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{"created":"2022-01-31T14:18:26.631246+00:00","id":"lit4248","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kiesow, Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 464-473","fulltext":[{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\nVon\nFriedrich Kiesow.\nVierte Mittheilung1).\nUeher die Wirkung von Temperaturen auf Geschmacksempfindungen.\nUm den st\u00f6renden Einfluss von Temperaturempfindungen bei meinen Untersuchungen \u00fcber den Geschmackssinn auszuschlie\u00dfen, befolgte ich, wie bereits mitgetheilt2), die Regel, dass ich die zu verwendenden Schmeckfl\u00fcssigkeiten auf die Eigentemperatur des Mundraumes erh\u00f6hte. Ich konnte auf diese Weise f\u00fcr alle Versuchspersonen die gleichen Bedingungen herstellen und so unter einander vergleichbare Werthe gewinnen. Bei diesen Versuchen konnte ich jedoch bemerken, dass diese st\u00f6renden Einfl\u00fcsse von Temperaturschwankungen hei den einzelnen Beobachtern nicht die gleichen, sondern von individuell verschiedenem Charakter waren. Ich konnte ferner beobachten, dass dieselben in manchen F\u00e4llen von der Empfindlichkeit der Z\u00e4hne herr\u00fchrten, indem auch nur bis auf Zimmertemperatur abgek\u00fchlte Fl\u00fcssigkeiten zuweilen\n1) Da die systematische Anordnung dieser Untersuchung in ihrem weiteren Verlauf Schwierigkeiten begegnet, die namentlich aus der zeitraubenden Natur einzelner Theile derselben entspringen, so wird, an Stelle der bisherigen Para-grapheneintheilung, die fernere Publication in einzelnen Mittheilungen erfolgen, deren jede ein in sich abgeschlossenes Thema behandeln soll.\n2) Phil. Stud. X, S. 331.","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\t465\nSchmerzempfindungen erzeugten, wodurch schwache Geschmackseindr\u00fccke \u00fcbert\u00e4ubt wurden; wie dass die genannten Unterschiede in andern F\u00e4llen mit dem Einfl\u00fcsse der Uebung und den Functionen der Aufmerksamkeit zusammenhingen und sich mehr und mehr auszugleichen schienen, sobald die fr\u00fcher hervorgehobenen Bedingungen1) erf\u00fcllt waren. Ich konnte aber damals nicht entscheiden, ob, wenn \u00fcberhaupt Temperaturreize unterhalb der Schmerzgrenze auch unter g\u00fcnstigsten Bedingungen auf Geschmacksreize wirkten, schon ein intensiverer Temperatureindruck als solcher eine schwache Geschmacksempfindung zu \u00fcbert\u00f6nen und dementsprechend eine st\u00e4rkere in ihrer Wirkung abzuschw\u00e4chen im st\u00e4nde sei oder ob die Perception des Geschmackseindrucks unter diesen Bedingungen lediglich von dem Grade der willk\u00fcrlich auf denselben eingestellten Aufmerksamkeit abh\u00e4ngig sei. Wie gro\u00df die Empfindlichkeit f\u00fcr Temperaturunterschiede ist, hat bereits Dessoir in seiner Arbeit \u00fcber den Hautsinn2) gezeigt. Je mehr aber diese Thatsache in Erw\u00e4gung zu ziehen ist, um so wahrscheinlicher m\u00fcsste es sein, dass der Lenkung der Aufmerksamkeit bei der in Rede stehenden Erscheinung ein hervorragender Antheil zufallen d\u00fcrfte, dass dieselbe