Open Access
{"created":"2022-01-31T14:17:18.911281+00:00","id":"lit4260","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Arrer, Maximilian","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 13: 222-304","fulltext":[{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Bedeutung der Convergenz- und Accommodations-bewegungen f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung.\nVon\nMaximilian Arrer.\n(Schluss.)\nCapitel II.\nVersuch einer Erkl\u00e4rung der mitgetheilten monocularen und bin-ocularen Versuche \u00fcber das Wahrnehmen von Tiefenunterschiedeil.\na. Vollst\u00e4ndige Beschreibung der Versuche.\n\u00a7 23. Bevor ich zur eigentlichen Aufgabe dieses Capitels \u00fcbergehe, ist es nothwendig, noch eine Reihe von Mittheilungen sowohl \u00fcber die ausgef\u00fchrten monocularen als auch binocularen Experimente zu machen, ohne die mir eine Erkl\u00e4rung ihrer Ergebnisse unm\u00f6glich scheint. Was ich mittheilen will, sind nicht objective, in Zahlen ausgedr\u00fcckte und in Tabellen niedergelegte Resultate, sondern verschiedene Aussagen der einzelnen Beobachter aus ihrer inneren Wahrnehmung dar\u00fcber, wie sie sich bei diesen Versuchen verhielten, wie sie ihre Urtheile ahgaben, kurz, es ist das, was ich hier zun\u00e4chst geben will, eine m\u00f6glichst vollst\u00e4ndige Beschreibung dieser Versuche. Wenn ich das hier unternehme und ein ganz besonderes Gewicht darauf lege, so glaube ich nur im Sinne der Aufgabe der experimentellen Psychologie zu handeln, von der W undt einmal sagte, dass sie ihre Aufgabe gethan habe, \u00bbwenn sie eine exacte Beschreibung der s\u00e4mmtlichen Erscheinungen ihres Gebietes\u00ab geleistet hat,","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 223\nund dass diese Beschreibung \u00bbdas einzige Ziel der experimentellen psychologie\u00ab1) als experimenteller Psychologie sei.\nDie gesammelten Aussagen aus der inneren Wahrnehmung gaben mir die Herren Beobachter meistens auf die ganz allgemeine Frage: \u00bbWas k\u00f6nnen Sie mir mittheilen \u00fcber Ihr Verhalten bei diesen Versuchen, und wie bilden Sie Ihre Urtheile ? \u00ab Und wo ich mich veranlasst glaubte eine bestimmtere Frage an den Beobachter zu richten, glaube ich das mit gen\u00fcgender Vorsicht und immer erst nach gewissen objectiven Kennzeichen gethan zu haben, so dass ich wohl annehmen darf, niemals meinen Beobachter irgendwie f\u00fcr den objectiven Gang der Versuche ung\u00fcnstig beeinflusst zu haben.\n\u00a7 24. Ich beginne die Reihe der Mittheilungen mit einigen Aussagen des Herrn Dr. Thi\u00e9ry, die sich auf die binocularen Versuche beziehen. Worauf dieser Beobachter seine ersten Tiefenurtheile, als er an diese Versuche herantrat, gr\u00fcndete, war f\u00fcr ihn selbst schwer zu erkennen: \u00bbDeutlichkeit und Dicke des Fadens\u00ab; \u00bbUrsache nicht angebbar, aber die Sicherheit des Urtheils durch sinnliche Evidenz des Eindrucks verb\u00fcrgt\u00ab; das war alles, was Herr Thi\u00e9ry zu Anfang dieser Versuche zu sagen wusste, und manchmal alle diese drei Aussagen auf einmal, und dazu jede mit einem \u00bbvielleicht\u00ab begleitet. Die objectiv gewonnenen Resultate dieser ersten Versuche waren unbrauchbar. Doch dauerte dieses Tasten nicht lange. Schon nach einigen Tagen merkte ich, dass sich die Urtheile verbesserten; dies veranlasste mich, wieder den Beobachter zu fragen. Ich erhielt folgende interessante Antwort : In der Zeit, w\u00e4hrend welcher ihm die Normaldistanz gegeben sei, bem\u00fche er sich, vor allem sich eine Vorstellung von der Entfernung des Fadens zu bilden, nebenbei merke er auch auf die Dicke und Deutlichkeit desselben. Auf die Frage wie er sich eine Vorstellung von der Entfernung des Fadens bilde, bekam ich zu h\u00f6ren, dass der Faden zwischen dem lichtgrauen Hintergr\u00fcnde und dem Blickrohr so zu sagen in der Luft schwebe, sei f\u00fcr das Doppelauge sofort ersichtlich. Auch sei die Entfernung des Fadens eine bestimmte, wenn auch schwer in einem bestimmten\n1) Wundt, Philoa. Stud. Bd. I. S. 2f., auch Bd. IV. S. 306f.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nMaximilian Arrer.\nMa\u00dfe ausdr\u00fcckbare. Wie oft Beobachter in das Blickrohr auch hineinblicken mochte, wenn der Faden seinen Ort nicht ver\u00e4ndert hatte, so erkannte er die bestimmte Entfernung immer wieder. Diese Entfernung musste er in der Vorstellung behalten, wenn er mit dem Gef\u00fchle objectiver Sicherheit ein Urtheil \u00fcber die Vergleichsdistanz haben sollte. Um aber die Entfernung leichter zu behalten, verfuhr er so : die Breite des Blickrohres und die \u00e4u\u00dfersten Enden desselben waren sichtbar, auch dass der Faden zwischen ihnen und dem hellgrauen Hintergr\u00fcnde schwebte; nun construirte er sich in der Phantasie ein Dreieck, dessen Basis an seinen Augen lag, dessen Seiten die sichtbaren Enden des Tubus tangirten und durch dessen Spitze der herabh\u00e4ngende Faden ging. Diese Vorstellung war es jetzt, die Herr Thi\u00e9ry in der Pause w\u00e4hrend der Verr\u00fcckung des Fadens im Ged\u00e4chtniss festzuhalten suchte. Wurde dann die Vergleichsdistanz gezeigt, so trat im allgemeinen zweierlei ein: entweder erkannte der Beobachter sofort die ver\u00e4nderte Lage des zweiten Fadens, oder er gab sein Urtheil erst nach einiger Zeit ab, wobei er um so unsicherer wurde, je l\u00e4nger er damit z\u00f6gerte.\nAlles was hier f\u00fcr Herrn Thi\u00e9r y gesagt wurde, wiederholte sich auch bei noch vier anderen Beobachtern, nur mit der geringen Ausnahme, dass die verschiedenen Beobachter f\u00fcr die Entfernungsvorstellung, in der sie die Hormaldistanz im Ged\u00e4chtniss zu behalten suchten, in verschiedener Weise eine besthnmte, ihnen bequemste Form suchten. Herr Prof. K\u00fclpe verlegte die Basis des Dreieckes meistens auf den grauen Hintergrund und lie\u00df die Gr\u00f6\u00dfe derselben durch die sichtbaren Grenzen jenes bestimmt sein. Wie Herr Thi\u00e9r y verfuhren auch die Herren Dr. Spitzer und Fruit. Herr Tawney verfuhr in einer zweifachen Weise: f\u00fcr die ferneren Distanzen dachte er sich die Seitenw\u00e4nde des viereckigen Blickrohres bis zum Faden verl\u00e4ngert, und sah so ein Rechteck; f\u00fcr die n\u00e4heren Distanzen verfuhr er wie die \u00fcbrigen Beobachter, indem er sich ein Dreieck, mit der Basis an den Augen gelegen, con-struirt dachte.\nBei ferneren Distanzen war es den Beobachtern in der Regel schwer, sich solche Entfernungsvorstellungen mit gen\u00fcgender Anschaulichkeit zu bilden, und sie nahmen deshalb mehr als sonst die Deutlichkeit und scheinbare Dicke des Fadens zu H\u00fclfe. Herr Thi\u00e9ry,","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Jeb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 225\nder in der Ausf\u00fchrung willk\u00fcrlicher Augen- und Accommodations-bewegungen sehr ge\u00fcbt war, versuchte nicht selten bei diesen gr\u00f6\u00dferen Entfernungen durch willk\u00fcrliche Erzeugung von Doppelbildern zu sch\u00e4tzen. Dies kostet auf Seiten der Augenhewegungen immer eine empfindbare Anstrengung. Herr Thi\u00e9ry suchte diese Anstrengung auch f\u00fcr den Vergleichsfaden zu erreichen, um zu sehen, um wieviel jetzt die Doppelbilder auseinander traten. Doch fand er schon sub-jectiv, dass dieses Verfahren ein sehr unzuverl\u00e4ssiges ist. Mehr schien ihm das Auf merken auf die Ver\u00e4nderungen der Deutlichkeit des Fadens bei diesen Distanzen gen\u00fctzt zu haben, besonders glaubte er das Undeutlichwerden des Fadens schneller zu erkennen, als umgekehrt, Doch waren alle diese H\u00fclfskriterien in ihrer Bestimmtheit sehr unsicher.\nDiese H\u00fclfskriterien, besonders die Deutlichkeit des Fadens und dessen scheinbare Dicke, kommen aber immerhin auch dort in Betracht, wo es dem Beobachter ein leichtes war, sich eine Entfernungsvorstellung in der oben geschilderten Weise zu bilden. Von domi-nirendem Einfl\u00fcsse waren sie immer dann, wenn der Beobachter nicht sogleich nach dem Aufdecken der Vergleichsdistanz sein Urtheil abgab, sondern l\u00e4ngere Zeit damit z\u00f6gerte. In allen diesen F\u00e4llen hat aber der Beobachter immer das Gef\u00fchl gro\u00dfer Unsicherheit. Denn jene Kriterien waren nur selten objectiv bedingt, au\u00dfer beim Helligkeitswechsel, ihre Ursache muss daher fast ausschlie\u00dflich in inneren Accommodationsschwankungen und meistens rein subjectiven Ver\u00e4nderungen, solchen der Auffassung gesucht werden. Interessant ist es ferner, dass, wenn sich diese Kriterien wahrscheinlich infolge erw\u00e4hnter Schwankungen stark bemerkbar machten, sie auf die relative Entfernungssch\u00e4tzung doch ohne Einfluss blieben, wenn das Urtheil sofort beim Erblicken der Vergleichsdistanz abgegeben wurde. Nicht selten kam es vor, dass z. B. Herr K\u00fclpe in dieser Weise sein Urtheil abgah, und dann gleich beif\u00fcgte, dass es sich mit der scheinbaren Dicke oder Deutlichkeit des Fadens in Widerspruch befinde, nichts destoweniger aber f\u00fcr ihn sicher stehe. Aehnliches wiederholte sich auch bei den anderen Beobachtern.\nDurch einige \u00f6fters wiederholte Bemerkungen des Herrn Dr. Th i\u00e9ry, die mir dann auch Herr Prof. K\u00fclpe machte, erkannte ich, wie die Helligkeit \u00fcberhaupt bei diesen Versuchen einen ganz","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nMaximilian Arrer.\nbesonderen Einfluss aus\u00fcbt. Es kam \u00f6fters vor, dass diesen Beob-achtem innerhalb einer und derselben Versuchsreihe, d. h. bei gleich gro\u00dfer Normaldistanz, diese selbst nicht nur in verschiedenen Einzel-versuchen, sondern auch innerhalb einer und derselben Fixation bald gr\u00f6\u00dfer, bald kleiner erschien. Weshalb Herr Thi\u00e9ry die absolute Entfernung des Fadens unter- oder \u00fcbersch\u00e4tzte, war mir nicht immer m\u00f6glich zu eruiren, in den meisten F\u00e4llen geschah dies aber dann wenn eine Ver\u00e4nderung in der Beleuchtung ein trat, bedingt durch elementare Vorg\u00e4nge am Himmel: ward es heller und merkte der Beobachter nicht darauf, so schien ihm die Entfernung pl\u00f6tzlich eine geringere zu sein, umgekehrt, wenn es dunkler ward. Nur selten war der Einfluss ein entgegengesetzter. Untersch\u00e4tzte Herr Thi\u00e9ry die absolute Entfernung im Vergleich zu gew\u00f6hnlich, so f\u00fchlte er sich im Sch\u00e4tzen der relativen Entfernungsverschiebungen sicherer, die Urtheile waren reiner; umgekehrt, wenn er die absolute Entfernung \u00fcbersch\u00e4tzte. Dagegen blieb die Unterschiedswelle fast dieselbe oder wurde nur um ein geringes kleiner oder gr\u00f6\u00dfer.\nAus den bisherigen Mittheilungen geht zweierlei hervor: einmal, dass die relative Entfernungssch\u00e4tzung nicht ohne eine solche \u00fcber die absolute Entfernung stattfand, und jede Schwankung in dieser von Einfluss war auf jene; zweitens aber, dass bei der relativen Tiefensch\u00e4tzung der Einfluss der Vorstellung, die der Beobachter von der absoluten Tiefendistanz hatte, im Kampfe mit bekannten und wohlbemerkten empirischen Momenten oft ein \u00fcber die letzteren siegreicher war. Daraus ergibt sich zun\u00e4chst die Nothwendigkeit einer Beleuchtung des Einflusses der absoluten Tiefensch\u00e4tzung in unserem Falle, und es erhebt sich zweitens die Frage, was diese Tiefenvorstellung f\u00fcr die Sch\u00e4tzung der relativen Entfernungsunterschiede bedeutet, d. h. wie diese mittelst jener m\u00f6glich sind.\nb. Die Bestimmtheit der absoluten Tiefenlocalisation.\n\u00a7 25. Es ist zun\u00e4chst leicht einzusehen, dass es f\u00fcr unseren Fall einerlei ist, ob die absolute Entfernung, wie Wundt fand, untersch\u00e4tzt wird1), oder ob sie, wie Helmholtz in einem anderen Ex-\n1) Wundt, Beitr\u00e4ge, S. 193.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aceommodationsbevv. f. d. Tiefenwahrnehmung. 227\nperimente fand, \u00fcbersch\u00e4tzt wird1), oder endlich, ob sie, wie Don der s glaubt gefunden zu haben, richtig erkannt wird2). In keiner Weise haben diese Befunde \u00fcber Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Localisation des Blickpunktes f\u00fcr die relative Sch\u00e4tzung von Entfernungsunterschieden eine Bedeutung. Worauf es hier allein ankommt, ist die Frage: ist die Entfernungsvorstellung des Blickpunktes eine bestimmte oder nicht, d. h. wird die Entfemungsvorstellung immer dieselbe sein, wenn der Faden immer dieselbe absolute Entfernung beibeh\u00e4lt (und nat\u00fcrlich alle \u00fcbrigen Bedingungen dieselben sind), oder wird sie von Fall zu Fall eine andere sein? Die Versuche der genannten Forscher \u00fcber Localisation des Blickpunktes sind nicht miteinander vergleichbar. Wundt forderte von seinem Beobachter, dass dieser die absolute Entfernung der Fadens in Meterma\u00df angebe, und fand dabei, dass die Entfernung regelm\u00e4\u00dfig untersch\u00e4tzt wird, wobei diese Untersch\u00e4tzung in keinerlei Verh\u00e4ltniss zur absoluten Entfernung stehen soll. Ein Schluss \u00fcber die Localisation des Blickpunktes d\u00fcrfte daraus nicht erlaubt sein, denn es ist ein anderes, bestimmt zu localisiren, und wieder ein anderes, ein Urtheil \u00fcber eine Entfernung in einem bestimmten L\u00e4ngenma\u00dfe zu haben3). In anderen Versuchen lie\u00df Wundt eine Nadel in den idealen Blickpunkt bringen, und berichtet dar\u00fcber nur, dass sie immer in Doppelbildern erschien, die Localisation also eine unrichtige war. Ein etwas vollkommeneres Experiment als dieses f\u00fchrte Helmholtz aus. In die Medianebene des Gesichtsfeldes brachte er ein Blatt steifen Papiers, das seinem rechten Auge alles verdeckte, was links von ihm war, und seinem linken alles, was sich rechts befand, nur einen in der Medianebene vertical herabh\u00e4ngenden Faden fixirte er mit beiden Augen. Brachte er dann von rechts einen Bleistift herbei, um den Faden zu treffen, so ging der Bleistift immer hinter dem Faden vor\u00fcber. Wechselte er mit geschlossenen Augen seinen Platz und suchte,\n1)\tHelmholtz, Handbuch der Physiolog. Optik, 1. Aufl. S. 650, 2. Aufl. S. 796.\n2)\tDonders, \u00bbDas binoculare Sehen und die Vorstellung von der dritten Dimension\u00ab in Graefe\u2019s Archiv f. Ophthalmologie, Bd. XIII. 1, S. 22.\n3)\tUeberhorst, Ueber das Entstehen der Raumwahrnehmung, S. 79. Ich \u00abtire U eberhorst nur in Bezug auf den letztausgesprochenen Satz, seine sonstigen Ausf\u00fchrungen \u00fcber diesen Punkt sind bedeutungslos.\nWandt, Philos. Stadien XIII.\n16","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nMaximilian Arrer.\nnachdem er sie wieder \u00f6ffnete, schnell den Faden mit dem Bleistift zu treffen, so war der Fehler ein geringerer, er wurde wieder gr\u00f6\u00dfer bei andauernder Fixation. Helmholtz f\u00fcgt erkl\u00e4rend hinzu \u00bbwohl wegen der steigenden Erm\u00fcdung der inneren Augenmuskeln\u00ab i). Hering machte darauf aufmerksam, dass auch dieser Versuch wenig geeignet ist, einen Aufschluss \u00fcber die Richtigkeit der Localisation des Blickpunktes zu gehen, sondern nur \u00fcber \u00bbden Grad der Harmonie zwischen der optischen Localisirung des fixirten Punktes und der tactischen Localisirung des Fingers\u00ab1 2). Sollte Hering hier f\u00fcr die geringsten hei kurz andauernder Fixation sich ergebenden Fehler Recht haben so k\u00f6nnte die Helmholtz\u2019sehe Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Fehler hei l\u00e4ngerer Fixation doch als zutreffend erscheinen. Doch scheint sie nicht ganz klar zu sein. Die Erkl\u00e4rung sagt: die gr\u00f6\u00dferen Fehler werden durch die Erm\u00fcdung der muse, recti interni bedingt ; das kann zweierlei bedeuten : entweder erfordert die Erm\u00fcdung der Muskeln eine st\u00e4rkere Innervation zum Festhalten der Sehachsen in ihrer bestimmten Lage, und dann entspricht der Theorie zufolge dieser gr\u00f6\u00dferen Anstrengung eine Untersch\u00e4tzung der Entfernung; wie kommt es dann, dass sie durch die tactische Localisation \u00fcbersch\u00e4tzt wird? Ist es etwa die Meinung, dass man sich dieser Untersch\u00e4tzung durch das Auge bewusst wird, und dass sie, indem man sie mit dem Finger corrigiren will, nun durch diesen \u00fcbersch\u00e4tzt wird, so w\u00e4re das kaum eine Erkl\u00e4rung, da nicht einzusehen ist, weshalb ein einmal erkannter Irrthum, statt ausgeglichen, durch einen anderen ersetzt werden soll; und ferner schlie\u00dft diese Erkl\u00e4rung erst recht den Hering\u2019schen Einwand in sich. Sie k\u00f6nnte aber auch auf einer anderen Beobachtung beruhen, die, wenn sie auch als Erkl\u00e4rung vielleicht nicht gen\u00fcgen sollte, doch schon f\u00fcr sich interessant ist. Ich bemerkte bei meinen Versuchen, dass, wenn der Faden sehr nahe war, etwa 20 oder 15 cm, und es dem Beobachter M\u00fche kostete seine Blicklinien auf ihn gerichtet festzuhalten, sich damit der Drang verband, die Convergenz \u00f6fters abzuspannen und wieder einzustellen, und, wie auch Herr Thi\u00e9ry und Herr Tawney mittheilten, es ihnen leichter\n1)\tA. a. O. S. 650, 2. Aufl. S. 796.\n2)\tHering, \u00bbDer iiaunisinn und die Bewegungen des Auges\u00ab in Hermann\u2019s Handbuch der Physiologie Bd. III. 1, S. 415.