 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb Linie, l\u00e4ngs.\n\u00bb\t1,8\t>\t\u00bb Linie, quer oder r\u20141.\n>\t2,0\t\u00bb\t\u00bb Linie, 1\u2014r.\n\u00bb\t2,2\t\u00bb\t\u00bb Linie, 1\u2014r oder l\u00e4ngs.\n\u00bb\t2,4\t\u00bb\t\u00bb Linie, r\u20141 oder l\u00e4ngs.\n\u00bb\t2,6\u20143,0 \u00bb\t>\t\u00bb Linie, r\u20141.\n\u00bb\t3,2\u20143,6 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb Linie, 1\u2014r.\n\u00bb\t3,8\t\u00bb\t\u00bb Linie, l\u00e4ngs.\n\u00bb\t4,0\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb Linie, r\u20141.\n\u00bb\t4,2\u20144,6 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb Linie, r\u20141 oder l\u00e4ngs.\n\u00bb\t4,8\u20145,4 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb Linie, l\u00e4ngs.\nSchwelle f\u00fcr die Perception der Linie 1,0 cm, f\u00fcr die Richtung\t\t\t\ni cm.\t\t\t\nVersuchsperson: Dr. E. Meumann. 13. Nov. 1895. Richtung l\u00e4ngs.\t\t\t\nDistanz 0,4\tcm\t\tempfunden als Punkt.\t\n\u00bb\t0,6 *\t\u00bb\t> Linie, r\u20141.\n\u00bb\t0,8 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb ebenso.\n\u00bb\t1,0 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb Linie, quer.\n\u00bb\t1,2\t\u00bb\t\u00bb Linie, r\u20141 oder quer.\n\u00bb\t1,4\t\u00bb\t\u00bb Linie, quer.\n>\t1,6\t\u00bb\t\u00bb Linie, quer oder 1\u2014r.\n\u00bb\t1,8\u20142,0\t>\t\u00bb\t\u00bb Linie, 1\u2014r.\n\u00bb\t2,2\t\u00bb\t\u00bb Linie, 1\u2014r oder l\u00e4ngs.\n\u00bb\t2,4\t\u00bb\t\u00bb Linie, l\u00e4ngs.\n>\t2,6\t\u00bb\t\u00bb Linie, l\u00e4ngs oder r\u20141.\n>\t2,8\u20143,4 \u00bb\t\u00bb\t> Linie, l\u00e4ngs, ganz deutlich.\n29*","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nCharles Hubbard Judd.\nSchwelle f\u00fcr die Auffassung der Linie 0,6 cm, Richtungsschwelle 2,8 cm.\nDa die Variationen bei diesen Versuchen sehr gro\u00df sind, so schien es zweckm\u00e4\u00dfiger, die Resultate im einzelnen anzuf\u00fchren, die Mittelwerthe w\u00fcrden den Thatsachen nicht genau entsprechen. Die Resultate wurden aus mindestens drei constant richtigen Angaben gewonnen. Es ist ganz evident, dass die Erkennung der einfachen Linie in den Reihen viel fr\u00fcher auftritt als die der Richtung derselben. Nur in einigen wenigen F\u00e4llen fallen beide Werthe zusammen. Eine der Versuchspersonen zeigte an einigen Tagen die Tendenz, alle unbestimmten Richtungen als quer zu bezeichnen. In zwei F\u00e4llen entsprach dieses Urtheil der objectiven Lage der Linie. Dem entsprechend wurde die Richtung hier sofort hei der Perception der Linie scheinbar erkannt. (Tabelle VII A 1,2 cm und 1,4 cm.)\nIn Tabelle VII B fallen hei den Versuchen q 16 und 1 16 die Schwellenwerthe f\u00fcr die Erkennung der Linie und der Richtung ebenfalls zusammen. Doch ist hierbei zu bemerken, dass der Schwellenwerth f\u00fcr die Ausdehnung sehr hoch gelegen ist. Auch in anderen F\u00e4llen trat das richtige Urtheil f\u00fcr die Richtung bald nach der Wahrnehmung der Ausdehnung auf. Trotzdem aber geht aus allen Versuchen mit absoluter Bestimmtheit hervor, dass die Richtungsschwelle weit oberhalb der Ausdehnungsschwelle gelegen ist. Eine lineare Ausdehnung)ohne eine Richtung ist aber unvorstellbar. Wenn nun in F\u00e4llen, in denen deutlich eine Linie wahrgenommen wird, vielfach die Neigung vorherrscht, dass unterhalb der Richtungsschwelle ein positives Richtungsurtheil abgegeben wird, so k\u00f6nnen diese Vorstellungen nur durch zuf\u00e4llige Einfl\u00fcsse bedingt sein. Zu den letzteren geh\u00f6rt zweifellos die Erwartung. Die Versuchsperson ist sich sogar oft dessen bewusst, dass sie die Richtung durch ihre Vorstellungen bestimmen kann; denn es wurde oft ausgesagt, dass eine Linie je nach der willk\u00fcrlich erzeugten Vorstellung die eine oder die andere Richtung einnehmen k\u00f6nne. Mitunter ist diese willk\u00fcrliche Deutung der Richtung nur innerhalb gewisser Grenzen m\u00f6glich. Nehmen wir nun an, dass beim Aufsetzen des Cartonstreifens eine Richtungsvorstellung bereits vorhanden war, so sieht man ganz deutlich, wie die der Richtung nach sonst ganz un-","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Deber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n439\nbestimmt percipirte Linie durch diese Vorstellung bestimmt wird. Einen solchen Fall zeigt das Beispiel 3 auf Seite 437. Hier beherrscht eine Richtungsvorstellung den ganzen ersten Theil der Reihe.\nAuch die Aufeinanderfolge der einzelnen Reihen ist f\u00fcr die Auffassung der Richtung nicht ohne Bedeutung. Man findet hier eine Art von Contrasterscheinung. Wenn z. B. auf eine 1\u2014r Reihe eine 1 Reihe folgt, so sind die falschen Urtheile meistens r\u20141, d. h. man \u00fcbersch\u00e4tzt die zwischen den beiden Reihen befindliche Diffe-ren8. Wenn weiter in einem zweiten Falle auf eine 1\u2014r Reihe eine r\u20141 Reihe folgt, so wird die richtige Richtung fr\u00fcher als gew\u00f6hnlich erkannt. Bei s\u00e4mmtlichen 140 Versuchen dieser Reihe konnten wir den Einfluss der Aufeinanderfolge in 89 F\u00e4llen beobachten. Unter diesen 89 F\u00e4llen fanden wir, dass hei 65 m\u00f6glichen F\u00e4llen der erstgenannten Art diese Erscheinung 3 4 mal ganz deutlich hervortrat. Bei 24 m\u00f6glichen F\u00e4llen der zweitgenannten Art war dies 9 mal der Fall.\nDie zwei schr\u00e4gen Richtungen 1\u2014r und r\u20141 sind, wie man aus den Tabellen VII A\u2014E ersehen wird, weit schwerer zu erkennen, 1 als die beiden andern Richtungen. Die Versuchsperson hat ganz deutlich die Neigung, dieselben als quer oder l\u00e4ngs liegend zu be-urtheilen. Typisch f\u00fcr diese F\u00e4lle ist das Beispiel 2 auf Seite 436. Die Erkl\u00e4rung f\u00fcr diese Erscheinung bietet keine Schwierigkeiten dar. Diejenigen Qualit\u00e4ten der Linien, die sich am meisten von einander unterscheiden, sind ohne Zweifel die Localzeichen, welche zu den Endpunkten der Linien geh\u00f6ren, weil dieselben die gr\u00f6\u00dfte Distanz zwischen sich fassen. Wir d\u00fcrfen annehmen, dass der Beobachter haupts\u00e4chlich durch die deutliche Wahrnehmung derselben die Richtung zu bestimmen sucht. Die locale F\u00e4rbung dieser Endqualit\u00e4ten wird demnach f\u00fcr die Beurtheilung von der gr\u00f6\u00dften Bedeutung sein. Auf dem Arme aber sind diejenigen Localzeichen durch ihre charakteristische F\u00e4rbung am meisten ausgezeichnet, Welche nach oben und unten und nach innen und au\u00dfen gelegen sind. Unterst\u00fctzt wird die Unterscheidung dieser verschiedenen Qualit\u00e4ten au\u00dferdem durch den gegenseitigen paarweisen Contrast, in dem sie zu einander stehen. Wenn man nun durch vorwiegende Deutlichkeit des einen Contrastverh\u00e4ltnisses am meisten darauf aufmerksam wird, dass das eine Ende beispielsweise auf der inneren,","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nCharles Hubbard Judd.\nund das andere auf der \u00e4u\u00dferen Seite gelegen ist, so kann dem Beobachter entgehen, dass das eine Ende weiter nach oben liegt, als das andere. So wird das Richtungsurtheil in diesem Falle falsch ausfallen und als quer abgegeben werden. Kommen aber die Gegens\u00e4tze des oben und unten mehr zum Bewusstsein, so muss das Urtheil in diesem Falle l\u00e4ngs ausfallen.