somit, soweit die verwandten Temperaturgrade unterhalb der Schmerzgrenzen gehalten werden, psychisch bedingt ist und nicht etwa auf physiologische Wirkungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sein d\u00fcrfte. Mit der vorliegenden Untersuchung hin ich dieser Frage n\u00e4her getreten. Ich schicke voraus, dass ich dieselbe in dem soeben angedeuteten Sinne beantworten kann; denn ich habe gefunden, dass Temperaturen, die diesseits der Grenzen des Temperaturschmerzes liegen, auf Geschmackseindr\u00fccke, sobald man nur auf die Wahrnehmung derselben die Aufmerksamkeit hinreichend zu concentriren vermag und nicht secund\u00e4re Erscheinungen, wie oben bemerkt; hinzutreten, gar keinen Einfluss auszu\u00fcben verm\u00f6gen. Der letztere tritt vielmehr erst ein, sobald die mehrfach erw\u00e4hnten Schmerzgrenzen erreicht sind. Der nunmehr auftretende Temperaturschmerz aber kann sodann bei kurzer Einwirkungszeit\n1)\tPhil. Stud. X, S. 322 u. 359.\n2)\tArch. f. Physiol. 1892. S. 256. Vergl. meine Abhandl. \u00fcber Cocain etc. Phil. Stud. IX, S. 510.","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nFriedrich Kiesow.\npsychologisch im Sinne der oben erw\u00e4hnten Schmerzhaftigkeit der Z\u00e4hne die Geschmackssensation \u00fcbert\u00f6nen oder hei l\u00e4ngerer Dauer in physiologischem Sinne an\u00e4sthesirend auf die Endorgane des Geschmackssinnes oder auch hemmend auf den Verlauf der betreffenden Nervenfasern selber einwirken. Wenn daher Camerer1) angibt, dass die Schmeckf\u00e4higkeit bei Temperaturen von 10\u201420\u00b0 C. am g\u00fcnstigsten sei, so wird man auch f\u00fcr diese Annahme die hervorgehobenen Momente in Anspruch nehmen d\u00fcrfen, wobei jedoch bemerkt werden muss, dass diese Angabe nicht in jeder Beziehung zutreffen m\u00f6chte.\nDie hier in Betracht kommenden Versuche habe ich anfangs an mir selber angestellt, indem ich nach der in meiner fr\u00fcheren Ver\u00f6ffentlichung2) angegebenenMethode die betreffenden Geschmacksstoffe erw\u00e4rmte oder dieselben auf K\u00e4ltemischungen abk\u00fchlte. Im letzteren Falle konnte die Abk\u00fchlung, wie kaum erw\u00e4hnt zu werden braucht, nur eben bis zum Gefrierpunkte erfolgen. Die Application der Geschmacksstoffe, als welche ich wiederum L\u00f6sungen von Kochsalz, Rohrzucker und Quassiin, sowie verd\u00fcnnte Salzs\u00e4ure benutzte, erfolgte mittelst des fr\u00fcher mehrfach erw\u00e4hnten Tropfgl\u00e4schens, das in den einzelnen Fl\u00fcssigkeiten ebenfalls gleichzeitig erw\u00e4rmt oder abgek\u00fchlt wurde. Das auf die Schmeckfl\u00e4che getr\u00e4ufelte Quantum derselben betrug in jedem Falle 1 ccm. Als Schmeckfl\u00e4che diente mir hei diesen Versuchen die Zungenspitze. Die verwandte Concentra-tionsstufe der einzelnen Stoffe entsprach stets dem Schwellenwerthe derselben. Eine Verschiebung dieses Werthes musste den Einfluss der Temperaturen auf das deutlichste zeigen. Ich konnte aber hierbei beobachten, dass sich die Temperaturen der verwandten Fl\u00fcssigkeitsmengen in jedem Falle der Mundtemperatur schnell anpassten, so dass ich zu keinen eindeutigen Resultaten gelangen konnte, obwohl, wie schon hier ausdr\u00fccklich bemerkt werden darf, eine Verschiebung des Schwellenwerthes von 0\u00b0 bis zu 51\u00b0 C. nicht eintrat. Aus dem hervorgehobenen Grunde \u00e4nderte ich diese Versuche sodann dahin ab, dass ich das Quantum der zu untersuchenden Schmecksubstanz auf 10 ccm vermehrte. Ich temperirte\n1)\tPfl\u00fcger's Archiv, II. S. 322 ff.