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{"created":"2022-01-31T12:37:18.146682+00:00","id":"lit4253","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Eber, Heinrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 12: 587-628","fulltext":[{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten1).\nVon\nHeinrich Eber.\nDie Kinderpsychologie hat die Erforschung der psychischen Entwicklung des Kindes zur Aufgabe, und sie hat in diesem Sinne sowohl die Entwicklung normal veranlagter Individuen, wie auch die mit Sinnesdefecten behafteter zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht. In Folge der Beschaffenheit dieses ihres Untersuchungsgebietes ist sie aber darauf angewiesen, einerseits in innigster Verbindung mit derjenigen Wissenschaft zu bleiben, von der sie nur ein Zweig ist: mit der allgemeinen Psychologie, und andrerseits Ber\u00fchrungspunkte mit jenen Wissenschaften zu suchen, zwischen denen sie ein Bindeglied darstellt : mit der Thier-und V\u00f6lkerpsychologie. Au\u00dferdem werden ihr auch, soweit die psychische an die k\u00f6rperliche Entwicklung gebunden ist, Physiologie, Anatomie, Pathologie werthvolle Dienste zu leisten im Stande sein.\nIhre Abh\u00e4ngigkeit von der allgemeinen Psychologie ergibt sich schon daraus, dass sie nur ein beschr\u00e4nktes Gebiet der Psychologie bearbeitet, und dass es daher der allgemeinen Psychologie Vorbehalten bleibt, die Bedeutung der psychischen Entwicklung im allgemeinen, wie derjenigen des Thieres, des Kindes, der V\u00f6lker im besonderen in Bezug auf die psychischen Elemente, ihre Verbindungen und causalen Beziehungen vollst\u00e4ndig zu w\u00fcrdigen.\n.1) W. Prey er, Die Seele des Kindes, 1895; J. M. Baldwin, Mental Development in the Child and the Race, 1895; B. Perez, Les trois premi\u00e8res ann\u00e9es de l\u2019enfant, 1892.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n39","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"588\nHeinrich Eber.\nMuss demnach die Kinderpsychologie nach ihrer psychologischen Bedeutung als ein Zweig der allgemeinen Psychologie betrachtet werden, so nimmt sie wegen ihres genetischen Charakters zwischen Thier- und V\u00f6lkerpsychologie, die sich in die Gesammtgeschichte der psychischen Entwicklung theilen, die Stellung eines Bindegliedes insofern ein, als sie einerseits auf ihrem Gebiete gleichartig erscheinende psychische Elemente und grundlegende Verbindungsgesetze vorfinden wird, wie sie auch der Thier psychologie zukommen, \u2014 und als andrerseits f\u00fcr die individuelle Entwicklung des Kindes ein v \u00f6 1 k e r psychologisches Moment als ein wesentlicher Factor thats\u00e4chlich in Betracht kommt: die im Vergleich zu Thier und Kind h\u00f6here Entwicklungsstufe der jeweiligen Umgehung.\nKann nun aber auch die Kinderpsychologie von vorn herein nicht auf die Interpretationen, welche ihr die allgemeine Psychologie bietet, verzichten, so wird sie doch, und besonders da, wo die Zusammenh\u00e4nge der psychischen Entwicklung f\u00fcr diese Interpretationen nicht offen zu Tage liegen (wie z. B. in der pr\u00e4- und postnatalen Periode bis zum Gebrauche der articulirten Sprache), die k\u00f6rperliche Entwicklung in Betracht ziehen, um von da aus, in freilich nur mittelbarer und psychologisch nicht immer eindeutiger Weise, eine Erkl\u00e4rung der psychischen Zusammenh\u00e4nge zu versuchen. Diesen Erkl\u00e4rungsversuchen kann aber nur eine auxili\u00e4re Bedeutung zukommen. So sind die als Bewegungen gegebenen Lebens\u00e4u\u00dferungen des sprachlosen S\u00e4uglings direct nur physiologische Processe ; es k\u00f6nnen aber auf Grund der Kennt-niss dieser physiologischen Processe nach dem psychophysischen Parallelismus insoweit begleitende psychische Processe angenommen werden, als erfahrungsgem\u00e4\u00df bestimmten psychischen Processen gewisse k\u00f6rperliche Vorg\u00e4nge parallel gehen (wie z. B. Ausdrucksbewegungen), oder auch umgekehrt mit gewissen physischen Processen bestimmte psychische verbunden sind (wie z. B. mit periodischen Schallschwingungen die Tonempfindung).\nKann demnach aus physiologisch gegebenen Symptomen zwar mit Wahrscheinlichkeit auf das Vorhandensein irgend welcher psychischer Vorg\u00e4nge geschlossen werden, so ist doch, da die psychischen Causalit\u00e4tsgesetze den physischen nicht ohne weiteres entsprechen","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kiuderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t589\n(wenn auch nicht widersprechen), keineswegs von vorn herein auf die psychische Qualit\u00e4t in eindeutiger Weise zu schlie\u00dfen. Denn wie z. B. ein schwacher physikalischer Reiz, welcher ein angenehmes Gef\u00fchl hervorhringt, bei gesteigerter Intensit\u00e4t ein unangenehmes hervor-rufen kann etc., so ist auch umgekehrt mit einer Bewegung des S\u00e4uglings nicht an und f\u00fcr sich, ohne psychologische Interpretation, die Qualit\u00e4t des Bewusstseinsvorganges gegeben, mit dem sie verbunden ist.\nI. Die Methoden der Kinderpsychologie.\nWie sich durch die Beschaffenheit des Untersuchungsgebietes der Kinderpsychologie ihr Verh\u00e4ltniss zu den verwandten Wissenschaften bestimmt, so ergehen sich daraus auch die Methoden, welche sie einzuschlagen gezwungen ist. Dabei wirkt allerdings das oben gekennzeichnete Verh\u00e4ltniss zu den verwandten Wissenschaften mitbestimmend auf die Gestaltung dieser Methoden ein.\n1) Von vornherein muss die Kinderpsychologie auf jene exact en Methoden (Eindrucksmethoden in Verbindung mit der introspectiven Methode) verzichten, wie sie die experimentelle Psychologie ausgebildet hat, weil dem Kinde die F\u00e4higkeit, sich selbst zu beobachten und seine Bewusstseinsvorg\u00e4nge dem entsprechend den Regeln des Experiments zu unterwerfen, wenn nicht ganz, so doch gr\u00f6\u00dftentheils mangelt; denn das Kind kommt wohl kaum dazu, \u00fcber seine eigenen psychischen Vorg\u00e4nge im Sinne der Erwachsenen zu reflectiren1). Es werden deshalb die Ergebnisse der exacten experimentellen Psychologie vicariirend zur Interpretation der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge um so mehr hinzutreten m\u00fcssen, als es bis jetzt nur die psychologische Analyse in der experimentellen Psychologie mit Erfolg versucht hat, die psychischen Elemente, ihre Verbindungen und die Gesetze dieser Verbindungen\n1) Wenn M. Baldwin das Kind \u00fcberhaupt zu exacten Methoden mehr geeignet h\u00e4lt als den Erwachsenen, so ist hierbei \u00fcbersehen, dass die Eindrucksmethoden eben erst durch ihre Verbindung mit der introspectiven Methode ihre Exactheit im psychologischen Sinne erhalten, abgesehen davon, dass bei dem Erwachsenen Laune, Erm\u00fcdung u. s. w. mit ihren Folgen weniger in Betracht kommen als beim Kinde. (M. Baldwin, Mental Development in the Child and the Race S. 8 f.)\n39*","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"590\nHeinrich Eber.\nnachzuweisen, wie sie f\u00fcr das Bewusstsein sowohl des Erwachsenen als auch des Kindes, wie angenommen werden kann, grundlegend sind.\nDahei ergibt sich aus der gestellten Aufgabe der Kinderpsychologie, dass diese Interpretation entwicklungsgeschichtlich zu verfahren hat: Die Psychologie des Kindes erfordert eine genetische Methode; denn sie will erkl\u00e4rend darstellen, wie sich die kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge allm\u00e4hlich entwickeln. Es ist aber hierbei nicht zu verkennen, dass die genetische Methode hier in Bezug auf ihre Ausgangspunkte besondere Schwierigkeiten zu \u00fcberwinden hat. Diese liegen haupts\u00e4chlich darin, die Entstehung und Beschaffenheit der ersten Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu erforschen. Der S\u00e4ugling selbst bietet uns hierzu nur Bewegungen als Grundlagen zu irgend welchen Annahmen. Das Hypothetische solcher Annahmen ist aber in die Augen fallend, sobald man nur diese Bewegungen zur Grundlage nimmt. Die Gefahr, dass die Deutung in mehr oder weniger bewusster Weise aus vorgefassten Meinungen und Ansichten des Erwachsenen heraus erfolgt, liegt dann allzu nahe. Es d\u00fcrfte aus diesen Gr\u00fcnden der Gedanke einer Erw\u00e4gung werth sein, ob und inwieweit es m\u00f6glich ist, die kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge derjenigen Entwickelungsstufen, welche sich der S\u00e4uglingsperiode unmittelbar anschlie\u00dfen, zur Deutung der in symptomatischen Bewegungen sich kundgebenden anf\u00e4nglichen Bewusstseins Vorg\u00e4nge zu benutzen. Sehen wir doch, dass in der genetischen Entwicklung des Einzelbewusstseins normaler Weise die Vorg\u00e4nge der vorherigen Entwicklungsstufe stets grundlegend und vorbereitend sind f\u00fcr die der sich unmittelbar anschlie\u00dfenden h\u00f6heren. Und wenn die elementaren psychischen Processe, wie sie den Bewusstseinsvorg\u00e4ngen des Erwachsenen zu Grunde liegen, in einer die Entwicklung r\u00fcckw\u00e4rts verfolgenden Weise in vergleichende Beziehung mit dem gebracht werden, was uns als Symptome des kindlichen Bewusstseins in dessen Anfangsstadien gegeben ist, so werden die hieraus gezogenen Schl\u00fcsse wohl mehr als blo\u00dfe Analogieschl\u00fcsse sein. Die Kinderpsychologie hat, insofern sie Bewusstseinsvorg\u00e4nge durch andere derselben Gattung interpretiren kann, vieles vor der Thierpsychologie voraus. Sie kann von differenzirteren, aber der Interpretation offener und","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t591\nklarer gegebenen Erscheinungen erkl\u00e4rend Vordringen zu den weniger differenzirten vorhergehender Entwicklungsstufen und selbst der S\u00e4uglingsperiode, welche nur Bewegungen (Mienen, Geberden, Ausdrucksbewegungen etc.) als Symptome der sich abspielenden psychischen Processe bietet. Es wird demnach die genetische Methode :\na)\tzwar im allgemeinen die psychische Entwicklung des Kindes in aufsteigender Linie verfolgen, es wird ihr aber eine verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig objective, mit entsprechenden Bewusstseinsthatsachen helegte erkl\u00e4rende Darstellung der Entwicklung des Kindes erst vom Gebrauche der articulirten Sprache an m\u00f6glich sein.\nb)\tSie wird dagegen auch auf Grund so gesammelter That-sachen und der hierbei gefundenen Entwicklungsgesetze die Entwicklung r\u00fcckw\u00e4rts verfolgen k\u00f6nnen, und es wird ihr, wie wir glauben, erst auf dieser Grundlage m\u00f6glich sein, eine verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig objective Deutung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge auch des S\u00e4ug-lingsalters zu geben. Sieht sie hiervon ab, so bleibt ihr nur \u00fcbrig, Annahmen von ganz hypothetischer Natur als Ausgangspunkte zu nehmen !).\n2) Wenn auch die Beschaffenheit des kindlichen (wie auch des thierischen) Bewusstseins eine exacte experimentelle Verwerthung der subjectiven Beobachtung (Selbstbeobachtung) ausschlie\u00dft, so zeigt es gleichwohl in gewissen Grenzen eine gewisse Spontaneit\u00e4t des Verhaltens, die in ihrer Beth\u00e4tigung den Charakter des Unmittelbaren tr\u00e4gt und welche Mark Baldwin mit den Worten hervorzuheben versucht1 2): \u00bbBut the child\u2019s emotion is as spontaneous as a spring. The effects of it in the mental life come out in action, pure and uninfluenced by calculation and duplicity and adult reserve.\u00ab Dieses ungehemmte Verhalten des Kindes, wie es sich in Mienen, Geberden und Handlungen offenbart, tritt stets dann deutlich hervor, wenn das kindliche Bewusstsein durch Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge, Affecte und Willensprocesse beherrscht wird. So scheinen\n1) Vergl. hierzu Preyer, Die Seele des Kindes, 1895, S. 3, 116 ff., 126 ff., 130 ff., 217 ff., 227 ff., 229 ff., 239, 261 ff., 381, 393 ff. Perez, Les trois premi\u00e8res ann\u00e9es de l\u2019enfant, 1892. I. Kap., S. 13, 17 etc., 99 etc. M. Baldwin, Mental Development in the Child and the Race, 1895. I. Kap., S. 81 ff., 105 ff. etc.\n2) Mental Development, S. 4.","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"592\nHeinrich Eber.