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 229\nschien, die relativen Tiefenunterschiede hier zu sch\u00e4tzen, wenn sie sich den Faden etwas ferner vorstellten. Es ist das, einfach gesprochen, das Abwehren von Etwas, was einem zu nahe an den Leib r\u00fcckt. Ich wei\u00df nicht, ob ich durch diese Aussagen beeinflusst war und mich von ihnen nicht freimachen konnte, doch glaube ich sicher, dasselbe bemerkt zu haben, was mir jene Beobachter mittheilten. Man k\u00f6nnte auf Grund dieser Beobachtung die von Helmholtz beschriebene Uebersch\u00e4tzung der Entfernung als zun\u00e4chst durch Erm\u00fcdung bedingt und aus dem Streben nach Abspannung der Convergenz und dem beschriebenen psychischen Verhalten zu erkl\u00e4ren versucht sein.\n\u00a7 26. Wundt hob ausdr\u00fccklich hervor, dass die absolute Tiefensch\u00e4tzung nicht nur eine unrichtige, sondern dass sie auch eine unbestimmte sei. Dasselbe ergibt sich auch aus Helmholtz\u2019 Versuchen. Demgegen\u00fcber behauptet Donders, dass uns das Bewusstsein von der Convergenz eine Kenntniss der absoluten Entfernung verschaffe, d. h. \u00bbdass man sich die Entfernung des Convergenz-punktes richtig vorstellt\u00ab *). Als Beweis daf\u00fcr f\u00fchrt Donders zuerst das bekannte Experiment mit dem Tapetenmuster an. Dieser Versuch beweist aber nichts anderes, als dass das Bild der Tapete mit ver\u00e4nderter Convergenz uns bald n\u00e4her, bald weiter erscheint. Und aus den am Stereoskop angestellten Experimenten von Meyer, denen die Ansicht von Donders zu Grunde lag, war eine Best\u00e4tigung f\u00fcr diese durchaus nicht zu entnehmen, da ihm jedes Genauigkeitsma\u00df dar\u00fcber fehlte, um wieviel er bei Convergenz oder Divergenz das Tapetenmuster n\u00e4her oder weiter sch\u00e4tzte. Die ganz ungef\u00e4hre subjective Sch\u00e4tzung gen\u00fcgt hier nicht.\nUm aber seine Ansicht vollends zu best\u00e4tigen, theilt Donders noch ein besonderes, von ihm angestelltes Experiment mit. Es ist folgendes: durch passendes Convergiren der Sehachsen vereinigt er zwei gleich weit entfernte Kerzen zu einem Bilde. Bringt man jetzt schnell ein St\u00e4bchen an das mittlere Kerzenbild heran, so erscheint es einfach, Beweis genug, so meint Donders, dass die Entfernung des Convergenzpunktes richtig gesch\u00e4tzt wurde. Doch gelingt das\n1) Donders, a. a. O. S. 21 f.\n16*","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nMaximilian Arrer.\nExperiment nicht gleich von Anfang an in dieser Weise. Don der s schreibt selbst: \u00bbWohl braucht man einige Zeit, um v\u00f6llig von allem dem zu abstrahiren, was die Vorstellung von einer gr\u00f6\u00dferen Entfernung erregen k\u00f6nnte; hei den ersten Versuchen versetzt man das St\u00e4bchen daher gew\u00f6hnlich noch in zu gro\u00dfe Ferne, und sieht es in gleichnamigen Doppelbildern. Schlie\u00dflich aber wird die Vorstellung \u2014 bei mir wenigstens \u2014 vollkommen genau, und was noch mehr sagen will, ich f\u00fchle dann, dass sie genau ist, ich wei\u00df, dass sie v\u00f6llig der Convergenz gehorcht\u00ab1). In diesen kurzen Ausf\u00fchrungen von Donders sind zwei Momente enthalten, die die Schlussfolgerungen ihres Autors nicht zulassen, und endlich enthalten sie noch eine Schwierigkeit psychologischer Natur.\nDadurch, dass es einiger Zeit bedurfte, um von allem dem zu abstrahiren, was die Vorstellung von einer gr\u00f6\u00dferen Entfernung her-vorrufen konnte, ist zugestanden, dass nicht nur andere Motive zur Ausbildung verschiedener Entfernungsvorstellungen vorhanden waren, sondern dass \u00fcberhaupt mehrere solche Raumvorstellungen miteinander concurrirten, also es sich nur um eine relative Entfernungssch\u00e4tzung handeln konnte. Dies ist das erste Moment, weshalb Donders\u2019Experiment von vornherein verfehlt ist. Ferner, Donders lernt nach eigner Beschreibung erst allm\u00e4hlich die Entfernung des Convergenz-punktes richtig sch\u00e4tzen, nachdem er sie vorher einige Male consequent \u00fcbersch\u00e4tzt hat: Donders hat also die absolute Entfernung \u00fcbersch\u00e4tzt. Endlich ist es nach allem dem, was Donders hier\u00fcber ausf\u00fchrt, psychologisch schwer verst\u00e4ndlich, wenn er behauptet, er \u00bbf\u00fchle\u00ab, dass die Entfernungsbeurtheilung genau sei und mit der Convergenz \u00fcbereinstimme. Ist das \u00bbGef\u00fchl\u00ab der Convergenz, welches irgend einer vorgestellten Entfernung entspricht, so bestimmt und deutlich, dass es sogar das Gef\u00fchl der Sicherheit und Genauigkeit in der Tiefensch\u00e4tzung in sich tr\u00e4gt, so bleibt es einigerma\u00dfen unbegreiflich, dass es erst dann zur vollen Wirksamkeit f\u00fcr unsere Tiefenerkenntniss gelangt, wenn von anderen, nach sonstiger Erfahrung unterst\u00fctzenden Motiven des Tiefensehens abstrahirt wird. Und muss es am Ende nicht h\u00f6chst unzweckm\u00e4\u00dfig erscheinen, dass ein Motiv der sinnlichen Wahrnehmung, das \u00fcberdies sogar ihre Evidenz\n1) Donders, a. a. O. S. 22.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergera- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefeuwahruehmung. 231\nin sich birgt, von anderen Motiven, die immer gegenw\u00e4rtig sind und gegenw\u00e4rtig waren, so leicht \u00fcbert\u00f6nt werden kann?\nUeber das, was uns am meisten interessirt, die Bestimmtheit der Localisation des Blickpunktes, ist demnach aus den Versuchen von Donders nichts zu entnehmen. Indessen hat derselbe Forscher noch weitere Versuche mitgetheilt, aus denen einiges hier\u00fcber entnommen werden kann. Donders lie\u00df einen leuchtenden Punkt, bestehend aus einer Beihe rasch nacheinander folgender Inductions-funken, in einem Kasten fixiren, und mit dem Zeigefinger, der mit Kautschuk bekleidet war, treffen. Der Kopf des Beobachters war gest\u00fctzt, und keine anderen Factoren als die Convergenz und die Accommodation kamen in Betracht. Innerhalb des Bereiches einer Hand betrug die Abweichung durchschnittlich nur 1 cm'). Donders hat drei Keihen von Versuchen angestellt; in einer ersten befand sich der Beobachter in einem vollkommen dunklen Kasten, er fixirte einige Secunden den leuchtenden Punkt und suchte ihn dann mit dem Finger zu treffen. In dieser Weise ergab sich bei 31 Versuchen zwischen 110 und 610 mm Distanz ein mittlerer Fehler von 10,8mm; der Bereich des Fehlers liegt zwischen 0 und 35. In einer zweiten Versuchsreihe blieb der Kasten offen, alle Gegenst\u00e4nde waren sichtbar, der Beobachter \u00f6ffnete die Augen, fixirte die Elektroden und sch\u00e4tzte ihre Entfernung, schloss dann die Augen wieder und hatte nun den Punkt zwischen den Elektroden zu treffen. Innerhalb 80\u2014630 mm ergab sich f\u00fcr 21 Einzelversuche ein mittlerer Fehler von 10,7 mm; die Raumstrecke der Fehler lag zwischen 0\u201425 mm. Endlich wurde dieser Versuch im dunklen Kasten wiederholt; es ergab sich f\u00fcr die Entfernungen von 60\u2014610 mm aus neunzehn Einzelversuchen ein mittlerer Fehler von 12,9. Der Spielraum der Fehler bewegte sich zwischen 0 und 60.\nDonders schloss aus diesen Versuchen, besonders aus dem fast gleich gro\u00dfen mittleren Fehler bei dunklem und offenem Kasten, dass die Entfernungssch\u00e4tzung f\u00fcr zwei gute Augen fast ebenso vollkommen sei bei Ausschluss aller H\u00fclfsfactoren, wie dann, wenn letztere die Entfernungssch\u00e4tzung unterst\u00fctzen1 2). Donders h\u00e4tte\n1)\tDonders, \u00bbDie Projection der Gesichtseracheinungen nach den Richtungslinien\u00ab in Graefe\u2019s Archiv f\u00fcr Ophthalmologie, Bd. XVII. 2, S. 17, 55ff.\n2)\tA. a. O. S. 59.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nMaximilian Arrer.\naber vielleicht besser gethan, statt die zweite Reihe mit der ersten, die dritte mit der zweiten zu vergleichen, und sein Schluss w\u00fcrde dann wohl anders lauten.\nIm allgemeinen wird man das Resultat dieser Versuche nicht gerade als g\u00fcnstig f\u00fcr die Bestimmtheit der Localisation des Blickpunktes ansehen k\u00f6nnen. Indessen sind sie auch zu wenig zahlreich, 11m selbst das Resultat vollkommen sicherzustellen. Wenn sie das aber auch w\u00e4ren, so w\u00fcrden sie f\u00fcr die Bestimmtheit des Vorstellens der Entfernung des Fixationspunktes doch nichts beweisen, weil alle diese Versuche derselbe Einwand trifft, den Hering gegen den Helmholtz\u2019schen erhoben hat. So lange also nicht das G-egentheil bewiesen wird, darf ich, mich auf das Zeugniss der inneren Wahrnehmung st\u00fctzend, annehmen, dass die Entfernungsvorstellung eine von gleichen \u00e4u\u00dferen Bedingungen bestimmte und nicht von Fall zu Fall wechselnde ist. Man darf das f\u00fcr unseren speciellen Fall um so mehr annehmen, als der Beobachter wei\u00df, dass die Normaldistanz innerhalb einer Versuchsreihe unver\u00e4ndert bleibt. Dass aber dieses Wissen von der Gleichheit der Normaldistanz nicht allein schon die Bestimmtheit der Tiefenlocalisation des Fixationspunktes bedingt und alle Resultate von diesem subjectiven Factor abh\u00e4ngig sind, glaube ich aus einigen Versuchsreihen entnehmen zu d\u00fcrfen, in denen ich absichtlich die Normaldistanz \u00e4nderte, irfdern ich bald die Vergleichs-, bald die Normaldistanz zuerst zeigte, ohne es nat\u00fcrlich dem Beobachter zu sagen. Bald aber frug mich dieser, ob ich die Normaldistanz enthalte. Und auf meine Frage : \u00bbweshalb dieses Bedenken ? \u00ab erhielt ich die Antwort, dass ihm die als Normaldistanz fungirende Entfernung bald gr\u00f6\u00dfer, bald kleiner als gew\u00f6hnlich erscheine. Objectiv wurden dabei die Verschiebungen des Fadens ebenso richtig gesch\u00e4tzt wie beim Einhalten der immer gleich gro\u00dfen Normaldistanz. Wurde dagegen der Beobachter durch den Wechsel der Normaludistanz sbjectiv unsicher, so zeigte sich das alsbald auch in den objectiven Ergebnissen einer solchen Reihe.\nc. Die Theorie von Wundt und die Theorie von Hering.\n\u00a7 27. Nehmen wir hiernach an, dass die Entfernungsvorstellungen unter gleichen Bedingungen dieselben seien, so ist die n\u00e4chste Frage : was ist die subjective Ursache der bestimmten Tiefenlocalisation des","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Ucb. d. Redeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwalirnehmung. 233\nBlickpunktes in jedem einzelnen Falle in unseren Versuchen? Zwei Theorien stehen sich entgegen, deren vornehmste Vertreter heute Wundt und Hering sind. Wir lernten sie beide in der Einleitung in ihren Grundz\u00fcgen kennen. Die eine Theorie macht f\u00fcr die Tiefen-localisation kurz gesagt die Muskelempfindungen verantwortlich, die durch die Th\u00e4tigkeit der Augenmuskeln hervorgerufen werden. Die andere Theorie l\u00e4sst die Localisation des Blickpunktes bei Ausschluss der erfahrungsm\u00e4\u00dfigen Motive durch willk\u00fcrlich intendirte Bewegungen in erster Linie geschehen, wobei das Schwergewicht nicht auf die ausgef\u00fchrten Bewegungen, sondern auf die gewollten Bewegungen f\u00e4llt, oder, wie man sich kurz ausgedr\u00fcckt hat, auf den bewussten Willen \u2019).\n\u00a7 28. Sehen wir zun\u00e4chst zu, wie weit die zweite Ansicht den mitgetheilten Resultaten unserer Versuche gen\u00fcgen kann. Hering schreibt gelegentlich, und wie es scheint gerade mit R\u00fccksicht auf die Wundt\u2019sehen Versuche: \u00bbWenn wir in einen Raum blicken, der z. B. nichts enth\u00e4lt als einen verticalen Faden, und dessen Hintergrund der helle Himmel bildet, so werden dabei unsere Augen zun\u00e4chst entweder parallel gerichtet sein, oder, wenn wir von vorne-herein etwas in der N\u00e4he Befindliches vermuthen, eine von dieser Vorstellung der N\u00e4he abh\u00e4ngige Convergenz haben. Ersten Falles wird uns der Faden gekreuzte Doppelbilder geben, welche in uns ein\n1) Volkmann d\u00fcrfte der Erste gewesen sein, der diese Meinung mit voller Klarheit vertreten hat. Dazu veranlassten ihn nebst seinem Standpunkt der nati-vistischen Raumtheorie noch die Beobachtungen, dass sich ein Netzhautbild oder Nachbild oder endlich das ganze dunkle Gesichtsfeld bei geschlossenen Augen nur bei willk\u00fcrlicher Augenbewegung mitbewegt, nicht aber, wenn diese letzteren passiv, z. B. durch Fingerdruck, bewegt werden. Theoretisch fand das Volkmann vollkommen begreiflich und sah darin nur eine Best\u00e4tigung seiner theoretischen Ansichten. Denn er sagt: \u00bbGibt es Raumanschauungen a priori, so muss es auch Bewegungsanschauungen 'a priori geben\u00ab (M\u00fcller\u2019s Archiv f. Anatomie und Physiologie 1839, S. 233 ff.). Dieselben Ansichten sind nat\u00fcrlich auch in seinem Aufsatze \u00fcber das Sehen in R. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch der Physiologie, Bd. III. 1, S. 343ff., vertreten. So war es denn bei ihm die Vorstellung, die den Blickpunkt erst in den Convergenzpunkt versetzt, ein Satz, der besonders von Donders aufgenommen wurde (Archiv f. Ophthalmologie, Bd. XVII. S. 11). Doch hielten beide Forscher noch an den Muskelempfindungen fest, und es ist erst Hering, der sie in ihrer Bedeutung f\u00fcr das Tiefensehen verwarf. (Beitr\u00e4ge I. S. 31, II. S. 141, V. S. 344ff., ferner Archiv f. Ophthalmologie XIV. S. 5, und in Hermann\u2019s Handbuch der Physiologie HI. I, S. 534 ff.)","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nMaximilian Arrer.\nNakegefiihl erwecken. Dementsprechend wird das motorische Centrum der Convergenzbewegungen innervirt, die Augen beginnen zu convergiren, und diese Bewegung dauert so lange fort, als noch ein gekreuztes Doppelbild besteht, also auch das Nahegef\u00fchl noch ausgel\u00f6st wird. Wenn dann schlie\u00dflich die Fadenbilder auf die mittleren L\u00e4ngsschnitte fallen und zugleich die Augen zum Stehen kommen, so wird der Faden selbstverst\u00e4ndlich n\u00e4her gesehen werden, als er gesehen worden w\u00e4re, wenn er schon beim ersten Blick identische Bilder gegeben h\u00e4tte\u00ab.\n\u00bbSind wir aber an den Versuch schon mit dem Vorurtheil gegangen, es befinde sich ein Object in der N\u00e4he, so wird diese Vorstellung der N\u00e4he die Augen schon zuvor in eine gewisse Conver-genz gebracht haben, und je nachdem nun diese zuf\u00e4llig der wirklichen Ferne des Fadens entspricht, oder aber, wie meistens der Fall sein wird, zu gro\u00df oder zu klein ist, wird der Faden ein ungekreuztes oder gekreuztes Doppelbild gehen, und mit H\u00fclfe des durch dasselbe enveckten Tiefengef\u00fchles die ungef\u00e4hre Vorstellung, die wir von vorneherein von der Lage des Objectes hatten, in dem oder jenem Sinne corrigirt werden\u00ab *}.\nIn diesen Auseinandersetzungen w\u00e4re, wenn man die Voraussetzungen der Theorie anerkennt, die Erkl\u00e4rung f\u00fcr unsere Versuche gegeben, und man wird kaum umhin k\u00f6nnen zuzugestehen, dass vom Standpunkte dieser Theorie aus der Vorgang in der geschilderten Weise wohl denkbar ist. Zun\u00e4chst ist es das von Hansen Grut sogen. \u00bbNahebewusstsein\u00ab1 2), was die Entfernungsvorstellung bestimmt, und sodann das Netzhautbild als Mittel zur relativen Entfernungssch\u00e4tzung. Sollte aber der Beobachter von allem dem nichts bemerken ? Die Aussagen aus der inneren Wahrnehmung meiner Beobachter enthalten nichts dergleichen ; ohne aber diese zu ber\u00fccksichtigen, d\u00fcrfte in der Psychologie eine Erkl\u00e4rung irgend eines Vorganges nicht zul\u00e4ssig sein.\nEs erhebt sich ferner ganz allgemein ein Einwand gegen diese Theorie, dem gegen\u00fcber sie um eine Antwort verlegen sein d\u00fcrfte,\n1)\tHering, Beitr\u00e4ge V. S. 343 f.\n2)\tCompte-Rendu des travaux de la Section d\u2019ophthalmologie du Congr\u00e8s international, Copenhague 1884. S. 153.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung- 235\nn\u00e4mlich: wodurch ist die EntfernungsVorstellung, die die Sehachsen zur Convergenz bringt, von allem Anfang her bedingt ? Es ist leicht einzusehen, dass das sogen. Nahebewusstsein nicht nur ein hoch entwickeltes Raumbewusstsein voraussetzt, sondern auch im allgemeinen eine Kenntniss der Oertlichkeit, in der man sich befindet1). Wo diese beiden Bedingungen nicht zutreffen \u2014 und man braucht da nicht weit in die Kindheit zur\u00fcckzugehen, der Fall ist durch k\u00fcnstliche H\u00fclfe, was die Ausscheidung der Ortskenntniss anlangt, auch bei Erwachsenen m\u00f6glich \u2014 so d\u00fcrfte man vergeblich nach der obigen Theorie fragen : durch was wird hier die absolute Entfernungsvorstellung und die durch sie hervorgerufene Convergenzeinstellung bedingt ? Man kann hier nicht antworten: durch erfahrungsm\u00e4\u00dfige Motive, die im schlimmsten Falle durch willk\u00fcrlich falsche Augenstellungen selbst hervorgerufen werden, denn ihre Interpretation setzt ja die Tiefenwahrnehmung bereits voraus.\n\u00a7 29. Die erste Theorie, die der Augenmuskelempfindungen, befindet sich diesen Schwierigkeiten gegen\u00fcber in keiner Verlegenheit. Ohne den wesentlichen Antheil des Netzhautbildes bei jeder Entfernungsvorstellung zu verkennen, nimmt sie noch Empfindungen der Augenmuskeln zu H\u00fclfe. Wenn aber Hering gerade aus Wundt\u2019s negativem Resultat \u00fcber die absolute Tiefenlocalisation den Beweis entnimmt, dass die Augenmuskelempfindungen hier nichts leisten2), so glaube ich dem gegen\u00fcber heute hervorheben zu k\u00f6nnen, dass Wundt bei der geringen Zahl seiner Versuche der wahre Sachverhalt entgangen ist, und man vielmehr annehmen muss, wie dies aus den Mittheilungen meiner s\u00e4mmtlichen Beobachter hervorgeht, dass eine irgendwie, je nach Umst\u00e4nden, beschaffene absolute Tiefensch\u00e4tzung wohl vorhanden ist. Das, worauf am meisten die schwankenden Ergebnisse in den Versuchen von Wundt beruhen, hat Hering sp\u00e4ter selbst hervorgehoben, n\u00e4mlich: \u00bbdass die scheinbare Entfernung des Fadens mit einer ganz anders gelegenen Raumstrecke aus der Erinnerung verglichen werden musste\u00ab3). Die Unsicherheit des\n1)\tHansen Grut gebraucht in der That seinen Terminus nur in diesem Sinne, a. a. O.