\n2)\tPhil. Stud. X, S. 331.","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n467\ndiese Fl\u00fcssigkeitsmengen in Bechergl\u00e4schen, indem ich bei 0\u00b0 beginnend in Stufen von 2\u00b0 C. aufstieg und dieselben dann schnell verschluckte. Ich durfte annehmen, dass die Anpassung an die Eigentemperatur des Mundes hierbei wenigstens keine sehr gro\u00dfe sein konnte, wie auch, dass ein sehr gro\u00dfer W\u00e4rmeverlust heim Verschlucken der Fl\u00fcssigkeit nicht eintreten w\u00fcrde. Bei einigen Controlversuchen habe ich au\u00dferdem versucht, die Temperatur der Mundschleimhaut derjenigen der Geschmacksstoffe anzupassen, indem ich destillirtes Wasser auf die gleichen jeweils verwandten Temperaturen brachte und hiervon ein Quantum von 10 ccm eine kurze Zeit vor jedem Einzel versuche im Munde behielt. Aber auch bei dieser Ab\u00e4nderung des Versuchs Verfahrens habe ich eine Schwellenerh\u00f6hung innerhalb der Grenzen von fast 0\u00b0 bis zu fast 52\u00b0 C. nicht constatiren k\u00f6nnen. Erst bei diesen Grenzen verschieben sich die Schwellenwerthe f\u00fcr alle vier Qualit\u00e4ten um wenige Stufen nach aufw\u00e4rts. Doch sind dieselben nicht ganz constant, so dass sie kaum einen allgemeinen Werth beanspruchen d\u00fcrften. Ich konnte aber bei oftmaliger Wiederholung dieser Versuche bemerken, dass die obere Grenze hier intensiver wirkt als die untere. Beide Grenzwerthe entsprechen jedoch dem Uebergange zum Temperaturschmerze1), und da die hierdurch hervorgerufene Schmerzempfindung von nur sehr kurzer Dauer ist, so d\u00fcrften wir die Erh\u00f6hung des Schwellenwerthes um wenige Stufen kaum anders deuten k\u00f6nnen, als dass eine st\u00e4rkere Empfindung die schw\u00e4chere eines andern Sinnesgebietes gewisserma\u00dfen verdr\u00e4ngt und nicht zur Perception gelangen l\u00e4sst. Herr Dr. Br ahn hat mir diese Befunde durch mehrfache Versuche mit Salz- und Zuckerl\u00f6sungen best\u00e4tigt. Ebenso ist Herr Professor v. Frey so freundlich gewesen, mir f\u00fcr einige Control versuche, die wir mit Salz- und Quassiinl\u00f6sungen anstellten, zu dienen. Auch er best\u00e4tigte das Ergehniss vollst\u00e4ndig. Ich sage beiden Herren f\u00fcr ihre Freundlichkeit an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank.\n1) Vergl. E. H. Weber, Ueber den Einfluss der Erw\u00e4rmung und Erk\u00e4ltung der Nerven auf ihr Leitungsverm\u00f6gen. Joh. M\u00fcller\u2019s Archiv f\u00fcr Anatomie, Physiologie und wissensch. Medicin. 1847. S. 342 ff. Ebenso meine Abhandlung \u00fcber Cocain und Gymnemas\u00e4ure. Phil. Stud. IX, S. 515.