\nEine wie gro\u00dfe Rolle die Endpunkte f\u00fcr die Wahrnehmung der Richtung spielen, ist weiter daraus ersichtlich, dass der Beobachter manchmal die Mitte einer Linie entweder gar nicht bder nur undeutlich empfindet. Theilweise kann dies von dem Reizmittel selbst herr\u00fchren, denn trotz der \u00e4u\u00dfersten Vorsicht bleiben die Endpunkte des Cartonstreifens doch zuweilen ein wenig scharf. Es kann au\u00dferdem ebenso gut m\u00f6glich sein, dass in einigen F\u00e4llen die K\u00f6rperhaut gerade hei den Enden der Karten besonders empfindlich war. Wir d\u00fcrfen aber, wie bereits hervorgehoben, annehmen, dass die qualitativen Unterschiede, die zwischen den beiden Endpunkten am st\u00e4rksten ausgepr\u00e4gt sind und in Folge dessen die Aufmerksamkeit am intensivsten auf sich lenken, ebenfalls in hohem Ma\u00dfe in Betracht kommen. Der Vorgang des Richtungsurtheils kann jedoch mit der deutlichen Wahrnehmung der Endpunkte nicht als identisch betrachtet werden. Es kommt noch dazu, dass man die ganze Reihe der zwischenliegenden Empfindungen mehr oder weniger deutlich als Uebergangsstufen auffasst. Eine der Versuchspersonen beschrieb den Vorgang nach der Selbstbeobachtung geradezu als eine Ordnung der verschiedenen localen Empfindungen. Sehr wichtig ist mit Bezug hierauf auch die folgende Beobachtung Weber\u2019s1): \u00bbInteressant ist es, dass man oft die Figur, die man gef\u00fchlt hat, nachzeichnen kann, ohne den Buchstaben zu errathen, und dass man ihn erst err\u00e4th, wenn man die nachgezeichnete Figur mit den Augen betrachtet.\u00ab\nIn dem oben angef\u00fchrten Falle wird das Ordnen wesentlich unterst\u00fctzt durch das Nachzeichnen. Man braucht die verschiedenen Localzeichen gewisserma\u00dfen nur nacheinander zu beobachten und sein Urtheil in jenem Falle sogleich aufzuzeichnen. Die Schwierigkeiten, welche sich bei der gleichzeitigen Auffassung von zwei\n1} Sitzungsber. d. Sachs. Ges. d. Wiss. 1852. S. 99.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n441\nLocalzeichen geltend machen, sind bereits bei der Besprechung der zweiten Reihe hervorgehoben worden. Dieselben m\u00fcssen sich naturgem\u00e4\u00df h\u00e4ufen, wo sich mehrere Localzeichen gleichzeitig ins Bewusstsein dr\u00e4ngen. Sie werden aber theilweise dadurch beseitigt, dass die Endpunkte, wenn sie einmal deutlich wahrgenommen worden sind, die allgemeine Lage der anderen Punkte gewisserma\u00dfen bestimmen. Doch ist dies nicht immer der Fall. Manchmal nimmt der Beobachter die betreffende Linie- als gebogen oder als unterbrochen wahr. In einigen seltenen F\u00e4llen schien die Linie sich auf der Haut zu drehen.\nDie gro\u00dfe Schwierigkeit in der gleichzeitigen Auffassung und Vorstellung der Richtung einer Linie ist von allen Versuchspersonen \u00fcbereinstimmend hervorgehoben worden. Man kann vielleicht in diesem Umstande den Grund f\u00fcr die wohlbekannte Thatsache finden, dass wir unsere Tastempfindungen in Gesichtsvorstellungen einzuord-nen bestrebt sind. Diese letztere Thatsache ist bereits von Hagen*) hervorgehoben worden: \u00bbDie Vorstellung einer bestimmten empfundenen K\u00f6rperstelle ist lediglich Folge einer durch Association von Gesichtsvorstellungen oder von zeitlichen Bewegungsvorstellungen mit Gef\u00fchlsvorstellungen erworbenen Erfahrung.-----------------\nSo associiren wir nach und nach die verschiedenen Empfindungen von den einzelnen Gef\u00fchlskreisen mit den betreffenden Gesichtsvorstellungen und verbinden mit einer bestimmten Gef\u00fchlsempfindung die Vorstellung des ihr entsprechenden Punktes auf unserer K\u00f6rperfl\u00e4che. Das Gef\u00fchl selbst gibt daher nie Auskunft \u00fcber den bestimmten Ort einer Empfindung, sondern das thut immer nur die durch lange Gewohnheit mit ihr eng verbundene Gesichtsvorstellung, sodass wir keinen Theil unseres K\u00f6rpers f\u00fchlen k\u00f6nnen, ohne ihn uns zugleich durch das Gesicht zu denken.\u00ab\nDieselbe Thatsache ist seitdem mehrfach hervorgehoben worden und in neuerer Zeit haben sich zwei Beobachter1 2) die Aufgabe gestellt, diese Verkn\u00fcpfung des Tastsinnes mit dem Gesichtssinn einer experimentellen Untersuchung zu unterziehen. Diese Einordnung\n1)\t\"Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch. Bd. II. S. 715.\n2)\tMiss Washburn, Phil. Stud. XI, S. 190 ff. Pillsbury, Amer. Journ. of Psych. VU, S. 42 f.","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nCharles Hubbard Judd.\nvon Tastempfindungen in Gesichtsvorstellungen ist ganz im Sinne des von Weber beschriebenen Nachzeichnens zu betrachten1). Das Auge ist wegen seines hochausgebildeten Localzeichensystems und seiner gro\u00dfen Beweglichkeit f\u00fcr die Wahrnehmung r\u00e4umlicher Verschiedenheiten ein viel besseres Sinnesorgan, als die K\u00f6rperhaut. Wir k\u00f6nnen gro\u00dfe Gesichtsfelder mit ruhendem Auge auffassen und sehr gro\u00dfe Distanzen mittelst der Beweglichkeit des Auges schnell \u00fcberblicken. Ebenso ist das Auge auch f\u00fcr die Wahrnehmung feinerer Distanzunterschiede bevorzugt. Wenn also das Auge und somit auch die Gesichtsvorstellungen soviel h\u00f6her entwickelt sind als die Haut- und die Tastempfindungen, so liegt auf der Hand, dass man der zweckm\u00e4\u00dfigeren Einrichtung \u00fcberall den Vorzug angedeihen l\u00e4sst und \u00fcberall versucht ist, die gr\u00f6beren Vorstellungen in feinere zu \u00fcbertragen und sie dann erst zusammen zu fassen, wenn sie als Gesichtsvorstellungen erscheinen. Dieses Ueberwiegen des Gesichtssinnes bei Sehenden ist unleugbar. Damit wird aber nicht bewiesen, wie Miss Washburn2) anzunehmen scheint, dass bei jeder Reizung der Haut ein deutliches Gesichtsbild des betreffenden Gliedes auf-tritt. Bei manchen Beobachtern ist dies sicher nicht der Fall. Aber auch bei solchen Personen, deren Gesichts Vorstellungen nur unklar sind, werden die durch Tasten empfundenen Objecte gew\u00f6hnlich als Gesichtsobjecte vorgestellt. Die Gesichts Vorstellungen, die durch Hautreize veranlasst werden, sind gew\u00f6hnlich Vorstellungen des Objectes, nicht der Haut selbst. Nun kann freilich der K\u00f6rper ein Object des Vorstellens werden, dies ist der Fall, wenn z. B. ein Theil desselben durch einen anderen ber\u00fchrt wird. Dieser ber\u00fchrte Theil kann dann als Gesichtsvorstellung ins Bewusstsein treten, wenn, wie in den ersten zwei Reihen, die Aufgabe des Beobachters lediglich darin besteht, die relative Lage zweier gereizter Hautpunkte zu beurtheilen. Wenn aber, wie dies gew\u00f6hnlich der Fall ist, beim Aufsetzen zweier Spitzen oder einer Linie das Object des Urtheils die charakteristische Beschaffenheit des Eindrucks selbst ist, so kommt die Gestalt des eigenen K\u00f6rpers f\u00fcr das Urtheil fast gar nicht in Frage.\n1)\tVergl. oben S. 440.\n2)\tPhil. Stud. XI, S. 190 f.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"443\n\u00fceber Raumwahrnehmungen im gebiete des Tastsinnes.\n\u00e0\nVon welcher Wichtigkeit die successive Auffassung der qualitativen Unterschiede von Tasteindr\u00fccken f\u00fcr Blinde ist, bei denen die Uebertragung derselben in GesiclAsvorstellungen ausgeschlossen ist, geht aus der k\u00fcrzlich ver\u00f6ffentlichten Arbeit von Th. Heller1) hervor. Er unterscheidet das analysirende Tasten von dem synthetischen. Beim Sehenden tritt die Synthese erst in Wirksamkeit, wenn die Uebertragung der Tasteindr\u00fccke in Gesichtsbilder bereits vollzogen ist. Beim Blinden ist die Wahrnehmung beim Gebrauche von Linien statt Punkten noch mehr erschwert, wie von demselben Verfasser und zahlreichen anderen Forschern beobachtet worden ist. Obwohl bei den Blinden zum Theil Bewegungen der Glieder als Erkl\u00e4rung f\u00fcr diese Erscheinung in Frage kommen, so d\u00fcrfen wir dennoch diese Thatsachen als eine Best\u00e4tigung f\u00fcr die von uns gezogenen Schlussfolgerungen betrachten, dass die Wahrnehmung mehrerer simultaner Eindr\u00fccke auf der Hautoberfl\u00e4che ein complicirter Vorgang ist, der sich aus der Unterscheidung verschiedener Qualit\u00e4ten und deren Synthese zusammensetzt.\nVon diesem Standpunkt aus k\u00f6nnen wir nun die allgemeine Wahrnehmung von Gestalten durch den Hautsinn n\u00e4her betrachten. Weber2) hat schon bemerkt, dass K\u00f6rper, deren Gr\u00f6\u00dfe unterhalb der von ihm gefundenen Sch wellen wer the blieb, ihrer Gestalt nach nicht erkannt wurden. Czermak hebt dies noch entschiedener hervor, indem er sagt3): \u00bbObschon,* selbst innerhalb dieser Bezirke\u00ab (der von zwei eben unterscheidbaren Punkten begrenzten) \u00bbdie Wahrnehmung der r\u00e4umlichen Beziehung der durch den Querschnitt eines soliden Stahes und einer gleichgestalteten R\u00f6hre er- . regten Empfindungen eine so vage ist, dass wir den Umriss und die verschiedene Gestalt jener beiden T.astobjecte nicht zu erkennen im Stande sind, ihre etwaige Unterscheidbarkeit daher wesentlich nur auf unr\u00e4umlichen Kennzeichen beruhen muss.