\n2)\tHering, Beitr\u00e4ge V. S. 342f.\n3)\tHering, Hermann\u2019s Handbuch der Physiologie Bd. III. 1, S. 415.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nMaximilian Arrer.\nErgebnisses scheint also auf einer nicht einwandsfreien Methode zu beruhen, und kann deshalb auf die Bedeutungslosigkeit der Muskelempfindungen kein Schluss gezogen werden. Uebrigens geht aus Wundt\u2019s Experimenten nur hervor, dass die absolute Entfernungssch\u00e4tzung eine unbestimmte war, nicht aber, dass sie keine, d. h. eine unm\u00f6gliche war. Und dieselbe Anerkennung einer stattgehabten absoluten Tiefenvorstellung geht auch aus Hering\u2019s Bemerkung dar\u00fcber hervor. Endlich, wie w\u00e4re es denkbar, dass der Beobachter aus dem Ged\u00e4chtniss ein Urtheil \u00fcber die relative Entfernung h\u00e4tte, ohne irgend eine Vorstellung \u00fcber die absolute? Man darf hier nicht verwechseln die Entfemungsvorstellung mit dem Gr\u00f6\u00dfenurtheil \u00fcber die Entfernung. Das Urtheil \u00fcber die relative Entfernung in den Versuchen von Wundt und mir bestand auch nur in der Angabe von \u00bbn\u00e4her\u00ab oder \u00bbweiter\u00ab, die bemerkte Verr\u00fcckung des Fadens in der Gr\u00f6\u00dfe eines Ma\u00dfes auszudr\u00fccken, war dem Beobachter ebenso unm\u00f6glich, als diejenige der absoluten Entfernung.\nDemselben Versuche von Wundt und seinen Resultaten glaubt H ering auch den Beweis entnehmen zu m\u00fcssen, dass die Verlegung der Sehdinge in den Au\u00dfenraum nicht von den Augenmuskelempfindungen bedingt sei, denn dann m\u00fcssten sie, meint Hering, in dem Oonvergenzpunkt der Blicklinien gesehen werden. Nat\u00fcrlich erhebt Hering diesen Einwand vom Standpunkt der \u00e4lteren Projections-lehre aus. Aber aus demselben Grunde, aus welchem Hering ihn erhebt, aus demselben Grunde hat er keine Existenzberechtigung, n\u00e4mlich, weil Wundt selbst ausdr\u00fccklich hervorhebt, dass wir die Objecte nicht im Schnittpunkte der Sehachsen sehen1). Es ist ferner auch nicht einzusehen, was Empfindungsgr\u00f6\u00dfen, in unserem Falle Convergenzempfindungen, mit objectiven Gr\u00f6\u00dfen zu thun haben. Wenn es auch richtig ist, dass jene von diesen bedingt sind, so hei\u00dft das doch nicht, dass sie jenen genau entsprechen m\u00fcssen, und ein gewisses Parallelgehen findet, je nach Umst\u00e4nden, immer statt.\nAls ein wesentlicher Ein wand muss es ferner angesehen werden, wenn Hering behauptet, dass das Verschmelzungsbild zweier Punkte, die vor je einem Auge gelegen sind, nicht hinter oder vor der Ebene, in der sie gezeichnet sind, erscheinen, wenn man die Blicklinien\n1) Wundt, Beitr\u00e4ge S. 193f.","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. <1. Bedeutung d. Convergenz- n. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehraung. 237\nhinter oder vor dieser sich kreuzen l\u00e4sst1). Hering ist der einzige Forscher, der dies behauptet; dass aber diese Behauptung nicht beweisend ist, hat Donders gen\u00fcgend gezeigt, indem er Hering aus seinen eigenen Schriften nachwies, dass es sich hei ihm um eine ganz individuelle Erscheinung handelt2 3).\n\u00a7 30. Man hat den Werth der von Wundt vertretenen Theorie noch dadurch gering anzuschlagen versucht, dass man meinte, die Muskelempfindungen seien eine \u00fcberfl\u00fcssige Annahme. Es ist keine Hypothese, so meint Hering, sondern lediglich eine Darstellung des thats\u00e4chlichen Sachverhaltes, wenn man die Augenstellung als von der Localisirung der Aufmerksamkeit abh\u00e4ngig erkennt, welche letztere auch die Localisirung des Kernpunktes und damit dann auch den Ort des fixirten Objectes bestimmt. Die Einf\u00fchrung von Muskelempfindungen oder Innervationsempfindungen ist dann ganz unn\u00f6thig, sie werden nur gefordert durch \u00bbgewisse theoretische Voraussetzungen\u00ab. \u00bbDenkt man' sich, dass der jeweilige Ort der Aufmerksamkeit bedingt ist durch einen bestimmten psychophysischen Process, so kann man diesen Process auch zugleich als das physische Moment gelten lassen, welches die entsprechende Innervation der Augenmuskeln ausl\u00f6st. Es ist von vorneherein nicht einzusehen, was durch die hypothetische Einschiebung eines weiteren physischen oder psychischen Vorganges, welcher den Innervationsgef\u00fchlen zu entsprechen h\u00e4tte, irgend gewonnen werden kann\u00ab :j.\nZweierlei kann hier gemeint sein: entweder ist das, was hier als psychophysischer Process bezeichnet wird, ein schlechthin Einfaches und weiter nicht Analysirbares, oder es ist nur ein allgemeiner Ausdruck einer allgemeinen Thatsache. N\u00e4her besehen aber ergibt sich, dass es f\u00fcr den Psychologen zun\u00e4chst irrelevant ist, was von beidem gemeint ist, denn die \u00bbEmpfindungen des Ortes\u00ab sind ja f\u00fcr den Psychologen selbst nach Hering aus Breiten-, H\u00f6hen- und Tiefengef\u00fchlen zusammengesetzt. Was entspricht diesen rein psychologischen Bestimmungen im psychophysischen Processe ? Hering spricht davon nicht, und es bleibt bei diesem ganzen Gesch\u00e4fte der psycho-\n1)\tHering, Beitr\u00e4ge I. S. 33.\n2)\tArchiv f. Ophthalmologie Bd. XVII. S. 2f.\n3)\tHermann\u2019s Handbuch der Physiologie Bd. III. 1, S. 547 f.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nMaximilian Arrer.\nphysische Process unber\u00fchrt, seine Benennung ist nur der allgemeine Ausdruck eines sich im Centralorgane abspielenden Vorganges. Dje psychologische Analyse musste aber vorgenommen werden, es fragt sich nur, was f\u00fcr eine Analyse: eine solche, die gewisse, auf der objectiven Seite der Forschung erkannte Verh\u00e4ltnisse in eine bequeme psychologische Sprache einfach umsetzt, und damit eigentlich nichts mehr aussagt, als was bereits schon dort erkannt wurde; oder eine Analyse, die, zun\u00e4chst unbek\u00fcmmert um die physikalischen Verh\u00e4ltnisse, allein auf den psychischen Inhalt gerichtet ist, und erst nachtr\u00e4glich \u2014 jedenfalls nicht vorher \u2014 zusieht, wie dieser mit jenen \u00fcbereinstimmt? Den ersten Weg schlugen Hering und mit ihm seine Anh\u00e4nger ein, den andern Wundt und andere ihm Gleichdenkende; die Ergebnisse waren dementsprechend verschiedene. Ob hier eine Entscheidung m\u00f6glich ist? Schon der Umstand, dass die Bezeichnungen Breiten-, H\u00f6hen- und Tiefengef\u00fchle nicht anders entstanden sind als durch Umsetzung von Breiten-, H\u00f6hen- und Tiefen wer then auf der Netzhaut in psychologische Thatsaclien, und dass die Inhalte dieser Begriffe blo\u00df durch die letzteren gefordert werden, gen\u00fcgt, um mindestens diese Methode zu verwerfen. Mehr aber als das wiegt der Umstand, dass solche r\u00e4umliche \u00bbGef\u00fchle\u00ab, \u2014 nicht Empfindungen, was bei Hering soviel wie Vorstellungen und Wahrnehmungen hei\u00dft \u2014 wie sie oben genannt sind, nicht nur unmittelbar nicht wahrnehmbar sind, sondern auch jede Andeutung f\u00fcr ihre Existenz zu fehlen scheint. F\u00fcr einen Psychologen, der mit \u00bbunbewussten Empfindungen\u00ab zu rechnen vermag, wird das nat\u00fcrlich kein Einwand sein, f\u00fcr andere aber, f\u00fcr die unbewusste Empfindungen nicht existiren, und f\u00fcr die, wie Wundt erst unl\u00e4ngst ausf\u00fchrte, jede Frage in der Psychologie eine \u00bbThat-frage\u00ab ist1), f\u00fcr sie wird der oben hervorgehobene Umstand gen\u00fcgen, um solche r\u00e4umliche \u00bbGef\u00fchle\u00ab, wie sie Hering und andere Forscher hypostasiren, mindestens so lange f\u00fcr zweifelhaft und f\u00fcr die Theorie unbrauchbar zu halten, als es nicht gelingen wird, von ihnen in irgend einer Weise Kenntniss zu erlangen. Allen diesen hier gestellten Anspr\u00fcchen gen\u00fcgt aber vollkommen diejenige Theorie, welche den Muskelempfindungen f\u00fcr die r\u00e4umliche Tiefenlocalisation eine Rolle heimisst. Also weder hypothetisch noch unn\u00f6thig ist die\n1) Wundt, Philosophische Studien, Bd. XII. S. 44.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aecommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 239\nAnnahme von Muskelempfindungen zur Erkl\u00e4rung der r\u00e4umlichen Tiefenlocalisation. Ohne ihre H\u00fclfe d\u00fcrfte es kaum m\u00f6glich sein, ein anderes sinnliches Moment ausfindig zu machen, das unter Bedingungen, wie sie oben in den Versuchen stattfanden, einen Aufschluss \u00fcber die absolute Tiefenlocalisation geben k\u00f6nnte.\nd. Theorie der binocularen Versuche.\n\u00a7 31. Es wurde oben ausgef\u00fchrt, dass sich der Beobachter zun\u00e4chst eine Entfernungsvorstellung von der Distanz des Fadens bildet, indem er seine Sehachsen genau auf denselben einstellt, und f\u00fcr die bestimmte Form dieser Vorstellung noch die sonst im sichtbaren Raume unterscheidbaren r\u00e4iunlichen Verh\u00e4ltnisse ma\u00dfgebend sind. Diese Entfemungsvorstellung beh\u00e4lt der Beobachter im Ged\u00e4chtniss, seine Aufmerksamkeit ist auf sie, nach dem Zeugniss der inneren Wahrnehmung fast aller Beobachter, am st\u00e4rksten dann gerichtet, wenn das Signal f\u00fcr das Erscheinen der Vergleichsdistanz gegeben wird. Und nun war zweierlei zu beobachten : entweder wurde das Ur-theil \u00fcber die neue Distanz sofort beim Hineinblicken in das Blickrohr abgegeben, oder erst nach Verlauf einer l\u00e4ngeren Zeit und Ueberlegung. Im ersten Falle wurde das Urtheil als unmittelbar gewiss, der Eindruck als sinnlich evident bezeichnet. Nicht als ob der Beobachter sich zuerst eine Vorstellung von der neuen Distanz gebildet h\u00e4tte, um sie dann mit der im Ged\u00e4chtniss aufbewahrten zu vergleichen ; im Gegentheil war die Aufmerksamkeit so stark als m\u00f6glich auf die Ged\u00e4chtnissvorstellung gerichtet, ebenso sehr aber bereit, auf einen neuen Eindruck \u00fcberzugehen, um nun, sozusagen pl\u00f6tzlich, den Unterschied beider wahrzunehmen. Die so zu Stande gekommenen Urtheile sind in der weit \u00fcberwiegenden Zahl der F\u00e4lle richtig. Nicht selten aber geschah es, besonders zu Anfang der Versuche, wo die Uebung noch nicht gro\u00df genug war, dass der Beobachter sein Urtheil nicht pl\u00f6tzlich abgeben konnte, sondern erst nach einiger Ueberlegung. Die Ursache davon war, so weit sich dies zu erkennen gab, eine doppelte : entweder konnte aus was immer f\u00fcr einem Grunde die Entfernungsvorstellung im Ged\u00e4chtniss nicht fest und klar genug behalten werden, und dann besann sich der Beobachter auf mehr secund\u00e4re H\u00fclfskriterien, wie etwa die Deutlichkeit des Fadens, oder","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nMaximilian Arrer.\ndie Vorstellung wurde im Ged\u00e4chniss wohl festgehalten, es traten aber beim Sichtbarwerden der Vergleichsdistanz ver\u00e4nderte \u00e4u\u00dfere Bedingungen ein, meistens ein Wechsel in der Beleuchtung, oft auch eine bemerkbare, zu ungenaue, oder vielleicht zu langsam\u2019vor sich gegangene Convergenz- und Accommodationseinstellung. Wenn solche Vorkommnisse st\u00f6rend hervortraten, waren es wieder die \u00f6fters schon hervorgehobenen H\u00fclfskriterien, wonach sich der Beobachter im Ur-theil richtete. In allen diesen F\u00e4llen hatte er das Gef\u00fchl der Unsicherheit, und er irrte sich in der That nicht selten.\nDie zuletzt hervorgehobene Art, die relativen Entfernungsstrecken zu erkennen, bietet f\u00fcr die Erkl\u00e4rung keine Schwierigkeit, sie liegt offen auf der Hand. Eine wenn auch nicht deutliche Vorstellung von der Normaldistanz hatte sich der Beobachter im Ged\u00e4chtniss immerhin bewahrt; unf\u00e4hig, sofort beim Anblick der neuen Distanz den Unterschied zur vorangehenden zu erkennen, verf\u00e4hrt er aber jetzt gerade so wie bei der Einpr\u00e4gung der Normaldistanz, und versucht dann zu vergleichen, ein Verfahren, das f\u00fcr jeden Beobachter deutlich den Stempel der Unsicherheit an sich trug.\nAnders muss der Vorgang gedacht werden in den F\u00e4llen, wo der Beobachter sein Urtheil pl\u00f6tzlich abgab. Zu Anfang gaben mir die Beobachter keinerlei Winke aus der inneren Wahrnehmung an die Hand, um eine vollst\u00e4ndige Beschreibung und Erkl\u00e4rung des fraglichen Vorganges zu liefern. Erst nach l\u00e4ngerer Uebung bemerkte bald der Eine, bald der Andere, dass ihm das Dreieck oder Rechteck, das er im Ged\u00e4chtniss behielt, und in das ihm die Entfernungsvorstellung der Normaldistanz eingegangen war, beim Anblick des zweiten Fadens fast pl\u00f6tzlich die Form ver\u00e4nderte, l\u00e4nger und schm\u00e4ler oder k\u00fcrzer und breiter erschien. In dieser concreten Weise beschrieben mir die Beobachter das was sie beobachteten. Unabh\u00e4ngig von dieser Beschreibung merkte ich schon vorher, dass ich so geringe Distanzverschiebungen, wie sie in den Tabellen durch Uebung erreicht worden sind, nur in dieser Weise erkennen konnte. Ich glaube deshalb, dass sich hier zwischen zwei Vorstellungen ein Assimilations-process abspielt, zwischen der im Ged\u00e4chtniss behaltenen und der neu eintretenden. Die neu eintretende Vorstellung ist in ihrer allgemeinen Form sehr unbestimmt, was aber in ihr dominirt, ist die eben sinnlich erregte Muskelempfindung; die Ged\u00e4chtnissvorstellung","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Conyergenz- u. Aecommodationsbew. f. d. Tiefeuwahrnehinung. 241\nist in ihrer Form bestimmt und dominirt in dieser Beziehung \u00fcber die neue Wahrnehmung. In der neuen Vorstellung, die durch die zwei sich begegnenden entsteht, wird die sinnlich frisch hervorgerufene Muskelempfindung zum Zeichen der Tiefe, oder sie ist es, die in der neuen Vorstellung die Tiefe zum Ausdruck bringt, dagegen wird die allgemeine Form dieser Vorstellung von der ersten aus dem Ged\u00e4chtnisse1 entlehnt, und es begreift sich so leicht jener Eindruck, dass sich das Dreieck oder Bechteck, das im Ged\u00e4chtniss lebhaft festgehalten wurde, heim Anblick der Vergleichsdistanz in die L\u00e4nge zog und schm\u00e4ler ward, oder verk\u00fcrzt und breiter erschien1).\n\u00a7 32. Ist die ausgef\u00fchrte Ansicht richtig, ist es vor allem richtig, dass die Muskelempfindungen aus Convergenz diejenigen Bewusstseinselemente sind, welche in unseren Versuchen in der Raumvorstel-lung die Beziehung nach der Tiefe unmittelbar bedingen, so wird es leicht sein, noch einige Beobachtungen zu erkl\u00e4ren, die bei diesen Versuchen zum Vorschein kamen. Vor allem die Thatsache der geringeren Ann\u00e4herungsschwelle und gr\u00f6\u00dferen Entfernungsschwelle. Dass wir die Erkl\u00e4rung von Wundt nicht annehmen k\u00f6nnen, geht schon daraus hervor, dass seine Erkl\u00e4rung sich nur auf eine geringe Raumstrecke bezieht, innerhalb deren er jenen Unterschied fand; dagegen kann sie immerhin ihre Richtigkeit f\u00fcr fernere Distanzen haben. Aber auch hier nat\u00fcrlich mit R\u00fccksicht darauf, dass der allgemeine Vorgang ein solcher ist, wie er oben beschrieben wurde, oder jedenfalls ein ihm \u00e4hnlicher.\nF\u00fcr unseren Fall ist zun\u00e4chst festzuhalten, was zu erkl\u00e4ren ist: es handelt sich, an sich betrachtet, um ein rein \u00e4u\u00dferliches Ergebnis, von dem der Beobachter nichts wei\u00df. Es wird daher auch f\u00fcr die Erkl\u00e4rung zweierlei m\u00f6glich sein: entweder ist das Resultat ein mehr \u00e4u\u00dferliches, d. h. durch physikalische Umst\u00e4nde bedingt, oder aber ein psychologisches, durch irgend eine Besonderheit in den Muskelempfindungen selbst verursacht. Diese letztere M\u00f6glichkeit hat schon Wundt verworfen, weil nicht einzusehen sei, weshalb durch die Th\u00e4tigkeit der recti extend ein weniger fein abgestuftes System von Muskelempfindungen gegeben sein sollte, als durch die recti intend. F\u00fcr uns kann dieser Versuch einer Erkl\u00e4rung schon des-\n1) Vergl. Wundt, Grundz\u00fcge 4. Aufl. II, S. 439 f. u. fr\u00fcher.","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nMaximilian Arrer.