\ndiese subjectiven Seiten des psychischen Geschehens den Ausdrucksbewegungen, mit welchen eine ganze Reihe physiologischer Begleiterscheinungen, wie vasomotorische Ver\u00e4nderungen, bestimmte Abweichungen in den Puls- und Athembewegungen, Dr\u00fcsenabsonderungen etc. regelm\u00e4\u00dfig verbunden sind, ungleich n\u00e4her zu stehen als die \u00fcbrigen psychischen Processe. Hierbei sind im allgemeinen die mimischen Bewegungen mehr symptomatisch f\u00fcr Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge und in gesteigertem Ma\u00dfe f\u00fcr Affecte, w\u00e4hrend die pantomimischen Bewegungen, am unverkennbarsten die hinweisenden, abwehrenden, verlangenden, malenden Geberden, verbunden mit mimischen Bewegungen, mehr oder weniger Anzeigen von Willensprocessen darstellen. Einen bemerkenswerthen ausgibigeren Gebrauch von diesen pantomimischen Bewegungen macht das Kind in der Zeit, in der es anf\u00e4ngt, das feindifferenzirte Ausdrucksmittel zu benutzen, welches der Mensch in der articulirten Sprache vor den Thieren voraus hat, und in der sich deshalb auch die Bewusstseinsvorg\u00e4nge des S\u00e4uglings aufzuhellen beginnen. Die pantomimischen Bewegungen begleiten noch auf sp\u00e4teren Entwicklungsstufen den sprachlichen Ausdruck gef\u00fchlsbetonter psychischer Vorg\u00e4nge; sie treten auch stets, wo dieser sprachliche Ausdruck noch mangelhaft ist, unterst\u00fctzend und, wo er g\u00e4nzlich fehlt, f\u00fcr denselben vicariirend ein. Das sprachlich noch wenig entwickelte Kind bringt auch den pantomimisch erkl\u00e4renden Bewegungen eine be-merkenswerthe Auffassungsgabe entgegen, so dass selbst der Erwachsene, anscheinend instinctiv, von diesen Bewegungen den Kindern gegen\u00fcber mehr Gebrauch macht als gew\u00f6hnlich. Ziehen wir hierbei noch in Betracht, dass die Taubstummen mangels einer articulirten Sprache als Ausdrucksmittel pantomimische Bewegungen benutzen und ohne Anweisung technisch ausbilden, so lassen diese Erscheinungen wohl darauf schlie\u00dfen, dass wir in den pantomimischen und zum Theil noch fr\u00fcher in den mimischen Bewegungen des Kindes die urspr\u00fcnglichen Mittel sehen k\u00f6nnen, die Bewusstseinsvorg\u00e4nge, insbesondere die Willensprocesse zum Ausdruck zu bringen, und dass wahrscheinlich die ersten Willensvorg\u00e4nge \u00e4u\u00dfere Willenshandlungen sind.\nUnter Voraussetzung dieser Spontaneit\u00e4t des Verhaltens kann nun in gewissen F\u00e4llen das Kind (wie auch das Thier) als Object","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kiuderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\n593\nbetrachtet und Experimenten im Sinne der Naturwissenschaft unterworfen werden, indem durch bestimmte Ver\u00e4nderungen einwirkender Bedingungen die Bewusstseinsvorg\u00e4nge und Handlungen und die damit verbundenen physiologischen Begleiterscheinungen beeinflusst werden. So d\u00fcrfte insbesondere das Kind zur Anwendung der Ausdrucksmethoden geeignet erscheinen, und zwar:\na)\tam zuverl\u00e4ssigsten zur Erforschung der physiologischen Begleiterscheinungen (Pulsbewegung, Athembewegung, Erm\u00fcdungssymptome etc.), und\nb)\tzur Erforschung der mimischen und pantomimischen Ausdrucksbewegungen, welche mit Gef\u00fchls-, Affect- und einfachen Willensprocessen verbunden sind. Doch ist nicht zu verkennen, dass die Analyse dieser mimischen und pantomimischen Bewegungen und die Feststellung ihrer Beziehungen zu den psychischen Processen mit Schwierigkeiten verkn\u00fcpft sind, und dass die Deutung der psychischen Processe erst durch zugleich gegebene sprachliche Aeu\u00dferungen oder mittelst experimenteller Pr\u00fcfungen eine verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig zuverl\u00e4ssige Grundlage erh\u00e4lt. Solche Experimente sind aber bis jetzt leider nur in beschr\u00e4nktem Ma\u00dfe angewendet worden.\n3) Daf\u00fcr hat sich die Kinderpsychologie mit um so emsigerem Flei\u00dfe auf die Sammlung von Beobachtungen (ohne Experimente) geworfen und auf diesem Wege ein ziemlich reiches Material gewonnen1). Diese Beobachtungen haben jedoch gegen\u00fcber den Ergebnissen der psychologischen Experimente nicht selten den Charakter des Gelegentlichen und Mehrdeutigen. Dazu werden sie h\u00e4ufig in einer derart mit Reflexionen des betreffenden Beobachters gemischten Form geboten, dass es oft schwierig ist, den reinen Thatbestand von den pers\u00f6nlichen Reflexionen zu sondern. Diese Sonderung des reinen Thatbestandes von den Reflexionen des Beobachters erscheint aber um so gebotener, als es dadurch erst erm\u00f6glicht wird, zur Ermittelung der generellen Z\u00fcge in der psychischen Entwicklung die an verschiedenen Kindern gemachten Beobachtungen zu vergleichen.\n1) Durch Prey er, Perez, Sigismund, L\u00f6bisch, Friedemann, Taine, Kussmaul, Qenzmer, Darwin, Baldwin u. A.","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"594\nHeinrich Eber.\nII. Allgemeine Gesichtspunkte f\u00fcr die Beurtheilung der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge.\nHierbei ergeben sich nun sowohl f\u00fcr die Feststellung des Thatbestandes, als auch f\u00fcr die Beurtheilung desselben Forderungen, die ihre Begr\u00fcndung in dem eigenartigen Verlaufe der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge finden. Dass wir es bei diesen mit einem anderen Typus zu thun haben, als er sich uns in dem Gedankenablauf des Erwachsenen offenhart, tritt uns allenthalben bei der Besch\u00e4ftigung mit Kindern entgegen. Man kann sich hiervon leicht noch bei 6-, 7- und 8j\u00e4hrigen Kindern \u00fcberzeugen , wenn man einer gr\u00f6\u00dferen Zahl derselben z. B. die Aufgabe stellt, ihre Erlebnisse \u00fcber einen ihnen allen bekannten Gegenstand zu berichten, und es dann unterl\u00e4sst, die Erz\u00e4hler an die gestellte Aufgabe zu erinnern. Dem Nichtpsychologen wird das zum Vorsfchein Kommende als ein mehr oder weniger buntes Gemisch von Haupt- und Nebens\u00e4chlichem, Wesentlichem und Zuf\u00e4lligem, Abschweifungen etc. erscheinen. Es ist nichtsdestoweniger ein vielgestaltiger, fein verzweigter und in bestimmt sich abhebenden Formen arbeitender Mechanismus, der aber freilich Gegenstand und Aufgabe manchmal vollst\u00e4ndig aus dem Blickfeld des Bewusstseins verschwinden und die Erz\u00e4hlungen auf fern gelegenen Gebieten sich bewegen l\u00e4sst. Es pr\u00e4gt sich so in dem kindlichen Gedankenablauf unmittelbar das Vorherrschen jener passiven psychischen Processe aus, welche auch den Bewusstseins-Vorg\u00e4ngen des Erwachsenen zu Grunde liegen, und welche die Psychologie als Verschmelzungen, Complicationen, Erkennungs- und Wiedererkennungsacte, Associationen und Uebergangsformen derselben zu den apperceptiven Verbindungen bezeichnet. Dieser typische Charakter tritt weniger bei der Besch\u00e4ftigung mit einem Kinde hervor, das auch mitunter die h\u00f6heren apperceptiven Gedankenverbindungen seiner erwachsenen Umgebung fr\u00fch- und meist zu vorzeitig*)\t\u00bb nachahmt \u00ab und in Folge dessen das Urtheil des\n1) ViTgl. Preyer, Die Seele des Kindes, S. 231, 238 etc. Das ungleich verschiedene Verhalten eines ohne Geschwister und Altersgenossen aufgewachsenen Knaben ist in die Augen fallend, wenn er das erstemal zu Altersgenossen kommt.\t\u00ab","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kiiiderpsychologie. mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t595\nBeobachters leicht t\u00e4uscht, als vielmehr bei der Besch\u00e4ftigung mit vielen Kindern zugleich.\nAus diesem typischen Verlaufe der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge geht hervor, dass das Kind jene Unterscheidungen zwischen Wesentlich und Unwesentlich, Haupt- und Nebensache etc., welche sich der Erwachsene in Folge gemachter Erfahrungen und des hieran entwickelten logischen Denkens zu eigen gemacht hat, noch nicht kennt, und dass deshalb bei Feststellung des Thatbestandes in der Kinderpsychologie auch die sogenannten \u00bbNehenumst\u00e4nde\u00ab eine sorgf\u00e4ltige Ber\u00fccksichtigung finden m\u00fcssen. Denn das, was vom Standpunkte des Erwachsenen aus als Nebenumstand erscheint und in seinem eigenen Bewusstsein, das Werth auf das Wesentliche zu legen sich gew\u00f6hnt hat, auch thats\u00e4chlich ist, kann mitunter in den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen als Efnpfin-dungs- und Gef\u00fchlsinhalt gegen\u00fcber den anderen Bewusstseinsinhalten von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung sein, wie auch umgekehrt das, was der Erwachsene vielleicht f\u00fcr die \u00bbHauptsache\u00ab zu erkl\u00e4ren geneigt ist, in den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen eine geringere Rolle thats\u00e4chlich gespielt haben kann1).\nDamit h\u00e4ngen auch jene Forderungen zusammen, die sich aus diesem typischen Verlaufe der kindlichen Bewusstseins Vorg\u00e4nge f\u00fcr die Beurtheilung der letzteren \u00fcberhaupt ergeben, oder in allgemeine Form gefasst, welche Betrachtungsweise die Kinderpsychologie zu Grunde zu legen habe. Dass damit eine wichtige Frage ber\u00fchrt ist, zeigt eine vergleichende Betrachtung der hervorragendsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Kinderpsychologie, wie sie uns vor allem in den eingangs genannten drei Werken entgegentreten. Man sollte voraussetzen, dass der Kinderpsychologie a priori die psychologische Betrachtungsweise als ad\u00e4quat erscheinen m\u00fcsste. Nichtsdestoweniger finden wir bei den genannten Autoren h\u00e4ufig nichtpsychologische (der Biologie\n1) Die bekannte Launenhaftigkeit mancher, besonders kr\u00e4nklicher Kinder l\u00e4sst sich zwar im allgemeinen darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dass ihren Willensvorg\u00e4ngen der freieste Spielraum gew\u00e4hrt wurde, aber es liegen letzteren stets Motive zu Grunde, und zwar solche, welche der Erwachsene von seinem Standpunkte aus als minderwerthig oder nebens\u00e4chlich betrachten w\u00fcrde, falls sie erkennbar hervortreten. Vergl. hierzu Perez, Les trois pr. a. S. 103 ff. Introduction XIII, XIV, XV. Herbart, Umriss p\u00e4dagogischer Vorlesungen \u00a7 199.","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596\nHeinrich Eber.\noder Logik entnommene) Gesichtspunkte zu Grunde gelegt und die psychologischen Aufgaben unn\u00f6tigerweise mit Problemen anderer Wissenschaften vermischt und belastet. Man sollte ferner annehmen, dass die allgemeine Psychologie auch f\u00fcr die Kinderpsychologie nicht vergebens ihre gro\u00dfen Wandlungen vollzogen habe; trotzdem enth\u00e4lt die heutige Kinderpsychologie noch vielfach Elemente \u00fcberwundener psychologischer Systeme, wie der Verm\u00f6genstheorie, der intellectualistischen Psychologie, und besonders der aus beiden gemischten Vulg\u00e4rpsychologie. Man sollte endlich erwarten, dass\n\u2014\tnachdem die allgemeine Psychologie erst dadurch eine gesicherte Grundlage gewinnen konnte, dass sie aus dem Fahrwasser der Speculation in die Bahnen exacter Beobachtung gef\u00fchrt wurde\n\u2014\tdie Kinderpsychologie von vorne herein sich auf den Boden empirischer Forschung stellen und es vermeiden werde, abermals eine Periode fruchtlosen Theoretisirens und Speculirens herauf zu beschw\u00f6ren. Gleichwohl liegt besonders in einem jener neueren Werke (Baldwin\u2019s Mental Development) der Versuch vor, die Kinderpsychologie in das Fahrwasser biologischer Theorien zu leiten und das psychische Geschehen im Kinde durch einige innerhalb dieser Theorien entstandene Begriffe zu \u00bberkl\u00e4ren\u00ab. Die Folgen hievon zeigen sich darin, dass schlie\u00dflich ein und derselbe psychische Vorgang sehr verschieden und widersprechend gedeutet wird, so dass z. B. das, was der eine Psychologe als eine \u00bblogische\u00ab Geistes-th\u00e4tigkeit hinstellt, der andere wieder f\u00fcr ein unter dem eisernen Zwange vererbter Gew\u00f6hnung (habit) stehendes psychisches Geschehen erkl\u00e4rt. Nun wird von Seiten der Kinderpsychologen allenthalben und, wie wir meinen, mit Recht die Hoffnung ausgesprochen, dass die Psychogenesis die nothwendige Grundlage der P\u00e4dagogik bilden m\u00fcsse1). Allein es ist einleuchtend, dass aus widersprechenden Auffassungen der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge geradezu widersinnige p\u00e4dagogische Ma\u00dfnahmen hervorgehen w\u00fcrden, und dass sich daher die Kinderpsychologie, um Grundlage der P\u00e4dagogik zu werden, als conditio sine qua non eine den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen ad\u00e4quate psychologische Auffassung zu eigen\n1) Vergl. Preyer, Die Seele des Kindes, X, S. 355. Perez, Les trois pr. Introd. XII, XIII. M. Baldwin verspricht auf Grund seiner Theorie in einem folgenden Werke \u00bbEducational, Social, and Ethical\u00ab zu verfahren.","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t597\nmachen m\u00fcsste. Eine objective Deutung des kindlichen Bewusstseins ist nun von vorn herein ausgeschlossen, wenn dieselbe aus logischen Gesichtspunkten, wie sie nur einem entwickelten Bewusstsein inh\u00e4riren, heraus erfolgt \u2014 ein Verfahren, welches besonders Prey er einschl\u00e4gt.\nEbenso wenig kann es jedoch zum Ziele f\u00fchren, wenn mit Hilfe biologischer Theorien durch eine Entwicklungsreihe, die etwa mit den C\u00f6lenteraten, Am\u00f6ben, Protozoen oder gar mit einem den Pflanzen zugeschriebenen Grad von Bewusstsein beginnt, die kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu erkl\u00e4ren versucht werden, \u2014 ein Unternehmen, wie es in Baldwin\u2019s \u00bbMental Development in the Child and the Race\u00ab vorliegt.\nIn diesen F\u00e4llen erf\u00e4hrt offenbar das Verh\u00e4ltniss, in welchem die Psychologie zur Logik und Biologie steht, eine unberechtigte Umkehrung insofern, als die Biologie oder die Logik zu Grundlagen f\u00fcr die Kinderpsychologie genommen werden, w\u00e4hrend that-s\u00e4chlich einerseits die Logik der psychologischen Grundlage nicht entbehren kann, und andererseits die Biologie, soweit sie psychische Processe in Betracht ziehen will, zun\u00e4chst auf die Thierpsychologie und diese hinwiederum auf die Kinderpsychologie angewiesen ist, um Analogien aus dem menschlichen Bewusstsein zu entlehnen.