\u00ab\nDass diese Behauptungen nicht richtig sind, wird schon durch die oben erw\u00e4hnte Arbeit von Eisner4) bewiesen. Er fand, dass\n1)\tPhil. Stud. XI, S. 226 ff. 406 ff. 531 ff.\n2)\tWagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch in, 2, S. {j40.\n3)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1855. XVII. S. 593.\n4)\tBeurtheilung der Gr\u00f6\u00dfe und der Gestalt von Fl\u00e4chen. Inaug.-Diss. Erlangen 1888.","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nCharles Hubbard Judd.\nHartgummicylinder von einem Durchmesser von 2 und 6 mm auf dem Handr\u00fccken und von 2 und 25 mm auf dem R\u00fccken von einander unterschieden wurden. * Ebenso zeigen unsere Versuche, dass zwei Punkte und eine Ausdehnung als solche weit unterhalb der Schwelle f\u00fcr zwei Spitzen unter g\u00fcnstigen Bedingungen wahrgenommen werden k\u00f6nnen. Die Wahrnehmung r\u00e4umlicher Unterschiede ist demnach unterhalb dieser Schwelle m\u00f6glich. Was aber die Erkennung der Gestalten unm\u00f6glich macht, liegt in der Schwierigkeit begr\u00fcndet, mehrere Unterschiede gleichzeitig vorzustellen. Wie schwer diese Auffassung auch f\u00fcr die einfachste aller Figuren, n\u00e4mlich f\u00fcr die gerade Linie ist, geht aus der letzten Reihe unserer Versuche klar* und deutlich hervor. Bedenken wir nun, dass diese Schwierigkeiten sich mit jeder neu hinzukommenden Linie vermehren m\u00fcssen, so darf man a priori vermuthen, dass die Wahrnehmung von Gestalten um so schwerer wird, je mehr Linien dieselben begrenzen. Der Grund liegt nicht darin, dass die gr\u00f6\u00dfere Ausdehnung gar nicht wahrgenommen wird, sondern darin, dass die verschiedenen Theile derselben nicht in ihrem richtigen Verh\u00e4ltnisse zu einander percipift werden k\u00f6nnen. Dass die Schwierigkeiten sich thats\u00e4chlich mit der Zunahme der Begrenzungslinien h\u00e4ufen, wird durch die Arbeiten von Hoffmann1) und Nichols2) au\u00dfer Frage gestellt. Wie wir oben gesehen haben, wird das Ordnen der Localzeichen in einfer Linie wesentlich unterst\u00fctzt durch die deutliche Wahrnehmung der beiden Endpunkte. Wir d\u00fcrfen also die Wahrnehmung einet Richtung und die deutliche Unterscheidung von zwei Localzeichen als zwei sich sehr nahestehende Vorg\u00e4nge ansehen. Wenn wir nun annehmen, dass die extensive Schwelle ein Ausdruck f\u00fcr z'syei gleichzeitig wahrgenommene Hautempfindungen ist, so finden wir thats\u00e4chlich, dass die von uns in der Tabelle VII angegebenen Sch wellen werthe eine ann\u00e4hernde Uebereinstimmung mit denjenigen aufweiseij, die man gew\u00f6hnlich bei Anwendung von zwei Spitzen findet. Die Schwankungen sind bei uns freilich gr\u00f6\u00dfer als in letzterem Falle. Dies kommt daher, dass die Bedingungen f\u00fcr das Urtheilen bei dieser Versuchsanord-\n------------ #\n\u2022 4\n1)\tStereognostische Versuche. Inaug.-Diss. Stra\u00dfburg 1883.\n2)\tOur Notions of Number and Space. Boston 1894.","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Ramnwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t445\nnung complicirtere sind. Die von uns gefundenen Thatsachen aber liefern eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die extensive Schwelle. Wir haben es hier keineswegs mit einer einfachen Wahrnehmung zu thun, wie diejenigen Forscher anzunehmen pflegen, welche die extensive Schwelle als Empfindungseinheit betrachten. Wir m\u00fcssen vielmehr den Vorgang folgenderma\u00dfen beschreiben: Ein Punkt a ist auf der Haut mehr oder weniger genau localisirt, d. h. durch seine eigenth\u00fcmliche F\u00e4rbung ausgezeichnet. Ein Punkt l ist gleichfalls mehr oder weniger genau localisirt. Diese beiden Punkte werden durch ihre verschiedene Localf\u00e4rbung von einander unterschieden, wenn sie gleichzeitig ins Bewusstsein treten, auch wenn ihre absolute Localisation relativ unsicher bleibt. \u2022 Es handelt sich hier demnach um die Wahrnehmung und Unterscheidung von zwei einfachen Wahrnehmungen. Diese Unterscheidung wird in Folge der ung\u00fcnstigen peripherischen, wie auch der noch ung\u00fcnstigeren psychischen Bedingungen bei gleichzeitiger Reizung der Punkte erschwert. Die so bestimmte extensive Schwelle ist also keine Messung f\u00fcr die Feinheit des Raumsinnes, wenn wir diese so auffassen, dass sie ein Ma\u00df f\u00fcr die kleinsten wahrnehmbaren r\u00e4umlichen Verschiedenheiten abgibt. Sie ist vielmehr ein Ma\u00df f\u00fcr einen ziemlich complicirten Vorgang der r\u00e4umlichen Perception. Diese Schlussfolgerung wird durch eine gro\u00dfe Menge von Versuchen, die seit Weber in diesem Gebiet ausgef\u00fchrt worden sind, vielseitig best\u00e4tigt. Wir werden auf die Resultate dieser Versuche sp\u00e4ter ausf\u00fchrlicher eingehen. Zuerst haben wir eine Erscheinung zu untersuchen, die schon Weber beobachtet hat. Weber\u2019s eigne Worte ' 0 t lauten1): >Auch dann (wo die zwei Eindr\u00fccke anfangen, als em\neinziger Eindruck empfunden zu werden) konnte der Beobachter oft noch bestimmen, ob die Linie, die die Enden des Zirkels verbindet, in der L\u00e4ngsrichtung seines K\u00f6rpers und seines Gliedes, oder in querer Richtung liege. Dann empfand er zwar nur einen Eindruck, aber der ber\u00fchrte Theil der Haut schien eine l\u00e4ngliche Gestalt zu haben und er konnte sagen, wohin der gr\u00f6\u00dfere und der kleinere Durchmesser dieses l\u00e4nglichen ber\u00fchrten Theiles der Haut gerichtet war.\u00ab\n1) Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch, III, 2, S. 525.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nCharles Hubbard Judd.\nAusf\u00fchrlicher ist diese Erscheinung von Camerer beschrieben und als Erkl\u00e4rung f\u00fcr die sogenannten Vexirfehler verwandt worden. Die Stelle lautet bei Cambrer1): \u00bbBer\u00fchrt man aber die K\u00f6rperstelle mit einem Nadelpaar von gen\u00fcgend kleinem Spitzenabstand, so hat man auch im Falle des richtigen Urtheils nie die deutliche Empfindung zweier Spitzen, oder gar eines Abstandes zwischen denselben, vielmehr nur die nicht n\u00e4her qualificirbare Empfindung, dass die Ber\u00fchrung nicht mit einer Nadelspitze, sondern mit etwas breiterem erfolgt sei. Denn der Uebergang zwischen deutlichen und undeutlichen Empfindungen ist ein ganz allm\u00e4hlicher, und zwar geht aus meinen Tabellen hervor, dass falsche F\u00e4lle viel h\u00e4ufiger Vorkommen bei den VexirVersuchen, welche zugleich mit kleinem Spitzenabstande gemacht werden, als bei den zugleich mit gr\u00f6\u00dferem Spitzenabstande gemachten Vexirversuchen. Nach dem oben Gesagten ist es leicht verst\u00e4ndlich, dass die Versuchsperson beide, in der That nur wenig verschiedene Empfindungen verwechselt (die breitere, welche der Versuch mit einem Nadelpaar von kleinem Abstand macht, und die weniger breite, welche der Vexirversuch macht), sei es ohne \u00e4u\u00dferen Grund nur in Folge der Einbildung, sei es weil \u00e4u\u00dfere Ursachen, z. B. st\u00e4rkeres Andr\u00fccken der Nadel beim Vexirversuche, zu dem Irrthum Veranlassung geben.\u00ab\nIV. Zur Untersuchung dieses Ph\u00e4nomens ben\u00fctzten wir linien-artige Reize, zu denen, v^ie in der letzten Reihe, auch Cartonr\u00e4nder verwendet wurden. Andere Karten waren so geschnitten, dass sie zwei Spitzen darstellten, von denen jede 1 mm breit war und\ndie in verschiedenen Abst\u00e4nden von einander entfernt waren. Durch\n%\ndie letztere Einrichtung konnte man somit die extensive Schwelle im gew\u00f6hnlichen Sinne bestimmen. Mit diesen beiden Reizarten wurden Reihen durcheinander angestellt. Das Verfahren war insofern ein unwissentliches, als die Versuchsperson nicht wusste, ob die betreffende Reihe mittelst Linien oder Spitzen ausgef\u00fchrt wurde. Der Beobachter hatte anzugeben, ob er einen Punkt, eine Linie oder zwei Spitzen wahrnehme. In jedem Falle wurden die Reihen mit so geringen Abst\u00e4nden begonnen, dass nur ein Punkt empfunden wurde. Bei diesen Versuchen ist jedoch sogleich ein Factor\ni) Zeitschr. f. Biol. XVII. S. 15.