\nhalb nicht in Betracht kommen, weil wir erkannten, dass uns die Bedingungen nicht erlauben, anzunehmen, die Entfernung werde blo\u00df durch die Th\u00e4tigkeit der recti externi, die Ann\u00e4herung durch diejenige der recti interni gesch\u00e4tzt, da die Einstellung der Sehachsen f\u00fcr beide Distanzen, Normal- und Vergleichsdistanz, in gleicher Weise immer wieder von neuem stattfand. Oder, wenn auch die im Ge-d\u00e4chtniss festgehaltene Entfernungsvorstellung der Normaldistanz auf die Augenstellung in der Pause einen Einfluss haben sollte, was ja wahrscheinlich ist, so ist dieser Einfluss nicht genau untersucht, er d\u00fcrfte sich aber kaum so weit erstrecken, um in der Sehachseneinstellung jene Genauigkeit zu erreichen, die durch unsere Versuche gefordert werden m\u00fcsste, Jedenfalls ist so viel sicher, dass, unter Voraussetzung der Richtigkeit unserer Beschreibung der Versuche, und ebenso ihrer Erkl\u00e4rung, auch nur \u00fcber eine eventuelle M\u00f6glichkeit in der Feinheit der durch die recti externi und interni bedingten Empfindungen nichts ausgesagt werden kann. Setzten wir aber, blo\u00df der Wahrscheinlichkeit nach, voraus, die Feinheit der Muskelempfindungen sei f\u00fcr unsere Auffassung dieselbe, ob sie von den \u00e4u\u00dferen oder inneren Geraden kommen, und betrachten wir blo\u00df die Strecken, um die sich die Sehachsen des Doppelauges bewegen m\u00fcssen, wenn gleich intensive Empfindungen hervorgerufen werden sollen, so ist es leicht ersichtlich, dass bei gleich gro\u00dfen Drehungswinkeln die Ent-femungsstrecken immer etwas gr\u00f6\u00dfer sein m\u00fcssen, als die Ann\u00e4herungsstrecken. Man zeichne sich einfach ein gleichseitiges Dreieck, vergr\u00f6\u00dfere und verkleinere einen Basalwinkel um gleiche Gr\u00f6\u00dfen, und man wird das Gesagte ohne weiteres einsehen. Von diesem Standpunkte der Betrachtung aus w\u00fcrde die durchgehends geringere Ann\u00e4herungsstrecke weit mehr eine physikalische als eine psychologische Consequenz sein. Nun sind aber die Differenzen der Drehungswinkel in den s\u00e4mmtlichen Tabellen f\u00fcr die Entfernung immer noch etwas gr\u00f6\u00dfer als f\u00fcr die Ann\u00e4herung. Hier scheinen sich daher einige Schwierigkeiten einzuschieben. Diese Differenz der Drehungswinkel scheint n\u00e4mlich direct entweder auf eine organische Ursache in den Muskeln oder ganz unmittelbar auf eine psychologische Ursache hinzuweisen. Die erste M\u00f6glichkeit haben wir schon abgelehnt, es bleibt nur die zweite. Ein Gedanke ist hier naheliegend. Vorstellungsstrecken werden verschieden auf gefasst, je nachdem die Muskel-","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. il. Bedeutung d Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 243\nempfindungen in ihnen durch geringere oder gr\u00f6\u00dfere Anstrengung in der Augenbewegung zu Stande kamen. Dies darf wohl als psycho-sogisch sicher angesehen werden1).\nEs ist ferner wohl sicher, dass f\u00fcr die Auffassung, ob N\u00e4herung oder Entfernung, nicht blo\u00df eine Oonvergenzempfindung von bestimmter Intensit\u00e4t allein ma\u00dfgebend ist, sondern auch die Art, wie diese von dem Bewusstsein aufgenommen und f\u00fcr unsere Auffassung verarbeitet wird. Da ferner gewiss ist, dass f\u00fcr eine gr\u00f6\u00dfere Convergenz eine gr\u00f6\u00dfere Anstrengung zu ihrer Herstellung erforderlich ist, als f\u00fcr eine geringere, so hei\u00dft das weiter: es wird f\u00fcr gleich gro\u00dfe Unterschiede in den Drehungswinkeln auf die Einw\u00e4rts- oder Convergenz-drehung eine gr\u00f6\u00dfere Anstrengung entfallen, als auf die Ausw\u00e4rtsoder Divergenzdrehung. Es w\u00fcrde in diesem Falle die Empfindungsoder besser Vorstellungsstrecke f\u00fcr die Ann\u00e4herung gr\u00f6\u00dfer gesch\u00e4tzt werden m\u00fcssen, als f\u00fcr die Entfernung. Nun handelt es sich hei uns um ebenmerkliche Vorstellungsstrecken, die f\u00fcr einen und denselben Ausgangspunkt als Ann\u00e4herungs- und Entfernungsstrecke in der Empfindung oder Vorstellung nur ein wenig verschieden sein werden. Wie aber gleich gro\u00dfen Drehungswinkeln ungleich gro\u00dfe Anstrengungen entsprechen, und diesen gem\u00e4\u00df dann auch ungleich gro\u00dfe Vorstellungsstrecken, so auch umgekehrt gleich gro\u00dfen Vorstellungsstrecken ungleich gro\u00dfe Drehungswinkel. So w\u00fcrden sich auf Grund einer bekannten psychologischen Thatsache die kleineren Differenzen der Drehungswinkel der Sehachsen bei der Sch\u00e4tzung der\n1) Vergl. Wundt, Grundz\u00fcge 4. Aufl. II. S. 131 f., 137ff. Lipps verwirft diese Ansicht blo\u00df deshalb, weil ihm Horizontalbewegungen schwerer sind als Verticalbewegungen. Der Einwand ist offenbar vom Standpunkte der eigenen Theorie erhoben, wonach die Bewegungsempfindungen, sofern sie f\u00fcr das r\u00e4umliche Sehen in Betracht kommen, Erfahrungszeichen sind. Abgesehen davon, dass das schlechterdings nicht zutrifft, kann aus einer blo\u00dfen Wahrnehmung \u00fcber die Erm\u00fcdung bei Augenbewegungen nicht ohne weiteres entschieden werden, woher die Erm\u00fcdung kommt. Die obige Theorie st\u00fctzt sich, nachdem sie einmal aus der unmittelbaren psychologischen Wahrnehmung \u2014 nicht Erfahrung \u2014 Muskelempfindungen constatirt hat, auf Betrachtungen der mechanischen Prin-cipien des Augenbewegungsmechanismus. Endlich kann eine vereinzelte Beobachtung gegen\u00fcber der Summe von Beispielen, durch die jene Theorie gest\u00fctzt wird, nichts beweisen, \u2014 Lipps erkl\u00e4rt das Ueber-und Untersch\u00e4tzen von Strecken durch das \u00bbUrtheil\u00ab, dieses muss aber eine Vorstellungsgrundlage haben. (Lipps, Ebbinghaus\u2019 und K\u00f6nigs Zeitschrift f. Psychologie Bd. Ill S. 121 ff.)\nWandt, Philos. Stadien XIII.\t17","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nMaximilian Arrer.\nAnn\u00e4herung gegen\u00fcber der gr\u00f6\u00dferen f\u00fcr die Entfernung ungezwungen erkl\u00e4ren. Dass diese Erkl\u00e4rung keineswegs einen bestimmten Punkt voraussetzt, von dem aus Convergenz- und Divergenzbewegungen ausgef\u00fchrt werden, d\u00fcrfte aus der Erkl\u00e4rung selbst hervorgehen, denn ihr Ausgangspunkt ist blo\u00df irgend eine bestimmte, in der Entfernungsvorstellung enthaltene Oonvergenzempfindung. Ist die n\u00e4chste Distanz eine kleinere, so ist gr\u00f6\u00dfere Anstrengung zu der ihr entsprechenden Convergenzstellung erforderlich als vorher, und umgekehrt, wenn die zweite Distanz gr\u00f6\u00dfer ist. Die Differenzen der Drehungswinkel und in weiterer Consequenz die der Unterschiedsstrecken ergehen sich ganz nothwendig, wo immer der Ausgangspunkt der Bewegung gelegen sein mag, denn dieser kommt nicht in Betracht, sondern allein die Empfindungsgr\u00f6\u00dfe, die der Convergenzstellung in der Normaldistanz entspricht. Ohne auf die Drehungswinkel R\u00fccksicht zu nehmen, bemerkt Delboeuf, dass man bei der Theilung einer Linie, die in der Sehachse (besser wohl in der medianen Sehrichtung) gelegen ist, den Theilstrich viel zu nahe dem Auge setzt, und erkl\u00e4rt diese Erscheinung aus der gr\u00f6\u00dferen Anstrengung, die f\u00fcr die st\u00e4rkere Convergenz erforderlich sei ').\nDie obige Auseinandersetzung zeigt, dass die Thatsache der gr\u00f6\u00dferen Entfernungsstrecke und kleineren Ann\u00e4herungsstrecke zun\u00e4chst nur eine physikalisch-geometrische Consequenz verschieden gro\u00dfer Drehungswinkel der Sehachsen, die der Ann\u00e4herung und Entfernung entsprechen, ist. Die Differenz der Drehungswinkel aber ist die Folge der psychologischen Thatsache, dass gr\u00f6\u00dfere Bewegungsanstrengungen auch f\u00fcr unser Raumbewusstsein gr\u00f6\u00dfere Raumstrecken bedeuten, und umgekehrt.\n\u00a7 33. Von geringerer Bedeutung sind einige Besonderheiten, die sich bei diesen Versuchen bemerkbar machten, und die ich glaube noch mittheilen und auf ihre wahrscheinliche Ursache zur\u00fcckf\u00fchren zu sollen.\nBei fast allen Beobachtern zeigte es sich, dass bei ferneren Distanzen die Zwischenstufen zwischen der absoluten Gleichheit und der Ann\u00e4herungsschwelle als weiter beurtheilt wurden. Besonders\n1) Delboeuf, La psychologie comme science naturelle. Bruxelles 1876.\nS. 68.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"r\nUeb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbevv. f. d. Tiefenwahrnehmung. 245\nauff\u00e4llig war das, au\u00dfer bei den zwei schon angef\u00fchrten Herren Tawney und Hoch'), noch hei Herrn K\u00fclpe und Hicks (seine Tabelle habe ich nicht mitgetheilt, weil sie unvollst\u00e4ndig und in nichts von den gegebenen verschieden ist). Zwei der Beobachter (K\u00fclpe und Tawney) machten gelegentlich die Aeu\u00dferung, dass, wenn ihnen, besonders hei ferneren Distanzen, die Entfernungsvorstellung im Ged\u00e4chtniss schwankend sei, sie dann geneigt seien, die Convergenz anzuspannen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auf diese Weise die Entfernungsvorstellung im Sinne der Verkleinerung der vorgestellten Entfernung sich \u00e4ndert, und in Folge dessen die Vergleichsstrecken, obwohl geringer als die Normaldistanz, doch f\u00fcr gr\u00f6\u00dfer gehalten werden.\nEndlich kann es nach der gegebenen allgemeinen Erkl\u00e4rung unserer Versuche nicht mehr schwer sein, die auf S. 226 mitgetheilte Erscheinung zu erkl\u00e4ren, n\u00e4mlich, weshalb hei Herrn Thi\u00e9ry, trotz oft ver\u00e4nderter Vorstellung von der absoluten Entfernung des ersten Fadens, die Unterschiedsschwellen f\u00fcr die relative Tiefensch\u00e4tzung ungef\u00e4hr gleich blieben. Es wurde dort als Ursache der schwankenden absoluten Tiefenvorstellung der Helligkeitswechsel erkannt. Ob nun die Vorstellung von der Entfernung des Fadens, wenn sich dieser immer in gleicher Distanz vom Beobachter befindet, eine gr\u00f6\u00dfere oder kleinere ist, die Blicklinien kreuzen sich doch in der wirklichen Entfernung, die Muskelcontraction ist also dieselbe und die Muskelempfindung gleich stark an Intensit\u00e4t. Die geringen Abweichungen, die doch bemerkbar waren, und das Zeugniss der inneren Wahrnehmung lassen den Einfluss des neu hinzugekommenen Momentes noch gen\u00fcgend erkennen.\ne. Theorie der monocularen Versuche.\n\u00a7 34. Die bis jetzt gegebene Erkl\u00e4rung der Versuche bezog sich ausschlie\u00dflich auf die binocular gewonnenen Resultate, sie gilt aber auch f\u00fcr die monocularen; denn es darf als gen\u00fcgend gesichert angesehen werden, dass das verdeckte Auge den Bewegungen des offenen folgt. Der Umstand, dass die physiologische Association\n1) Yergl. oben S. 150.\n17*","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nMaximilian Arrer.\nzwischen Convergenz und Accommodation nur eine lockere ist, kommt hier eigentlich kaum in Betracht, denn der Beobachter stellt sein Auge zun\u00e4chst immer wieder aus irgend einer beliebigen, ihm bequemsten Lage f\u00fcr die durch das Object geforderte Entfernung ein, und es ist demnach die Mitbewegung des verdeckten Auges zun\u00e4chst durch den bilateralen Bewegungsmechanismus der Augen bedingt, die genauere Einstellung aber wahrscheinlich durch den Accommodations-grad des Sehenden. Letzteres ist festzuhalten trotz der Versuche \u00fcber die L\u00f6sbarkeit der Association zwischen Convergenz und Accommodation. Denn dass die Versuche von Donders f\u00fcr unseren Fall gar nicht beweisend sind, darauf hat schon Czermak hingewiesen1), und wieder auf die Ung\u00fcltigkeit der Versuche dieses letzteren neuerdings Hillebrand2). Es wurde Hillebrand darauf eingewandt, dass auch seine Versuche (ich komme bald auf diese) unter k\u00fcnstlichen Bedingungen ausgef\u00fchrt seien. Dixon3), der diesen Einwand erhob, scheint sich aber einer Verwechselung schuldig zu machen: die sp\u00e4ter zu besprechenden Versuche von Hillebrand und die bisher mitgetheilten stellen den Beobachter nur in Bezug auf die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse, unter denen er Tiefenunterschiede erkennen soll, unter au\u00dfergew\u00f6hnliche Bedingungen, nicht aber in Bezug auf die Aus\u00fcbung seiner Convergenz- und Accommodations-bewegungen.\nDass Wundt zur Erkl\u00e4rung seiner monocularen Versuche nur die Accommodationsbewegungen in Betracht zog, war zun\u00e4chst durch ihre Verschiedenheit von den binocularen bedingt, sodann waren Hering\u2019s Erkl\u00e4rungen der Bewegungen des Doppelauges noch nicht bekannt, und so konnte Wundt mit einem Scheine der Berechtigung schlie\u00dfen, dass in seinen monocularen Versuchen \u00bbder Einfluss der Convergenzbewegungen wie \u00fcberhaupt aller Augenhewegungen ganz und gar ausgeschlossen sei\u00ab4). Wirklich berechtigt war aber der Schluss dennoch nicht. Denn Wundt erkennt Donders\u2019 Resultat an, dass die Deviation der Sehachse des vom Sehen excludirten Auges\n1)\tCzermak, Gesammelte Schriften, Leipzig 1879. Bd. I, Abth. 1, S. 246.\n2)\tA. a. O. S. 103. Vergl. oben S. 16 f.\n3)\tMind, 1895. New Series 14, S. 205.\n4)\tWundt, Beitr\u00e4ge S. 123.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u, Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 247\nso gering ist, dass f\u00fcr praktische Zwecke, wie sie f\u00fcr den Oculisten in Betracht kommen, der Zusammenhang von Accommodation und Convergenz als ein fester angesehen werden kann *). Die praktischen Zwecke des Oculisten setzen aber normale Bedingungen voraus, und diese fanden auch in Wundt\u2019s Versuchen statt. Man k\u00f6nnte \u00fcbrigens auch aus Wundt\u2019s Erkl\u00e4rung jenes Zusammenhanges seihst auf das Mitgehen des verdeckten Auges schlie\u00dfen. Wundt erkannte als Ursache jenes Zusammenhanges die physiologische Gew\u00f6hnung, und eben wegen dieser letzteren ist dann anzunehmen, dass auch die Accommodation bis zu einem gewissen Grade die Convergenzbewegung bedingen wird. Trotzdem hat Wundt, wie wir sahen, die mono-cularen Sehversuche blo\u00df aus der Accommodation zu erkl\u00e4ren versucht. Dass das in Wundt\u2019s erster Abhandlung geschah, wird durch die angef\u00fchrten Gr\u00fcnde gen\u00fcgend begreiflich erscheinen1 2) ; auffallender muss es dagegen erscheinen, wenn Landois in seinem Lehrbuche der Physiologie schreibt: \u00bbBei gleich gro\u00dfem Netzhautbilde sch\u00e4tzen wir die Entfernung um so gr\u00f6\u00dfer, je geringer die Accommodations-anstrengung ist (und umgekehrt). Beim binocularen Sehen taxiren wir hei gleich gro\u00dfen Netzhautbildern dasjenige Object als das entferntere, f\u00fcr welches die Augenachsen am wenigsten convergent gestellt werden (und umgekehrt)\u00ab3). Auffallend ist das alles deshalb, weil Landois einige Seiten vorher mit besonderem Nachdruck hervorhebt, dass sich beide Augen \u00bbstets gleichzeitig bewegen, selbst dann, wenn das eine v\u00f6llig erblindet ist; ja, es bewegen sich sogar noch die Augenmuskeln, wenn der Bulbus ganz extirpirt ist\u00ab 4), und doch soll der Unterschied des binocularen und monocularen Tiefensehens auf Convergenzempfindungen beruhen, die ja beide Male vorhanden sind. Die Ausf\u00fchrung von Landois setzt nothwendig voraus, dass der physiologische Zusammenhang zwischen Accommodation und Convergenz im Centrum ein fester sei (gleichviel, ob von allem Anfang an oder allm\u00e4hlich entwickelt), so dass, wenn die Accommodation des sehenden Auges als Motiv f\u00fcr die Convergenz wirkt, sie\n1)\tWundt, Beitr\u00e4ge S. 188.\n2)\tIn den Grundz\u00fcgen der physiol. Psychologie 4. Aufl. II. S. 107 ist diese Ansicht noch unver\u00e4ndert aufgenommen.\n3)\tLandois, Lehrbuch der Physiologie 8. Aufl. S. 941. 4) Ibid. S. 931.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nMaximilian Arrer.\nunfehlbar einen ihr entsprechenden Convergenzgrad hervorrufen wird darauf weist hin die starke Betonung, dass sich auch das erblindete Auge oder gar nur die Augenmuskeln bei fehlendem Bulbus mitbewegen. Mag also auch die Accommodation das Motiv f\u00fcr die Con-vergenz abgeben; sofern letztere immer vorhanden ist, kann die erstere nicht als ausschlie\u00dfliches sinnliches Moment des monocularen Tiefen-sch\u00e4tzens angesehen werden.\n\u00a7 35. Um den Unterschied der Ergebnisse der binocularen und monocularen Versuche leichter zu \u00fcbersehen, habe ich die Ergebnisse der letzteren in den Mitteln aller relativen Constanten, die das Ver-h\u00e4ltniss der Unterschiedsstrecken zu den absoluten Entfernungen aus-dr\u00fccken, zusammengestellt, entsprechend der auf S. 158 mitgetheilten Tabelle f\u00fcr die binocularen Versuche. Das Bestehen einer Constante, sowie der Umstand, dass sie ihrem absoluten Werthe nach gr\u00f6\u00dfer ist f\u00fcr die Ann\u00e4herungs- als f\u00fcr die Entfemungssch\u00e4tzung, d\u00fcrften nach den gegebenen Ausf\u00fchrungen f\u00fcr die binocularen Versuche daf\u00fcr sprechen, dass auch hier die Convergenzempfindungen betheiligt sind, wenngleich in diesen Versuchen als das prim\u00e4re Bewegungsmotiv jedenfalls die Accommodationsbewegungen angesehen werden m\u00fcssen, da die binoculare Synergie der Convergenz hier erst durch die Accommodation auf die bestimmte Entfernung ausgel\u00f6st werden kann. (S. Tabelle n\u00e4chste Seite.)\nUm die Verschiedenheiten der monocularen von den binocularen Versuchen zu erkl\u00e4ren, gibt es jedoch der Gr\u00fcnde nur zu viele. Zun\u00e4chst hat sich aus den Untersuchungen von Volkmann und Donders, besonders aber von Hering, herausgestellt, dass die Blicklinie des verdeckten Auges doch nicht ganz genau auf den fixirten Punkt eingestellt ist. In allen den mitgetheilten monocularen Versuchen befand sich der Faden nicht in der medianen Sehrichtung, sondern in der Symmetrieebene des sehenden Auges, die Convergenz war also eine asymmetrische, bei einer solchen weicht aber das verdeckte Auge im Sinne der Parallelbewegung ab'). Die ungenauere Tiefensch\u00e4tzung beim monocularen Sehen w\u00fcrde sich zun\u00e4chst aus\n1) Hering, Die Lehre vom binocularen Sehen, S. 10ff. Vergl. Wundt, Grundz\u00fcge, 4. Aufl. II, S. 167f.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 249\nA II\tuaSnnqajaiiqy \u00bbII\u00ab PW\u00cfW\t\t3.7 6.7 4,5 5,4\n\tAb- weichung\ts\t25 25 28 20\n\t\to\t33 50 40 50\n\t\t\t25 39,5 32 40\n\tuaSunqoiaAqy \u25a0rail\u00ae piiiH\t\t4 5.6 4.7 4,6\n\tAb- weichung\t8\t28 28,5 20 30\n\t\tCl\t40 47 50 50\n\ta\t\t33 38,7 39 42\n>\tuoSunqoia\u00fcqy raip pwiW\t\t3 7,7 5,5 6\n\tAb- weichung\ts\tr-\tr\u2014\t1\u2014i\to Vf\tCS\tCS\tCS\n\t\tc\t30 60 40 45\n\ta\t\t25 38.5 28.5 35\n\tuaSunqaiaziqy \u2022tail\u00ae P\u00bb\u00ceK\t\t6,6 6,4 3,7 6\n\tAb- weichung\ts\tO *\tf-\tO\tCO CS\tCO\tCS\tCC.\n\t\tC\tO\tO O\tO \u00ab\u25a0tf\tCO ^\tCO\n\ta\t\t29 44 32,5 42\nnazn^si(j jap {iju/\t\t\t9 12 9 9 12\nBeobachter\t\t\tHerr\tProf. K\u00fclpe\t. \u00bb\tDr. Thi\u00e9ry.\t, \u00bb\tDr. Spitzer.\t. \u00bb\tTawney. . .