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n31","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\nFriedrich Kiesow.\nUeber die zweite der oben aufgeworfenen Fragen, wie weit Temperaturen in physiologischem Sinne an\u00e4sthesirend auf die nerv\u00f6sen Organe ein wirken k\u00f6nnen, sind au\u00dfer wohl veralteten Versuchen von Luchtmann1) exacte Untersuchungen bereits von Ernst Heinrich Weber ausgefiihrt worden. Dieselben sind niedergelegt in seiner bereits oben2) citirten Abhandlung und entstammen dem f Jahre 1847. Weber schreibt: \u00bbIch habe gefunden, dass die Geschmacksnerven und die Tastnerven durch K\u00e4lte und W\u00e4rme auf einige Zeit die F\u00e4higkeit verlieren, uns Geschmacksempfindungen und Empfindungen von W\u00e4rme und K\u00e4lte zu verschaffen, und dass wir, wenn die Schleimhaut der Nase mit Wasser in Ber\u00fchrung gekommen ist, auf kurze Zeit den Geruch verlieren3)\u00ab. Von Weber\u2019s Untersuchungen, die er zugleich auf den Tast- und Geruchssinn ausdehnte, interessiren uns hier nur seine innerhalb des Geschmackssinnes gefundenen Resultate. Die betreffende Stelle lautet bei Weber: \u00bbWenn man die Zunge in ein mit warmem Wasser gef\u00fclltes Gef\u00e4\u00df eintaucht, z. B. in eine Temperatur von 40\u00b0 bis 42\u00b0 R., und sie darin y2 Min. oder 1 Min. oder noch l\u00e4nger erh\u00e4lt und dann mit Zuckerpulver, oder mit einem aus Zucker und Wasser gemachten Brei in Ber\u00fchrung bringt, so nimmt man keinen s\u00fc\u00dfen Geschmack mehr wahr; zugleich bemerkt man, dass der Tastsinn, durch dessen Feinheit sich sonst die Zungenspitze vor allen andern Theilen des K\u00f6rpers auszeichnet, unvollkommener geworden ist. Dieser Zustand kann 6 Secunden und l\u00e4nger dauern. Bringt man dagegen die Zunge auf die n\u00e4mliche Weise mit dem Zucker in Ber\u00fchrung, ohne sie vorher zu erw\u00e4rmen, so schmeckt man die S\u00fc\u00dfigkeit des Zuckers sehr deutlich. W\u00e4hrend des Eintauchens entsteht ein eigenth\u00fcmlicher W\u00e4rmeschmerz, der aber augenblicklich beim Herausziehen der Zunge aus der Fl\u00fcssigkeit vergeht und nicht mehr stattfindet, wenn man den Zucker mit der Zunge ber\u00fchrt. Die Erscheinung kann daher auch nicht durch eine Ueber-t\u00e4ubung der schw\u00e4cheren Geschmacksempfindung durch den ent-\n1)\tSpecimen physico-medicum etc. 1758.\n2)\tS. 467 Anmerk. v. Vintschgau, Hermann\u2019s Handb. III. S. 218 f.\n3)\ta. a. O. S. 342.","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n469\nstandenen W\u00e4rmeschmerz erkl\u00e4rt weiden. Die Zunge scheint sich vielmehr in einem \u00e4hnlichen Zustande zu befinden, wie ein Finger, auf dessen Nerven l\u00e4ngere Zeit ein Druck eingewirkt und. dadurch den Finger in den Zustand versetzt hat, den wir das Eingeschlafensein desselben nennen\u00ab.