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnetimungen im Gebiete des Tastsinnes.\t447\nals st\u00f6rendes Moment zu erw\u00e4hnen. Dies ist der sogenannte Vexir-fehler, der sich bei einem Beobachter (Mr. Stratton) in besonderem Ma\u00dfe st\u00f6rend erwies. Ist die Neigung, den Yexirfehler zu begehen, zu stark, so kann das Urtheil, auch wenn es dem objec-tiven Reiz entspricht, selbstverst\u00e4ndlich nicht als richtig betrachtet werden. Die Bestimmung eines Schwellenwerthes ist in diesem Talle also ganz unm\u00f6glich. In ganz besonderem Ma\u00dfe st\u00f6rend war das Auftreten von Yexirfehlern bei der oben erw\u00e4hnten Versuchsperson, als dieselbe w\u00e4hrend einiger Zeit an einer bereits ver\u00f6ffentlichten1) Untersuchung \u00fcber Trugwahrnehmungen theilnahm. Nichols2) hat bereits darauf hingewiesen, dass ein Beobachter, der einmal angefangen hat, Vexirfehler zu begehen, stark geneigt ist, dieselben fortw\u00e4hrend zu begehen. An einigen Tagen musste die Schwellenbestimmung bei der erw\u00e4hnten Versuchsperson aus dem genannten Grunde aufgegeben werden. Zur\u00fcck trat diese Neigung in einigen F\u00e4llen, in denen in der absteigenden Reihe mit einer ziemlich gro\u00dfen Distanz begonnen wurde, in denen also das Verfahren ein wissentliches war.\nDie Vexirfehler d\u00fcrften f\u00fcr weitere Untersuchungen eine sehr wichtige Erscheinung sein. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Schlussfolgerung, welche Henri und Tawney3) aus ihrer Untersuchung gezogen haben, n\u00e4mlich dass das Auftreten von Vexir-fehlern haupts\u00e4chlich an peripherische Bedingungen gebunden sei, durch ihre Resultate nicht best\u00e4tigt werden kann. Wenn dieselbe hei einem der beiden Beobachter scheinbar zutraf, so ist dagegen zu bemerken, dass bei ihm eine deutliche Neigung vorhanden ist, seine Urtheile auf die Quer- und L\u00e4ngsrichtung zu beschr\u00e4nken, was aus peripherischen Ursachen erkl\u00e4rt werden kann. Auch die Cam er er\u2019sehe Erkl\u00e4rung, nach welcher die Erscheinung auf eine falsche Interpretation von unbestinimten Breitenempfindungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sei, ist nicht ausreichend, denn in manchen F\u00e4llen empfindet der Beobachter ganz deutlich zwei gleich starke und von einander getrennte Eindr\u00fccke. In anderen F\u00e4llen sind dieselben\n\n1)\tTawney and Henri, Phil. Stud. XI, S. 394ff.\n2)\tOur Notions of Number and Space. Boston 1894. S. 163 f.\n3)\tPhil. Stud. XI, S. 403.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nCharles Hubbard Judd.\nnicht von gleicher St\u00e4rke, aber dennoch deutlich von einander getrennt. Wir konnten au\u00dferdem beobachten, dass diese Neigung an einigen Tagen st\u00e4rker hervortrat als an anderen. Dies war besonders der Fall, wenn der Beobachter schlecht disponirt war. Es ist daher weit wahrscheinlicher, dass psychische Einfl\u00fcsse die n\u00e4chste Ursache f\u00fcr dies eigenth\u00fcmliche Ph\u00e4nomen sind, wie bereits Fech-ner, Camerer, Nichols u. A. ausgef\u00fchrt haben. \u2014 Gehen wir auf die Yersuchsergebnisse zur\u00fcck (Tab. VIII). Die bei Anwendung von Linien gefundene kleinere Schwelle entspricht ganz den Resultaten der letzten Reihe, obwohl die Zahlenwerthe in beiden Reihen nicht absolut gleich sind. Doch ist hierzu zu bemerken, dass diese beiden Reihen zu verschiedenen Jahreszeiten gemacht wurden. Die eine wurde im Fr\u00fchling, die andere im Herbst angestellt. Nehmen\nTabelle VIII.\nAnzahl der Einzel- hestim- mnngen\tMittlere Schwelle\tMittlere Tariation\tGr\u00f6\u00dfte Schwelle\tKleinste Schwelle\t\nDr. E. Meumann.\t\t\t\t\t\n11\t0,98\t0,21\t1,5\t0,6\tMit einer Linie\n7\t3,49\t0,39\t4,0\t2,8\tMit zwei Spitzen\n\u2014\t0,89\t\u2014\t1,6\t0,6\tAus der ersten Reihe\nMr. G. M. Stratton.\t\t\t\t\t\n15\t0,80\t0,15\tIJ\t0,5\tMit einer Linie\n10\t2,03\t0,25\t2,6\t1,6\tMit zwei Spitzen\n\u2014\t0,66\t\u2014\t1,2\t0,4\tAus der ersten Reihe\nMr. F. D. Sherman.\t\t\t\t\t\n21\t1,22\t0,17\t1,5\t0,9\t| Mit einer Linie\t\n14\t2,66\t*0,17\t3,0\t2,4\tMit zwei Sitzen\n\t0,77\t\u2014\t1,2\t0,4\tAus der ersten Reihe","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t449\nwir hierzu noch die verschiedenen Versuchsbedingungen, unter denen die beiden Reihen angestellt wurden, \u00abso d\u00fcrfte sich aus diesen beiden Umst\u00e4nden die geringe Differenz in den Werthen der Resultate\nerkl\u00e4ren.\t*\nWir haben hier nochmals auf einige Beobachtungen zur\u00fcckzukommen, welche schon bei der vorigen Reihe besprochen sind, welche aber auch in dieser vierten Reihe wieder zum Vorschein kommen. Auch hier wurden die zwei Endpunkte der Linien vorzugsweise empfunden und zwar weit h\u00e4ufiger als in der vorigen Reihe. Dies wird seinen Grund in den ver\u00e4nderten Versuchsbedingungen haben. Denn hier kann unter Umst\u00e4nden die Erwartung eine gewisse Rolle spielen, da die Versuchsperson bei sonst unwissentlichen Versuchen doch im allgemeinen wusste, dass zuweilen wirklich zwei Spitzen verwandt wurden und diese nun auch erwartete, wenn das objective Reizmittel eine Linie war. \u2014 Bei beiden Reizarten sind zun\u00e4chst stumpfe Ber\u00fchrungsempfindungen das erste Stadium nach dem Auftreten des punktartigen Eindruckes. Die stumpf empfundene Ber\u00fchrung zieht sich in ihrer einen Achse l\u00e4nglich aus, bis schlie\u00dflich die Vorstellung einer Linie auftritt. Die zwei Spitzen wurden fast regelm\u00e4\u00dfig als Linie empfunden, bevor ihre Zweiheit deutlich erkannt wurde. Dieselbe wird aber dann nicht als lange deutliche Linie empfunden, sondern ist vielmehr als die ehenmerkliche Wahrnehmung einer Ausdehnung aufzufassen. Bei weiteren Abst\u00e4nden der beiden Punkte wird zuweilen in der Mitte derselben schwach eine Linie empfunden. Diese Verwechslung von zwei Punkten mit einer Linie erkl\u00e4rt sich vielleicht theilweise durch peripherische Ursachen, wie dies schon oben (S. 428) hei der zweiten Reihe ausgef\u00fchrt wurde ; denn ohne Zweifel breitet sich der von einem Punkte aus gerei4te Bezirk ziemlich aus. Diese Verwechslung kann aber auch bei s&hr gro\u00dfen Distanzen Vorkommen, die eine solche Erkl\u00e4rung sehr zweifelhaft machen. Nach unserer Auffassung von der Entstehung der extensiven Schwelle ist es nicht n\u00f6thig, dass wir uns auf eine solche Erkl\u00e4rung beschr\u00e4nken. Nach dieser Auffassung wird die extensive Schwelle dann erreicht, wenn qualitative Unterschiede zweier Punkte deutlich erkannt werden. Die Deutlichkeit diejer Unterschiede wird aber in einer unendlich langen Reihe von Uebergangsstufen Vorkommen.","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nCharles Hubbard Judd.\nMan wird anfangs nur allgemein wahrnehmen, dass mehr als ein Punkt gereizt wurde. Wir haben aber gesehen, dass die dem Ur-theil Linie zu Grunde liegenden Empfindungen eben diejenigen Empfindungen sind, welche *das Vorhandensein von Localzeichen anzeigen, die gerade nicht mehr gleich sind, aber auch noch nicht so verschieden, dass sie als getrennt wahrgenommen werden k\u00f6nnen. Diese Reihe zeigt demnach ganz deutlich den gro\u00dfen Unterschied zwischen den zwei von Fechner unterschiedenen Schwellen, der Schwelle der erkennbaren Gr\u00f6\u00dfe und der Schwelle der erkennbaren Distanz, wenn die letztere nach der Weber\u2019schen Methode bestimmt ist.