\nEine den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen ad\u00e4quate Auffassung kann demnach nur in den Gesichtspunkten gefunden werden, wie sie dem kindlichen Bewusstsein selbst immanent sind, und die Kinderpsychologie wird deshalb auch ihre Begriffsbestimmungen in allgemeing\u00fcltiger Weise nur dem eigenen Erfahrungsgebiete entnehmen und weder aus logischen noch biologischen noch metaphysischen Begriffen ableiten k\u00f6nnen. Darin liegt f\u00fcr die Kinderpsychologie die N\u00f6thigung, vor allem auf exact empirischem Wege und zun\u00e4chst, wie wir glauben, vom Gebrauche der articulirten Sprache an ein Erfahrungsmaterial zu gewinnen, um, auf dem Boden rein psychologischer Thatsachen stehend, die exacte Bearbeitung ihres dunkelsten Gebietes beginnen und so Aufschluss \u00fcber die Qualit\u00e4t der Anf\u00e4nge des kindlichen Bewusstseins geben zu k\u00f6nnen. Denn dass sich die verschiedensten und widersprechendsten Anschauungen wie in einem Brennpunkte in der Beantwortung der Frage nach der Qualit\u00e4t der Anf\u00e4nge des kindlichen Bewusstseins","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598\nHeinrich Eber.\ntreffen, insbesondere der Frage, was als angeboren, was als ererbt, was als erworben zu betrachten sei, liegt doch haupts\u00e4chlich darin, dass uns das Kind unmittelbar nach der Geburt nur k\u00f6rperliche Bewegungen als Symptome zur Grundlage von Annahmen bietet, worauf dann \u2014 dies spricht sich deutlich in der rationalen und speculativen Philosophie aus1) \u2014 die hier geltend gemachten widersprechenden Anschauungen zum gr\u00f6\u00dften Theil Ausfl\u00fcsse widersprechender Philosopheme sind.\nPrey er und Perez beginnen nun dieses Gebiet von den Punkten an zu erforschen, wo es wohl physiologisch, am wenigsten aber psychologisch zug\u00e4nglich ist, von der pr\u00e4natalen Periode und der Geburt an. Hiebei ist der Weg der Beobachtung in ausgedehntestem Ma\u00dfe von Prey er beschritten worden, und in der umfangreichen, bis ins Einzelnste und Kleinste sorgf\u00e4ltigen Sammlung von Beobachtungsmaterial besteht das Verdienst, das sich Pr eye r um die Kinderpsychologie erworben hat. Diese vielseitigen Beobachtungen k\u00f6nnen zun\u00e4chst zwar nur als physiologische Vorstudien zu einer exacten psychologischen Erforschung der Anfangsstadien des menschlichen Bewusstseins betrachtet werden, die, um generelle Bedeutung zu erlangen, noch vielfach der Erg\u00e4nzung und Best\u00e4tigung durch Beobachtungen an andern Kindern bed\u00fcrfen werden. Dagegen ist es durchaus ungerecht, sie mit Perez als eine \u00fcberfl\u00fcssige Verschwendung von Thatsachen (exub\u00e9rante profusion de faits2) zu bezeichnen. Die psychologische Seite der Darstellung der beobachteten Lehenserscheinungen und die ihnen gegebenen Deutungen sind allerdings hypothetisch und mitunter v\u00f6llig haltlos. Hierf\u00fcr ein Beispiel, wie es f\u00fcr die Preyer\u2019sche Auffassung nicht etwa exceptionell, sondern, wie wir sehen werden, typisch zu nennen ist.\nPreyer bemerkte am 3., 16. und 21. Lebenstage in steigendem Ma\u00dfe, dass das Kind \u00bbbeim Anblick der Mutterbrust die Augen aufrei\u00dft\u00ab3). Dieses \u00d6ffnen der Augen zu Beginn des Saugens beobachtete er auch an einem andern Kinde4), als es nach Austritt\n1)\tDescartes, Leibniz auf der einen, Locke auf der andern Seite.\n2)\tLes trois premi\u00e8res ann\u00e9es, S. 63.\n3)\tPreyer, Die Seele des Kindes, S. 73.\n4)\tEbdas, S. 20 und 65.","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t599\ndes Kopfes zu schreien begann und er ihm einen Finger oder ein Elfenbeinst\u00e4bchen zum Saugen in den Mund f\u00fchrte. Zu diesem letzten Falle bemerkt er1): \u00bbSogar ein ohne Gro\u00dfhirn gebornes Kind, welches einige Tage lebte, \u00f6ffnete beim Saugen die sonst geschlossenen Augen zwei Millimeter weit.\u00ab Und gleichwohl inter-pretirt er dieses \u00bbAufrei\u00dfen der Augen beim Anblick der Mutterbrust\u00ab dahin, dass der S\u00e4ugling \u00bbbereits sehr fr\u00fch\u00ab durch diese \u00bbunzweideutigen Bewegungen eine Art Verstandesth\u00e4tigkeit beweist\u00ab!2) Es liegt aber hier in dem Oeffnen der Augen zu Beginn des Saugens offenbar ein mit der Ausl\u00f6sung der Saugbewegungen urspr\u00fcnglich verbundener mimischer Reflex vor, und es kann h\u00f6chstens bei diesen Bewegungen mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit angenommen, nicht aber aus denselben \u00bbunzweideutig\u00ab geschlossen werden, dass diese Tast- und Geschmackseindr\u00fccke auf den Lippen und auf der Zunge mit den Saugbewegungen ein anf\u00e4nglich noch sehr dunkles \u00bbEmpfinden\u00ab und \u00bbF\u00fchlen\u00ab ausl\u00f6sen. Da aber zwischen diesem wahrscheinlich anf\u00e4nglich dunklen \u00bbEmpfinden\u00ab und \u00bbF\u00fchlen\u00ab und den \u00bbVerstandesth\u00e4tigkeiten\u00ab jeder Art eine Menge von Entwicklungsstadien liegt, so erscheint die angef\u00fchrte Interpretation so unzutreffend, dass ihr selbst die meisten Vertreter der \u00bbLogica naturalis\u00ab ihre Zustimmung versagen d\u00fcrften.\nDer in der Preyer\u2019schen Kinderpsychologie herrschende logische Standpunkt tritt nun zwar nicht immer formell hervor, wird aber desto mehr in materieller Beziehung thats\u00e4chlich eingenommen3 4). Hierbei werden in diese logische Betrachtungsweise1) auch einzelne Elemente verschiedener, \u00fcberwundener psychologischer Systeme, wie z. B. der Verm\u00f6genstheorie5) und selbst der Vulg\u00e4rpsychologie6) aufgenommen. Dieses so entstandene logisch-psychologische Mischproduct, das sich in Prey er\u2019s Auffassung \u00fcber die\n1)\tPrey er, Die Seele des Kindes, S. 20.\n2)\tEbdas, S. 73. Im Widerspruch hierzu werden S. 20, 65, 95 diese Bewegungen als*1 Ausdruck von Lustgef\u00fchlen, S. 101 \u00bbals sicheres Zeichen des Hungerzustandes oder des durch ihn entstandenen lebhaften Begehrens\u00ab erkl\u00e4rt.\n3)\tEbdas. S. 230 ff., 234 ff., 237 ff., wird der logische Standpunkt auch formell vertreten.\n4)\tEbdas., vergl. insbes. S. 230 ff., 234 ff., 237 ff etc.\n5)\tEbdas. S. 396 ff.\n6)\tEbdas. S. 20, 65, 73, 95 etc.","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600\nHeinrich Eber.\nkindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge kund gibt, l\u00e4sst sich daher seiner allgemeinen Beschaffenheit nach als Reflexionspsychologie und an den meisten Stellen als \u00bbvulg\u00e4re Reflexionspsychologie\u00ab bezeichnen.\nUngleich vorsichtiger in der psychologischen Auffassung, aber \u00e4rmer an Beobachtungsmaterial ist im allgemeinen Perez. Er kommt deshalb hier f\u00fcr unseren Zweck weniger in Betracht als das Werk von M. Baldwin, Mental Development in the Child and the Race. Schon das Ziel dieser Arbeit, wie es sich auch im Titel ausspricht, ist in dieser Ausdehnung in doppelter Hinsicht zu hoch gesteckt. Einerseits stehen sowohl Kinderpsychologie wie V\u00f6lkerpsychologie noch am Anfang ihrer Entwicklung, und es fehlt deshalb in beiden Entwicklungsreihen noch die thats\u00e4chliche Grundlage zu einem abschlie\u00dfenden Urtheil. Andererseits st\u00f6\u00dft aber das Unternehmen, mittelst der gro\u00dfen Schrift, welche sich in der psychischen Entwicklung der Rasse auspr\u00e4gt, die kleine Schrift der psychischen Entwicklung des Kindes zu deuten, oder umgekehrt durch die individuelle psychische Entwicklung die Rassenentwicklung beleuchten zu wollen, auf gro\u00dfe Hindernisse, die nicht blo\u00df darin liegen, dass beide selbst noch vielfach der Kl\u00e4rung und Deutung bed\u00fcrfen, sondern haupts\u00e4chlich darin, dass der heranwachsende Mensch so unter dem Einfl\u00fcsse der Entwicklungsstufe seiner jeweiligen Umgebung steht, dass er hievon gr\u00f6\u00dftentheils den Inhalt seines Bewusstseins empf\u00e4ngt. Entwicklungsproducte der Rasse, wie Technik in den Werkzeugen, Sprache, religi\u00f6se, ethische, gesellschaftliche Formen und Anschauungen etc., wirken so, wie sie sich in der Umgebung auspr\u00e4gen, von Anfang an auf das Kind ein, und es werden auf diesem Wege Elemente h\u00f6herer Entwicklungsstufen in das kindliche Bewusstsein hineingetragen, welche auf die psychischen Processe auch in formaler Beziehung so modificirend einzuwirken verm\u00f6gen, dass, eine pr\u00e4disponirte Uebereinstimmung in der psychischen Ontogenie und Phylogenie als wirklich bestehend vorausgesetzt, die angenommenen psychischen Entwicklungsstufen vielfach verwischt und ver\u00e4ndert werden m\u00fcssten.\nGleichwohl wird man nicht umhin k\u00f6nnen zuzugeben, dass in beiden Entwicklungsreihen einzelne Seiten des psychischen Geschehens hervortreten, die eine Vergleichung nahe legen. Die","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t601\nMacht der Sinnlichkeit, die sich in dem Zwange \u00e4u\u00dfert, den unmittelbar gegebene Sinneseindr\u00fccke aus\u00fcben, das Vorherrschen con-creter Vorstellungen, die Leichtigkeit im Verbinden, Zerlegen und Beziehen der concreten Vorstellungen, das Dominiren gef\u00fchlsbetonter Processe und der ausgibige Gebrauch von Ausdrucksbewegungen, das \u00bbDenken\u00ab in Ankl\u00e4ngen und Analogien etc. sind sowohl f\u00fcr das Kind als auch f\u00fcr den primitiven Culturmenschen charakteristisch hervortretende Seiten des psychischen Geschehens, die bei eingehender psychologischer Betrachtung vielleicht nach gewissen Beziehungen eine Uebereinstimmung einzelner Entwicklungsstufen in beiden Reihen erwarten lassen. Noch mehr d\u00fcrfte dies der Fall sein bei denjenigen Richtungen des psychischen Geschehens, aus welchen die ethische Bildung des Menschen resultirt, auf der generischen Seite eine Gedankenentwicklung, die sich fortlaufend in Animismus, Heroencult, Personification der Naturerscheinungen, Mythenbildung, Philosophie \u00e4u\u00dfert, auf der Seite des Kindes die bemerkenswerthen Neigungen, Lebloses (Spielzeug etc.) zu beleben, die Tischecke, an die es sich gesto\u00dfen hat, zu bestrafen oder bestraft zu sehen, dem Vater eine unbegrenzte Macht zuzuschreiben, die Vorliebe f\u00fcr wunderbares Geschehen in Form von M\u00e4rchen, und noch manche andere Z\u00fcge, welche sich namentlich an den Kindern solcher Familien beobachten lassen, die noch mit der Natur in innigerer Wechselwirkung stehen, und in denen das dem Kinde ureigene Naive nicht zu fr\u00fchzeitig durch Dressur gehemmt wird. Es sind in beiden Reihen im Wesen der psychischen Entwicklung begr\u00fcndete geistige Wachsthumsprocesse, in welchen jenen apperceptiven Verbindungen, die wir unter der \u00bbPhan-tasieth\u00e4tigkeit\u00ab zusammenfassen, die Bedeutung von nothwendigen, naturgem\u00e4\u00dfen Vorbereitungs- und Uebergangsstufen zur Entwicklung der \u00bbVerstandesth\u00e4tigkeiten\u00ab zukommt. \u00bbAls die Grundfunction, auf deren verschiedenartiger Beth\u00e4tigung alle mythologischen Vorstellungen beruhen, ist eine eigenth\u00fcmliche, dem naiven Bewusstsein \u00fcberall zukommende Art der Apperception anzusehen, die man als die personificirende Apperception bezeichnen kann.\u00ab Und \u00bbdie mythische oder personificirende Form der Apperception\u00ab, hebt Wundt1) mit Recht hervor, \u00bbist nun nicht etwa als eine\n1) Wundt, Grundriss der Psychologie, S. 355, 356.","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602\nHeinrich Eber.\nbesondere oder gar normwidrige Abart der Apperception \u00fcberhaupt zu betrachten, sondern sie ist die nat\u00fcrliche Anfangs stufe derselben\u00ab.\nSo weist alles darauf hin, dass das gro\u00dfe Problem, die Beziehungen zwischen der psychischen Ontogenie und Phylogenie zu erforschen, seine n\u00e4chste L\u00f6sung nur in der psychologischen Durchdringung des der unmittelbaren Erfahrung in den Erzeugnissen des menschlichen Geistes Gegebenen1) finden kann. Und eine Erforschung und Formulirung der den psychischen Entwicklungen des Menschen immanenten Gesetze ist allgemeing\u00fcltig nur m\u00f6glich auf Grund von Bewusstseinsthatsachen2). Auf dieser Grundlage wird sich auch die Gliederung der psychischen Entwicklung in einzelne Stufen naturgem\u00e4\u00df ergeben, insofern bestimmte psychische Processe f\u00fcr einzelne Entwicklungsstadien typisch sind, und man wird schon jetzt sagen k\u00f6nnen, dass sich, psychologisch betrachtet, in beiden Entwicklungsreihen \u00fcbereinstimmend zwei gro\u00dfe Perioden deutlich von einander ahhehen: eine Periode, in welcher jene psychischen Processe sich entwickeln und dominirend hervortreten, welche wir als \u00bbPhantasieth\u00e4tigkeit\u00ab zu bezeichnen pflegen, und daraus hervorwachsend eine Periode progressiv sich entwickelnder \u00bbVerstandesth\u00e4tigk eiten. \u00ab Psychologisch findet diese nach der objectiven, intellectuellen Seite hervortretende Stufenfolge ihren Ausdruck und tieferen Grund in der allm\u00e4hlichen Entwicklung der mythischen und personificirenden Form der Apperception zu reineren Apperceptionsformen ; die subjective und daran anschlie\u00dfend die ethische Seite dieser Stufenfolge aber findet in beiden Entwicklungsreihen ihren Ausdruck in dem Uebergange aus einer naiven mythologisirenden Richtung zu reineren Religionsformen und zum wissenschaftlichen Denken.