\n\u00bbDie n\u00e4mliche Erfahrung macht man nun auch, wenn man die Zunge Y2 Minute oder eine Minute oder l\u00e4nger in einen aus zersto\u00dfenem Eise und Wasser gemachten Brei taucht. Hier tritt ein K\u00e4lteschmerz ein, der mit dem W\u00e4rmeschmerz gro\u00dfe Aehnlichkeit hat, so dass man, wenn man nichts als diese Schmerzen empf\u00e4nde und nicht in den an der Grenze des Wassers befindlichen Theilen der Zunge W\u00e4rme- und K\u00e4lteempfindungen h\u00e4tte, kaum zu sagen imstande sein w\u00fcrde, ob der Schmerz durch W\u00e4rme oder durch K\u00e4lte verursacht werde. Der Erfolg ist, dass man auf \u00e4hnliche Weise, wie nach l\u00e4ngerer Einwirkung der W\u00e4rme, s\u00fc\u00dfe K\u00f6rper nicht mehr schmeckt\u00ab \u2019). Am Schl\u00fcsse seiner Abhandlung fasst Weher die Resultate dieser Versuche nochmals in den Satz zusammen: \u00bbWenn die Enden der Nerven der Zunge der Einwirkung einer W\u00e4rme, welche sich 41\u00b0 R. n\u00e4hert, oder einer K\u00e4lte, die dem Nullpunkte nahe kommt, ausgesetzt werden, so verlieren sie auf kurze Zeit die Eigenschaft, uns Geschmacksempfindungen zu verschaffen\u00ab2). F\u00fcr den bitteren Geschmack hat seinerzeit Guyot3) den Weher\u2019schen Versuch best\u00e4tigt, ich habe aber nicht in Erfahrung bringen k\u00f6nnen, ob die Befunde dieser scheinbar wenig bekannten Weher\u2019schen Arbeit sonst jemals nachgepr\u00fcft, noch oh diese Versuche auf alle vier Geschmacksqualit\u00e4ten jemals ausgedehnt worden sind. Ich glaubte, diesen ebenso einfachen als sch\u00f6nen Versuch deswegen einer Wiederholung, bei der alle vier Qualit\u00e4ten in Betracht zu ziehen seien, werth halten zu d\u00fcrfen und habe die Nachpr\u00fcfung mit Herrn Dr. Hofmann zusammen angestellt, dem ich f\u00fcr seine stets bereite freundliche H\u00fclfe an dieser Stelle meinen aufrichtigsten Dank nochmals ausspreche. Wir benutzten f\u00fcr diese Versuche die gleichen oben genannten Geschmacksstoffe theils in trockenem Zustande, theils in\n1) a. a. O. S. 343 u. 344.\t2) a. a. O. S. 355.\n3) Note sur l\u2019anesthesie du sens du go\u00fbt. Comptes rendus etc. 1856. XLII. S. 1143; citirt nach v. Vintschgau, a. a. O. S. 218 u. 219.\n31*","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nFriedrich Kiesow.\nm\u00f6glichst concentrirten L\u00f6sungen von Zimmertemperatur und f\u00fchrten dieselben hei einer Einwirkungszeit des Temperaturreizes von 11/2 bis 2 Minuten im \u00fcbrigen genau nach Weber\u2019s Vorschrift aus. Die Versuche ergaben im allgemeinen bis ins Einzelne dieselben Resultate, wie sie oben nach Weber\u2019s Mittheilungen citirt sind, nur fanden wir schon bei den ersten Pr\u00fcfungen, die wir an Rohrzucker anstellten, dass auch in diesem Falle der W\u00e4rmereiz in st\u00e4rkerem Grade an\u00e4sthesirend auf die Zungenspitze wirkte, als der nahe am Gefrierpunkte auftretende K\u00e4ltereiz. Bei den andern drei Geschmacksstoffen ergaben sich einige Besonderheiten, f\u00fcr die ich im Nachstehenden die an Dr. Hofmann und an mir selber aufgenommenen Protocolle ausf\u00fchrlich verwerthe. Ich f\u00fcge noch hinzu, dass Herr Dr. Hofmann die Versuche durchweg zweimal angestellt hat, w\u00e4hrend ich dieselben an mir selber mehrfach wiederholte. Ich stelle die F\u00e4lle, in denen die Zungenspitze mit Eis behandelt wurde, f\u00fcr uns beide voran und lasse die mittelst der hohen Temperaturen von 50\u201451\u00b0 C. ausgef\u00fchrten Versuche an zweiter Stelle folgen.