\t. \u00bb Fruit\t\nDie Ergebnisse von Herrn Thi\u00e9ry sind s\u00e4mmtlich unter der zweiten Versuchsreihe verzeichnet, sie sind aber die Mittel aus vier Versuchen.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nMaximilian Arrer.\ndieser Abweichung erkl\u00e4ren lassen1). Ferner aber ist hierbei zweifellos von Einfluss der Wegfall des zweiten Netzhautbildes, um so mehr als im ganzen Gesichtsraume der Faden nicht das einzige war, was gesehen wurde, sondern au\u00dfer ihm der verschwommene Rand des Blickrohres. Endlich, wenn auch ein Faden in der medianen Sehrichtung auf beiden Netzh\u00e4uten gleiche Bilder entwirft, so liegt im doppelten Halbbilde doch schon etwas vor, was an und f\u00fcr sich das Tiefensehen f\u00f6rdert. Die plastisch g\u00e4nzlich verschiedenen Eindr\u00fccke, die man empf\u00e4ngt, wenn man durch das Blickrohr zuerst (monocular und dann binocular sieht, k\u00f6nnen nicht blo\u00df durch die Abweichung der Blicklinie des verdeckten Auges erkl\u00e4rt werden, vielmehr muss dieser Unterschied dem Unterschied des monocularen und binocularen Sehens zugeschrieben werden. Man k\u00f6nnte demnach fordern, dass, um den Einfluss blo\u00df der Convergenz auf das Erkennen der Tiefenunterschiede zu untersuchen, nur die monocularen Versuche herangezogen werden sollten, wie dies Hillebrand that2). Dass aber die Ausf\u00fchrung der binocularen Versuche nicht unn\u00f6thig ist, d\u00fcrfte, abgesehen von der doch wesentlichen Verschiedenheit der sonstigen Bedingungen in beiden F\u00e4llen, schon aus der Vergleichung der monocularen und binocularen Versuche hervorgehen. Diese Vergleichung zeigt zun\u00e4chst, dass unter Bedingungen, wie sie in den obigen Versuchen stattfanden, der Hinzutritt des zweiten Netzhautbildes an den\n1)\tSchon 1694 hat De la Hire in dieser Weise das monoculare Tiefensehen zu erkl\u00e4ren versucht. Er schreibt mit R\u00fccksicht auf das binoculare Tiefensehen *\u2022.. pour voir un objet proche il faut donner aux deux yeux une disposition fort diff\u00e9rente de celle qui est requise pour en voir un qui soit \u00e9loign\u00e9, et la peine que nous sentons quand nous voulons voir un objet fort proche apr\u00e8s en avoir consid\u00e9r\u00e9 un qui \u00e9toit \u00e9loign\u00e9, ou au contraire, ne vient que de la difficult\u00e9 qu\u2019on a de diriger les axes des deux yeux vers le m\u00eame endroit. (Dissertation sur les diff\u00e9rens accidens de la vue, M\u00e9moires de l\u2019acad\u00e9mie royale des sciences IX p. 5351. De la Hire schreibt ferner: On me dira que cette r\u00e9ponse n\u2019est pas suffisante, puisque l'on sent toujours la m\u00eame difficult\u00e9, quoiqu\u2019on ne regarde ces objets \u00e0 differentes distances qu\u2019avec un seul oeil. Je r\u00e9ponse encore qu\u2019il est vrai; mais que cette difficult\u00e9 n\u2019est pas si grande quand on ne se sert que d\u2019un oeil, que quand on se sert des deux, et que ce qui la fait n\u2019est en partie que l\u2019accoutumance que l\u2019on a de diriger les axes des deux yeux tout ensemble, vers un m\u00eame endroit dont on peut connoitre d\u2019ailleur \u00e0 peu pr\u00e8s la distance (p. 632). Mit R\u00fccksicht auf Berkeley ist zu bemerken, dass diese Dissertation 13 Jahre vor seiner neuen Theorie des Sehens (1709) erschienen ist.\n2)\tA. a. O. S. 101. 104, vergl. oben S. 131.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accoinmodationsbew. f. d. Tiefeuwahrnehinuug. 251\nErgebnissen fast nichts \u00e4ndert. Der Hauptunterschied der Ergebnisse besteht ferner nicht, oder nicht haupts\u00e4chlich, in den feineren Unterschiedsstrecken bei binocularem Sehen, sondern weit mehr in der Leichtigkeit, gr\u00f6\u00dferen Sicherheit und Schnelligkeit, mit denen sie, im Gegensatz zu dem monocularen, erkannt wurden. Auch bei den monocularen Sehversuchen war der Beobachter nur dann f\u00e4hig, relative Tiefenunterschiede zu erkennen, wenn er sich eine gewisse Vorstellung von der absoluten Entfernung des Badens gebildet hatte. Aber das ging hier alles viel schwerer, die unterscheidbaren r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse des Gesichtsfeldes waren nicht so plastisch wie dort, sie schienen fast wie in einer Ebene liegend. Alles das musste aber auch auf die Feinheit der Schwelle beim binocularen Sehen wirken. Und doch ist diese Schwelle wenig verschieden von der in den monocularen Versuchen. Gewiss achtete hier der Beobachter mehr als dort auf alle Nebenumst\u00e4nde, etwa Deutlichkeit des Fadens und \u00e4hnliches, doch haben diese Momente hier kaum mehr Bedeutung, als die Aufmerksamkeit des Beobachters spannen zu helfen. Durch diese gespannte Aufmerksamkeit erreichte er das gleiche Ma\u00df in den Unterschiedsschwellen, wie er es vorher bei den binocularen mit Leichtigkeit that. Nun ist sicher, dass mittelst der gespannten Aufmerksamkeit nicht das herbeigeschaffen werden kann, was von vornherein ausgeschlossen war, n\u00e4mlich bei den monocularen Versuchen die f\u00f6rdernden Momente des binocularen Tiefensch\u00e4tzens, sondern nur das, was beide Male, wenn auch unter etwas ver\u00e4nderten Bedingungen, doch immerhin gegeben war. Dies waren aber die Accommodations- und Convergenzbewegungen, die als Muskelempfindungen das Ma\u00df f\u00fcr die Unterschiedsstrecken dort und hier abgegeben haben. Also nicht unn\u00f6thig waren die binocular ausgef\u00fchrten Versuche. Schon das zuletzt hervorgehobene Resultat ihrer Vergleichung mit den monocularen lohnt, so d\u00fcnkt mich, die M\u00fche ihrer Ausf\u00fchrung.\n\u00a7 36. Die bisherigen Ausf\u00fchrungen \u00fcber das binoculare und monoculare Tiefensch\u00e4tzen, wie es unter den besonderen Bedingungen unserer Versuchsanordnung stattfand, ergibt als Resultat: 1) dass das sinnliche Moment der absoluten und relativen Tiefenlocalisation die Convergenz- und Accommodationsempfindungen sind; und 2) dass die Tiefensch\u00e4tzung weder dadurch geschah, dass wir den Grad duo","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nMaximilian Arrer.\nConvergenzanstrengung unmittelbar wahmehmen, noch dadurch, dass die Convergenzempfindungen mit dem zu localisirenden Objecte erfahrungsm\u00e4\u00dfig verbunden werden; sondern dass sie in den Raum-vorstellungen diejenigen Elemente sind, welche die Beziehung nach der Tiefe f\u00fcr unser Bewusstsein bedingen und zum Ausdruck bringen.\nDass wir die Tiefe binocular \u00bbmittelst des Gef\u00fchls f\u00fcr den Grad der Convergenz\u00ab sch\u00e4tzen, hat in unseren Tagen neben Anderen auch Helmholtz behauptet1). Man \u00fcberzeugt sich aber nur allzuleicht, dass von einem unmittelbaren Wahrnehmen der Convergenzempfindung in jedem einzelnen Versuche keine Spur vorhanden ist. Und wenn Wundt meint, dass wir ein unmittelbares Bewusstsein von den Augenmuskelempfindungen haben, so ist auch damit nur gemeint, dass wir die Existenz solcher Empfindungen in unserem Bewusstsein nach-weisen k\u00f6nnen'2). Dagegen kann es nicht richtig sein, wenn Lipps die Convergenzempfindungen \u00bbauf Grund der Erfahrung zu Tiefenzeichen\u00ab werden l\u00e4sst3). Die Convergenzempfindungen sind niemals selbst\u00e4ndiger Inhalt der Erfahrung, und w\u00e4ren sie es, so m\u00fcsste eine Tiefenwahrnehmung bereits gegeben sein. Aber eine solche leugnet Lipps \u00fcberhaupt4).\nLipps hat ebenfalls die Verschmelzung oder psychische Synthese von Convergenzempfindungen und Gesichtsvorstellungen angegriffen. Sie ist ihm ein \u00bbWunder\u00ab \u2014 \u00bbein Wunder nur darum, weil es jeder Analogie entbehrt\u00ab5). Was die Analogie anbelangt, so lassen wir diesen Punkt bei Seite, \u2014 in den Grundthatsachen des Seelenlebens S. 511 wusste Lipps selbst wohl von einer Analogie zu sprechen \u2014 wir fragen nur, ob denn der Begriff der Verschmelzung im Sinne einer psychischen Synthese aus seiner eigenen Raumtheorie eliminirt ist. Da hei\u00dft es in den Grundthatsachen gleich zu Anfang des betreffenden Capitels: \u00bbV\u00f6llig gleiche und v\u00f6llig gleichzeitige seelische\n1)\tHandbuch der Physiologischen Optik, 2. Aufl. S. 795.\n2)\tYergl. auch Stricker \u00bbUeber die Association der Vorstellungen\u00ab, Wien 1883. S. 56f.\n3)\tZeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie von H. Ebbinghaus und\nA. K\u00f6nig, III. S. 125ff. Vergl. desselben Verfassers Grundthatsachen des Seelenlebens S. 550 ff.\n4)\tObige Schriften und Psychologische Studien S. 69.\n5)\tEbbinghaus\u2019 und K\u00f6nig\u2019s Zeitschrift f. Psychologie S. 125.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbcw. f. d. Tiefenwahruehmung. 253\nErregungen verschmelzen zu einem Bewusstseinserfolg\u00ab\u2018). Freilich gilt das, wenn die Qualit\u00e4ten gleich oder sehr \u00e4hnlich sind. Sind sie das nicht, so bestehen sie \u00bbqualitativ nebeneinander\u00ab \u00f6der \u00bbentfernen sich qualitativ\u00ab. F\u00fcr die Qualit\u00e4ten des Tastsinns und des Gesichtssinns gibt es dann ein \u00bbverselbst\u00e4ndigendes Medium\u00ab, in dem sich diese Qualit\u00e4ten nebeneinander ordnen und sogar erhalten. Dieses Medium ist die \u00bbR\u00e4umlichkeit\u00ab. Und dass dem so ist, ist eine letzte, \u00bbweiter nicht ableitbare Thatsache\u00ab. Immerhin soll die \u00bbRaum-construction\u00ab vorgenommen werden. Es verschmelzen n\u00e4mlich die Tast- und Gesichtseindr\u00fccke doch nach dem Grade ihrer Aehnlich-keit, sie thun es vor allem durch das, was ihnen als Localzeichen anhaftet. Das Localzeichen selbst aber ist beiLipps schon ein Ver-schmelzungsproduct, denn es bedeutet die Beziehung zweier r\u00e4umlich sich ordnender Eindr\u00fccke. Das Resultat ist dann, dass je nach der Aehnlichkeit der zu einem Producte sich vereinigenden Elemente eine stetige r\u00e4umliche Verschmelzung stattfindet, also im wesentlichen dasselbe, was Wundt mit dem Namen \u00bbextensive Verschmelzung\u00ab bezeichnet1 2). So wird also die Raumvorstellung erkl\u00e4rt einmal aus einem Widerstreben gegen die vollst\u00e4ndige Verschmelzung, und sodann aus der weiter nicht ableitbaren Thatsache, dass nun einmal gewisse Qualit\u00e4ten sich r\u00e4umlich ordnen. Beides zusammen bedeutet aber nur so viel : es entsteht hier ein v\u00f6llig neuer Bewusstseinsinhalt. Und diese Thatsache, genannt psychische Synthese, bedarf dann auch keiner Analogie, denn sie ist eben unmittelbare Thatsache. Aber freilich, es stand als Bedingung : \u00bbeinfache Eindr\u00fccke, die demselben Gebiete des Gesichts oder Getasts angeh\u00f6ren\u00ab, Muskelempfindungen aber haben nach Lipps \u00bbmit gesehenen Gr\u00f6\u00dfen ganz und gar nichts zu thun\u00ab3). Wenn aber das, ist es dann nicht auch ein Wunder, dass, wenn einmal das Raumbewusstsein gegeben ist, sich Bewegungen \u00bbgewiss\u00ab mit ihnen, n\u00e4mlich den gesehenen Gr\u00f6\u00dfen, \u00bbverkn\u00fcpfen\u00ab k\u00f6nnen, und jene dann \u00bbzu Zeichen werden f\u00fcr zuk\u00fcnftige Raumbestimmungen\u00ab ? \u00bbInsbesondere, schreibt Lipps, kann, wer es einmal erlebt hat, dass die Durchmessung einer gr\u00f6\u00dferen Strecke gr\u00f6\u00dfere Anstrengung erforderte, dazu kommen, auch in Zukunft mit dem\n1)\tGrundthatsachen des Seelenlebens S. 472.\n2)\tIbid. S. 480.\n3)\tEbbinghaus\u2019 und K\u00f6nig\u2019s Zeitschrift f. Psychologie S. 125.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nMaximilian Arrer.\nBewusstsein der gr\u00f6\u00dferen Anstrengung die Vorstellung der gr\u00f6\u00dferen Baumstrecke zu verbinden\u00ab '). Sollen ferner Bewegungs-, vor allem Convergenzempfindungen auf Grund der Erfahrung zu Zeichen der Tiefe werden, werden sie da nicht von Anfang an erlebt werden m\u00fcssen? Was sollte mit unserem Baumbewusstsein geschehen, wenn es blo\u00df vom Zufall abhinge, \u00bbwenn\u00ab einmal Einer die Wahrnehmung gr\u00f6\u00dferer Anstrengung erleben sollte, erst dann etc. ? Ich glaube, dass sich hier Schwierigkeiten auf decken, die kaum zu \u00fcberwinden sein d\u00fcrften1 2).\n1)\tEbbinghaus\u2019 und K\u00f6nig\u2019s Zeitschrift f. Psychologie S. 125.\n2)\tDa mir die der Erkl\u00e4rung der mitgetheilten Versuche zu Grunde gelegte Theorie wesentlich erscheint, glaube ich noch auf einige Einw\u00e4nde eingehen zu sollen, die Stumpf gegen die psychische Synthese von Bewegungsempfindungen und Qualit\u00e4ten der r\u00e4umlichen Sinne erhoben hat. Stumpf sagt: es gibt erstens F\u00e4lle, wo alle die Momente vorhanden sind, die zur Entstehung einer Raumvorstellung gefordert werden, und doch Raum nicht vorgestellt wird; und zweitens gibt es F\u00e4lle, wo nicht alle erforderlichen Momente vorhanden sind und Raum doch vorgestellt wird. (Ueber die psychologische Entstehung der Raumvorstellung S. 54 u. 106.) Ein Beispiel f\u00fcr den ersten Fall ist gegeben, wenn wir eine Reihe von T\u00f6nen singen, wir haben dann Ton-, also Sinnesqualit\u00e4tsempfindungen und Bewegungsempfindungen, aber keine Raumvorstellung (S. 55). Dieser Einwand richtet sich zwar zun\u00e4chst gegen Bain, nach dem die Bewegungsempfindungen durch die Unterschiede von Druck, St\u00e4rke, Spannung und Dauer das eigentliche Moment sind, das die Raumvorstellung hervorbringt. Es wird aber dann dieses Beispiel gegen die \u00bbpsychische Chemie\u00ab \u2014 Stumpf braucht diesen Ausdruck \u2014 f\u00fcr den Fall des Raumvorstellens \u00fcberhaupt geltend gemacht. Nun muss gesagt werden, dass das Beispiel so ungl\u00fccklich als nur denkbar gew\u00e4hlt ist. M\u00e4hrend zwischen Netzhautpunkten des Auges und dem Bewegungsmechanismus desselben ein inniger reflexartiger Zusammenhang besteht, besteht zwischen den Muskelactionen des Kehlkopfes und den Tonvorstellungen gar kein Zusammenhang, oder doch nicht mehr als zwischen einem Klavierhammer, der die Saite in Schwingungen versetzt, und dem geh\u00f6rten Tone. Das zweite Beispiel, beweisend f\u00fcr den zweiten der obigen F\u00e4lle, geh\u00f6rt dem Gebiete der Tastvorstellungen an. Stumpf sagt: wenn bei geschlossenen Augen die Hand auf dem Tische liegt, und zuerst nur ein kleiner Theil derselben mit einem glatten Metall von gleichm\u00e4\u00dfiger Temperatur bestrichen wird, dann ein gr\u00f6\u00dferer, so wird man Unterschiede in der Ausdehnung der bestrichenen Theile wahrnehmen. Desgleichen, wenn man bald gr\u00f6\u00dfere bald kleinere M\u00fcnzen auf legt. Bewegungsempfindungen haben hier, so meint Stumpf, gefehlt. Raum werde aber trotzdem vorgestellt. Nat\u00fcrlich, denn es waren weit mehr Elemente vorhanden, als die von Stumpf bek\u00e4mpften Theorien es fordern. Abgesehen davon, dass in einem Falle eine kleinere Anzahl sensibler Organe der Haut gereizt wurde als im anderen, und dass die verschiedenen Stellen der Haut ganz erfahrungsm\u00e4\u00dfig verschieden sind, sind mit den Tastqualit\u00e4ten Bewegungsempfindungen verschmolzen, da die betreffenden Glieder, also die Hand","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergent- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehraung. 255\n\u00a7 37. Nun noch einige Worte \u00fcber Lipps\u2019 Angriff gegen die Wahrnehmbarkeit der Tiefendimension. Lipps sagt: ein a kann in keiner Entfernung von einem b wahrgenommen werden, ohne dass 1) a und b, und 2) die Entfernung ab wahrgenommen wird1). Dies ist sicher, wenn a und b zwei au\u00dfer uns gegebene Objecte sind. Die Vorstellung der Tiefe aber, in der sich ein Object von uns befindet, ist etwas g\u00e4nzlich verschiedenes von der Vorstellung der Entfernung zweier au\u00dfer uns befindlicher Objecte. Dass wir die Objecte einmal nach au\u00dfen verlegen, ist eine schlechthin letzte Thatsache. Nicht als oh das eine einfache Function unserer Seele w\u00e4re, die uns der psychologischen Analyse unserer Tiefenvorstellungen entliehen w\u00fcrde, wohl aber insofern, als wir es von Geburt an so thun. Oder verbindet das Kind, das noch keine geregelte Erfahrung hat, auch, wie Lipps\u2019 Theorie es fqrdert, erfahrungsm\u00e4\u00dfig Convergenz-empfindungen mit seinen Gesichtsinhalten, um sie auf diese Weise zu localisiren? Kein Unbefangener d\u00fcrfte das meinen. Es zeigt sich aber, dass es mit seiner Entwicklung immer mehr lernt Tiefen zu unterscheiden. Gewiss macht es dabei mannigfache Erfahrungen. Aber gleichzeitig, und in gewissem Betracht vorher, entwickelt sich die Vorstellung des eigenen K\u00f6rpers. Er wird von den Objecten unterschieden, und alle Betrachtung und Beziehung der letzteren geht von ihm aus und geschieht in Bezug auf ihn. Das a, welches Lipps hei der von ihm bestrittenen Wahrnehmung der Tiefe vermisst, ist die Vorstellung des eignen K\u00f6rpers, der Ort, an dem er sich befindet. Die Convergenzempfindungen mit dem Gesichtsbilde des Objectes und die sog. secund\u00e4ren Motive aus der Erfahrung, jene als\nunz\u00e4hlige Male bewegt wurde, und bei jedesmaliger Reizung einer Hautstelle, wenn das Glied auch nicht bewegt wird, Bewegungsantriebe vorhanden sind. Dann aber wird bei Reizung einer Hautstelle immer, wenn in manchen F\u00e4llen auch noch so unbestimmt, das zugeh\u00f6rige Gesichtsbild reproducirt, was auf die Tastraumvorstellung selbst nicht ohne Einfluss ist. Ebenso, und in noch viel h\u00f6herem Ma\u00dfe, bestehen Bewegungsantriehe hei seitlicher Reizung der Netzhaut, wenn das Auge auch nicht bewegt wird (S. 59 ff.;. \u2014 Auch nach Stumpf sollen sich an die Convergenzempfindungen, sofern sie f\u00fcr das Tiefensehen in Betracht kommen, Tiefenvorstellungen associativ kn\u00fcpfen (S. 223 f.). Eine kaum begreifliche Ansicht, wenn man bedenkt, dass sich mit ver\u00e4nderter Tiefenvorstellung das ganze Raumbild ver\u00e4ndert.