\nMit einem \u00fcberk\u00fchnen Sprung ins biologische Gebiet verl\u00e4sst nun Mark Baldwin dieses der psychologischen Forschung gegebene Thatsachenmaterial, setzt E. Haeckel\u2019s biogenetisches Grundgesetz3) mit einigen Variationen auch f\u00fcr die psychische\n1)\tIn Volkskunde (folklore), V\u00f6lkerkunde, pr\u00e4historischen Funden, Sociologie etc., V\u00f6lkerpsychologie und Kinderpsychologie.\n2)\tVergl. Wundt, Grundriss der Psychologie \u00a724.\n3)\t\u00bbDie Ontogenesis ist eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t603\nEntwicklung voraus, und nimmt auf der Seite der Phylogenie vier Stufen an* 1): eine I. Epoche, vertreten durch die wirbellosen Thiere und charakterisirt durch rudiment\u00e4re Sinnesprocesse, Lust und Unlust, einfache motorische Adaption (affective Epoche); eine II.Epoche, vertreten durch die niederen Wirbelthiere und charakterisirt durch Vorstellungen (pr\u00e9sent\u00e2tes), Ged\u00e4chtniss, Nachahmung, vertheidigende Handlungen, Instinct; eine III. Epoche, vertreten durch die h\u00f6heren Wirbelthiere und charakterisirt durch complexe Vorstellungen, complexe motorische Coordinationen zu angreifenden Handlungen, rudiment\u00e4ren Willen (die II. und III. Epoche bilden nach ihrer psychischen Seite zusammen eine \u00bbepoch of objective reference\u00ab); eine IV. Epoche, vertreten durch den Menschen und charakterisirt durch Denken, Reflexion etc. (die Epoche der subjectiven Beziehung, welche \u00fcbergeht in die sociale und ethische Epoche).\nDiese Stufenfolge findet nun, nach Baldwin\u2019s Meinung, ihr Correlat in der psychischen Entwicklung des Kindes, und zwar so2), dass nach der affectiven oder Lust- und Unlustepoche vier Stufen folgen, zun\u00e4chst eine objective, auf welcher die Personen als einfache Objecte, als Theile des umgebenden Materials in das Bewusstsein aufgenommen und vorgestellt werden (I). Auf der n\u00e4chsten Stufe werden die Personen dem Kinde ganz besondere, interessante, active, willk\u00fcrlich handelnde Objecte, vorbedeutungsvoll f\u00fcr Lust und Unlust. \u00bbWenn wir diese Objecte als v\u00f6llig vorgestellt (presented) betrachten, d. h. in ihrer geb\u00fchrenden Verwandtschaft (relationship) zu einander im Raum, so werden sie hinausprojicirt und au\u00dferhalb des Bewusstseins gedacht.\u00ab Das ist das Characteristicum der sogenannten \u00bbpersonal projects\u00ab-Epoche (II). Nun beginnt das Kind im ausgedehnten Ma\u00dfe durch Nachahmung als Antwort auf das, was die \u00bbprojective\u00ab Umgebung von ihm fordert, seihst zu handeln. Es hat seinen eigenen Organismus als sein Centrum und sein eigenes Bewusstsein als sein Theater und erh\u00e4lt dadurch Licht \u00fcber sich selbst als \u00bbsubject\u00ab (III). Dies Licht wird nun von ihm\nVererbung und Anpassung bedingte Recapitulation der Phylogenesis.\u00ab E. Ha eckel, Nat\u00fcrliche Sch\u00f6pfungsgeschichte, 1879, S. 276. Mental Development, S. 14 ff.\n1)\tMental Development, S. 16.\n2)\tEbdas. S. 18, 152.\nWundt, Philos. Studien. XII.\t4a","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nHeinrich Eber.\nauf andere Personen rellectirt, und es beleuchtet auch sie als Sub-jecte; sie werden \u00bbejects\u00ab oder sociale Genossen (IV).\nBei der Aufstellung dieser in einigen S\u00e4tzen entwickelten und an die Spitze der Arbeit gesetzten Stufenfolge ist sicherlich Baldwin allzu ausschlie\u00dflich der rein biologischen Entwicklungsidee gefolgt. Stellt man sich aber auf den Standpunkt der im \u00fcbrigen noch von ihm festgehaltenen Reflexionspsychologie, so fragt man angesichts der generellen Entwicklungsreihe vergebens, warum nicht jene die II. und III. Stufe, also die Wirbelthiere charakterisirenden psychischen Processe nicht auch den verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig hoch entwickelten Klassen der Wirbellosen zugeschrieben werden sollen. Das Gebahren der Insecten (z. B. der Ameisen, Bienenarten, Termiten, Libellen etc.) gibt wohl keinen Grund zu dieser Zur\u00fccksetzung; man kann ihnen mit demselben Rechte Instinct, Willensund einzelne Vorstellungsprocesse, Erkennungsakte zuschreiben, wie den Wirbelthieren. Hiervon abgesehen beruht aber die ganze Reflexion von vornherein auf Analogieschl\u00fcssen. Ebenso erscheinen auf der ontogenetischen Seite die in die S\u00e4uglingsperiode hineingelesenen vier oder f\u00fcnf Stufen mehr als ein Spiel mit den Begriffen \u00bbobject, project, subject, eject\u00ab, Innen- und Au\u00dfenwelt, denn als der thats\u00e4chlichen Entwicklung entsprechende Epochen, w\u00e4hrend auch hier stillschweigend eine Art Ueberlegung des S\u00e4uglings vorausgesetzt wird. Bei dieser im allgemeinen intellectua-listisch gedachten Entstehungsweise des \u00bbSubjects\u00ab und des Selbstbewusstseins werden viel zu wenig die Gef\u00fchle, Affecte und Willens-processe, kurz die subjectiven Componenten gew\u00fcrdigt, in welchen Wundt1) \u2014 und die Thatsache, dass die fr\u00fchesten Erinnerungen der Kinder eben auf solche Processe zur\u00fcckgehen, steht ihm beweiskr\u00e4ftig zur Seite \u2014 die wichtigsten Factoren zur Entstehung des Selbstbewusstseins erblickt. Au\u00dferdem ist nicht zu verkennen, dass, wie eine Reihe von Anzeichen schlie\u00dfen l\u00e4sst, die r\u00e4umlichen2) und zeitlichen3) Vorstellungen allm\u00e4hlich mit wachsender Erfah-\n1)\tWundt, Grundriss d. Psychologie, S. 338.\n2)\tWenn das Kind nach unerreichbaren fernen Gegenst\u00e4nden greift, so beweist dies, dass zur Entstehung der Raumwahrnehmung auch die Erfahrung mitwirkt. Vergl. Mental Development S. 296.\n3)\tDie zeitlichen Vorstellungen sind im G. Lebensjahre noch so unentwickelt,","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t605\nrung sich ausbilden. Das alles weist darauf hin, dass die psychische Entwicklung des S\u00e4uglings nur aus den psychischen Processen selbst, nicht aus blo\u00dfen Reflexionen \u00fcber dieselben begriffen werden kann. Aber eben als Ausfluss dieser Reflexionspsychologie erscheint es, wenn Baldwin die Anwendung der \u00bbpersonal-projects \u00ab-Epoche auf den Herdeninstinct der Thiere versucht* 1).\nDie oben skizzirten problematischen Voraussetzungen bilden nun die Ankn\u00fcpfungspunkte einer Theorie, welche die Gesammt-entwicklung der organischen und psychischen Seite phylogenetisch und ontogenetisch zu erkl\u00e4ren sich zur Aufgabe setzt, und welche, abgesehen von einigen Experimenten, fast das ganze Werk ausf\u00fcllt. Dabei werden fast alle in den verschiedenen biologischen Evolutionstheorien entstandenen Begriffe2) dialektisch verarbeitet und, meist auf dem Wege der Identificirung der physiologischen und psychischen Seite der Lebensprocesse, in Form von \u00bbGesetzen\u00ab auf das psychische Gebiet \u00fcbertragen. Das so Entstandene hat in dieser Beziehung sein Vorbild in H. Spencer, nur dass bei H. Spencer die materialistische Seite noch mehr und insofern consequenter hervortritt, als er von vornherein voraussetzt3), dass die geistigen Kr\u00e4fte unter dieselbe Verallgemeinerung, d. h. formale Umsetzung und Aequivalenz fallen, wie die physischen, also f\u00fcr Empfinden und F\u00fchlen ebenso Geltung haben, wie f\u00fcr die Umsetzung der physischen Bewegung in organische Bewegung (motion in movement). Diese der psychologischen Anschauung H. Spencer\u2019s zu Grunde liegende Auffassung, die sich in Verkennung des der psychischen Causalit\u00e4t zukommenden specifischen Charakters f\u00fcr berechtigt h\u00e4lt, den psycho-physischen Parallelismus derart zu deuten, dass physische und psychische Causalit\u00e4t identificirt und so das Psychische unmittelbar aus Physischem abgeleitet wird, ac-ceptirt Baldwin mit einigen Modificationen. Diese Modificationen haben aber nur den Zweck, die Zweifel zu beseitigen, welche die\ndass das Rind die sein Gef\u00fchlsleben besonders erregenden Ereignisse, welche \u00fcber einige Wochen zur\u00fcckliegen, nur in gegenseitiger Beziehung zeitlich zu beurtheilen vermag (z. B. was vor und nach Weihnachten geschah).\n1)\tMental Development, S. 19.\n2)\tGewohnheit, Anpassung, Vererbung, Seleotion etc.\n3)\tH. Spencer, Princ. d. Philosophie, S. 211.\n40*","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606\nHeinrich Eber.\nTheorien Spencer\u2019s und Bain\u2019s \u00fcber die Uranf\u00e4nge des psychischen Geschehens hervorrufen.\nSpencer1) setzt in dieser Beziehung einfache Contractilit\u00fct des Protoplasmas in den Organismen \u2014 als Beispiel sind die C\u00fcl-enteraten angenommen \u2014 voraus, und nimmt an, dass empfangene Reize diffuse Entladungen in der Masse des Organismus veranlassen, und dass diese Entladungen wieder eine Reihe zuf\u00e4lliger Bewegungen verursachen, wobei in der Masse durch Wiederholungen dieser Vorg\u00e4nge einzelne Bahnen geringster Widerst\u00e4nde \u2014 Anlagen zu k\u00fcnftigen Nerven \u2014 erzeugt w\u00fcrden, in welche Can\u00e4le sich der gr\u00f6\u00dfte Theil der Ueberschusswelle ergie\u00dfe etc. Dem gegen\u00fcber behauptet wieder die Bain\u2019sche Theorie2), dass der Organismus urspr\u00fcnglich mit spontaner Bewegung ausgestattet sei, wobei, wenn eine dieser Bewegungen den Organismus in g\u00fcnstigere Lage etc. bringe, sich mit dieser Bewegung Lust associire und bei gleichen \u00e4u\u00dferen Bedingungen das \u00bbGed\u00e4chtniss\u00ab zu diesen lustbringenden Bewegungen anreize. Baldwin\u2019s Theorie acceptirt nun einerseits die Contractilit\u00e4t3) in den niederen Organismen (mit Ausdehnung auf die Pflanzenwelt), andererseits wendet sich aber seine Kritik haupts\u00e4chlich gegen den Umstand, dass die Spencer-Bain\u2019sche Theorie den Organismus zur Erlangung der ihm g\u00fcnstigen Reize dem Zufall preisgibt. Das Bain\u2019sche Postulat der Spontaneit\u00e4t gibt ihm so Veranlassung1 5), die Tendenz zur Bewegung in den Reiz selbst zu verlegen: \u00bbEvery organic stimulus tends to express itself in movement6).\u00ab Dem Reiz wird in gewissem Sinne eine \u00bbprospective reference\u00ab, eine ihm innewohnende eigenth\u00fcmliche Richtung zugeschrieben, sich in Bewegung umzusetzen und sich selbst den Reiz wieder zu erneuern6); und auch die Lust, wird behauptet, liegt nicht in der\n1)\tSpencer, Princ. of Psychology, I, \u00a7\u00a7 227 ff.\n2)\tVergl. Mental Development, S. 181 ff.\n3)\tVergl. dass. S. 238 ff., 268\u2014278. The Neurological Question.\n4)\tDass., S. 184 ff., 192 ff\n5)\tEbendas. S. 170 ff\n6)\tDiese Verallgemeinerung kann sich nur auf einzelne F\u00e4lle beziehen, in welchen die von den Bewegungen ausgel\u00f6sten Muskelempfindungen etc. verst\u00e4rkend auf die psychischen Processe r\u00fcckwirken; in der Regel wirken sie auf die psychischen Processe hemmend oder abschlie\u00dfend. Das Mystische der dem Rei-","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t607\nBewegung, sondern in dem, was die Bewegung verursacht, i m Beiz* 1): \u00bbThe plant may turn upward only in the light (heliotro-pism), and then downward only in the dark (geotropism), to show its adaptions. It is the sunlight which the creature gets from its elongation upward which gives the pleasure.\u00ab\nDamit ist das Wesen der Reaction, wie sie uns beim Menschen und Thiere vorliegt, verschoben. Der psychische Process, welchen die Reaction ausl\u00f6st, wird zu einer mystischen Tendenz verfl\u00fcchtigt und so dem Reiz, also einem physischen und, nach seiner Transformation, physiologischen Processe zugeschrieben: \u00bbThe energy of stimulation passes over into the motor reaction through the medium of the conscious state.\u00ab Diese Ansicht \u00fcber den Reizungsvorgang, welche der Baldwin\u2019schen Theorie zu Grunde liegt und deshalb auch die Auffassung der Lebenserscheinungen nach ihrer organischen und psychischen Seite beeinflusst, erregt principielle Bedenken nach zwei Richtungen. Die cons\u00e9quente Entwicklung dieses Grundgedankens nach der psychischen Seite m\u00fcsste dahin f\u00fchren, in dem psychischen Geschehen die gleiche Causalit\u00e4t anzunehmen, wie in den physikalischen Vorg\u00e4ngen; dem widerstreitet aber das, was der unmittelbaren Erfahrung in den psychischen Processen gegeben ist (vgl. oben S. 588, 589). Erkennt man nun das dem psychischen Geschehen Eigenth\u00fcmliche an, so m\u00fcsste man wohl die dem Reize zugeschriebene Tendenz, \u00bbsich in Bewegung umzusetzen und sich selbst wieder zu erneuern\u00ab, als eine Art psychischer Inh\u00e4renz des Reizes und damit der physischen und physiologischen Processe betrachten, und die cons\u00e9quente Fortbildung der Baldwin\u2019schen Auffassung in dieser Richtung k\u00f6nnte schlie\u00dflich nicht umhin, allen physikalischen Vorg\u00e4ngen eine Art psychischer Qualit\u00e4t zuzuschreiben. Sie w\u00fcrde so zu einer Anschauung kommen, welche der Allbeseelung und dem Animismus nahe steht. Baldwin hat damit das Grundschema seiner Entwicklungstheorie gewonnen: einen Circularprocess, \u00bban ,imitative4 or ,circular' activity\u00ab. \u00bbThe stimulus starts a motor process which tends to reproduce\nzungsprocess zugeschriebenen Tendenz w\u00e4chst hier progressiv mit dem Ablauf des fingirten Circularprocesses.