\n1. Versuche mit Eisbehandlung. Versuchsperson Dr. Hofmann.\nGepulverter Rohrzucker: Gepulvertes Kochsalz:\nConcentrirte Kochsalzl\u00f6sung: 0,2proc. Salzs\u00e4ure:\n\u00ab\n0,01 proc. Quassiin:\nAnfangs nichts, nach wenigen Secunden s\u00fc\u00df. Anfangs nichts, dann alkalisch, dann eine Empfindung wie bei Weinsteins\u00e4ure, fast, wie wenn man den Krystall an die Zunge h\u00e4lt, aber ohne die begleitende brennende Tastempfindung. Anfangs nichts, dann alkalisch, dann abwechselnd sauer und alkalisch.\nAnfangs stechend, nach ganz kurzer Zeit sauer. Anfangs nichts, nach etwa 10 Secunden schwach bitter.\nVersuchsperson: F. Kiesow.\nGepulverter Rohrzucker:\tAnfangs nichts, nach etwa 7\u20148 Secunden schwach\ns\u00fc\u00df.\nConcentrirte Rohrzuckerl\u00f6sung: Anfangs nichts, h\u00f6chstens eine schwach glei-\ntendeTastempfindung, nach etwa 6\u20147 Secunden schwach s\u00fc\u00df.","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n471\nGepulvertes Kochsalz:\nConcentrirte Kochsalzl\u00f6sung:\n0,2proc. Salzs\u00e4ure: 0,01 proc. Quassiin:\nIm ersten Momente nichts, dann sofort und anhaltend schwach sauer unter Hinzutritt einer schwach brennenden Tastempfindung. Nach etwa 2\u20143 Minuten geht die saure Empfindung durch eine laugige allm\u00e4hlich in eine schwach salzige \u00fcber.\nIm ersten Momente nur eine schwach stechende Tastempfindung, im \u00fcbrigen verl\u00e4uft der Versuch wie der vorhergehende1).\nIm allerersten Momente ziemlich stark stechend, dann sofort ziemlich stark sauer.\nAnfangs schwach fettige Tastempfindung. Der bittere Geschmack kehrte bei mir erst nach etwa 1 Minute schwach zur\u00fcck.\nNach diesen Ergebnissen wirkt der Einfluss der K\u00e4lte auf den bitteren Geschmack anscheinend am st\u00e4rksten ein, auf den sauren dagegen so gut wie gar nicht; w\u00e4hrend die Wiederkehr der salzigen Empfindung in eigenth\u00fcmlicher Weise an die Vorstufen des Laugigen und besonders des Sauren gebunden ist. Ebenso wird die den sauren Geschmack begleitende Tastempfindung zweifellos bei diesen Versuchen am wenigsten beeintr\u00e4chtigt. Ich f\u00fcge weiter hinzu, dass ich bei der Verwendung der genannten L\u00f6sungen zuweilen sehr schwache K\u00e4lteempfindungen wahrnehmen konnte.\n2. Versuche mit Temperaturreizen von 50\u00b0\u201451\u00b0 C.\nVersuchsperson: Dr. Hofmann.\nGepulverter Rohrzucker:\nGepulvertes Kochsalz:\n0,2proc. Salzs\u00e4ure: 0,01 proc. Quassiin:\nAnfangs nichts, der Geschmack ist vollst\u00e4ndig verschwunden, nach 3 Minuten schwach wiederkehrend.\nAnfangs nichts, nach 1 Minute bestimmt schwach salzig.\nSofort sauer.\nAnfangs nichts, nach V2 Minute leises Aufblitzen von bitter, nach 1 Minute Wiederkehr dieser Empfindung.\n1) Als ich nach Beendigung dieses Versuches die Zungenspitze nochmals an ein St\u00fcckchen Eis hielt, schmeckte mir auch dieses s\u00e4uerlich.","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472\nFriedrich Kiesow.\n\u00ab ,\nVersuchsperson: F. Kiesow.