\nFassen wir nun das Gefundene nochmals zusammen, so ergibt sich, dass die ganze Raumwahrnehmung im Gebiet des Tastsinnes dadurch zu Stande kommt, dass die einzelnen Empfindungspunkte der Haut qualitative Unterschiede aufweisen, die wir als r\u00e4umliche Verschiedenheiten interpretiren. Fassen wir nun die in einem Falle empfundenen, als sogenannte Localzeichen bekannten Empfindungsinhalte als qualitativ gleich auf, sei es wegen der Verschmelzung der gereizten Hautbezirke oder in Folge der Unm\u00f6glichkeit, dieselben unter den gegebenen psychischen Bedingungen zu unterscheiden, so erscheinen uns die Reize als eine r\u00e4umliche Einheit. Diese Einheit nennen wir Punkt, womit aber nicht mehr ausgedr\u00fcckt ist als die Abwese\u00f9heit jeglicher Ausdehnung. Fassen wir dagegen die Localzeichen als eben nicht gleich auf, so ordnen wir sie in unserer Raumanschauung neben einander und zwar zun\u00e4chst ohne dass wir von der Richtung, die sie zu einander einnehmen, eine klare Vorstellung haben. Verm\u00f6gen wir dieselben aber als deutlich von einander verschieden aufzufassen, so betrachten wir sie als getrennte Punkte. Wenn dagegen innerhalb der Distanz, die sich zwischen di\u00e8sen zwei Punkten befindet, alle m\u00f6glichen Uebergangsstufen empfunden werden, so werden wir eine continuirliche Linie wahrnehmen. Die Richtung ist endlich in allen F\u00e4llen nur dann wahrnehmbar, wenn mindestens zwei Localzeichen in ihren qualitativen Unterschieden deutlich erkannt werden. Die psychische Bedingung, welche die Auffassung von Localzeichen am meisten erschwert^, ist in erster Linie das gleichzeitige Auftreten mehrerer Localzeichen im Bewusstsein. Hierauf ist es","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t451\nhaupts\u00e4chlich zur\u00fcckzuf\u00fchren, warum die zwei simultan aufgesetzten punktuellen Reize einen so gro\u00dfen Zwischenraum zwischen sich nehmen m\u00fcssen, bevor sie als Zweiheit erkannt werden.\nDie vorliegende Abhandlung erhebt nicht den Anspruch, den Ursprung der Localzeichen erkl\u00e4ren zu wollen, sondern setzt das Vorhandensein derselben erfahrungsgem\u00e4\u00df einfach voraus. Von diesem Gesichtspunkte lassen die zahlreichen Resultate, die im Gebiete des Hautsinnes seit Weber\u2019s Arbeiten gesammelt worden sind, die folgenden kurzen Betrachtungen zu. Dieselben lassen sich ohne Zwang in die oben er\u00f6rterte Anschauung einf\u00fcgen und liefern so zugleich eine weitere Best\u00e4tigung f\u00fcr die Richtigkeit derselben.\nIII. Historischer Ueberblick.\nZun\u00e4chst m\u00fcssen einige F\u00e4lle besprochen werden, in denen durch die jeweils vorausgesetzten Bedingungen die Schwellenwerthe verringert oder vergr\u00f6\u00dfert werden. Als normale Werthe sind diejenigen zu betrachten, die unter den gleichen Bedingungen gewonnen wurden, unter denen Weber* 1) arbeitete. Pathologische Abweichungen sollen hierbei au\u00dfer Betracht bleiben, obwohl auch in dieser Beziehung eine Menge von Material vorliegt; da dasselbe aber meistens nicht einmal diagnostisch verwerthbar ist, so werden wir auch f\u00fcr unsern Zweck keinen neuen Nutzen daraus ziehen k\u00f6nnen.\nAls wichtigstes Moment f\u00fcr die Verkleinerung der Schwellenwerthe muss das der Uebung angesehen werden. Dies ist gemeinsam mit Fechner von Volkmann2) untersucht worden. Letzterer stellte fest, dass die Schwelle schon nach wenigen Stunden durch fortgesetzte Uebung betr\u00e4chtlich herabgesetzt werde. Auch fand er die Herabsetzung des Schwellenwerthes durch die Uebung nicht nur auf denjenigen Hautstellen, auf denen die Versuche ausgef\u00fchrt wurden, sondern auch auf solchen, die symmetrisch zu diesen\n-i\n1)\tAnnotationes anat. et physiol. Lipsiae 1851. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch, III, 2. Braunschweig 1846.\n2)\tUeber den Einfluss der Uebung auf das Erkennen r\u00e4umlicher Distanzen. Sitzungsber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1858. S. 38 ff.\nWandt, Philos. Stadien. XII.\n30","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nCharles Hubbard Judd.\ngelegen waren. Auch. Dressier1) hat hier\u00fcber einen Monat lang t\u00e4glich Versuche angestellt. Er fand nach kurzer Zeit Resultate, die den von Volkmann ver\u00f6ffentlichten ganz entsprechen. Der Einfluss der Uebung ist dann noch von anderen Forschern, obwohl nicht in dem gleichen Ma\u00dfe wie von Volkmann und Dressier, constatirt worden. Es ist jedoch bemerkenswerth, dass in den langen Reihen, welche die Sch\u00fcler von Vierordt, sowie Camerer ausgef\u00fchrt haben, dieser Factor keine hervorragende Rolle spielt. Bei Blinden ist erst von Czermak2) und nach ihm von mehreren Forschern, n\u00e4mlich von Goltz3), G\u00e4rtner4), Miss Washburn5), Heller6) beobachtet worden, dass die Schwellenwerthe kleiner sind als bei Sehenden. Dies ist dem weit h\u00e4ufigeren Gebrauch des Tastsinnes bei Blinden und somit der Uebung zugeschrieben worden. Heller glaubt, dass die Verkleinerung der Schwelle hier keine so bedeutende ist, als man fr\u00fcher anzunehmen pflegte, sondern dass die fr\u00fcheren Resultate durch die Tastzuckungen der Blinden bedingt sind. Bei den kurz dauernden Reihen, die Volkmann und Dressier anstellten, kann von peripherischen Ver\u00e4nderungen keine Rede sein. Die Uebung ist hier somit wie auch in anderen Sinnesgebieten als ein rein psychisches Moment aufzufassen. Die h\u00e4ufige Wiederkehr in der Wahrnehmung der gleichen qualitativen Unterschiede bewirkt demnach eine Verfeinerung der Unterschiedsempfindlichkeit \u00fcberhaupt. Einen weiteren Einfluss bietet die Hyper\u00e4mie dar. Dies ist zuerst von Brown-S\u00e9quard7) beobachtet worden. Alsberg8) fand freilich in diesem Falle eine Vergr\u00f6\u00dferung des Schwellen-werthes, aber seine Methode wurde von Klinkenberg9) als unbrauchbar zur\u00fcckgewiesen. Brown-S\u00e9quard\u2019s Resultate sind sp\u00e4ter\n1)\tStudies in the Psychology of Touch. Amer. Journ. VI, S. 313 f.\n2)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1855. XV. S. 482.\n3)\tDe spatii sensu cutis. Inaug.-Diss. Lipsiae 1858. S. 9.\n4)\tVersuche \u00fcber den Raumsinn der Haut an Blinden. Zeitschr. f\u00fcr Biol. XVII. S. 56 ff.\n5)\tPhil. Stud. XI, S. 190 ff\n6)\tPhil. Stud. XI, S. 226 ff.\n7)\tArchives de phys. 1858. S. 344 ff.\n8)\tUntersuchungen \u00fcber den Raum- und Temperatursinn bei verschiedenen Graden der Blutzufuhr. Inaug.-Diss. Marburg 1863.\n9)\tDer Raumsinn der Haut. Inaug.-Diss. Bonn 1883.","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n453\nvielfach best\u00e4tigt worden. So von Rumpf1), Klinkenberg2), Serebrenni3 4), Schmey1). In \u00e4hnlicher Weise stellte Klinkenberg fest, dass durch Zufuhr von W\u00e4rme die Schwellenwerthe verkleinert werden. Wir k\u00f6nnen diese Beobachtung von unserem Standpunkte aus v\u00f6llig verstehen, denn durch Hyper\u00e4mie wird die Haut empfindlicher und die einzelnen Empfindungen werden daher relativ st\u00e4rker und deutlicher. Czermak5) hat beobachtet, dass die Schwellenwerthe beim Kinde kleiner sind als bei Erwachsenen. Diese Resultate sind von Goltz6), Camerer7) und G\u00e4rtner best\u00e4tigt worden. Vielleicht kann man als theilweise Erkl\u00e4rung f\u00fcr diese Erscheinung die gr\u00f6\u00dfere Anzahl der nerv\u00f6sen Elemente in der Quadrateinheit bei Kindern annehmen. Denn die gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Nerven bedingt eine gr\u00f6\u00dfere Empfindlichkeit der Haut. Czermak selbst aber hat bereits zugegeben, dass diese Erkl\u00e4rung keine ausreichende sei, indem er nach einigen Rechnungen fand, \u00bbdass die Knaben zum Theil in riesigen Dimensionen aus wachsen m\u00fcssten, um die gew\u00f6hnlichen Feinheitsgrade Erwachsener zu bekommen\u00ab8). Vierordt9) hat die Czermak\u2019sche Erkl\u00e4rung auf Grund von Czermak\u2019s eigenen Werthen ebenfalls abgelehnt. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die kindliche Haut weit d\u00fcnner und zarter als die Erwachsener ist, und gerade diese Momente bewirken eine Verkleinerung der Schwellenwerthe, wie Volkmann10) durch k\u00fcnstliche Mittel bewiesen hat. Sind nun die Reize von solcher Art, dass sie deutliche Empfindungen hervorzurufen verm\u00f6gen, wie es der Fall ist, wenn sie scharf und nicht stumpf sind (Camerer11), Goldscheider12) u. a.), so sind sie\n1)\tVerhandl. des zweiten med. Congr. zu Wiesbaden. 