\n1) Grundthatsachen des Seelenlebens S. 547; Psychologische Studien S. 69.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nMaximilian Arrer.\nurspr\u00fcnglichere, diese als mehr secund\u00e4re, aber mindestens ebenso wichtige Momente, bestimmen \u00fcberall die Entfemungsvorstellung. F\u00fcr die Ausbildung der Tief en Vorstellungen hat der Hinweis auf die Erfahrung gewiss seine volle Berechtigung, aber nicht nur f\u00fcr ihre Ausbildung, sondern \u00fcberall wo es sich um eine solche handelt. Diese Tiefenvorstellungen haben dann vollkommen den Charakter von Wahrnehmungen. Dass die dritte Dimension nur \u00bbeine Annahme ist, die ich mache um meine thats\u00e4chliche r\u00e4umliche Wahrnehmung mit meinen sonstigen Erfahrungen in Einklang zu bringen\u00ab widerspricht nicht nur der Erfahrung, die jeder an sich gemacht, dass er, so lange die Continuit\u00e4t seines Bewusstseins zur\u00fcckreicht, immer mit den Fl\u00e4chenwahrnehmungen auch die der Tiefe hatte, sondern enth\u00e4lt auch eine Forderung in sich, deren Inhalt unm\u00f6glich ist. Dass die Tiefenvorstellungen den Charakter von Wahrnehmungen haben, gesteht Lipps in all den drei citirten Schriften und an denselben Orten zu, wo er ihre Wirklichkeit bestreitet. Die Vorstellung der dritten Dimension k\u00f6nnte aber niemals den Charakter der Wahrnehmung annehmen, wenn sie blo\u00df eine Annahme von mir w\u00e4re. Dass die entferntesten B\u00e4ume einer Allee ebenso gro\u00df sind wie die n\u00e4chsten, wei\u00df ich aus unz\u00e4hligen Erfahrungen, und nehme es immer wieder an, wenn ich die Allee hinabblicke, aber trotz dieser besseren Kenntniss kann es mir nicht gelingen, sie ebenso gro\u00df zu sehen, wie die unmittelbar vor mir stehenden. Wie sollte es da m\u00f6glich sein, eine dritte Dimension blo\u00df durch eine Annahme, und m\u00f6ge sie noch so nothwendig sein, zur sinnlichen Anschauung zu bringen, d. h. wirklich wahrzunehmen? Oder sollte Lipps gemeint haben, dass das Kind im Anfang keine Tiefenunterschiede wahrnimmt? Nun, dann ist es gewiss, dass auch im Sehfelde in keiner bewussten Weise im Sinne von Wahrnehmen irgend etwas unterschieden wird, es gibt dann auch keine Fl\u00e4chenwahmehmung. Endlich aber, wer die Raumwahrnehmung in irgend einem Sinne zugibt, der hat damit alles zugegeben, was in ihr enthalten ist, also auch die Tiefenwahrnehmung, denn letztere ist nicht etwas au\u00dferhalb jener, sondern blo\u00df eine bestimmte Beziehung in der Raumvorstellung \u00fcberhaupt.\n1) Grundthatsaehen des Seelenlebens S. 553.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergeriz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 257\n\u00a7 38. Ich habe in den letzten Paragraphen einige wesentliche Einw\u00e4nde ber\u00fccksichtigt, die gegen die Theorie der Versuche bereits geltend gemacht worden sind. Ich zweifle aber nicht, dass man auch gegen die mitgetheilten Versuche seihst vielleicht Einw\u00e4nde erheben wird. Zun\u00e4chst wird man mir vielleicht einwenden, dass nach der ganzen Beschreibung und Erkl\u00e4rung der Versuche der Gesichtsraum des Beobachters zu wenig von mancherlei unterscheidbaren Baum-gestalten reingehalten wurde : die Kanten des Blickrohrs waren, wenn auch etwas verwaschen, doch sichtbar, der Eaden erschien nicht immer gleich, und selbst die wechselnde Helligkeit kann zum Gegenstand des Vorwurfs erhoben werden. Denn es ist sicher, dass diese Momente dem Gesichtsraum des Beobachters, schon wenn er zum ersten Mal in das Blickrohr hineinsieht, nicht eine so g\u00e4nzlich unbestimmte und flache Form lassen, wie dies ohne alles das sein w\u00fcrde. Die Analyse, die der Beobachter in dem ihm gebotenen Gesichtsraume vornimmt, um sich mit H\u00fclfe dieses oder jenes Unterscheidbaren darin eine Tiefenvorstellung von bestimmter Form und Anschaulichkeit zu bilden, ist zweifellos durch die genannten und zum Gegenstand des Vorwurfs erhobenen Motive erleichtert. Ja man wird noch weiter gehen k\u00f6nnen und fragen, ob denn nicht die durch meine Versuche gewonnenen Resultate \u00fcberhaupt erst durch das Vorhandensein der oben genannten Motive zu Stande kamen, und so blo\u00df durch sie bedingt wurden? Man sieht, es sind Ein-wiirfe und Bedenken ernster Art, die wohl geeignet w\u00e4ren, den Werth des Bisherigen in Zweifel zu ziehen. Auch will ich sogleich bemerken, dass der,Inhalt der Vorw\u00fcrfe in mancher Beziehung berechtigt ist; doch hoffe ich, die Einw\u00e4nde gegen den Werth der Versuche durch andere bis dahin noch zur\u00fcckgehaltene Versuche und Beobachtungen beseitigen zu k\u00f6nnen.\nDies die Aufgabe des n\u00e4chsten Oapitels.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nMaximilian Arrer.\nOapitel HI.\nVersuch einer negativen Begr\u00fcndung der im vorigen Capitel gegebenen Erkl\u00e4rungen.\na. Negative Resultate.\n\u00a7 39. Die bisher mitgetheilten Versuche lehrten \u00fcbereinstimmend dass der Beobachter unf\u00e4hig war, relative Tiefenunterschiede zu erkennen, wenn er sich nicht eine Vorstellung von der absoluten Entfernung der Normaldistanz gebildet hatte.\nEs sei zun\u00e4chst hier wieder hervorgehoben, dass unter der Vorstellung der absoluten Entfernung nicht eine solche Vorstellung gemeint ist, die dem Beobachter sagt, wie viel Meter etwa das Object von seinen Augen entfernt ist, sondern eine Vorstellung, die ihm unter sonst gleichbleibenden \u00e4u\u00dferen und inneren Bedingungen nicht das eine Mal das Object in unmittelbare N\u00e4he, ein anderes Mal in beliebige Feme bringt, sondern die es stets in derselben in der Vorstellung anschaulich gegebenen Distanz erscheinen l\u00e4sst. Und ich meine, wo der Beobachter, sei es aus was immer f\u00fcr einem Grunde, nicht dazu gelangt sich eine solche anschauliche Vorstellung von der Distanz eines Objectes zu bilden, er auch nicht erkennen kann, ob eine ihm sp\u00e4ter gezeigte Distanz gr\u00f6\u00dfer oder geringer ist als eine unmittelbar vorher angeschaute.\n\u00a7 40. Unter denselben Bedingungen wie die bisherigen Beobachter zog ich, nach bereitwilliger Zusage, auch die Herren Fr. Kie-sow, Ussow und Taylor an die Versuche heran. Die in den Proto-collen verzeichneten Ergebnisse ihrer Bem\u00fchungen Tiefenunterschiede zu erkennen, weisen ein verzweifeltes Durcheinander falscher Urtheile auf. Ich experimentirte mit diesen Beobachtern zumeist parallel mit den \u00fcbrigen, deren Ergebnisse wir kennen lernten, ihr abweichendes Verhalten musste daher bald auffallen. Es blieb mir aber geraume Zeit g\u00e4nzlich unbegreiflich. Doch alsbald fiel mir bei dem Lesen der Protocolle auf, dass unter den Aussagen der inneren Wahrnehmung keinerlei Andeutung dar\u00fcber vorhanden war, dass diese Beobachter sich irgend wie eine Vorstellung von der Entfernung des Fadens","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 259\n\u00fcberhaupt bildeten: ihre einzigen Aussagen waren, sie sch\u00e4tzten die relative Entfernung nach der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Deutlichkeit oder scheinbaren St\u00e4rke des Fadens, und fast jedes Urtheil war begleitet von einer Bemerkung \u00fcber gro\u00dfe Unsicherheit. Als ich das bemerkte, stellte ich das Experimentiren mit diesen Herren zun\u00e4chst ein und arbeitete nur noch mit Herrn Taylor. Sp\u00e4ter nahm ich die Versuche mit Herrn Ussow wieder auf und stellte ihm die ausdr\u00fcckliche Frage, ob er das jeweilige Urtheil \u00fcber die relative Tiefenverschiebung aus Vergleichung der beiden ihm successiv dargebotenen Entfernungen erhalte, oder sonst wie? Darauf bekam ich die bezeichnende Antwort: er denke, es m\u00fcsste wohl irgend wie so verfahren werden, auch versuche er es so zu thun, doch bemerke er immer, dass dies eigentlich nie gelinge. So lange er durch das Blickrohr nach dem Faden blicke, sehe er ihn wohl in einer bestimmten Entfernung, nach Verschluss des Tubus oder der Augen aber werde das wahrgenommene Bild immer verwaschener, und er habe eigentlich keine rechte Vorstellung mehr von der Entfernung des angeschauten Objectes, und am allerwenigsten wenn er die Vergleichsdistanz zum Anschauen bekomme. Weitere Experimente konnte ich mit Herrn Ussow nicht machen, da er Leipzig verlie\u00df. Bei einem nochmaligen Versuch mit Herrn Kiesow antwortete er mir kurz, als ich ihm dieselbe Frage stellte: wenn er den Faden in der Vergleichsdistanz sehe, so wisse er eigentlich nicht mehr, wie weit der erste in der Normaldistanz war. Und Herr Taylor endlich sagte mir, es sei schwer, die beiden Distanzen wegen ihrer Unbestimmtheit zu vergleichen. Aus dieser Antwort glaubte ich entnehmen zu m\u00fcssen, dass sich Herr Taylor doch irgend wie eine bestimmtere Vorstellung von der Normaldistanz im Ged\u00e4chtnis\u00ab aufbewahre, doch konnte er dar\u00fcber nichts bestimmteres aussagen. Da mir dies aber fast sicher stand, theilte ich ihm mit, wie es die andern Beobachter machten. Herr Taylor versuchte dies Verfahren und merkte sogleich auf diesem Wege besser sch\u00e4tzen zu k\u00f6nnen, vor allem sicherer. Ich gebe nun in einer Tabelle zwei Versuchsreihen dieses Beobachters, eine erste, die dem urspr\u00fcnglichen, tastenden Verfahren entspricht, und eine zweite, die dadurch zu Stande kam, dass sich der Beobachter, so wie die \u00fcbrigen, eine anschauliche Entfernungsvorstellung (als Dreieck) von der Normaldistanz bildete, die er im Ged\u00e4chtniss gut\nWundt, Philos. Studien XIII.\t18","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nMaximilian Arrer.\naufbewahren konnte, und dann so verfuhr, wie es fr\u00fcher beschrieben wurde. Das Zeichen \u2014 bei den einzelnen Distanzen bedeutet,\nD\tI.\tV.\tII.\tV.\n\tSa\tSe\tSa\tSe\n20\t1\t1\t1\t0,5\n30\t1\t1\t1\t0,5\n40\t\u2014\t1,5\t2\t1\n60\t2,5\t3\t2\t2,5\n80\t\u2014\t\u2014\t2\t3\n100\t7\t9\t3\t4\n150\t\u2014\t\u2014\t5\t6\n180\t6\t\u2014\t5\t7\n200\t\u2014\t\u2014\t5\t7\ndass es hier nicht m\u00f6glich war, einen Schwellenwerth ausfindig zu machen,).\nIn diesen negativen Resultaten glaube ich einen ersten Beweis daf\u00fcr erblicken zu m\u00fcssen, dass ohne anschauliche Vorstellung von der absoluten Entfernung des Objectes auch relative Verschiebungen desselben nicht erfolgreich beurtheilt werden k\u00f6nnen. Es ist gewiss, dass die Beobachter in allen diesen Versuchen das Object in einer bestimmten Entfernung sahen; das gen\u00fcgte aber nicht, um diese auch im Ged\u00e4chtniss zu behalten und sie sp\u00e4ter mit Erfolg zu verwenden.\nDer mitgetheilte Beweis ist nicht der einzige, den ich zu geben habe. Auch werden andere Beweise deshalb erw\u00fcnscht sein, weil die Contr\u00f4le dieses ersten von dem Zufall abh\u00e4ngig ist, ob man gerade solche Beobachter findet, wie sie mir zur Verf\u00fcgung standen. Ich gehe deshalb zu einem directeren Beweise \u00fcber.\n1) Die Tabelle auf S. 139 entspricht demselben Verfahren.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Ttefenwahrnehmung. 261\nb. Monoculare Versuche bei simultaner Vergleichung von Entfernungsunterschieden.\n\u00a7 41. Wundt hat au\u00dfer den mitgetheilten Versuchen, in denen Normal- und Vergleichsdistanz successiv dem Beobachter gezeigt wurden, auch noch solche mitgetheilt, in denen er zwei F\u00e4den nebeneinander gleichzeitig dem Subjecte bot und dieses anzugeben hatte, welcher von ihnen der n\u00e4here bez. der weitere sei. Die auf diese Weise monocular angestellten Versuche ergaben bei Wundt nichts wesentlich Verschiedenes als die fr\u00fcheren1); die binoeularen zeigten dagegen weit geringere Entfemungsstrecken, so geringe, \u00bbdass sie bis zu 600 cm Distanz . . . fast unmessbar klein\u00ab waren, \u00bbdie allergeringste Verschiebung des einen Fadens gegen den andern wird noch wahrgenommen etc.\u00ab2). Ich habe diese Versuche wiederholt und die Resultate in der nachfolgenden Tabelle zusammengestellt. Da die Werthe Ca und Ce, die in den fr\u00fcheren Tabellen das Verh\u00e4ltniss der Entfernungsschwellen zu den absoluten Entfernungen ausdr\u00fccken, gen\u00fcgend die Genauigkeit, mit welcher die relativen Distanzunterschiede gesch\u00e4tzt werden, angeben, so gen\u00fcgt es hier, blo\u00df diese Werthe f\u00fcr die einzelnen Beobachter mitzutheilen. Es sind au\u00dfer diesen Werthen noch die Zahlen, die die gr\u00f6\u00dfte und geringste Abweichung vom berechneten Mittel ausdr\u00fccken, und au\u00dferdem auch noch das Mittel aller Abweichungen verzeichnet. Die Columne a gibt die Anzahl der Distanzen, aus denen das Mittel der Constanten berechnet ist.\n1)\tWundt, Beitr\u00e4ge S. 115fif.\n2)\tIbid. S. 197.\n18*","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nMaximilian Arrer.\nA II\tuaSunqoiaAqy .toflB ia\u00bb\u00efH\t\t7,25 3,6 6 12,5\n\tAb- weichung\tS\to\to\tt-\t*\u2014< co\tcs\tcs\tco\n\t\to\t60 40 50 60\n\t<2\t\t43,5 29 38 45\n\tuaSunqoiaAiqy \u00bb11\u00ae pWM\t\t00 \u2014'\t00\t^\t05\n\tAb- weichung\t3\t(40) 20 40 41,5\n\t\t\u00a9\t08 08 09 (09)\n\t\u00ab5\t\t(48,5) 46 46 51\nA I\tuaSunqaiaiiqy \u00bbII\u00ae pnjK\t\t7,3 2 7 5,7\n\tAb- weichung\t8\t27 15 26,5 30\n\t\t\u00a9\t60 26 50 46,5\n\t<3\t\tl-\t\u00abPH\tQO\two CO\tCS\tCO\tCO\n\tuaSunqaioMqy -tail's p'ttiK\t\t7 6,3 3.5 5.5\n\tAb- weichung\tS\tt-\u00bb\tCO\tCO\tB-H CS\tT-1\tco\tCO\n\t\t\u00a9\t60 44 53 60\n\tO\t\tCS\tCS\tO\ti-H ^\tCO\t^\n\u00d6\t\t\tCS\t05\tCS\t03\tO\nBeobachter\t\t\tHerr\tDr. Thi\u00e9ry .\t. \u00bb\tDr. Spitzer.\t. \u00bb\tFruit\t \u00bb\tTawney .... \u00bb\tDr. Kiesow.\t.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aceommodationsbew. f. d.Tiefenwahrnehmung. 263\nDie auffallend gro\u00dfen Abweichungen, besonders in den zweiten Versuchsreihen, kommen daher, dass bei den nahesten Distanzen 30 und 20 cm bei der Wiederholung der Versuche die relative Entfemungssch\u00e4tzung meistens doppelt so fein war, als in der ersten Versuchsreihe. Das gilt auch f\u00fcr die Tabellen auf S. 158 und 249.\nBei Herrn Thi\u00e9ry sind alle Werthe, die auf die Ann\u00e4herungssch\u00e4tzung Bezug haben, eingeklammert. Sie beziehen sich nur auf Versuche innerhalb der Distanzen vor 30\u2014125 cm; von 150 cm an blieben die Ann\u00e4herungsstrecken constant, die zwischen 2 und 3 cm schwankten. Worauf das beruht, kann ich nicht angeben; offenbar hatte Herr Thi\u00e9ry hierbei irgend ein Kriterium gehabt, dessen er sich nicht genug bewusst wurde, da er mir \u00fcber diese Versuche nichts Bemerkenswerthes mittheilen konnte. Vergleicht man diese Tabelle mit der auf Seite 249, so wird man vollkommene Uebereinstimmung in der Genauigkeit der relativen Entfernungssch\u00e4tzung allerdings nur bei Herrn Spitzer finden, was aber um so bemerkenswerther ist, als eben gerade er derjenige Beobachter war, der vor allen andern am richtigsten und bestimmtesten seine Urtheile abgab. Dagegen zeigt sich, dass bei den Herren Thi\u00e9ry und Tawney die Sch\u00e4tzung etwas genauer ist, wenn beide Entfernungsobjecte gleichzeitig im Gesichtsfelde gegeben sind. Doch scheinen bei diesen Beobachtern Motive im Spiel gewesen zu sein, die bei der Sch\u00e4tzung aus dem Ged\u00e4chtniss nicht vorhanden waren. Daf\u00fcr spricht schon der Umstand, dass bei Herrn Thi\u00e9ry von 150 cm aufw\u00e4rts die Ann\u00e4herungsstrecken in ihrem absoluten Werthe constant blieben; dann aber auch die Art und Weise, wie Herr Tawney sich bei diesen Versuchen verhielt. Bei diesem Beobachter lautete das Urtheil oft unbestimmt, oder es war ein doppeltes, d. h. weiter oder gleich und umgekehrt, oder n\u00e4her oder gleich und umgekehrt. Beagent gab n\u00e4mlich oft an, dass ihm im ersten Augenblick der verschiebbare Faden z. B. \u00bbweit\u00ab schien, dann aber \u00bbgleich\u00ab, selten umgekehrt. Doch wo sein Urtheil als entschieden \u00bbunbestimmt\u00ab galt, meinte der Beobachter, er nehme im ersten Augenblick nach dem Hineinsehen durch das Blickrohr eine Verschiedenheit der Entfernungen der F\u00e4den wahr, doch sehe er nicht, welcher von ihnen n\u00e4her oder weiter sei, versuche er aber durch scharfes Fixiren die beiden F\u00e4den in Bezug auf ihre","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nMaximilian Arrer.\nEntfernung zu vergleichen, so k\u00f6nne er jeden beliehigen der beiden F\u00e4den \u00bbn\u00e4her\u00ab oder \u00bbweiter\u00ab als den andern sehen.\nDass der Beobachter im ersten Augenblick oft wohl einen Unterschied der Entfernungen wahrnimmt, nicht aber angehen kann, welches Object das fernere und welches das n\u00e4here ist, scheint mir nicht selten darauf zu beruhen, dass die Aufmerksamkeit in der kurzen Zeit eines ersten Augenblicks noch nicht ausschlie\u00dflich auf die Objecte selbst gerichtet war. Was ich meine, ist: der Beobachter wirft seinen Blick durch das Blickrohr und sieht dort ein r\u00e4umliches Bild, in dem sich ihm auch Tiefenunterschiede darbieten. Um dann genau zu erkennen, welches Object n\u00e4her und welches weiter ist, fixirt er bald das eine bald das andere, wobei ihm das fixirte meist n\u00e4her erscheint. Das gilt nat\u00fcrlich nur f\u00fcr Entfernungsunterschiede, die hart an den in der Tabelle gegebenen Schwellenwerthen liegen, diese aber noch nicht erreichen.