\n1) Mental Development, S. 189.","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"608\nHeinrich Eber.\nthe Stimulus and, through it, the motor process again1).\u00ab Diese Circularprocesse werden durch eine Reihe von \u00bbGesetzen\u00ab so entwickelt, dass sie, bildlich gesprochen, immer gr\u00f6\u00dfere Radien erhalten, und dass in den Kreisumfang, um bei diesem Bilde zu bleiben, sich allm\u00e4hlich2) und durch die einzelnen Entwicklungsreihen stetig wachsend die psychischen Processe einschieben. So ist in diesem Circularprocess der Typus f\u00fcr alle Lebensprocesse, genannt \u00bbimitation\u00ab, gefunden, und mit der Frage: \u00bbWhat is the final Worldcopy, and how did it get itself set?\u00ab schlie\u00dft das Buch.\nDie wichtigsten der auf dieser Grundlage abgeleiteten \u00bbGesetze\u00ab, unter deren Herrschaft die kindlichen Bewusstseins Vorg\u00e4nge stehen sollen, sind: habit, accommodation, dynamogenesis, heredity etc. Nun erregt diese Reihe statuirter Entwicklungsgesetze von vornherein das Bedenken, dass die Ableitung derselben auf dem Wege der Deduction erfolgt, und zwar auf Grundlage einer Voraussetzung, die, wie wir gesehen haben, nicht stichhaltig ist. Auf diesem Wege lassen sich aber nicht die der psychischen Entwicklung immanenten \u00bbGesetze\u00ab, sondern nur philosophische Begriffe ableiten, und ein derartig entwickeltes naturphilosophisches System l\u00e4uft stets Gefahr, mit seinen Voraussetzungen zu stehen und zu fallen. Nun l\u00e4sst sich nicht verkennen, dass diese Begriffe in der Biologie der thats\u00e4chlichen Grundlage nicht entbehren, insofern sie lange Reihen beobachteter gleichm\u00e4\u00dfiger Gestaltungen und Ver\u00e4nderungen in den Thier- und Pflanzenformen zusammenfassen und in ihren gegenseitigen Beziehungen sehr werthvolle Dienste leisten, daher denn auch schon der Biologe, da er thats\u00e4chlich beobachtete physische Erscheinungen zu Grunde legen kann, hier der Versuchung ausgesetzt ist, jene Begriffe zu \u00bbGesetzen\u00ab zu erheben. Man wird aber niemals zugeben k\u00f6nnen, dass zur L\u00f6sung der Probleme, wie sie in diesen biologischen Begriffen eingeschlossen sind, etwas Wesentliches dadurch beigetragen wird, dass die Begriffe auf dem Wege der Reflexion und Speculation und der Identificirung des Psychischen mit dem Physischen vollends zu psychischen \u00bbGesetzen\u00ab gestempelt werden. Es kann ja zugestanden werden, dass\n1)\tMental Development, S. 133, 217, 226, 228, 229, 248, 251, 255, 259, 261, 264, 265, 287, 289, 303, 334, 374, 413, 423, 424, 461 etc.\n2)\tEbendas. S. 291 ff.","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kiuderpsyclioiogie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t609\ndiesen \u00bbGesetzen\u00ab auch auf psychis chem Gebiete eineileihe von Erscheinungen entspricht, welche je nach ihren Beziehungen in verschiedene Begriffe zusammenzufassen sind. So l\u00f6st sich z. B. das nach Baldwin\u2019s Meinung f\u00fcr Biologie und Psychologie geltende Axiom1) \u00bbhabit\u00ab auch psychologisch in eine Reihe von Unterhegriffen auf (Uebung, Gewohnheit, Brauch; Instinct, Reflex, automatisch gewordene Bewegungen und Handlungen etc.). Allein auf psychologischem Gebiete ist durch ein dialektisches Spiel mit Begriffen \u00fcberhaupt nichts erkl\u00e4rt. Zudem ruhen diese sogenannten \u00bbGesetze\u00ab in logischer Beziehung auf dem schwankenden Boden einer doppelten Analogie ; denn das psychische Geschehen im thierischen Bewusstsein kann zun\u00e4chst nur analog \u00e4hnlich scheinenden Processen im menschlichen Bewusstsein begriffen werden; und daran schlie\u00dft sich dann der weitere Analogieschluss, mittelst dessen die in das thierische Bewusstsein hineingelesenen psychischen Processe zur\u00fcck\u00fcbertragen werden \u2014 in erkl\u00e4rende Gesetze f\u00fcr das menschliche Bewusstsein.\nDabei ist bemerkenswerth, dass sowohl Preyer wie Baldwin, so verschieden sie auch den Standpunkt zur Beurtheilung der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge gew\u00e4hlt haben, in einer Beziehung zu demselben Ergebniss kommen, n\u00e4mlich zu einer allerdings hei beiden sehr verschiedenen Verm\u00f6gens th\u00e9orie : P r e y e r \u2019 s Kind denkt in Folge angeborener und vererbter logischer Verm\u00f6gen; nach Baldwin\u2019s Meinung stehen die kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge von Anfang an unter dem Einfl\u00fcsse vererbter biologischer Gesetze und der mystischen Tendenz der Reize seiner Umgebung (Suggestion).\nNun muss aber die Kinderpsychologie als empirische Wissenschaft ihre Stellung zu den verschiedenen evolutionistischen Theorien den ihr gegebenen Bewusstseinsthatsachen entnehmen, und sie wird es ablehnen, die Interpretation der psychischen Vorg\u00e4nge von a priori angenommenen Entwicklungsgesetzen, angehornen Seelenverm\u00f6gen und Seelenkr\u00e4ften, Ideen und Vorstellungen, Zielen und Zwecken der psychischen Entwicklung abh\u00e4ngig zu machen, wenn sie nicht in Widerspruch mit den Bewusstseinsthatsachen\n1) Mental Development, S. 476.","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"610\nHeinrich Eber.\ngerathen will. Dagegen ist es augenscheinlich, dass der Mensch andere, wenn auch wahrscheinlich nur graduell verschiedene und in der Anlage des Nervensystems gegebene psychische Dispositionen zur Welt mitbringt, als das Thier. Und in der Antwort auf die sich aufdr\u00e4ngende Frage, woher wohl diese Summe von Dispositionen stammen m\u00f6ge, legen alle Anzeichen die Vermuthung nahe, dass sie im Laufe der Entwicklung erworben und durch Uebung so stahilisirt ist, dass sie vererbt wird und ihr physiologisches Substrat in der anatomischen und physiologischen Anlage des Nervensystems findet. Das ist wohl das Wesentliche, welches von der Baldwin\u2019sehen Theorie \u00fcbrig bleibt, wenn man sie objectiv pr\u00fcft und das hypothetische und speculative Beiwerk eliminirt.\nDie auf solche Weise verschiedenen Wissensgebieten entnommenen Gesichtspunkte f\u00fchren vielfach zu entgegengesetzten Auffassungen und zu einer ganzen Reihe von Widerspr\u00fcchen, wovon wir nur Einzelnes in Bezug auf die psychischen Elemente und ihre Ver-bindungsprocesse herausgreifen wollen, und zwar in Anlehnung an Prey er. Hierbei wollen wir von den, auch nach Perez\u20191) Meinung \u00bbmetaphysischen\u00ab Speculationen dar\u00fcber, oh \u00bbdurch die Gehurt das centrale Nervensystem buchst\u00e4blich erst geweckt wird\u00ab2), also ein \u00bbintrauteriner Schlaf\u00ab3) anzunehmen sei, wie Prey er an einzelnen Stellen behauptet, oder ob \u00bbvon einem schon im F\u00f6talzustand wahrscheinlich th\u00e4tigen Gef\u00fchlsinn\u00ab4) und \u00bbvon wahrscheinlich schon vor der Geburt sich ausbildenden Muskelgef\u00fchlen\u00ab5) die Rede sein kann, wie Prey er an anderen Stellen wieder ausf\u00fchrt, vollst\u00e4ndig absehen. Wir beschr\u00e4nken uns darauf, von Prey er\u2019s Annahmen \u00fcber die urspr\u00fcnglichsten psychischen Vorg\u00e4nge die wichtigsten zusammenzustellen.\n1)\tDie Seele des Kindes, S. 3: \u00bbDie Grundbedingung aller geistigen Entwicklung ist die Sinnesth\u00e4tigkeit. Ohne sie kann kein psychogenetischer Vorgang gedacht werden. Jede Sinnes-\n1)\tPerez, Les trois premi\u00e8res ann\u00e9es, S. 100.\n2)\tPrey er, Die Seele des Kindes, S. 64.\n3)\tEbendas. S. 65.\n4)\tEbendas. S. 116, vergl. 120! (Gemeint ist Tastempfindlichkeit.)\n5)\tEbendas. S. 221.","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kiuderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t611\nth\u00e4tigkeit ist vierfach. Zuerst findet eine Nervenerregung statt, dann tritt die Empfindung auf, und erst, wenn diese zeitlich und r\u00e4umlich bestimmt worden, hat man eine Wahrnehmung. Kommt zu der Wahrnehmung die Ursache hinzu, dann wird aus ihr die Vorstellung.\u00ab\n2)\tEbenda S. 396: \u00bbVon allen h \u00f6heren Gehirnfunctionen ist nun die unterscheidende, sondernde, ordnende, welche die einfachen reinen Empfindungen, das urspr\u00fcnglich Erlittene zun\u00e4chst in eine Reihe bringt, n\u00e4mlich zeitlich ordnet, dann nebeneinander und \u00fcbereinander, sp\u00e4ter erst hintereinander stellt, n\u00e4mlich r\u00e4umlich ordnet, die \u00e4lteste. Dieses Unterscheiden und Ordnen der Sinneseindr\u00fccke ist eine Verstandes th\u00e4tigkeit, welche nichts mit Sprechen zu thun hat, und zwar die niedrigste. Sie hei\u00dft Vergleichen. Das Verm\u00f6gen dazu ist, wie Immannel Kant entdeckte, heim Menschen vor der Th\u00e4tigkeit der Sinne da ... . Die logische Gehirnth\u00e4tigkeit beginnt beim Neugeborenen sogleich mit der Sinnesth\u00e4tigkeit etc.\u00ab\n3)\tEbenda S. 230: \u00bbOhne Ged\u00e4chtniss ist kein Verstand m\u00f6glich. Weil die Empfindungen, welche verglichen werden, nicht alle zugleich sein k\u00f6nnen, so ist die Erinnerung an die fr\u00fcheren zum Vergleiche nothwendig, also das pers\u00f6nliche Ged\u00e4chtniss etc.\u00ab\n4)\tEbenda S. 121 u.: \u00bbEhe noch vom Wollen, von Ged\u00e4chtniss, von Urtheilen ein sicheres Merkmal gefunden wird, haben die Gemeingef\u00fchle sich ausgepr\u00e4gt, im unmittelbaren Anschluss an die Erregungen der Sinnesnerven.\u00ab\nEbenda S. 121 m. : \u00bbJede Empfindung erzeugt, sowie sie mit einer anderen Empfindung verglichen worden ist, ein Gef\u00fchl. Alle Gef\u00fchle sind entweder angenehm, d. h. Lustgef\u00fchle, oder nicht angenehm. Im ersteren Falle erwecken sie beim Kinde das Begehren nach Wiederholung der betreffenden Empfindung, indem das Fehlen des Angenehmen eine Unlust erzeugt, im letzteren nicht. \u00ab\n5)\tEbenda S. 121 u.: \u00bbDie Gem\u00fcthshewegungen des Kindes sind von allen h\u00f6heren psychischen Vorg\u00e4ngen diejenigen, welche zuerst bestimmt auftreten und sein Verhalten reguliren .... Ehe die den einzelnen Sinnesgebieten zugeh\u00f6rigen Empfindungen deutlich unterschieden werden, sind die gr\u00f6\u00dften Lehrmeister, die","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"612\nHeinrich Eber.\nEmotionen (Gem\u00fcthsbewegungen), da. Durch die Wiederholung der Emotionen und Gef\u00fchle, welche entgegengesetzten Charakter haben,\nwie z. B. Lust und Unlust etc.....kommt das Ged\u00e4chtniss\nund Abstractionsverm\u00f6gen, das Urtheilen und Schliessen, uach und nach zur Beth\u00e4tigung . . . .\u00ab\n6)\tEbenda S. 125: \u00bbWollen ist m\u00f6glich nur, nachdem Wahrnehmungen gemacht worden sind. Es muss durch wiederholte Vergleichung der Empfindung (mittelst der Gef\u00fchle) das Begehrens-werthe von dem Abzuwehrenden geschieden sein, ehe ein Wollen sich beth\u00e4tigen kann. Denn wer \u00fcberhaupt will, wei\u00df, was er will und was er nicht will, hat vorher erkannt, was ihm hegehrenswerth und was ihm nicht hegehrenswerth ist. Das neugeborene Kind wei\u00df davon nichts, hat also keinen Willen.\u00ab\nEbenda S. 214: \u00bbEs ist gewiss, dass erst nach klaren Vorstellungen gewollt werden kann. Bis dahin ist das Kind willenlos wie ein Thier ohne Gehirn.\u00ab\n7)\tEbenda S. 129: \u00bbDie variable Erregbarkeit der motorischen Centralorgane, und damit verbunden eine Reihe von urspr\u00fcnglichen (impulsiven) Bewegungen, welche die Angeh\u00f6rigen als ,verlangend\u201c bezeichnen und einem Begehrungsverm\u00f6gen zuschreiben, ist als erste Anlage zum Wollen, als seine Vorbedingung, jedem angeboren. \u00ab\nIII. Die psychischen Elemente.\nEs fallt wohl angesichts dieser Pr ey er \u2019 sehen Annahmen zun\u00e4chst auf, dass es, obwohl sie zum gro\u00dfen Theile die Form des Allgemeing\u00fcltigen haben, doch nicht ohne Widerspr\u00fcche m\u00f6glich ist, auf Grund derselben den Anfang der psychischen Vorg\u00e4nge klar zu legen. Das tritt schon in der Auffassung der psychischen Elementarvorg\u00e4nge hervor.\nHalten wir daran fest, dass als \u00bbGrundbedingung aller geistigen Entwicklung\u00ab1) ein \u00bbEmpfinden\u00ab gegeben sein m\u00fcsse und dieses sonach als der Anfang der psychischen Vorg\u00e4nge zu betrachten w\u00e4re, so ist wieder nach einer anderen Ansicht Preyer\u2019s auch nicht\n1) Die Seele des Kindes, S. 3.","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t613\nausgeschlossen, dass sich schon vor der Geburt \u00bbMuskelgef\u00fchle\u00ab1) ausgebildet haben. Im Gegensatz zu letzterem wird wieder f\u00fcr das Entstehen der Gef\u00fchle in allgemeing\u00fcltiger Form behauptet2), es m\u00fcsse zu jeder Empfindung ein Akt des Yergleichens kommen, ehe sie ein Gef\u00fchl erzeugt. Diese statuirte Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Empfindung und dem Akte des Yergleichens wird wieder au\u00dfer Acht gelassen, wenn behauptet wird, dass sich die Gemeingef\u00fchle auspr\u00e4gen im unmittelbaren Anschluss an die Erregung der Sinnesnerven3), noch ehe vom \u00bbGed\u00e4chtnisse, das doch zu dem angenommenen Akte des Vergleichens vorausgesetzt wird, \u00bbein sicheres Merkmal gefunden wird\u00ab. Au\u00dferdem wird das \u00bbGef\u00fchl\u00ab noch als Mittel4) zu dem angenommenen Akte des Yergleichens der Empfindungen betrachtet.