1883. S. 302 ff.\n2)\ta. a. O. S. 26 ff.\n3)\tUeber den Einfluss der Hautreize auf die Sensibilit\u00e4t der Haut. Inaug.-Diss. Bern 1876.\n4)\tUeber die Modification der Tastempfindung. Du Bois-Reymond\u2019s Archiv. 1884. S. 309 ff.\n5)\ta. a. O. S. 466 ff.\t6) a. a. O. S. 6.\n7)\tZeitschr. f. Biol. XVII, S. 1 ff.\n8)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1855. XV. S. 499.\n9)\tPhys. des Kindesalters. Gerhard\u2019s Kinderkrankheiten. Bd. I. T\u00fcbingen\n1877. S. 199.\n10)\tSitzungsber. d. s\u00e4ehs. Ges. d. Wiss. 1858.\n11)\tZeitschr. f\u00fcr Biol. XXI. S. 528.\n12)\tArchiv f\u00fcr Anat. u. Phys. 1885. Suppl.\n30*","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nCharles Hubbard Judd.\nauch leichter von einander zu unterscheiden. Ebenso ist dies der Fall, wenn man die Reize auf besonders empfindliche Hautpunkte, die sogenannten G old sch ei der\u2019sehen1) Druckpunkte setzt. Eine andere \u00e4hnliche interessante Beobachtung ist von James2) gemacht worden. Er konnte feststellen, dass zwei Spitzen, welche noch nicht als zwei empfunden werden, sofort deutlich als zwei wahrgenommen werden, w\u00e9nn man die eine derselben in Rotation versetzt. Rumpf3) fand den gleichen Erfolg nach Einnahme von Coffein, Fr\u00e4ulein Suslowa4) fand diese Schwellen Verringerung beim Eintauchen der Hand in Wasser oder Oel, wenn dasselbe auf den physiologischen Nullpunkt gebracht war. Yon derselben Verfasserin r\u00fchrt die Mittheilung her, dass auch beim Durchgang des elektrischen Stromes an Stelle der Anode eine Verkleinerung der Raumschwelle stattfand, die aber Bernhardt5) nicht best\u00e4tigen konnte.\nEine Herabsetzung der Empfindlichkeit ist in folgenden F\u00e4llea beobachtet worden. Schon Weher bemerkt, dass man die Erm\u00fcdung zu vermeiden habe, da durch dieselbe falsche Resultate erzeugt w\u00fcrden. Schmey6) und Griesbach7) haben diesen Einfluss experimentell n\u00e4her untersucht. Der Erstere fand eine betr\u00e4chtliche Vergr\u00f6\u00dferung der Schwelle auf dem Arme nach Bewegen dieses Gliedes. Auch constatirte er, dass die Schwellenwerthe im allgemeinen am Abend gr\u00f6\u00dfer seien als am Morgen. Griesbach7) hat eine gro\u00dfe Anzahl von Versuchen an Gymnasiasten und anderen Personen \u00fcber den Einfluss der geistigen Erm\u00fcdung angestellt. Er fand eine starke Herabsetzung der Empfindlichkeit schon nach einer Stunde geistiger Anstrengung, die sich nach einer Ruhepause wieder verringerte. Wundt8) gibt an, dass die wahrgenommene Distanz zwischen zwei Punkten sich bei der psychischen Erm\u00fcdung zu verringern und in anderen F\u00e4llen zu verschwinden scheint. Diese\n1)\tArchiv f\u00fcr Anat. und Phys. 1885. Suppl. S. 84 ff.\n2)\tThe Principles of Psychology. New York 1890. Vol. II. S. 170.\n3)\ta. a. O. S. 306.\n4)\tZeitschr. f. rat. Med. Dritte Reihe. XVII. 1863. S. 155 ff.\n5)\tDie Sensibilit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der Haut. Berlin 1874.\n6)\tDu Bois-Reymond\u2019s Archiv. 1884. S. 309 ff.\n7)\tUeber Beziehungen zwischen geistiger Erm\u00fcdung und Empfindungsverm\u00f6gen der Haut. Archiv f\u00fcr Hygiene. XXIV. 1895. Heft 2.\n8)\tBeitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. S. 37.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"455\nUeber Raiimwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\nErscheinung ist nach Wundt von einer Abnahme in der \u00bbDeutlichkeit der Empfindung\u00ab begleitet.\nIm Gegensatz zur Hyper\u00e4mie ist die An\u00e4mie von einer Herabsetzung der Empfindlichkeit begleitet, wie Alsberg1), Klinkenberg2), Rumpf3) und Eulenburg4) gezeigt haben. In analoger Weise \u00e4u\u00dfert sich nach Klinkenberg, Schmey und Eulenburg die Wirkung der K\u00e4lte. Ebenso wirkt die Narkose im Sinne einer Herabsetzung der Empfindlichkeit. Dies ist von Lichtenfels5) und Rumpf6) beobachtet worden. Das Gleiche zeigt nach Schmey7) ein Druck auf den betreffenden Sinnesnerv. Frl. Suslowa8) beobachtete, dass, wenn man die Fl\u00e4che zwischen zwei verschiedenen Punkten mit einem Pinsel reizt, diese Punkte nicht mehr als zwei wahrgenommen wurden. Diese Angabe steht in keinem Widerspruch zu unserer Beobachtung, dass continuirliche Reize weit unter der Schwelle f\u00fcr die Wahrnehmung von zwei Spitzen als solche empfunden werden, sondern der Pinselreiz ist vielmehr als ein st\u00f6rendes Moment zu betrachten. Die Verfasserin bemerkt hier\u00fcber selbst: \u00bbDer Versuch \u2014 \u2014 \u2014 erweckt unwillk\u00fcrlich den Gedanken, der Erfolg m\u00f6ge vielleicht darin seinen Grund haben, dass unsere Aufmerksamkeit durch die sp\u00e4tere Reizung der Haut mit dem Pinsel von der fr\u00fcheren mit den Zirkelspitzen abgewendet wird\u00ab9).\nWir sehen ganz deutlich, dass alle hier in Betracht kommenden Bedingungen in ihrem Einfluss auf die Gr\u00f6\u00dfe der extensiven Schwelle darauf zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, dass durch dieselben die zwei punktartigen Eindr\u00fccke in ihrer Deutlichkeit mehr oder weniger beeinflusst werden, oder dass die Aufmerksamkeit im allgemeinen durch dieselben verst\u00e4rkt oder verringert wird.\nEs sei ferner das sogenannte Vierordt\u2019sche Gesetz einer kurzen Betrachtung unterzogen. Dasselbe lautet: \u00bbDie Feinheit des Ortssinnes der verschiedenen Hautbezirke einer K\u00f6rperregion, die immer als Ganzes bewegt wird, verh\u00e4lt sich proportional den mittleren\n1) a. a. O. S. 518 f.\t2) a. a. O. S. 24.\n4)\tBerliner klin. Wochenschr. 1865. S. 510 ff.\n5)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1851. S. 338.\n6)\ta. a. O. S. 303 ff.\t7) a. a. O. S. 311\n9) a. a. 0. S. 157.\n3) a. a. O. S. 304.\n8) a. a. 0. S. 158.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nCharles Hubbard Judd.\nAbst\u00e4nden dieser Bezirke von ihren s\u00e4mmtlichen gemeinsamen Drehachsen\u00ab1 2 3 4 5).\nDieses Gesetz ist an sich nicht mehr als die Constatirung eines empirisch gefundenen Verh\u00e4ltnisses. Es kann nur verwerthet werden, wenn es mit einer sonst begr\u00fcndeten Theorie in Einklang gebracht wird. In diesem Sinne ist es nach Funke2) und Wundt3) als ein Gesetz der Uebung bei Bewegungen aufzufassen.\nEine andere Beobachtung Weber\u2019s, die f\u00fcr seine Theorie von besonderer Bedeutung gewesen ist, sei hier kurz erw\u00e4hnt. Dieselbe ist von Weber selbst mit den folgenden Worten beschrieben worden: \u00bbWenn man mit den Spitzen des ge\u00f6ffneten Zirkels auf der Haut eines Anderen zwei parallele Linien zieht und zugleich daf\u00fcr sorgt, dass beide Spitzen mit gleicher Kraft auf die Haut dr\u00fccken, so glaubt der Beobachter zu f\u00fchlen, dass die Bahnen auf manchen Theilen der Haut sich einander n\u00e4hern, auf andern sich voneinander entfernen. Sie scheinen an den Theilen der Haut zu divergiren, wo die Zirkelspitzen bei ihrer Bewegung von stumpfer f\u00fchlenden Hauttheilen auf feiner f\u00fchlende \u00fcbergehen, sie scheinen dagegen dann zu convergiren, wenn sie von feiner f\u00fchlenden Hauttheilen auf stumpfer f\u00fchlende \u00fcbergehen\u00ab4).\nVon Lichtenfels6) ist dieses Auseinanderr\u00fccken und Zusammenziehen der Punkte im Weber\u2019schen Sinne geleugnet worden. Er beschreibt dasselbe vielmehr so, dass die zwei Punkte w\u00e4hrend der Bewegung auf empfindlichen Theilen deutlich als verschieden von einander und auf mehr unempfindlichen Theilen nur als Einheit wahrgenommen w\u00fcrden, wobei au\u00dferdem alle m\u00f6glichen Grade von Zwischenstufen in der Deutlichkeit der Zweiheit vorhanden seien, und eben aus diesem letzteren Umstande schlie\u00dfe man auf ein scheinbares Aneinander- und Auseinandergehen derselben zur\u00fcck. Lichtenfels\u2019 Anschauung findet eine St\u00fctze in der folgenden Beobachtung Wundt\u2019s: \u00bbBei st\u00e4rkerem Druck scheint die Entfernung zwischen zwei Spitzen eine weitere als bei schw\u00e4cherem\n1)\tPfl\u00fcger\u2019s Archiv. II. 1869. S. 298.