\nEndlich kam es vor, dass beim Uebergang von Entfernung zu Ann\u00e4herung oder umgekehrt fr\u00fcher abgegebene Urtheile corrigirt und in ihr Gregentheil verwandelt wurden, weil, so meinte der Beobachter, die Eindr\u00fccke verschieden seien. Alles dies bemerkte in dieser ausgesprochenen Weise auch Herr Hicks, mit dem ich gelegentlich solche Versuche ausf\u00fchrte. Wie weit solche Verh\u00e4ltnisse hei den andern Beobachtern mitspielten, war mir nicht eruirbar, da einige von ihnen mir nicht mehr zur Verf\u00fcgung standen, als ich mit Herrn Tawney arbeitete, und bei andern, wie hei den Herren Spitzer und Thie'ry, in den rein objectiven Ergebnissen Andeutungen dazu fehlen. Die Vergleichung der Ergebnisse des Herrn Fruit zeigt, dass die Entfernung genauer gesch\u00e4tzt wurde bei der Vergleichung aus dem Gred\u00e4chtniss, als bei der directen Vergleichung, umgekehrt die Ann\u00e4herung.\nBesonders hemerkenswerth ist es endlich, dass Herr Kiesow, der, wie wir sahen, ganz unf\u00e4hig war nacheinander gezeigte Entfernungen in ihrem Unterschiede zu erkennen, dies nun konnte, wenn die Vergleichung eine directe war. Und dabei zeigen seine Ergebnisse nichts von denen anderer Beobachter Abweichendes.\nDie Herren Spitzer, Kiesow und Fruit beschrieben ihr Verfahren bei diesen Versuchen in der Weise, dass sie zun\u00e4chst den Faden der Normal distanz fixiren und dann zur Vergleichsdistanz","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aecommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 265\n\u00fcbergehen. Dabei erkennen sie in verschiedener Weise den relativen Entfernungsunterschied der beiden. Manchmal, so meinten sie \u00fcbereinstimmend, gen\u00fcgt es, einen der F\u00e4den scharf zu fixiren, um zu bemerken, dass der andere in anderer Entfernung als der fixirte ist; ein anderes Mal wieder bildet sich das Urtheil, w\u00e4hrend man mit der Fixation von dem einen Faden zum andern \u00fcbergeht; endlich bemerkte mir Herr Fruit, dass er auf das Deutlich- oder Undeutlichwerden des einen Fadens merke, wenn er zum andern \u00fcbergehe, und dabei sein Auge in bestimmter Richtung willk\u00fcrlich bewege und accommodire ; in diesem Falle sch\u00e4tzte er nat\u00fcrlich nach einem secun-d\u00e4ren Kriterium. Man kommt aber bei diesen Versuchen \u00fcberhaupt leicht dazu, beim Uebergang der Fixation von einem Sehobject zum andern zu bemerken, in welcher Richtung man mit der Augenbewegung und Accommodation geht. Immerhin scheint dies mindestens bei den Herren Spitzer und Kiesow nicht das Moment gewesen zu sein, nach welchem sie ihre Urtheile in bewusster Weise richteten.\n\u00a7 42. Die psychologische Erkl\u00e4rung dieser Versuche braucht von der fr\u00fcher gegebenen nicht abzuweichen. Hier wie dort hat der Beobachter vor sich ein r\u00e4umliches Bild. Dass er hier nicht bem\u00fcht ist, sich eine Entfemungsvorstellung von so bestimmter Form zu bilden und in der Weise zu analysiren wie dort, ist begreiflich genug, da ihm beide Entfernungen, die er zu vergleichen hat, gleichzeitig gegeben sind. Immerhin sieht er die F\u00e4den in einer bestimmten Entfernung, hat auf sie seine Augen eingestellt, ist auf sie accommodirt. Die Muskelempfindungen, die diese Bewegungseinstellungen begleiten, werden auch hier als die Tiefenzeichen in der Raumvorstellung anzusehen sein.\nIn dem Fall, wo der Beobachter bei starrer Fixation nur eines Fadens die relative Verschiebung des andern erkennt, wird man sich den psychologischen Vorgang dieses Erkennens folgenderma\u00dfen denken k\u00f6nnen: indem der Beobachter den einen Faden fixirt und eine wie immer gestaltete Vorstellung von seiner Entfernung hat, ist seine Aufmerksamkeit auch auf den andern Faden gerichtet, dieser erscheint aber weniger deutlich als der fixirte, was schon bedingt, dass er in eine andere Entfernung verlegt wird als dieser. Es besteht dann aber auch, da er nicht mit dem Netzhautcentrum gesehen wird, ein Bewegungsantrieb, ihn auf dasselbe \u00fcberzuf\u00fchren, um so mehr,","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nMaximilian Arrer.\nals die Aufmerksamkeit ihm zugewandt ist. Ist die Gr\u00f6\u00dfe dieses Antriebes zur Bewegung (Innervationsempfindung) gro\u00df genug, um im Vergleich mit dem Accommodations- und Convergenzgrad, die der Entfernung des fixirten Fadens entsprechen, in Betracht zu kommen, so wird der seitlich gesehene Faden dementsprechend n\u00e4her oder weiter als der fixirte gesehen.\nGanz in derselben Weise ist der psychische Vorgang auch dort zu denken, wo sich dem Beobachter das Urtheil \u00fcber die relative Entfemungsverschiebung w\u00e4hrend des Ueberganges mit der Fixation von einem Entfernungsobject zum andern bildete. Die Bedingungen sind hier dieselben wie oben, nur dass hierbei die ausgef\u00fchrten Augen-und Accommodationsbewegungen dem Processe zu H\u00fclfe kommen, indem sie die sinnlichen Momente, die direct auf die Entfernungserkennung Bezug haben, verst\u00e4rken.\nOb freilich in diesen Versuchen die erkannten Tiefenunterschiede allein auf Rechnung der Accommodations- und Augenmuskelempfindungen zu setzen sind, d\u00fcrfte zweifelhaft sein, denn es ist sicher, dass, w\u00e4hrend der eine Faden scharf gesehen wird, der andere minder deutlich erscheint, und wenn sich die scheinbare Dicke des nicht scharf gesehenen Fadens auch noch lange nicht um so viel ver\u00e4ndert hat, als dass auf Grund dieser Ver\u00e4nderung schon ein Urtheil m\u00f6glich w\u00e4re, so kann die geringere Deutlichkeit immerhin unterst\u00fctzend wirken. Endlich, was hier noch mehr in Betracht kommt, eine Bewegung der Netzhautbilder ist nicht ausgeschlossen. Man wird nicht umhin k\u00f6nnen, diesen beiden Momenten, besonders dem zuletzt hervorgehobenen, einen Einfluss auf die Tiefensch\u00e4tzung in diesen Experimenten zuzuerkennen. Immerhin scheint dieser nicht besonders gro\u00df gewesen zu sein, wegen der Uebereinstimmung der Ergebnisse mit den fr\u00fcheren, wo eine Vergleichung aus dem Ged\u00e4chtniss stattfand. Von gr\u00f6\u00dferem Einfluss d\u00fcrfte er dagegen gewesen sein bei den Herren Thi\u00e9ry und Tawney, die, nachdem sie einmal erkannt hatten, dass sie im ersten Augenblick sofort die Tiefenverschiedenheiten wahrnehmen konnten, den Blick in fl\u00fcchtiger Bewegung \u00fcber beide F\u00e4den in diesem ersten Augenblick schweifen lie\u00dfen.\n\u00a7 43. Ueber die binocularen Versuche nur einige wenige Worte; f\u00fcr ihre Resultate gilt im wesentlichen das, was Wundt von ihnen sagte; die Versuchsanordnung ist zu wenig fein, sie l\u00e4sst nicht","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. (I. Bedeutung d. Converges- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 267\nAbstufungen zu, die klein genug w\u00e4ren, um die Feinheit der relativen Tiefensch\u00e4tzung zu untersuchen, wenn zwei Objecte gleichzeitig gegeben sind; bis auf lange Strecken hinaus wird jede geringste Verschiebung des einen Fadens noch erkannt. Es wirken hier die Doppelbilder, wie Wundt bemerkte, au\u00dfer durch das Besondere, was schon in ihnen allein vorliegt, auch dadurch, dass sie f\u00fcr die genaue Sehachseneinstellung fortw\u00e4hrend als Correctiv wirken. Als Hauptmoment muss aber in diesen Versuchen die Disparation der Bilder angesehen werden.\nDiese binocular ausgef\u00fchrten Versuche haben also hier f\u00fcr uns nach der Seite ihrer objectiven Ergebnisse kein actuelles Interesse. Von Interesse sind sie insofern, als sie ein g\u00e4nzlich verschiedenes Verhalten des Beobachters aufweisen als diejenigen bei den analogen monocularen Versuchen. Dort nimmt jener sofort und unmittelbar wahr, welcher der F\u00e4den der weitere und welcher der n\u00e4here ist; er gibt sich \u00fcber die absolute Entfernung derselben zun\u00e4chst gar keine Rechenschaft und abstrahirt g\u00e4nzlich von seinem \u00fcbrigen Gesichtsraum; seine Aufgabe ist wie von selbst gel\u00f6st, so wie er die Objecte gleichzeitig ansieht. Unmittelbarer kann man Tiefenunterschiede nicht erkennen als hier geschieht.\n\u00a7 44. Der Beweis f\u00fcr die vertretene Ansicht, dass in den fr\u00fcheren Versuchen eine Tiefensch\u00e4tzung nur dann m\u00f6glich war, wenn der Beobachter das Ganze des vor ihm liegenden r\u00e4umlichen Bildes ins Auge fasste, liegt hier vor allem darin, dass bei den zuletzt mitgetheilten monocularen Versuchen, bei denen die zwei F\u00e4den gleichzeitig dargeboten wurden, die Ausbildung einer Entfernungsvorstellung von bestimmter Form, wie sie dort erfordert wurde, unn\u00f6thig war, weshalb denn auch Herr Kiesow (und auch Herr Ussow, wie ich mich leider nur in einem Versuche \u00fcberzeugen konnte) unter diesen Bedingungen relative Tiefenunterschiede erkennen und sch\u00e4tzen konnte. Dass nat\u00fcrlich auch bei diesen Versuchen der Beobachter eine Vorstellung von der absoluten Entfernung des Objectes hatte, ist sicher und nicht zu vermeiden, diese verh\u00e4lt sich aber nicht anders, als jene unbestimmte, weil unanalysirte, die er auch bei den Ged\u00e4chtnissversuchen hatte. Ohne dies w\u00e4re die Ueber-einstimmung der psychologischen Vorg\u00e4nge dort und hier nicht m\u00f6glich. Dass endlich die numerischen Ergebnisse hier nur unbe-","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nMaximilian Arrer.\ntr\u00e4chtlich von jenen abweichen, d\u00fcrfte ein Beweis daf\u00fcr sein, dass die dort gewonnenen Resultate nicht allein das Ergebniss des bestimmten und bewussten Verfahrens von Seiten des Beobachters sind.\n\u00a7 45. Aber auch dieser zweite Beweis d\u00fcrfte Manchem ungen\u00fcgend erscheinen, da die Bedingungen immerhin allzu wenig von denen der zuerst mitgetheilten Versuche verschieden sind. So scheint es denn geboten, die Versuchsbedingungen abzu\u00e4ndern, und die ganze Versuchsanordnung so zu gestalten, dass das Unterscheiden von secun-d\u00e4ren Raumgestalten dem Beobachter \u00fcberhaupt nicht m\u00f6glich ist. Aber, so wird man andrerseits fragen k\u00f6nnen, wird es denn m\u00f6glich sein den Beobachter Urtheile \u00fcber Raumverh\u00e4ltnisse abgeben zu lassen, wo solche s. z. s. nicht mehr zu unterscheiden sind? Dennoch zeigt die Geschichte unseres Problems, dass etwas Aehnliches versucht wurde. Dieser Versuch und seine Ergebnisse sollen im Folgenden behandelt und dazu verwendet werden, einen letzten und endg\u00fcltigen Beweis in negativer Form f\u00fcr das zu erbringen, was bis jetzt mehr oder weniger positiv zu st\u00fctzen versucht wurde.\nc. Die Versuche von Hillebrand.\n\u00a7 46. Als Hering in Weiterbildung der von Panum schon ausgesprochenen Annahme specifischer Ortsempfindungen dazu kam, reine Tiefenempfindungen in seine Theorie einzuf\u00fchren, stellte sich ihm naturgem\u00e4\u00df auch die Aufgabe, das Tiefensehen mittelst dieser reinen \u00bbTiefengef\u00fchle\u00ab zu untersuchen. Die Aufgabe wird aber schwierig; wo dem Auge Fl\u00e4chen, Striche, Punkte als Objecte gegeben werden, da ist der gewaltige Einfluss des erworbenen Tiefensehens nicht zu eliminiren'). Deshalb bieten sich als geeignet f\u00fcr die Untersuchung der urspr\u00fcnglichen Tiefenwahrnehmung nur solche Objecte und Bedingungen, wo \u00bbAlles ausgeschlossen wird, was das erworbene Tiefensehen in Th\u00e4tigkeit versetzt\u00ab1 2). Solche Objecte sind die farblosen und raumleeren Umrisse von Bildern, d. h. \u00bbdie an sich farblose und raumleere Grenze zwischen zwei Farben\u00ab3), sie sind in der Wirklichkeit gegebene mathematische Linien.\n1)\tHering, Beitr\u00e4ge V. S. 287f.\n2)\tIbid S. 288.\n3)\tIbid.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergea*- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 269\n\u00a7 47. \u2018 Diesen Anforderungen entsprechend hat Franz Hillebrand einen Apparat construirt, an dem die unmittelbare Tiefen-localisation, d. h. die Localisation des Blickpunktes oder des Kernpunktes, untersucht werden sollte1). Hillehrand construirte diesen Apparat mit der ausgesprochenen Absicht, vor allem den Einfluss der Accommodation auf die Tiefenlocalisation zu untersuchen. Die Untersuchung geschah demgem\u00e4\u00df und, um auch die Disparation der Netzhautbilder auszuschlie\u00dfen, monocular. Es wird dann aber mit dem Einfluss der Accommodation auf die Tiefenlocalisation gleichzeitig der der Oonvergenz untersucht, wegen der bestehenden Association zwischen beiden. Um blo\u00df den Einfluss der Accommodation zu ermitteln, wurde bei der Construction des Apparates daf\u00fcr gesorgt, dass alle andern Localisationsmotive vollst\u00e4ndig ausgeschlossen waren. \u00bbDenn um die Localisation der primitiven Empfindung soll es sich handeln, nicht um die einer durch vorausgehende Erfahrung modificirten Empfindung\u00ab2). Der Beobachter blickte demnach durch einen kleinen Tubus, dessen vom Auge abgewandtes Ende durch ein oblonges Diaphragma von 1 cm Breite und 1,5 cm H\u00f6he abgeschlossen ist. Den Hintergrund des Apparates bildet eine Milchglasplatte, die selbstverst\u00e4ndlich keinerlei Unebenheiten der Farbe aufweist. Diese Platte wird von r\u00fcckw\u00e4rts aus gleichm\u00e4\u00dfig beleuchtet. Nun wird zwischen dem Beobachter und der matten Milchglasplatte ein schwarzer Schirm eingef\u00fchrt, der mit seiner scharf und tadellos geschnittenen Kante bis an die Symmetrieebene des Auges ragt, d. h. das Gesichtsfeld in zwei gleiche H\u00e4lften theilt. Dieser Schirm l\u00e4sst sich an einer horizontalen Tafel l\u00e4ngs einer graduirten Leiste bewegen. Au\u00dferdem ist die Vorrichtung getroffen, dass der Schirm rasch aus dem Gesichtsfelde ger\u00fcckt werden kann, und gleichzeitig ein anderer von der anderen Seite her in dasselbe hereinr\u00fcckt. War also zuerst z. B. die rechte H\u00e4lfte des Gesichtsfeldes schwarz und die linke beleuchtet, so wird nun im zweiten Falle umgekehrt die linke schwarz sein und die rechte hell. Das Object, auf das accommodirt wird, ist die Kante\n1)\tHillebrand, \u00bbDas Verh\u00e4ltniss von Accommodation und Convergenz zur Tiefenlocalisation\u00ab, Ztschr. f. Psychologie von H. Ebbinghaus u. K\u00f6nig, Bd. VII. S. 97.\n2)\tHillebrand, a. a. O. S. 108.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nMaximilian Arrer.\ndes schwarzen Schirmes, die sich von der hell beleuchteten Milchglasplatte scharf abhebt.\nDie doppelte Einrichtung des Apparates wurde deshalb getroffen um zwei verschiedene Olassen von Versuchen anzustellen. Eine erste bestand darin, dass nur ein Schirm im Gesichtsfelde des Beobachters sich befand, und dieser allm\u00e4hlich weiter und n\u00e4her ger\u00fcckt wurde, so dass der Beobachter mit der Accommodation ebenfalls continuir-lich folgen konnte. Ein anderes Mal wurden beide Schirme benutzt in der Weise, dass zun\u00e4chst der eine, z. B. der rechte, in einer bestimmten Entfernung dem Beobachter gezeigt wurde. Hat dann dieser auf ihn genau accommodirt, so wurde pl\u00f6tzlich dieser Schirm aus dem Gesichtsfelde herausger\u00fcckt und der andere von links hereinger\u00fcckt. Dies geschah nat\u00fcrlich sehr schnell, auch verschwand der eine Schirm in dem Augenblicke, wo der andere eintrat. Es unterscheidet sich demnach die erste Versuchsserie von der zweiten darin, dass dort die Tiefensch\u00e4tzung bei continuirlichem Wechsel der Accommodation stattfand, hier hei abruptem Wechsel derselben.\nDie Versuche von Hillehr and hat bald nach deren Ver\u00f6ffentlichung E. T. Dixon wiederholt und durch neue bereichert1). Bei ihrem Erscheinen war ich seihst mit der Wiederholung der Hille-brand\u2019schen Versuche besch\u00e4ftigt, und so konnte ich die Verbesserungen, die Dixon an dem oben beschriebenen Apparat anbrachte, nicht mehr ber\u00fccksichtigen2).\n1)\tE. T. Dixon, \u00bbOn the Relation of Accommodation and Convergence to our Sens of Depth\u00ab, Mind, 1895. Nr. 14.\n2)\tDixon meinte, dass in der zweiten Versuchsreihe von Hillebrand das Hinaus- und Vorschieben der Schirme erstens eine zu lange Zwischenzeit erfordere als w\u00fcnschenswerth sei; zweitens aber erschwere der Wechsel von Hell und Dunkel innerhalb desselben Versuches die Tiefensch\u00e4tzung. Deshalb setzt Dixon beide Schirme auf dieselbe Seite des Apparates und trifft eine Vorrichtung, die ihm gestattet, die eine Kante aus der mittleren L\u00e4ngsachse des Sehfelaes in horizontaler Richtung zur\u00fcckzuschieben, wenn die andere vorgeschoben wird (a. a. O. S. 196). Es bleiben dann die Beleuchtungsverh\u00e4ltnisse dieselben, und die geringe Strecke, um die eine Kante vor- oder zur\u00fcckgeschoben werden soll, erfordert auch eine geringere Zeit, als dies in den Versuchen von Hillebrand und mir der Fall sein konnte. \u2014 Ich kann die Vorz\u00fcge des so modificirten Apparates, sofern sie praktisch in Betracht kommen, nicht beurtheilen, doch gestatten mir meine Protocolle zu sagen, dass sich darin keine Klagen von Seiten der Beobachter verzeichnet finden, die sich auf die Zeitdauer der Schirmverr\u00fcckuug","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 271\n\u00a7 48. Die Versuche der ersten Classe bei continuirlichem Verschieben der Kante und eben solchem Wechsel der Accommodation ergaben sowohl hei Hille brand als auch bei Dixon ein g\u00e4nzlich negatives Resultat. Der Beobachter war in Hillebrand\u2019s Versuchen meistens v\u00f6llig unf\u00e4hig Anfang, Dauer und Auf h\u00f6ren der Verschiebung des Schirmes zu erkennen, und wo er sich dazu zwang, da waren es immer andere, oft entlegene Motive, etwa das durch die Verschiebung hervorgerufene Ger\u00e4usch, nach denen er sich richtete, um die Verschiebung nicht zu sehen, sondern zu erschlie\u00dfen. Ein in das Gesichtsfeld gebrachtes Aubert\u2019sches Diaphragma, welches der Experimentator auf demselben Platze stehen lie\u00df, und dessen Oeffnung er nur vergr\u00f6\u00dferte oder verkleinerte, wurde dementsprechend n\u00e4her oder weiter gesch\u00e4tzt. Jede Frage des Experimentators wurde vom Beobachter auf ihren Sinn interpretirt und der Versuch gemacht, danach eine Anwendung auf die Erkennung der Tiefenverschiebung zu machen.