\nGepulverter Rohrzucker:\tAnfangs nichts, die Empfindung bleibt f\u00fcr S\u00fc\u00df\nbis auf 20 Minuten ausgel\u00f6scht.\nConcentrirte Rohrzuckerl\u00f6sung: Gleiche Erscheinung wie beim vorstehenden Versuch. Ich konnte hier neben der schwachen Tastempfindung des Glatten zugleich einen schwachen Temperaturunterschied wahrnehmen.\nAnfang nichts. Wiederkehr der Empfindung nach 20\u201430 Secunden, doch bleibt der schwache Salzgeschmack hier l\u00e4nger andauernd, wie bei der Eisbehandlung. Sp\u00e4ter tritt in Folge der andauernden Reizung mit Kochsalz eine ziemlich stark brennende Empfindung dazu, wodurch der Geschmackseindruck verst\u00e4rkt erscheint.\nEbenso, au\u00dferdem nahm ich mehrmals den Temperaturunterschied der Fl\u00fcssigkeit wahr.\nSofort sauer und brennend.\nAnfangs nur fettige Tastempfindung mit schwacher Wahrnehmung des Temperaturunterschiedes. Nach 2\u20143 Minuten schwach bitter.\nBei beiden Versuchspersonen ist die Wirkung der erh\u00f6hten Temperatur im allgemeinen eine intensivere als die des K\u00e4ltereizes, nur die Empfindung des Sauren blieb in diesem Falle v\u00f6llig unbeeintr\u00e4chtigt. Ebenso blieb hier bei beiden Versuchspersonen der laugig saure Geschmack als Vorstufe zur Wiederkehr des Salzigen aus. Im \u00fcbrigen zeigten sich auch hier, wie aus den Protocollen ersichtlich, in der Dauer der an\u00e4sthesirenden Wirkung einige individuelle Differenzen.\nWorauf die der Wiederkehr des salzigen Geschmacks voraufgehende saure Empfindung bei Anwendung von Eis zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich konnte fr\u00fcher feststellen, dass Kinder in manchen F\u00e4llen schwer zwischen Salzig und Sauer zu unterscheiden verm\u00f6gen1). Aber diese F\u00e4lle k\u00f6nnen hier nicht in Betracht gezogen werden. Ich m\u00f6chte diese Erscheinung daher, ohne eine Erkl\u00e4rung daf\u00fcr versuchen zu wollen, einfach als eine gefundene Thatsache hinstellen und verweise im \u00fcbrigen\nGepulvertes Kochsalz:\nConcentrirte Kochsalzl\u00f6sung:\n0,2proc. Salzs\u00e4ure:\n0,01 proc. Quassiin:\n1) Phil. Stud. X, S. 344.","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes.\n473\nauf die von v. Vintschgau in seiner vortrefflichen Arbeit \u00fcber den Geschmackssinn hervorgehobenen, im einzelnen noch unbekannten Ursachen, wodurch ein Geschmack modificirt werden kann, wie \u00bbdie Zust\u00e4nde der verschiedenen ahsondemden Dr\u00fcsen der Mundh\u00f6hle und ihrer Secrete\u00ab1) etc.\nZum Schl\u00fcsse bemerke ich noch, dass die Beobachtung der hervorgehobenen leisen Temperaturunterschiede zu Weber\u2019s Be-funden in keinem Gegens\u00e4tze steht, da ich die Schmeckstoffe meistens l\u00e4ngere Zeit auf die Zungenspitze wirken lassen musste, bevor die Sensation zur\u00fcckkehrte.\n1) a. a. O. S. 219.","page":473}],"identifier":"lit4248","issued":"1896","language":"de","pages":"464-473","startpages":"464","title":"Beitr\u00e4ge zur physiologischen Psychologie des Geschmackssinnes, Vierte Mittheilung","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:18:26.631252+00:00"}