\n2)\tHermann\u2019s Handbuch der Phys. III, 2, S. 384.\n3)\tGrundz\u00fcge der Physiol. Psychol. 4. Aufl. S. 17.\n4)\tSitzungsber. d. s\u00e4chs. Ges. d! Wiss. 1852. S. 93.\n5)\tSitzungsber. d. W. Akad. 1851. VI. S. 348 f.","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\t457\nDruck. Hier wird offenbar das Qualitative der Wahrnehmung, ihre gr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit, auf das Quantitative derselben unwillk\u00fcrlich \u00fcbertragen\u00ab1).\nUebrigens zeigen die Resultate, die Camerer2) bei Anwendung seiner Methode nach Aequivalenten gewonnen hat, dass die Urtheile \u00fcber Distanzen sich auf die reellen objectiven Abst\u00e4nde beziehen und nicht etwa von der Anzahl der dazwischenliegenden Nerven-elemente abh\u00e4ngig sind. Er fand, dass zwei von Punkten begrenzte Strecken auf verschiedenen Theilen der Hautoberfl\u00e4che dann als gleich beurtheilt wurden, wenn auch die objectiven Reize ann\u00e4hernd gleich entfernt waren. Die Feinheit des Raumsinnes im gew\u00f6hnlichen Sinne spielt hierbei keine besondere Rolle; denn Versuche, die an K\u00f6rperstellen ausgef\u00fchrt wurden, deren Empfindlichkeit sehr differirt, ergaben, dass die betreffenden Distanzen auf den empfindlichsten K\u00f6rperstellen nicht immer als gr\u00f6\u00dfer, sondern in manchen F\u00e4llen sogar als kleiner angegeben wurden. Diese Erscheinung d\u00fcrfte darin ihre Erkl\u00e4rung finden, dass man, nachdem man die Zweiheit als solche wahrgenommen, nun aus dem Grade des Qualit\u00e4tsunterschiedes der beiden Punkte die Entfernung derselben von einander zu sch\u00e4tzen versucht. Diese Sch\u00e4tzung bezieht sich aber auf die Vorstellung des reizenden Objectes und nicht auf die nerv\u00f6sen Elemente, die in der Haut erregt werden. Camerer fand ferner eine Zunahme in der Genauigkeit der Sch\u00e4tzung bei der Verl\u00e4ngerung der Strecken. Dies erkl\u00e4rt sich daraus, dass mit dem Gr\u00f6\u00dferwerden der Strecken auch die qualitativen Unterschiede ihrer Endpunkte deutlicher erscheinen und so ihre Abst\u00e4nde richtiger beurtheilt werden k\u00f6nnen. Alle diese Thatsachen zeigen, wie eng die Deutlichkeit der Empfindungen mit ihrer r\u00e4umlichen Vorstellung zusammenh\u00e4ngt. Wir d\u00fcrfen daher Lichtenfels zustimmen, wenn er behauptet, dass diese Weber\u2019sche Beobachtung nur als eine mehr oder minder gro\u00dfe Deutlichkeit der Zweiheit aufzufassen ist.\nSchlie\u00dflich verdienen noch zwei Arbeiten eine Erw\u00e4hnung, die \u00fcber das Ged\u00e4chtniss im Gebiete des Raumsinnes der Haut ange-\n1)\tBeitr\u00e4ge zur Theorie d. Sinnesw, S. 41.\n2)\tZeitschr. f. Biol. XXIII. S. 509 ff.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nCharles Hubbard Judd.\nstellt worden sind. Die erste r\u00fchrt von Loewenton1) her und ist nach der ersten W e lier \"sehen Methode ausgef\u00fchrt. Er lie\u00df zwei durch Punkte begrenzte Abst\u00e4nde bei variabler Zwischenzeit mit einander vergleichen. Die Resultate zeigen, dass \u00bbdas Ged\u00e4chtniss f\u00fcr Entfernungssch\u00e4tzungen vermittelst der Haut geringgradig ist,\u00ab. Da die Sch\u00e4tzung \u00fcberhaupt aber ein sehr complicirter Vorgang ist, so war dieses Resultat schon a priori zu erwarten. Die Methode ist f\u00fcr die Pr\u00fcfung des Ged\u00e4chtnisses wenig geeignet. Die zweite Arbeit stammt von Lewy2) und ist nach der zweiten Weber\u2019schen Methode ausgef\u00fchrt worden. Trotz der Nachtheile, die dieser Methode, wie bereits fr\u00fcher (S. 411 f.) nachgewiesen, anh\u00e4ngen, lieferte diese Arbeit genauere Resultate als die von Loewenton. Im allgemeinen dr\u00fccken dieselben jedoch nur die auch in anderen Sinnesgebieten gefundene Thatsache aus, dass das Erinnerungsverm\u00f6gen zu der L\u00e4nge der Zeit im umgekehrten Verh\u00e4ltniss steht, und dass st\u00f6rende Factoren das Behalten erschweren.\nIV. Kritik der Theorie von den Empfindnngskreisen.\nBei der Besprechung der Methoden haben wir auseinandergesetzt, dass fast alle die Arbeiten, welche im Gebiete des Tastsinnes angestellt wurden, nach der ersten Weber\u2019schen Methode ausgef\u00fchrt sind. Ebenso ist der Einfluss der W\"e her\u2019sehen Theorie von den Empfindungskreisen in allen in diesen Arbeiten hervortretenden Theorien zu sp\u00fcren. Diese Theorie leidet aber an dem Fehler, dass Weber zwei ganz verschiedenartige Begriffe nicht deutlich voneinander unterschieden hat. Von diesen h\u00e4ngt der erste von der Versuchsmethode ab und ist die Folge ihrer falschen Voraussetzungen. Nach dieser Methode soll die Feinheit des Rauni-sinnes dadurch bestimmt werden, dass man das eben merkliche Auseinandersein von zwei gleichzeitig gereizten Hautpunkten wahrnimmt. Wenn man nun den Empfindungskreis als denjenigen Bezirk definirt, der durch jene beiden simultanen Eindr\u00fccke be-\n1)\tVersuche \u00fcber das Ged\u00e4chtniss im Bereiche des Baumsinnes der Haut. Inaug.-Diss. Dorpat 1893.\n2)\tZeitschr. f. Psychol, und Physiol, der Sinnesorg. VIII. S. 231 ff.","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Heber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n459\ngrenzt wird, und alle Empfindungen innerhalb dieses Bezirkes als r\u00e4umlich gleichwerthig betrachtet, so hat man den Begriff der Einheit augenscheinlich aus der Versuchsmethode entlehnt. Weber hat den Empfindungskreis nicht immer in diesem Sinne verstanden, dagegen hat Czermak sich vorzugsweise an diese Auffassung gehalten, indem er ausdr\u00fccklich hervorhebt, dass Differenzen innerhalb dieses Bezirkes keine r\u00e4umlichen Verschiedenheiten zum Bewusstsein bringen k\u00f6nnen. Funke nennt dieselben physiologische Empfindungskreise. Seine Worte lauten: \u00bbAllerdings kann man auch das durch die kleinste wahrnehmbare Distanz umschriebene Hautgebiet als eine elementare Gr\u00f6\u00dfe, als eine physiologische Einheit f\u00fcr den Raumsinn auffassen und mit dem an sich sehr unbestimmten Ausdruck eines Empfindungskreises bezeichnen\u00ab >).\nIm selben Sinne deckt sich das, was Camerer unter Raumschwelle versteht, im wesentlichen mit dieser ersten Bedeutung des Weber\u2019schen Empfindungskreises, wie schon oben bei der Kritik der Methode der Aequivalente (S. 413) gezeigt wurde; dass aber der Empfindungskreis in diesem Sinne keine Erkl\u00e4rung, sondern nur ein Wort ist, hat Wundt bereits folgenderma\u00dfen hervorgehoben: \u00bbDer Begriff des Empfindungskreises, wie er hier aufgestellt worden, ist blo\u00df ein anderer Ausdruck f\u00fcr die Thatsache der r\u00e4umlichen Schwelle und ihrer Gr\u00f6\u00dfen Verschiedenheiten1 2) . . . .\u00ab\nAlles, was gegen die Methode gesagt wurde, gilt auch f\u00fcr diesen Begriff der Einheit.\nDie zweite Definition des Empfindungskreises, die bei Weber zu finden ist, zeigt ganz deutlich seine nativistische Neigung, aus rein anatomischen Bedingungen die von ihm entdeckten Thatsachen zu erkl\u00e4ren. Diese Stelle hei\u00dft bei Weber: \u00bbDuabus impressionibus in unam eandemque fibram nerveam simul factis unus tantum et communis sensus, impressionibus autem in duas fibras factis duplex et diversus sensus oritur\u00ab3).\nDie Einw\u00e4nde, welche K\u00f6lliker4) und Lotze5) bald gegen\n1)\tHermann\u2019s Handbuch d. Phys. III, 2. S. 392.\n2)\tGrundz\u00fcge d. Physiol. Psychol. 4. Aufl. II. S. 14.\n3)\tAnnot\u00e2t, anat. et phys. S. 149.\n4)\tMikroskopische Anatomie. Bd. II. S. 39 ff.\n5)\tMed. Psych. S. 402 ff.","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460\nCharles Hubbard Judd.