\nSo stehen sich, im Grunde genommen, zwei einander widersprechende Anschauungen \u00fcber die Entstehung der Gef\u00fchle und ihr Verh\u00e4ltniss zu den Empfindungen gegen\u00fcber: Einerseits erscheint das Gef\u00fchl als ein vom Empfinden unabh\u00e4ngiges psychisches Geschehen im unmittelbaren Anschluss an die Nervenerregung, andererseits als ein Erzeugniss der Empfindung, veranlasst durch einen angenommenen Akt des Vergleichens. Erinnert die erste Auffassung insofern an die Verm\u00f6genstheorie, als von vornherein ein (hier in Empfinden und F\u00fchlen) getrenntes psychisches Geschehen angenommen wird, so hat wieder die zweite Auffassung den ausgesprochenen Charakter des Intellectualistischen, insofern die Gef\u00fchle aus (vom Verst\u00e4nde verursachten) Wechselwirkungen der Empfindungen entstanden erkl\u00e4rt werden, wie sie in \u00e4hnlicher Weise\n1)\tDie Seele des Kindes, S. 221. Vergleiche hierzu unten Anm. 4.\n2)\tEbendas. S. 121. \u00bbJede Empfindung erzeugt, sowie sie mit einer anderen Empfindung verglichen worden ist, ein Gef\u00fchl\u00ab.\n3)\tEbendas. S. 121.\n4)\tEbendas. S. 125. Wenn Prey er zudem (S. 64) die Bezeichnungen \u00bbF\u00fchlen\u00ab und \u00bbGef\u00fchlsinn\u00ab anwendet f\u00fcr Ber\u00fchrungs-, Tast- und Temperaturempfindlichkeit, so ist damit ein weiterer Anlass zur Vermengung gegeben Die oben angef\u00fchrten \u00bbMuskelgef\u00fchle\u00ab k\u00f6nnen hiernach im psychologischen Sinne als \u00bbGef\u00fchle\u00ab oder als \u00bbEmpfindungen\u00ab, oder wahrscheinlicher als \u00bbGef\u00fchle\u00ab und \u00bbEmpfindungen\u00ab zugleich gedeutet werden. Die neuere Psychologie hat deshalb fast allgemein dieses verwirrende Moment ausgeschieden und trennt streng die objective Seite des psychischen Elements, die Empfindungen, von der subjectiven Seite, vom Gef\u00fchl.","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"614\nHeinrich liber.\nauch Herbart aus den Wechselwirkungen der Vorstellungen ableitet.\nZu diesen \u00bbvielerlei\u00ab Ansichten Preyer\u2019s \u00fcber die Beziehungen und das Verh\u00e4ltniss der psychischen Elemente gesellt sich noch eine Reihe anderer Anschauungen (z. B. diejenigen von H. Spencer1 2 3 4), Bain2), James3), Baldwin, Meynert4) etc.), welche zwar im einzelnen sehr verschiedene Abweichungen zeigen, in denen aber doch zwei gemeinsame Momente mehr oder minder deutlich hervortreten. Man sucht n\u00e4mlich die Gef\u00fchle \u2014 die Hauptrolle spielt merkw\u00fcrdigerweise immer dabei die \u00bbLust\u00ab \u2014 aus physiologischen Processen (heightened nervous process, Tendenz des Reizes etc.) abzuleiten oder mit denselben zu identificiren, zieht aber damit als Erkl\u00e4rung nur ein neues Problem heran; und man betrachtet das Gef\u00fchl als einen vom Empfinden mehr oder minder getrennten Process, eine Annahme, welche in der Beobachtung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge ihre Widerlegung findet. Das tritt wie beim Erwachsenen, so insbesondere beim Kinde deutlich hervor.\nEs ist eine bei der Besch\u00e4ftigung mit Kindern sich aufdr\u00e4ngende Thatsache, dass dieselben ein r\u00e9ceptives, reproductives und unter dem Zwange \u00e4u\u00dferer Sinneseindr\u00fccke und der Umgebung stehendes Verhalten zeigen5). Dieser \u00bbZwang\u00ab unmittelbar gegebener Sinneseindr\u00fccke tritt noch mehr beim Thiere hervor und er verleugnet sich nicht durch das ganze Leben des Naturmenschen. Er zeigt sich klar beim Kind6), wenn Reize, welche mit Unlust verbundene Empfindungen wecken, von Reizen gefolgt sind, welche mit Lust verbundene Empfindungen ausl\u00f6sen, und das Kind \u00bbaus voller Seele\u00ab lacht, w\u00e4hrend ihm noch die Thr\u00e4nen die Wangen benetzen. Ebenso beim Wilden, der um gl\u00e4nzenden, bunten Flitter und Tand das Werth vollste hinzugeben bereit ist.\n1)\tSpencer, Princ. of Psychology, I, \u00a7 227 ff. etc.\n2)\tMental Developm., S. 177. 181.\n3)\tEbendas. S. 193 etc.\t4) Ebendas. S. 193 etc.\n5)\t\u00bbDas Kind glaubt, was man ihm sagt, es denkt, was es geh\u00f6rt hat, es thut, was es gesehen hat; ihm baut man eine Welt durch Bilder und Erz\u00e4hlungen.\u00ab (Herbart\u2019s P\u00e4dag. Schriften II. Band, S. 229. Ausg. F. Bartholom\u00e4i.)\nYergl. die Seele des Kindes, S. 223 u. 296, 223 etc.\n6)\tDie Seele des Kindes, S. 236 o. Yergl. Perez, Les trois premi\u00e8res ann\u00e9es, S. 103 m.","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t615\nVersuchen wir zu beobachten, welche Objecte und Vorg\u00e4nge auf das kindliche Bewusstsein den gr\u00f6\u00dften Einfluss ausiiben, so werden wir finden, dass es stets diejenigen sind, welche die subjective Seite des Bewusstseins, das Gef\u00fchlsleben1), am meisten erregen, und diese sind es auch, welche im kindlichen Bewusstsein verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig am l\u00e4ngsten und klarsten festgehalten werden2).\nUnd wenn wir eine kindliche Vorstellung analysiren, so ergibt sich, dass in den gef\u00fchlsstarken Empfindungselementen derselben die psychologische Bedeutung liegt, welche dieser Vorstellung in den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen zukommt. Diese gef\u00fchlsbetonten Empfindungselemente sind dem Kinde die \u00bb wesentlichen\u00ab Eigenschaften und Merkmale, und aus der Analyse der kindlichen Vorstellungen, Begriffe3) etc. geht so unmittelbar hervor, dass die letzteren stets durch den mit den einzelnen Empfindungen verbundenen Gef\u00fchlston ihr Gepr\u00e4ge erhalten. Dass die Rose \u00bbroth\u00ab, der Zucker \u00bbs\u00fc\u00df\u00ab, der Ofen \u00bbhei\u00df\u00ab ist, dass der Hund \u00bbbei\u00dft\u00ab, das, was \u00bbfliegt\u00ab, ein Vogel ist etc., erscheint dem Kinde als das Wichtigste, was \u00fcber diese Objecte auszusagen w\u00e4re. So scheint es \u00fcberhaupt Regel f\u00fcr die kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu sein, dass sie stets von gef\u00fchlsstarken Empfindungsvorg\u00e4ngen und Verbindungsprocessen beherrscht werden. Und da die Erinnerungsbilder und namentlich deren Gef\u00fchlswerthe im allgemeinen je l\u00e4nger desto mehr verblassen, so erkl\u00e4rt sich daraus die gro\u00dfe Bedeutung, welche im kindlichen Bewusstsein die unmittelbar gegebenen Sinneseindr\u00fccke gewinnen.\nDiese leicht zu beobachtende Thatsache ist es wohl auch, die Baldwin veranlasst hat, die Ursachen f\u00fcr diese Erscheinungen nicht in inneren psychischen Processen, sondern in \u00e4u\u00dferen Bedingungen zu suchen, und den von der Umgebung ausgehenden\n1)\tRousseau nimmt sogar an, was freilich psychologisch kaum haltbar ist, dass das Kind anfangs nur reine \u00bbGef\u00fchlseindr\u00fccke\u00ab, Lust und Unlust, habe. Emil I. \u00a7 136 (Sallw\u00fcrk).\n2)\tVergl. Die Seele des Kindes, S. 352. Les trois premi\u00e8res ann\u00e9es, S. 103 etc.\n3)\tEs sind rein psychologische und nicht logische Producte. Dabei k\u00f6nnen die kindlichen Begriffe und Vorstellungen selbstverst\u00e4ndlich logische Elemente enthalten, sie k\u00f6nnen sich auch mitunter mit logischen Begriffen decken. Dass sie aber auf psychologischem und nicht logischem Wege entstanden sind, ergibt ihre Analyse.","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"61G\nHeinrich Eber.\nReizen jene schon erw\u00e4hnte mystische Tendenz zuzuschreiben, auf welcher er dann seine weitausgesponnene Suggestionslehre1) aufbaut.\nAus der Analyse des kindlichen (und auch des entwickelten) Bewusstseins geht so unmittelbar hervor, dass die Gef\u00fchle stets mit Empfindungselementen verbunden sind, und dass ebenso die aus diesen entstehenden psychischen Gebilde und Pro-cesse von Gef\u00fchlen begleitet sind, sodass es schon aus diesem Grunde gerechtfertigt erscheint, ein einheitliches psychisches Geschehen anzunehmen, an dem nur auf dem Wege der Abstraction verschiedene Seiten unterschieden werden k\u00f6nnen. Darnach stellt sich ein auf dem Wege der Analyse gewonnenes Element des psychischen Geschehens nach zwei verschiedenen Seiten dar: Abstra-hiren wir von dem objectiven Gehalt des Elements (z. B. der reinen Empfindung \u00bbRoth\u00ab), so verbleibt jene Seite, nach welcher dieses Element Bedeutung f\u00fcr das erfahrende Subject hat, das Gef\u00fchlselement (z. B. das mit \u00bbRoth\u00ab verbundene erregende Gef\u00fchl, das seiner Qualit\u00e4t nach auch Unlust sein kann)2); abstrahiren wir von dem, was uns als Gef\u00fchl erscheint, so verbleibt jene objective Seite, das Empfindungselement3).\nDass hierbei die Empfindungen als bewusste Vorg\u00e4nge intensiv so schwach auftreten k\u00f6nnen, dass sie sich dem Nullpunkte n\u00e4hern, ist in obiger Annahme ebenso eingeschlossen, wie auch aus der erfahrungsgem\u00e4\u00df gegebenen Eigenschaft der Gef\u00fchle, sich zwischen entgegengesetzten Zust\u00e4nden (Lust \u2014 Unlust, Spannung \u2014 L\u00f6sung etc.) zu bewegen, hervorgeht, dass sie auch in ihren Schwankungen den Indifferenzpunkt zwischen diesen Gegens\u00e4tzen ber\u00fchren k\u00f6nnen. Allein man w\u00fcrde der Thatsache, dass Empfinden und F\u00fchlen fast\n1)\tVergl. Mental Development, S. 104 ff., 109 ff., 114 ff., 140 ff., 118 ff., 126 fl., 372, 130 ff., 135 ff., 138 f., 143, 144, 145 ff, 158 ff. etc.\n2)\tDie Empfindung der rothen Farbe z. B. ist beim Kinde stets mit einem erregenden Gef\u00fchl verbunden, das sich sogar in einer Verst\u00e4rkung einer ausgef\u00fchrten Bewegung \u00e4u\u00dfern kann. Man vergleiche hierzu das Verhalten einzelner Thiere, z. B. eines Puters oder eines Stieres bei einem vorgehaltenen rothen Tuche. Die Kinder (und Naturmenschen) bevorzugen \u00bbwarme\u00ab Farbent\u00f6ne (roth, orange, gelb) und haben h\u00e4ufig eine nat\u00fcrliche Aversion gegen \u00bbSchwarz\u00ab. Vergl. Mental Development, S. 44.\n3)\tSiehe Wundt, Grundriss der Psychologie \u00a7 5. Phys. Psych. II, S. 256 etc.","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t617\ndurchweg als einheitliches psychisches Geschehen der unmittelbaren Erfahrung gegeben sind, nicht gerecht werden, wenn man solche Specialf\u00e4lle zur Grundlage der allgemeingiltigen Behauptung machen wollte, dass Empfinden und F\u00fchlen als getrennte psychische Geschehnisse anzusehen seien. Sobald man sich aber zur letzteren Annahme entschlie\u00dft, so hat man damit auch den ersten Schritt gethan, der in seiner Consequenz leicht zur Verm\u00f6genstheorie f\u00fchrt\u2019). Denn dem als Bewusstseinsvorgang f\u00fcr sich Bestehenden kann nicht abgesprochen werden, dass es auch f\u00fcr sich wirken kann. F\u00fcr eine logische Betrachtungsweise liegt es dann nahe, das f\u00fcr sich Bestehende nicht nur als ein f\u00fcr sich Wirkendes anzunehmefi, sondern auch dieses zu hypostasiren, sodass schlie\u00dflich, ob eingestandenerma\u00dfen oder nicht, verschiedene im Bewusstsein wirkende Verm\u00f6gen oder Kr\u00e4fte1 2) existirend gedacht werden.\nDabei ist aber von vornherein bemerkenswerth, dass bei dieser getrennten Auffassung des Empfindens und F\u00fchlens beiden h\u00e4ufig eine ungleiche Bedeutung beigelegt wird: Es wird n\u00e4mlich den Gef\u00fchlen, haupts\u00e4chlich jenen zusammengesetzten Gef\u00fchls Vorg\u00e4ngen, welche die Psychologie unter der Bezeichnung Affecte, Prey er, Baldwin etc. unter Emotionen oder Gem\u00fcthsbewegungen zusammenfassen, die Rolle eines von Anfang an wirkenden Factors zugesprochen3), w\u00e4hrend die Empfindungselemente mehr oder weniger als das psychische Material4) betrachtet werden, an welchem jene auf dem \u00bbSchauplatz\u00ab des Bewusstseins erscheinenden psychischen Factoren, Verm\u00f6gen und Kr\u00e4fte (wie z. B. nach Prey er der angeborene Verstand, nach Baldwin eine Summe aus der Biologie entwickelter \u00bbGesetze\u00ab) wirksam werden.\nWenn nun auch die Empfindungen gegen\u00fcber den Gef\u00fchlen als die constanteren Elementarvorg\u00e4nge erscheinen, so kann doch nicht hieraus die Berechtigung abgeleitet werden, die Empfindungen als das einzige Material5) der Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu betrachten; denn die Empfindungen sind, ebenso wie in ihrer Art die Gef\u00fchle,\n1)\tVergl. hierzu Herbart, Werke, VII, S. 609 ff.\n2)\tVergl. Herbart, Werke VII, S. 611, V, S. 213 ff.\n3)\tVergl. z. B. Die Seele des Kindes, S. 122 etc.\n4)\tVergl. dass. S. 230, 3 etc.\n5)\tSiehe Preyer, S. 230 m.","page":617},{"file":"p0618.txt","language":"de","ocr_de":"618\nHeinrich Eber.\nselbst Bewusstseins Vorg\u00e4nge und nur als solche der unmittelbaren Erfahrung gegeben. Die Annahme eines psychischen Materials erscheint daher \u00fcberhaupt als ein Ausfluss jener logischen Betrachtungsweise, welcher die Beth\u00e4tigung der angenommenen Verm\u00f6gen und Kr\u00e4fte nur an einem beharrenden Materiale denkbar scheint.\nIV. Die psychischen Verbindungsprocesse.\nDer unsere Kinderpsychologie charakterisirende Zug, ein auf dem Wege der Analyse und Abstraction, des Denkens oder der Reflexion gewonnenes Product als ein f\u00fcr sich bestehendes psychisches Geschehen zu betrachten, tritt noch ungleich sch\u00e4rfer in der Auffassung der psychischen Verbindungsprocesse hervor. Geradezu drastisch ist in dieser Beziehung die Prey er\u2019sehe Kinderpsychologie zu nennen.