\ndie Web er\u2019sehe Theorie erhoben, machen klar, dass dieser anatomische Begriff der Einheit der Empfindung keineswegs dem eben erw\u00e4hnten und aus der Methode gewonnenen entspricht. Trotzdem aber sieht man, wie beide Begriffe auch in den sp\u00e4teren Arbeiten Weber\u2019s miteinander verwechselt werden. Er schreibt an verschiedenen Stellen in folgender Weise: \u00bbEine Hauptsache bei den f\u00fcr den Raumsinn getroffenen Einrichtungen besteht daher darin, dass die empfindliche Haut dieses Sinnorgans gleichsam ein Mosaik von empfindlichen Theilen (Empfindungskreisen) ist, von welchen jeder seine eigenth\u00fcmliche Empfindlichkeit hat, verm\u00f6ge welcher zwei Einwirkungen auf zwei Theile dieses Mosaiks stets zwei verschiedene Empfindungen hervorbringen, welche nicht in eine Empfindung verschmelzen, auch dann, wenn jene Einwirkungen \u00fcbrigens ganz gleich sind\u00ab1). \u00bbEs scheint n\u00e4mlich, dass die Empfindungen, die gleichzeitig durch zwei Aeste eines und desselben elementaren Nervenfadens hervorgebracht werden, untereinander zu einer einzigen Empfindung verschmelzen, weil sie nur auf einen und denselben Theil des Gehirns einen Eindruck machen, dass dagegen gleichzeitige Empfindungen, die durch mehrere elementare, zu verschiedenen Punkten des Gehirns gehende Nervenf\u00e4den vermittelt werden, voneinander unterscheidbar sind\u00ab 2).\n\u00bbEmpfindungen, welche durch irgend welche Reizung der Haut innerhalb des Rayons eines Empfindungskreises, also durch Reizung einer bestimmten Nervenfaser erzeugt werden, verkn\u00fcpfen sich im Sensorium mit einer ganz bestimmten Ortsvorstellung von bestimmtem, wie wir uns einstweilen kurz ausdr\u00fccken wollen, Raumwerth, welcher genau derselbe ist, mag der Reiz in der Mitte oder irgend wie am Rande den Empfindungskreis treffen, mag er einen ganzen Umfang oder nur einen Theil desselben einnehmen, mag er einfach oder in eine beliebige Anzahl getrennter, verschiedene Punkte des Kreises treffender Einzelreize gespalten sein.\u00ab\nBei Cze rmak spielt der anatomische Begriff nur eine untergeordnete Rolle. Seine \u00bbeinfachen Raumelemente\u00ab bestimmen keineswegs die \u00bbRaumeinheiten h\u00f6herer Ordnung\u00ab, sondern\n1} Sitzungsber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1852. S. 103. 104.\n2) 1. c. S. 104.","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n461\nman muss Wundt durchaus zustimmen, wenn er ausfuhrt (Beitr\u00e4ge S. 19), dass diese einfachen Baumelemente Czermak\u2019s allm\u00e4hlich immer mehr der Auffassung von Lotze\u2019s Localzeichen angen\u00e4hert worden sind.\nVon Funke ist der Versuch gemacht worden, anatomische und physiologische Empfindungskreise zu unterscheiden. Er f\u00fchrt dies in folgenden Worten aus: \u00bbDann muss man aber diesen Begriff eines physiologischen Empfindungskreises (der durch die kleinste wahrnehmbare Distanz gemessen wird) streng von demjenigen eines anatomischen Empfindungskreises, wie ihn Weber definirt hat, auseinanderhalten und darf beide nicht schlechthin identifi-ciren. Auf einer Verwechslung oder f\u00e4lschlichen Identificirung beider Begriffe beruhen die meisten Angriffe, welche gegen Weber\u2019s Lehre gef\u00fchrt worden sind. Weber seihst hat denselben gewisserma\u00dfen Vorschub geleistet, indem er selbst beide nicht immer streng genug auseinander gehalten hat\u00ab 1). Funke\u2019s Definition der physiologischen Empfindungskreise ist bereits oben angef\u00fchrt worden; die anatomischen Empfindungskreise beschreibt er folgenderma\u00dfen: \u00bbDer unanfechtbare Vordersatz, von welchem Weber ausgeht, lautet, dass eine und dieselbe Nervenfaser, wenn sie gleichzeitig von mehreren gesonderten Beizen von verschiedenen Orten aus in Erregung versetzt wird, unter allen Umst\u00e4nden nur eine in jeder Beziehung einfache Empfindung, nicht mehrere gleichzeitige discrete Empfindungen, an welche sich verschiedene Ortsvorstellungen ankn\u00fcpfen k\u00f6nnen, hervorzubringen vermag\u00ab2).\nObwohl die Existenz von solchen anatomischen Empfindungskreisen durch den Fortschritt der anatomischen Erkenntniss stark in Frage gestellt worden ist, so braucht man dieselbe doch noch nicht endg\u00fcltig zu leugnen, sondern kann annehmen, dass die von Blitz3) und Goldscheider4) gefundenen Empfindungspunkte als solche aufzufassen sind. Es ist jedoch sehr fraglich, ob diese Empfindungspunkte mit jenen einfachen Empfindungsqualit\u00e4ten, welche Lotze als Localzeichen bezeichnet hat, ohne weiteres zu identificiren\n1)\tHermann\u2019s Handbuch d. Physiol. Ill, 2. S. 393.\n2)\tEbend. S. 388.\n3)\tZeitschr. f. Biol. XX. 1884. S. 141 ff.\n4)\tAreh. f. Anat. u. Phys. Suppl. 1885.","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462\nCharles Hubbard Judd.\nsind, sondern es ist weit wahrscheinlicher, dass die Empfindungsqualit\u00e4ten der letzteren aus mehreren durch solche anatomische Einheiten vermittelten Empfindungen zusammengesetzt sind.\nUm die Resultate der Weber\u2019schen Versuche durch die anatomischen Empfindungskreise zu erkl\u00e4ren, nimmt man an, dass die Seele eine dunkle Vorstellung von diesen Empfindungskreisen in sich trage und die Anzahl der zwischen zwei Hauteindr\u00fccken gelegenen Empfindungskreise gewisserma\u00dfen zu z\u00e4hlen verm\u00f6ge, wobei die Anzahl der letzteren, die zur Erkennung des eben wahrnehmbaren Zwischenraumes n\u00f6thig ist, eine sehr verschiedene sein k\u00f6nne. Doch wird wenigstens ein solcher Kreis unbedingt als noth-wendig angenommen. Diese Ansicht, dass ein ungereiztes Element zwischen den beiden gereizten liegen muss und gewisserma\u00dfen als leerer Raum empfunden wird, stammt von \"Weber und ist von sp\u00e4teren Forschern vielfach wiederholt worden. Die Widerlegung dieser Anschauung ist bereits von Wundt geliefert worden. Die betreffende Stelle lautet hei ihm: \u00bbDass Nichtempfundenes zur Wahrnehmung kommt, ist ein Widerspruch, denn wir k\u00f6nnen wohl von Empfindungen reden, die nicht wahrgenommen werden, nie aber von Wahrnehmungen, die nicht aus Empfindungen stammen. Haltbar ist diese Ansicht daher nur, wenn man annimmt, dass von den zwischen den beiden Eindr\u00fccken liegenden, nicht empfundenen Empfindungskreisen aus der Erinnerung ein Phantasiehild entsteht, und wenn wir hier statt der Empfindungskreise, die weder je in unserer Anschauung, noch in unserer Erinnerung Vorkommen, die zwischen den Eindr\u00fccken liegende nicht empfundene Hautstrecke setzen, so entspricht dies in der That unseren eigenen Beobachtungen; aber man sieht leicht ein, dass bei dieser neuen Fassung der Theorie die Annahme der festen Empfindungskreise in der Haut und im Sensorium, auf die man doch so gro\u00dfes Gewicht legt, ganz bedeutungslos wird, indem man ja schlie\u00dflich darauf hinauskommt, dass nur durch die Erfahrung die Eindr\u00fccke getrennt und die Entfernungen, die zwischen ihnen befindlich sind, abgesch\u00e4tzt werden\u00ab1).\nWir sehen also, wie sich die beiden von Weber zusammengeworfenen Begriffe im Laufe der weiteren Forschungen immer\n1) Beitr\u00e4ge zur Theorie d. Sinneswahrn. S. 50. Vergl. auch S. 147.","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes.\n463\ndeutlicher voneinander gesondert haben. Die anatomischen Empfindungskreise werden kleiner und kleiner gedacht und gleichen so immer mehr den Mei\u00dfner\u2019schen Irradiationskreisen. In diesem Sinne kann man dieselben als Einheiten betrachten und so die in der Haut vorhandenen anatomischen Verschiedenheiten insofern als Bedingungen f\u00fcr die Raum Wahrnehmung auffassen, als sie die Bedingungen f\u00fcr die Verschiedenheiten der sinnlichen Empfindungen sind. Dagegen ist der andere Begriff des Empfindungskreises g\u00e4nzlich zu verwerfen und an dessen Stelle ein complicirter Vorgang der Unterscheidung und Vergleichung von Empfindungsqualit\u00e4ten zu setzen.","page":463}],"identifier":"lit4247","issued":"1896","language":"de","pages":"409-463","startpages":"409","title":"Ueber Raumwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:35:57.585074+00:00"}