\nDie psychischen Verbindungsprocesse erscheinen nach der Prey er\u2019sehen Auffassung als Resultanten nicht nur der psychischen Elementarvorg\u00e4nge, sondern auch einer Reihe von Anfang an im Bewusstsein des Kindes wirkender \u00bbh\u00f6herer\u00ab psychischer Vorg\u00e4nge, \u00bbh\u00f6herer Gehirnfunctionen\u00ab, \u00bbVerm\u00f6gen\u00ab etc., und wenn dieselben nicht ausdr\u00fccklich als \u00bbKr\u00e4fte\u00ab bezeichnet werden, so wird ihnen nichtsdestoweniger zum Theil eine Wirkung zugeschrieben, wie sie nur Kr\u00e4ften zukommt. Als solche Seelenverm\u00f6gen, bez. Kr\u00e4fte treten in dem Bewusstsein des neugebornen S\u00e4uglings auf: der an-geborne und vererbte Verstand1), das Ged\u00e4chtniss2), das Abstrac-tionsverm\u00f6gen3), das Urtheilen und Schlie\u00dfen4 *), das Begehren1), sp\u00e4ter der Wille6).\nHierbei wird zwar ausdr\u00fccklich und consequent nur der Verstand als angebornes Verm\u00f6gen aufgefasst, allein das pl\u00f6tzliche, mythologische Auftauchen des Ged\u00e4chtnisses, des Abstractionsver-m\u00f6gens etc. unmittelbar nach der Geburt mit und nach den ersten\n1) Die Seele des Kindes, S. 396 etc.\t2) Ebendas. S. 230, 122.\n3) Ebendas. S. 122, 239.\t4) Ebendas. S. 122.\n5)\tEbendas. S. 122; dagegen siehe hierzu S. 221, wo Pr. mit Recht dagegen\nspricht, dass etwa hier ein Verm\u00f6gen angenommen werde.\n6)\tEbendas. S. 218.","page":618},{"file":"p0619.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychoiogie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\n619\nSinneseindr\u00fccken kann schlie\u00dflich kaum einer anderen Deutung unterliegen. Dabei kommt zum Theil eine merkw\u00fcrdige Art Wettstreit zwischen diesen gesondert auftretenden Seelenverm\u00f6gen zum Vorschein, nicht nur in Bezug auf ihren Anfang, sondern auch auf ihr Wirkungsgebiet, und die anf\u00e4nglichen kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge erinnern dadurch lebhaft an das bekannte Thomas Hobbes\u2019sche \u00bbbellum omnium contra omnes\u00ab. Da wird einerseits der \u00bbunterscheidenden, ordnenden und vergleichenden Verstandes-th\u00e4tigkeit\u00ab apodiktisch der Rang \u00bbder \u00e4ltesten Gehirnfunction\u00ab zuerkannt, andererseits aber auch in gleicher Weise behauptet, dass es \u00bbdie Gem\u00fcthsbewegungen seien, welche zuerst bestimmt auf-treten, ehe die den einzelnen Sinnesgebieten zugeh\u00f6rigen Empfindungen deutlich unterschieden werden\u00ab.\nWollte man nun die vergleichende Verstandesth\u00e4tigkeit f\u00fcr die \u00bb\u00e4lteste\u00ab halten, so tritt in diesen Wettbewerb nicht ohne Grund auch das Ged\u00e4chtniss ein; denn \u00bbohne Ged\u00e4chtniss ist kein Verstand m\u00f6glich, weil die Empfindungen, welche verglichen werden, nicht alle zugleich sein k\u00f6nnen und deshalb die Erinnerung an die fr\u00fcheren zum Vergleiche nothwendig ist\u00ab. Es k\u00f6nnte aber auf dem Boden der Preyer\u2019schen Psychologie f\u00fcr ebenso einleuchtend gehalten und bewiesen werden, dass zu der \u00bbunterscheidenden, ordnenden und vergleichenden Verstandesth\u00e4tigkeit\u00ab auch ein \u00bbAbstractions verm\u00f6gen\u00ab, ein \u00bbUrtheilen\u00ab und \u00bbSchlie\u00dfen\u00ab nothwendig ist, wenn auch Prey er erkl\u00e4rt, \u00bbGed\u00e4chtniss\u00ab, \u00bbAbstractions verm\u00f6gen\u00ab, \u00bbUrtheilen\u00ab und \u00bbSchlie\u00dfen\u00ab seien aus Wiederholungen der Emotionen (Lust- und Unlustgef\u00fchle) hervorgegangen. Dazu gesellt sich die an Descartes erinnernde Behauptung: \u00bbWortlose Vorstellungen\u00ab, \u00bbwortlose Begriffe\u00ab, \u00bbwortlose Schl\u00fcsse k\u00f6nnen sich vererben so gut wie Athmen und Schlucken\u00ab etc.\n1. Die Verstandesth\u00e4tigkeiten.\nScheiden wir hiervon zun\u00e4chst jene intellectuellen Th\u00e4tigkeiten aus, die als logische bezeichnet werden (Urtheilen, Schlie\u00dfen etc.), so ergibt sich, dass in dieser Beziehung die Bald win\u2019sehe Auf-\n1) Die Seele des Kindes, S. 396.\nWundt, Philos. Studien. XII.\n41","page":619},{"file":"p0620.txt","language":"de","ocr_de":"620\nHeinrich Eber.\nfassung den diametralen Gegensatz zu der Prey er\u2019sehen bildet. Was nach Preyer angeboren und vererbt ist, erscheint nach Baldwin als Entwicklungsproduct der h\u00f6chsten und letzten Stufe, im Kinde, wie in der Rasse. (\u00bbThe child begins in its prenatal and early postnatal experience with blank sensations and pleasure and pain with the motor adaptions to which they lead, passes into a stage of apprehension of objects with response to them by suggestion', imitation, etc., gets to be more or less self-controlled, imaginative, and volitional, and ultimately becomes reflective, social and ethical.\u00ab1)) Diese verschiedenen Anschauungen sind auf deductivem Wege aus verschiedenen Voraussetzungen abgeleitet. Preyer geht hierbei zur\u00fcck auf die alte Verm\u00f6genstheorie Chr. Wolff\u2019s. Nun l\u00e4sst sich dar\u00fcber streiten, ob Kant\u2019s Apriorismus derart zu deuten ist, wie es Preyer versucht hat; denn Kant erkl\u00e4rt in den Proleg. \u00a7 21a ausdr\u00fccklich, dass bei ihm nicht von der Entstehung der Erfahrung die Rede sei, sondern von dem, was in ihr liege; das erstere geh\u00f6re zur empirischen Psychologie, das letztere zur Kritik des Verstandes. Dass aber philosophische Ansichten der Kinderpsychologie nicht zu Grunde gelegt werden k\u00f6nnen, beweist eben hier die thats\u00e4chliche Entwicklung des logischen Denkens im Bewusstsein des Kindes, der die Baldwin\u2019sehe Auffassung weit mehr gerecht wird als die Preyer\u2019sehe, wenn sie auch aus biologischen Voraussetzungen in diesem Falle abgeleitet wird. Kann doch das logische Denken \u2014 wir haben hierbei die Zeit vom 7.\u201413. Lebensjahre vor Augen \u2014 sehr allm\u00e4hlich und zwar nur in primitiven Formen und Spuren, im engsten Anschluss an unmittelbar gegebene Sinneseindr\u00fccke angebahnt werden2)! Wohl aber zeigt der kindliche Gedankenablauf jene frische, sprudelnde Phantasieth\u00e4tigkeit, die dem Kinde den Stempel des Naiven verleiht.\nEs erscheint daher psychologisch als willk\u00fcrliche Annahme,\n1)\tMental Development, S. 17.\n2)\tVergl. hierzu Die Seele des Kindes, S. 298. Herbart, Umriss p\u00e4d. Vorlesungen, \u00a7\u00a7215, 217 ff.; VII. Kap.; \u00a768. Deshalb empfiehlt auch Herbart f\u00fcr den Unterricht auf dieser Entwicklungsstufe zun\u00e4chst \u00bbKlarheit\u00ab und \u00bbAssociation\u00ab als Vorbereitungsstufen f\u00fcr das systematische Denken. Die Uebung im \u00bbmethodischen\u00ab Denken m\u00fcsse aber letzterem erst nachfolgen.","page":620},{"file":"p0621.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\t621\nwenn von nichtpsychologischen Standpunkten aus f\u00fcr sich wirkende Verm\u00f6gen und Kr\u00e4fte in die Bewusstseinsvorg\u00e4nge hineininterpre-tirt werden, und besonders wenn, wie es Preyer thut, eine Form der Bewusstseinsvorg\u00e4nge, die erst f\u00fcr das entwickelte menschliche Bewusstsein typisch genannt werden kann (wie die Verstandesoperationen), hypostasirt und zu einem angebornen \u00bbVerm\u00f6gen\u00ab erkl\u00e4rt wird. So schreibt Preyer dem \u00bbangebornen\u00ab und \u00bbvererbten\u00ab Verstand gleich unmittelbar nach der Gehurt eine, wenn auch primitive \u00bbunterscheidende, sondernde, vergleichende, verkn\u00fcpfende, zeitlich und r\u00e4umlich ordnende\u00ab Th\u00e4tigkeit und damit den Charakter einer im Bewusstsein des Kindes herrschenden seelischen Kraft zu, wie sie ein physiologisches Analogon nur in dem nat\u00fcrlichen Alchymisten findet, dem Paracelsus den Magen als Wirkungsst\u00e4tte angewiesen und den er \u00bbArch\u00e4us\u00ab getauft hat.\nEs ist aber augenscheinlich, dass die Bezeichnungen \u00bbUnterscheiden\u00ab, \u00bbSondern\u00ab, \u00bbOrdnen\u00ab, \u00bb Abstrahiren\u00ab, \u00bbUrtheilen\u00ab, \u00bbSchlie\u00dfen\u00ab nur Begriffe1) sind, von denen ein jeder f\u00fcr sich gleichartig erscheinende Bewusstseinsvorg\u00e4nge benennt, und wenn diese Processe unter dem gemeinsamen Begriff \u00bb Verstandesth\u00e4tig-keiten\u00ab zusammengefasst werden, so sind die \u00bbVerstandesth\u00e4tig-keiten\u00ab nur ein Classenbegriff, also lediglich ein Product des logischen Denkens.\nF\u00fcr die Psychologie als eine exact empirische Wissenschaft ist es aber von vornherein ausgeschlossen, dass sie solche logisch gebildete Begriffe zu Grunde lege und etwa aus diesen Begriffen oder aus den zu Verm\u00f6gen und Kr\u00e4ften hypostasirten Begriffen die Qualit\u00e4t der einzelnen Bewusstseinsvorg\u00e4nge deducire. Dass Preyer sich dazu entschlie\u00dfen kann, dem Bewusstsein des eben gebornen S\u00e4uglings die oben genannten Verstandesth\u00e4tigkeiten, wenn auch noch in einer primitiven Form zu pr\u00e4diciren, erscheint hier lediglich als Ausfluss einer solchen der Beschaffenheit des Untersuchungsgebietes nicht ad\u00e4quaten Subsumtionslogik. Die Psychologie darf nicht logische Begriffe, sondern sie muss Bewusstseinsthatsachen zu Grunde legen und kann von logischen Begriffen nur im Zusammenhang mit den entsprechenden Bewusstseinsthatsachen\n1) Vergl. Herbart, Werke, V, S. 218.\n41*","page":621},{"file":"p0622.txt","language":"de","ocr_de":"622\nHeinrich Eber.\nGebrauch machen. Und so wird auch die Kinderpsychologie ihre Aufgabe, die psychische Entwicklung des Kindes zu erforschen, nur dadurch losen k\u00f6nnen, dass sie auf Grund gesammelter zuverl\u00e4ssiger Bewusstseinsthatsachen eben nachzuweisen sucht, wie sich das kindliche Bewusstsein entwickelt, d. h. wie sich die einzelnen Formen, welche die Bewusstseinsvorg\u00e4nge des Erwachsenen in einem verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig vollkommenen Grade zeigen, im kindlichen Bewusstsein allm\u00e4hlich herausbilden und differenziren.\nDie psychische Entwicklung des Kindes ist aber der objec-tiven Beleuchtung entr\u00fcckt, wenn man umgekehrt verf\u00e4hrt und dieselbe von Anfang an unter den Einfluss eines im Bewusstsein des Kindes herrschenden logischen Verm\u00f6gens stellt. Es wird hierdurch zu einer Norm der Entwicklung gestempelt, was lediglich als psychologisches Product der Entwicklung erscheint.\n2. Das Ged\u00e4chtniss und die Associationen.\nDem Vorherrschen des Classenbegriffes \u00bbGed\u00e4chtniss\u00ab und seiner Hypostasirung ist es zuzuschreiben, wenn in unserer heutigen Kinderpsychologie jene passiven psychischen Processe nicht diejenige W\u00fcrdigung finden, welche ihnen, wie S. 594 erw\u00e4hnt, nach ihrem domi-nirenden Auftreten in den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen geb\u00fchrt. Hierbei wollen wir, nach allem Gesagten, davon absehen, dass unter diesem der Vulg\u00e4rpsychologie entnommenen Begriff nicht selten eine psychische \u00bbKraft\u00ab verstanden wird, welche fr\u00fcheres psychisches \u00bbMaterial\u00ab herbeiholt etc. Es ist damit eine Vergr\u00f6berung der psychologischen Auffassung verbunden, wie sie am wenigsten auf dem Gebiete der Kinderpsychologie berechtigt ist. Aber auch in seiner begrifflichen Bedeutung kommt dem \u00bbGed\u00e4chtniss\u00ab ein solch weiter Umfang zu, dass schlie\u00dflich fast alle und damit die heterogensten passiven Processe darunter verstanden werden k\u00f6nnen, womit sich dann sehr leicht die Meinung verbindet, mit der Anwendung dieses Begriffes die passiven psychischen Processe gen\u00fcgend erkl\u00e4rt zu haben.\nNun resultirt die psychische Causalit\u00e4t stets in einen unmittelbar gegenw\u00e4rtigen, in unserer Auffassung durch Klarheit und Deutlichkeit bevorzugten einheitlichen psychischen Vorgang,","page":622},{"file":"p0623.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht aut' neuere Arbeiten.\t623\nund es gibt keinen unmittelbai gegenw\u00e4rtigen psychischen Vorgang, an welchem nicht eine Reihe fr\u00fcherer Bewusstseinselemente und -pro-cesse und, wenn man will, der ganze vorangegangene Bewusstseinsinhalt betheiligt w\u00e4ren. Das schlie\u00dft au\u00dfer einer gro\u00dfen Mannigfaltigkeit in den Beziehungen und Verbindungen auch eine gro\u00dfe Verschiedenheit in den Bewusstseinsgraden ein, und alles das mit Ausnahme des hiervon abstrahirten unmittelbar gegebenen Sinneseindruckes umfasst der verschwommene Begriff Ged\u00e4chtniss. Diese Abgeblasst-heit des Begriffes \u00bbGed\u00e4chtniss\u00ab tritt insbesondere da hervor, wo man glaubt mit \u00bbGed\u00e4chtniss\u00ab eine besondere Classe von Vorg\u00e4ngen neben passiven Processen anderer Art unterscheiden zu k\u00f6nnen1).\nEine \u00e4hnliche Rolle, wie die des Ged\u00e4chtnisses in der Verm\u00f6genspsychologie, spielt der Begriff \u00bbAssociation\u00ab zum Theil in der Associationspsychologie, in welcher, um die Miterregung zu erkl\u00e4ren2), das Bestreben vorherrscht, alle die oben angedeuteten passiven Pro-cesse wom\u00f6glich auf ein Princip oder Gesetz zur\u00fcckzuf\u00fchren, wobei die eine Richtung (H\u00f6ffding) auf das Princip der \u00bbAehn-lichkeit\u00ab, die andere (Lehmann u. A.) auf das der \u00bbBer\u00fchrung\u00ab gekommen ist. In dieser Beziehung vertritt Baldwin den letzteren Standpunkt: \u00bbAssociation by contiguity is simply the progress from external togetherness into internal togetherness, from fact to memory\u00ab 3).\nNun ist ersichtlich, dass mit der Anwendung eines derartigen Classenbegriffes, der dann zu einem \u00bbGesetze\u00ab gestempelt wird, zur Erkl\u00e4rung der kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4nge gar nichts beigetragen wird. Will man je einen derartigen Begriff auf alle passiven psychischen Vorg\u00e4nge anwenden, so geht es selten ohne dialektische Mittel und ersonnene psychische Vorg\u00e4nge ab. So l\u00e4sst\n1)\tSo muss M. Baldwin zu verschiedenen dialektischen Wendungen Zuflucht nehmen, um das Ged\u00e4chtniss nehen den Associationen, Assimilationen, Wiedererkennungsacten als eine besondere Classe erscheinen zu lassen. \u00bbAssociation enables us to react to facts which are distant from present facts but allied to them. Memory enables us to react to the facts of the future as if they were present, thus conserving the lessons of the past etc.\u00ab. Mental Development S. 307. Vergl. daselbst S. 321.\n2)\tVergl. Mental Development, S. 279\u2014290. The Physical Basis of Memory and Association.\n3)\tVergl. dass. S. 303, 302, 304 ff.","page":623},{"file":"p0624.txt","language":"de","ocr_de":"624\nHeinrich Eber.\nsich der Begriff Aehnlichkeit nur da anwenden, wo immer eine gr\u00f6\u00dfere oder geringere Zahl gleicher Elemente in den Bewusstseinsvorg\u00e4ngen vorhanden ist, wobei besonders im kindlichen Bewusstsein diese gleichen Elementarvorg\u00e4nge derart zusammenflie\u00dfen und sich verst\u00e4rken, dass sie in erster Linie und als einheitlicher Vorgang bewusst werden, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen Elementarvorg\u00e4nge nur als Modificationen hierzu erscheinen. (In einem harmonisirten Volkslied h\u00f6rt das Kind zun\u00e4chst nur die Melodie und empfindet die begleitenden T\u00f6ne nur als Klangcharakter dieser Melodie; es kann aber nur nach und nach durch absichtliche Lenkung der Aufmerksamkeit dahin gebracht werden, auch begleitende T\u00f6ne zu unterscheiden, wenn es nicht hervorragend musikalisch beanlagt ist etc.). Wie das \u00bbGesetz der Aehnlichkeit\u00ab schlie\u00dflich auf gleiche psychische Elementarvorg\u00e4nge zur\u00fcck-f\u00fchrt, so l\u00f6st sich auch die Cons tanz, die man in dem Princip der Ber\u00fchrung gefunden zu haben glaubte und auf die psychischen Vorg\u00e4nge in der Weise \u00fcbertrug, dass man auch den Vorstellungen den Charakter psychischer Obj ecte zuerkannte, in eine Reihe Ele-mentarprocesse auf, die zwar \u00bbhy contiguity\u00ab verbunden sind, ihr Gepr\u00e4ge jedoch im kindlichen Bewusstsein von dem Gef\u00fchlston der einzelnen constituirenden Elementar Vorg\u00e4nge und Verbindungs-processe erhalten. Damit sind einzelne in den passiven psychischen Processen des kindlichen Bewusstseins hervortretende Seiten gewonnen. Es offenbart sich aber au\u00dferdem in denselben noch eine gro\u00dfe Mannigfaltigkeit, je nachdem die verbundenen Elementarvorg\u00e4nge einem oder verschiedenen Qualit\u00e4tssystemen, einem oder mehreren Sinnesgebieten angeh\u00f6ren, ob die Wahrnehmungsprocesse mit den Erinnerungsprocessen zu einem Vorg\u00e4nge verschmelzen, oder ob sie sich zeitlich in zwei oder mehrere Vorg\u00e4nge auf l\u00f6sen und condensiren, ob in den Verschmelzungsprocessen die Wahrnehmungsoder Erinnerungselemente \u00fcberwiegen etc. Gerade darin offenbaren die kindlichen Bewusstseins Vorg\u00e4nge nach der objectiven Seite ihren Typus, und es geht daraus hervor, dass dieser Typus durch einen einzelnen Classenbegriff keine gen\u00fcgende Erkl\u00e4rung finden kann.","page":624},{"file":"p0625.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\n625\n3. Die Willensprocesse.\nZu den \u00bbh\u00f6heren\u00ab Gehirnfunctionen z\u00e4hlt Preyer auch den Willen. Seine Beobachtungen, soweit sie irgend mit dem Willen in Beziehung gesetzt werden k\u00f6nnen (vergl. Die Seele des Kindes, S. 135\u2014206), erstrecken sich auf die zahlreichen anf\u00e4nglich regellosen Bewegungen, auf Schreien, Greifen, Saugen, Kopfhaltung, Sitzen, Stehen, Gehenlernen, Nachahmungen, Lachen, Bitten mit H\u00e4nden, Zeigen etc. Unter diesen vielseitigen Beobachtungen d\u00fcrften sich der psychologischen Eindeutigkeit am meisten n\u00e4hern jene der Physiologie und Psychologie angeh\u00f6renden Erscheinungen, jene ange-bornen und vererbten Bewegungen, die mit mehr oder weniger stabilisirten Nervenfunctionen oder psychischen Vorg\u00e4ngen verbunden sind, wie die automatischen und reflectoiischen Bewegungen und wohl auch einfache Trieb- und Instincthandlungen, soweit sie jedem kindlichen /Individuum eigen, sonach typisch sind. Aber schon bei der Mehrzahl der Trieb- und Instincthandlungen tritt der wahrscheinlich bestimmende und ver\u00e4nderliche Charakter der hierbei mitwirkenden physischen Factoren derart hervor, dass die gegebenen Bewegungen zur Interpretation der Bewusstseinsvorg\u00e4nge, mit welchen sie verbunden sind, unzureichend erscheinen, und noch mehr ist dieses der Fall hei den nachahmenden und den anf\u00e4nglichen Ausdrucksbewegungen. Erst wenn das Kind absichtlich seine Ausdrucksbewegungen in die Form pantomimischer Bewegungen kleidet, offenbaren sich in den letzteren die Bewusstseinsvorg\u00e4nge und geben so eine gesichertere Grundlage zu psychologischen Schlussfolgerungen \u00fcber die Willensvorg\u00e4nge. \u2014 Sowohl Preyer wie Baldwin versuchen aber auch in Bezug auf die Willensvorg\u00e4nge ab ovo zu beginnen und kommen infolge der gemachten Voraussetzungen zu verschiedenen Constructionen des kindlichen Willens. Hierbei ist bemerkenswerth, dass beide den Willen aus physiologischen, logischen und psychologischen Bestand-theilen sich constituiren lassen, und zwar in der Weise, dass bei Baldwin mehr die physiologischen, hei Prey er mehr die logischen Elemente bestimmend hervortreten.\nBaldwin\u2019s Willenstheorie fu\u00dft auf dem seiner Entwicklungstheorie unterlegten Circularprocess und im letzten Grunde auf der","page":625},{"file":"p0626.txt","language":"de","ocr_de":"626\nHeinrich Eber.\n\u00bbmystischen Tendenz\u00ab der auf den Organismus einwirkenden Reize (S. 606, 607). Bei den aus der letzten Voraussetzung entwickelten Suggestionsstufen (vergl. Chapter VI) liegt die \u00bbTendenz\u00ab noch im Reiz, ebenso bei dem angenommenen einfachen Imitationsprocess (simple imitation). Wie entsteht aber nach Baldwin im Bewusstsein jene innere Tendenz, welche die Willensprocesse cbarakterisirt? Hier versagt auf einmal der construirte Mechanismus. Die k\u00fcnstlich aufgebaute Suggestionsstufenreihe vermag wohl eine im kindlichen Geiste entstehende Bewusstseinsmechanik und Willensphysik begreiflich erscheinen zu lassen, nicht aber diejenigen charakteristischen psychischen Processe, die wir eben Willensvorg\u00e4nge nennen. Baldwin empfindet, dass pl\u00f6tzlich ein \u00bbmerkw\u00fcrdiges\u00ab, \u00bblebhaftes\u00ab Element eingreifen m\u00fcsse, und dieses wird in der \u00bbdeliberative suggestion\u00ab gefunden. Da aber der 'deliberative suggestion\u2019 ') in der Suggestionsreihenfolge dieser intellectuelle Charakter fehlt, so wird ihr derselbe hier zugesprochen, und um diesen eigenartigen Vorfall zu erkl\u00e4ren, wird zu einem pathologischen Fall Zuflucht genommen1 2). \u00bbIt is a vivid, clear thing in consciousness, this deliberation, both as to the elements of representation and as to the motor tendencies which they represent. On the contrary, the child\u2019s mind, in \u2018deliberative suggestion\u2019, is analogous to the state of conflicting impulse, motor jerkiness, unreasonable caprice, seen also in certain pathological subjects, who are victims of aboulia in any of its forms etc.\u00ab Diese intellectuelle 'deliberative suggestion\u2019 wirkt in der der einfachen Imitation folgenden beharrenden Imitation3) (persistent imitation), und dadurch ist der Entwicklungsmechanismus \u00fcber einen todten Punkt hinweggebracht worden, und der Wille ist in der \u00bbpersistent imitation\u00ab entwickelt.\nAuch von Prey er werden physiologische Elemente in die psychischen Componenten des Willens hineingetragen (vergl. Die Seele des Kindes, S. 129, 130, 217, 218); als ausschlaggebender Factor\n1)\tMental Developm. S. 127 ff. \u00bbBy 'deliberative suggestion I mean a state of mind in which co-ordinate sense-stimuli meet, confront, oppose, further, one another. Yet I do not mean \u2018deliberation in the full-blown volitional sense, but suggestion that appears deliberative etc.\u00ab\n2)\tMental Development, S. 372 ff.\n3)\tEbendas. S. 375 ff.","page":626},{"file":"p0627.txt","language":"de","ocr_de":"627\nZur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten.\nerscheint aber bei ihm der logische Process (vergl. S. 124. Die 4 Merkmale des Willens etc.), dem der Wille als eine seelische Kraft entsteigt, welcher dann auch ein besonderer physiologischer1) Apparat zugeschrieben wird: \u00bbDer Willensapparat in der Gro\u00dfhirnrinde ist von einer solchen Beschaffenheit, dass, wenn er th\u00e4tig ist, irgend eine Muskelreaction erfolgt, wenn er nicht th\u00e4tig ist, entweder nichts geschieht, weil es an Vorstellungen fehlt, oder nichts geschehen kann, weil der Apparat durch andere Vorstellungen zum Stillstand gebracht worden\u00ab.(!) (Pr. S. 126.)\nDiese Constructionen des kindlichen Willens erregen schon von vornherein das Bedenken, dass sie nach nichtpsychologischen Gesichtspunkten erfolgen. Au\u00dferdem m\u00fcssen sie in diejenige Zeit des Kindesalters verlegt werden, in welcher eine exacte Controlle bis jetzt nicht m\u00f6glich erscheint, und endlich hat man es unterlassen, den Weg zu beschreiten, der, wie wir glauben, zur psychologischen Erforschung der Anfangsprocesse im kindlichen Bewusstsein der sicherste ist: die Deutung in regressiver Form. Dadurch erst,\n1) Um die impulsiven, refleetorischen, instinctiven und vorgestellten Bewegungen zu erl\u00e4utern, legt ferner Preyer ein Schema zu Grunde, in welchem au\u00dfer den niederen sensorischen Centren (Sehh\u00fcgel, Vierh\u00fcgel, Stabkranz etc.) und den niederen motorischen Centren auch h\u00f6here sensorische oder Gef\u00fchls centren (Tastcentren?) in der Gro\u00dfhirnrinde, Vorstellungscentren in der Gro\u00dfhirnrinde und h\u00f6here motorische oder Willens centren (centromotorisch und hemmend) angenommen werden. Auch Baldwin vermuthet eigene Gef\u00fchlscentren, und Flechsig nimmt eine Reihe von Associationscentren an (Gehirn und Seele, II. Aufl. S. 24 ff.). Die Annahme von Gef\u00fchls-, Vorstellungs-, Associations- und Willenscentren l\u00e4sst sich jedoch nach ihrer psychologischen Seite nicht begr\u00fcnden. Dass sich Empfinden und F\u00fchlen in der psychologischen Analyse in der Regel nur als zwei Seiten eines elementaren psychischen Vorganges darstellen, dass an den sehr zusammengesetzten psychischen Processen, die wir Vorstellungen und Associationen nennen, neben den Empfindungen auch Gef\u00fchls-processe betheiligt sind, dass sich die Willensprocesse selber, welche in der unmittelbaren Erfahrung als einheitliche Vorg\u00e4nge gegeben sind, in der psychologischen Analyse als Resultanten jener zusammengesetzten Gef\u00fchlsprocesse, verbunden mit einem typischen Vorstellungsverlaufe, darstellen, dass \u00fcberhaupt jeder momentan gegebene psychische Process ein einheitlicher Vorgang ist, in welchem erst auf dem Wege der psychologischen Analyse und Abstraction die bewirkenden Factoren erkannt werden k\u00f6nnen: das alles spricht eher gegen als f\u00fcr die Annahme eigener Gef\u00fchls-, Vorstellungs-, Associations- und Willens-\u00bbcentren\u00ab, wenigstens in dem von den genannten Autoren angenommenen, an die Phrenologie erinnernden Sinne.","page":627},{"file":"p0628.txt","language":"de","ocr_de":"628\tHeinrich Eber. Zur Kritik der Kinderpsychologie etc.\ndass man die Anfangsprocesse im kindlichen Bewusstsein in regressiver Deutung zu begreifen sucht, wird das Moment.in die richtige Beleuchtung ger\u00fcckt, das in den kindlichen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen dominirend hervortritt: das Vorherrschen dier Gef\u00fchlspro-cesse.\nWir begegnen ihm in jeder kindlichen Vorstellung, in dem kindlichen Denken in Ankl\u00e4ngen, in den Affecten, Ausdrucksbewegungen, Handlungen. Und wenn wir beobachten, dass sich im kindlichen Geiste ein erregendes Gef\u00fchl sehr rasch zu Affect und Handlung steigert: so liegt darin der sicherste Hinweis, dass in den Gef\u00fchlen und Affecten diejenigen Componenten zu suchen sind, welche zur Entwicklung des Willens das meiste beitragen.\nDruck von Breitkopf & H\u00e4rtel in Leipzig.","page":628}],"identifier":"lit4253","issued":"1896","language":"de","pages":"587-628","startpages":"587","title":"Zur Kritik der Kinderpsychologie, mit R\u00fccksicht auf neuere Arbeiten","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:37:18.146688+00:00"}