\nEbenso erfolglos waren die Versuche von Dixon in dieser Classe. Nur ein Beobachter konnte mit gro\u00dfer Genauigkeit die Distanzverschiebungen erkennen, indem er sich eines \u00bbTricks\u00ab bediente. Er fixirte n\u00e4mlich die Accommodation w\u00e4hrend einer gewissen Zeit, um sie dann pl\u00f6tzlich in einer bestimmten Richtung zu ver\u00e4ndern. Auf diese Weise gab er einmal elf richtige und zwei falsche Urtheile ab, w\u00e4hrend er f\u00fcnf andere Male unsicher blieb. Die Bedeutung dieses Ergebnisses erblickt Dixon darin, dass es zeige, dass zwischen der ersten und der zweiten Art der Hillebrand\u2019schen Versuche jener wesentliche Unterschied, den dieser Forscher setzt, nicht bestehe, was ihn dann veranlasst, sich nur der zweiten Classe von Versuchen bei abruptem Wechsel der Entfernungsunterschiede zuzuwenden1). Indessen ist es leicht ersichtlich, dass Dixon hier die wesentlichste Bedingung der ersten Versuchsclasse unbeachtet lie\u00df. Da hier, falls\nbeziehen; dagegen bestanden Beschwerden dar\u00fcber, dass der starke Contrast von Hell und Dunkel dem Auge \u00fcberhaupt schon in kurzer Zeit l\u00e4stig werde. Und ein Beobachter theilte mir mit, dass ihm der Contrast von Hell und Dunkel dann noch gr\u00f6\u00dfer erscheine, wenn beim Wechsel der Schirme die bisher beschattete H\u00e4lfte der Retina pl\u00f6tzlich beleuchtet und die beleuchtete beschattet werde, und er war dann geneigt, die Kante des nun dunkler erscheinenden Schirmes f\u00fcr n\u00e4her zu halten.\n1) Dixon, a. a. O. S. 198.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nMaximilian Arrer.\nnur jene Mittel von Seiten des Beobachters willk\u00fcrlich herbeigeschafft werden, die in der zweiten Versuchsserie durch die Versuchsbedin-gungen schon gegeben sind, die Tiefenunterschiede ebenso wie dort gesch\u00e4tzt werden k\u00f6nnen, schlie\u00dft Dixon, zwischen beiden Versuchs-classen bestehe kein Unterschied. Aber nicht darum handelt es sich hier, wie \u00fcberhaupt bei continuirlichem Wechsel der Tiefendistanzen eine Sch\u00e4tzung m\u00f6glich ist, sondern lediglich darum, ob und wie eine Tiefensch\u00e4tzung bei continuirlichem Wechsel der Accommodation m\u00f6glich ist. Und der Fall, der uns in dem einen Fall Dixon\u2019s gegen\u00fcber den andern Beobachtern entgegentritt, ist nur geeignet, den von Hillebrand gesetzten Unterschied zwischen den beiden Yersuchsclassen zu best\u00e4tigen.\n\u00a7 49. Die zweite Versuchsserie bei abruptem Wechsel der Entfernungen ergab f\u00fcr Hillebrand, dass innerhalb gewisser Intervalle die Entfemungsverr\u00fcckungen ziem\u00fcch richtig beurtheilt wurden. Es ergaben sich hierbei individuelle Unterschiede, doch blieb immer f\u00fcr einen und denselben Beobachter die Dioptriedifferenz der Unterschiedsstrecken f\u00fcr verschiedene absolute Distanzen im wesentlichen gleich gro\u00df. Sie variirte f\u00fcr s\u00e4mmtliche Beobachter (f\u00fcnf) zwischen 2D und 0,5D. Doch ergab sich auch bei diesen Versuchen, dass die Distanzunterschiede nicht gesehen, sondern aus secund\u00e4ren Kriterien (von denen weiter unten) erschlossen wurden.\nWas den von Wundt gefundenen Unterschied zwischen der Gr\u00f6\u00dfe der Entfernungs- und der Ann\u00e4herungsstrecke anbelangt, so ergab sich f\u00fcr Hillebrand, dass f\u00fcr zwei Beobachter die Beobachtung von Wundt zutraf, f\u00fcr zwei andere war die Entfernungsstrecke geringer als die Ann\u00e4herungsstrecke, und f\u00fcr Herrn Hillebrand selbst bestand kein Unterschied. Hillebrand gibt aber selbst zu, dass seine Versuche mit denen von Wundt in diesem Punkte eigentlich nicht vergleichbar seien. Wundt ver\u00e4nderte die Entfernung stets von einem und demselben Punkte aus, und da musste sich, wie Hillebrand richtig hervorhebt, schon allein auf Grund der geometrisch-optischen Einrichtung des Auges f\u00fcr gleiche Accommo-dationsanspannungen ein Unterschied f\u00fcr Entfernung und Ann\u00e4herung ergeben. Hillebrand hatte dagegen nicht immer denselben Ausgangspunkt. Dass aber auch f\u00fcr diesen Fall die von Hillebrand bestrittene Beobachtung nicht besteht, ist durch seine Beobachtungen","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"(Jeb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 273\nkeineswegs erwiesen. Mit demselben Rechte, mit dem er zwei zu Gunsten seiner Ansicht sprechende F\u00e4lle gegen zwei zu Gunsten des Gegners anf\u00fchrt, kann man auch umgekehrt verfahren, und man wird schlie\u00dflich eingestehen m\u00fcssen, dass mit dieser Zahl von Beobachtungen die Frage nicht gel\u00f6st werden kann. Doch ich komme weiter unten bei Gelegenheit der Mittheilung und Besprechung der selbst ausgef\u00fchrten Versuche darauf noch einmal zu sprechen.\nDie Versuche von Dixon ergaben nur eine Best\u00e4tigung der von Hillebrand gewonnenen Resultate, mit dem einzigen Unterschiede, dass bei Dixon noch Distanzunterschiede, die weit geringeren Dioptriedifferenzen entsprechen als bei Hillebrand \u2014 bei einem Beobachter bis 0,05 D \u2014 noch ziemlich richtig beurtheilt werden konnten. Unentschieden blieb bei Dixon auch die Frage nach der Differenz der Unterschiedsstrecken f\u00fcr Entfernung und N\u00e4herung.\n\u00a7 50. Trotz der wesentlichen Uebereinstimmung der Versuchsergebnisse beider Forscher sind die Erkl\u00e4rungen, die sie ihren Resultaten gaben, doch sehr verschieden.\nDass zur Erkl\u00e4rung die Muskelempfindungen aus Accommodation und Convergenz nicht herbeigezogen werden k\u00f6nnen, steht f\u00fcr Hillebrand durch die erste Versuchsclasse sicher. Denn dort haben sich zweifellos sowohl Accommodation wie Convergenz ge\u00e4ndert, und trotzdem war eine Tiefensch\u00e4tzung, vor allem ein. Sehen der Tiefenbewegung, bei keinem Beobachter vorhanden. Und auch in der zweiten Versuchsclasse wurden die Entfernungsunterschiede weder gesehen noch unmittelbar erkannt, sondern blo\u00df erschlossen. Der Versuch mit dem Aubert\u2019schen Diaphragma ist Hillebrand besonders daf\u00fcr beweisend, dass in den Muskelempfindungen weder ein \u00bbanschauliches Empfindungsdatum\u00ab, noch ein Associationsglied f\u00fcr \u00bbRaumempfindungen\u00ab gegeben sei ').\nDie Erkl\u00e4rung, die Hillebrand gibt, ist folgende: Wenn nach geh\u00f6riger Fixation der einen Kante pl\u00f6tzlich die zweite in das Gesichtsfeld tritt, so erscheint sie zun\u00e4chst in Zerstreuungskreisen. Diese k\u00f6nnen aber nicht der Grund sein f\u00fcr die Sicherheit der Entfemungs-oder Ann\u00e4herungssch\u00e4tzung, denn in ihnen ist nichts (au\u00dfer f\u00fcr den ganz besonders Ge\u00fcbten), was eine Hindeutung ob ferner oder n\u00e4her\n1) A. a. O. S. 124.","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nMaximilian Arrer.\nenthielte, auch ist in ihnen kein Hinweis daf\u00fcr vorhanden, nach welcher Richtung die Accommodation gehen soll. Der Vorgang wird vielmehr, so schreibt Hillebrand, folgender sein: \u00bbDas zweite Object tritt auf und wird unscharf gesehen ; in dem Bestreben des Deutlichsehens beginnt der Beobachter seine Accommodation nach einer der beiden m\u00f6glichen Richtungen (also z. B. f\u00fcr die N\u00e4he) zu \u00e4ndern-war die Richtung dieser Aenderung die passende, so werden die Zerstreuungskreise kleiner und verschwinden endlich ganz, der Gegenstand wird scharf gesehen; war sie aber unpassend (spannt er z. B. die Accommodation an, w\u00e4hrend das Object ferner liegt), dann wird das Bild nur noch undeutlicher und der Beobachter merkt alsbald, dass er den verkehrten Weg gegangen war und umkehren m\u00fcsse; er gibt also die entgegengesetzte Innervation und gelangt so zum gew\u00fcnschten Ziele. Nun wei\u00df man aber hei willk\u00fcrlich intendirter Accommodations\u00e4nderung, in welchem Sinne man die Aenderung vorgenommen hat. Oh ferner die Aenderung eine passende war oder nicht, dies erkennt man aus dem Gr\u00f6\u00dfer- oder Kleinerwerden der Zerstreuungskreise ; und diese zwei Daten reichen hin, um zu erkennen, ob man es mit einem n\u00e4her- oder fernergelegenen Objecte zu thun hat. Die Richtung des Unterschiedes wird also hier durch eine Art Ausprohirens erkannt. Aehnlich wird auch der Vorgang zu denken sein in den wenigen F\u00e4llen, in welchen bei bewegtem Objecte und stets folgender Accommodation (erste Versuchsclasse) die Richtung der Verschiebung mit Sicherheit erkannt wird. Wenn der Beobachter in einzelnen F\u00e4llen einen bewussten Impuls, z. B. im Sinne der Anspannung gibt und dabei sieht, oh er das Deutlichsehen damit f\u00f6rdert oder sch\u00e4digt, dann mag er die Richtung der Bewegung sicher erkennen. Wenn er dies nicht thut, so entstehen beim ersten Moment des Undeutlichwerdens (d. h. sobald der Gegenstand die Accommo-dationslinie \u00fcberschritten hat) unwillk\u00fcrliche Schwankungen in der Accommodation, die passende Phase dieser Schwankungen erh\u00e4lt sich, weil sie dem Scharfsehen und damit unserer Absicht dient, und setzt sich automatisch fort, \u2014 auf diese Weise aber wird die Richtung nicht erkannt\u00ab ').\n1) A. a. O. S. 131\u2014133.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accominodatioiisbevv. f. d. Tiefenwahrnehmung. 275\nEin m\u00f6glicher Einwand vom Standpunkte dieser Erkl\u00e4rung seihst bleibt Hillebrand nicht verborgen. Es k\u00f6nnte Jemand fragen, weshalb sich nicht auch bei abruptem Wechsel der Schirme die passende Accommodations\u00e4nderung automatisch fortpflanzen sollte? Unter dieser Annahme w\u00e4re dann nicht mehr einzusehen, weshalb eine nicht intendirte Accommodation einmal nichts, ein anderes Mal etwas leisten soll, oder es w\u00e4re die ganze Erkl\u00e4rung von Hillebrand unrichtig. Hillebrand wehrt diesen Einwand ab, indem er meint, dass, wenn eine unwillk\u00fcrliche Accommodations\u00e4nderung dem Sinne nach passend sei, sie es noch nicht dem Ma\u00dfe nach sein m\u00fcsse. Eine passende Accommodations\u00e4nderung werde sich nur dann automatisch fortpflanzen, wenn sie gleich von Anfang an das Deutlichsehen zur Folge gehabt habe; war dies nicht der Fall, so werde eine willk\u00fcrliche Innervation n\u00f6thig *). Daraus erkl\u00e4rt Hillebrand auch die Fehl-urtheile, wenn die Entfernungsunterschiede unter den von ihm gefundenen Gr\u00f6\u00dfen bleiben. Es muss die Gr\u00f6\u00dfe der unwillk\u00fcrlichen Accommodations\u00e4nderung \u00fcberschritten werden, von der Hillebrand annimmt, dass sie beschr\u00e4nkt sei1 2).\nFassen wir die vorgetragene Erkl\u00e4rung kurz zusammen, so wird man sagen m\u00fcssen: es ist die von Hering schon in seinen Beitr\u00e4gen vertretene Ansicht der willk\u00fcrlich intendirten Bewegung. \u00bbEs erweist sich\u00ab, so schreibt Hillebrand in seiner Schlussbetrachtung, \u00bbder bewusste Willensimpuls als das f\u00fcr das Erkennen der relativen Entfernung entscheidende3).\n\u00a7 51. Bevor ich zur Kritik der Hilleb rand\u2019sehen Versuche und ihrer Erkl\u00e4rung \u00fcbergehe, will ich noch diejenige von Dixon sowie seine kritischen Bemerkungen gegen Hillebrand hier in K\u00fcrze vortragen.\nDixon entnimmt das endg\u00fcltige Ergebniss seiner Versuche haupts\u00e4chlich den Zeugnissen der inneren Wahrnehmung seiner Beobachter. Alle Beobachter richteten sich nach der Undeutlichkeit der Kante, Avie sie im ersten Augenblicke erschien, und sodann nach der L\u00e4nge der Zeit, die sie verbrauchten, um sie deutlich zu sehen. Besonders bemerkt Dixon, dass er in den F\u00e4llen, wo er die Vergleichskante als n\u00e4her beurtheilte, wobei er meistens richtig urtheilte, er deutlich\n1) A. a. O. S. 135.\t2) Ibid. S. 134.\t3) Ibid. S. 147.\nWundt, Philos. Stadien XIII.\n19","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nMaximilian Arrer.\nmerkte, dass er f\u00fcr die Accommodationseinstellung f\u00fcr N\u00e4her eine l\u00e4ngere Zeit brauchte als f\u00fcr Weiter. Das Resultat seiner Beobachtungen fasst Dixon folgenderma\u00dfen zusammen: 1) Es scheint, dass das Urtheil, mittelbar oder unmittelbar, sich auf die Accommo-dations\u00e4nderungen gr\u00fcndete; 2) dem Zeugnisse der inneren Wahrnehmung zufolge scheint es, dass das wirkliche Kriterium in dem Unterschied der Schnelligkeit oder Leichtigkeit lag, mit der sich die Accommodation einstellte (oder vom Beobachter eingestellt wurde), nicht aber in einer bewussten Direction der Accommodation von Seiten des Beobachters. (Hier bestreitet also Dixon die von Hillebrand gegebene Erkl\u00e4rung.) Endlich 3) glaubt Dixon schlie\u00dfen zu k\u00f6nnen, dass die Ver\u00e4nderungen, denen das Kriterium entnommen wird, im gew\u00f6hnlichen Leben wenigstens, unbewusst und mit der Vorstellung der Tiefe associirt sind, selbst wenn sie an der Erzeugung dieser keinen Antheil haben ').\nWas an dieser Zusammenfassung auf fallen muss, ist, dass in ihr die Muskelempfindungen ganz aus dem Spiel gelassen sind, oder, sofern die Zeitdauer der Accommodation das Moment abgeben soll, nach welchem der Beobachter in diesen Versuchen bef\u00e4higt sei, \u00fcber Tiefenunterschiede zu urtheilen, so sind darin zun\u00e4chst nur die Accom-modationsempfindungen eingeschlossen. Sind es nicht auch die Con-vergenzempfindungen? Dixon antwortet, dass dar\u00fcber im Augenblicke nichts ausgesagt werden k\u00f6nne, so lange man nicht vollkommen sicher wisse, ob die bestehende Association zwischen Accommodation und Convergenz auch thats\u00e4chlich unter den besonderen Bedingungen dieser Versuche wirksam werde. Eine besondere Untersuchung \u00fcber diesen Punkt f\u00fchrte Dixon zu einem unbestimmten Resultat, und er l\u00e4sst daher die Frage am Ende unentschieden1 2).\n\u00a7 52. Ich gehe nun dazu \u00fcber, die von mir selbst an dem Apparat von Hillebrand angestellten Versuche mitzutheilen.\n1)\tDixon, a. a. O. S. 201.\n2)\tIch glaube, diese an sich interessanten Untersuchungen von Dixon hier \u00fcbergehen zu k\u00f6nnen. Denn die n\u00e4chsten Bl\u00e4tter d\u00fcrften lehren, dass es bei diesen Versuchen ganz einerlei ist, ob die Convergenz wirklich mitgeht oder nicht. Die negativen Ergebnisse sind hier durch ganz andere Umst\u00e4nde nothwendig bedingt.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Conragenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefeuwahrnehmung. 277\nDie Experimente der ersten Versuchsclasse ergaben ein negatives Resultat, und zwar, ebenso wie bei Hillebrand und Dixon, weniger nach der Zahl der richtigen und falschen Urtheile, als nach der Art, wie diese Urtheile zu Stande kamen, und der Raumstrecke, innerhalb welcher sie sich bewegten. Ich theile in tabellarischer Uebersicht die Ergebnisse von f\u00fcnf Beobachtern der Reihe nach mit. I) bezeichnet die Distanz, von welcher aus die Verschiebung vorgenommen wurde (der Beobachter wusste nicht, ob immer dieselbe als Ausgang eingehalten wurde); Fe bedeutet die Zahl der falschen Angaben, die auf je zehn Verschiebungen nach der Entfernung, Fa auf ebenso viele der Ann\u00e4herung vorkamen; u unter Fe und Fa. enth\u00e4lt die Zahl der unerkannten Verschiebungen; es sind das F\u00e4lle, wo trotz gr\u00f6\u00dfter Verschiebungen des schwarzen Schirmes, die der Apparat noch zulie\u00df, diese selbst gar nicht bemerkt wurden; S enth\u00e4lt unter e die Verschiebungsstrecken, innerhalb derer die Urtheile der erkannten Entfernungsverr\u00fcckungen, unter a die der Ann\u00e4herungen fielen. Alle Gr\u00f6\u00dfen bedeuten Centimeter.\nBeobachter: Herr Dr. Thi\u00e9ry. Rechtes Auge.\nD\tFe\t\tFa\t\tS\t\n\t\tu\t\tu\te\ta\n20\t2\t3\t1\t\t3\u20147\t1\u20145\n30\t3\t\t4\t\t3\u20149\t2\u20147\n40\t1\t1\t1\t2\t2-12\t2\u201430\n50\t1\t\t2\t\t3\u201414\t5\u201420\n60\t5\t\t3\t1\t2\u20146\t2\u20146\n70\t3\t\t5\t\t2-4\t2\u20147\n80\t3\t\t4\t\t2-5\t2\u20147\n90\t4\t\t5\t\t4\u20145\t2\u20146\n100\t3\t\t4\t\t5\u201410\t2\u20147\n19*","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"Maximilian Arrer.\nBeobachter: Herr Fruit. Rechtes Auge.\nD\tFe\t\tFa\t\tS\t\n\t\tu\t\tu\te\ta\n20\t0\t2\t2\t\t3\u201412\t3\u20145\n30\t3\t\t4\t\t6\u201415\t6\u20147\n40\t3\t\t1\t2\t7\u201415\t11\u201420\n50\t6\t\t5\t\t7\u201435\t10\u201420\n60\t2\t1\t1\t1\t18\u201435\t16\u201429\n80\t2\t2\t6\t\t21\u201428\t22\u201444\n100\t2\t1\t3\t\t18\u201427\t26\u201450\nBeobachter: Herr Tawney. Rechtes Auge.\nD\tFe\t\tFa\t\t\u00ab\t\n\t\tu\t\tu\te\ta\n20\t4\t\t3\t\t3\u20145\t3\u20145\n30\t3\t1\t2\t1\t5\u201410\t5\u201410\n40\t3\t1\t4\t\t5\u20147\t3\u201413\n50\t2\t\t4\t1\t5\u201410\t4\u201411\n60\t5\t\t4\t\t6 \u2014 10\t4\u201412\n70\t3\t\t2\t2\t5\u201414\t8\u201415\n80\t6\t\t3\t\t4\u201412\t4\u201414\n90\t6\t\t3\t\t4\u201412\t3\u201415\n100\t2\t\t5\t\t6\u201413\t3\u201411","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Heb. d. Bedeutung d. Converges- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahruehmung. 279\nBeobachter: Herr Ussow. Linkes Auge.\nD\tFe\t\tFa\t\tS\t\n\t\tu\t\tu\te\ta\n20\t7\t1\t2\t2\t3\u20147\t4-6\n30\t1\t\t\u2014\t2\t3\u20149\t7\u20149\n40\t5\t1\t2\t\t3\u201420\t3\u201410\n50\t4\t1\t1\t\t3\u201416\t3\u20148\n60\t3\t\t3\t\t3\u201420\t2\u20147\n70\t3\t\t\u2014\t\t3\u201422\t6\u201416\n80\t3\t2\t\u2014\t\t9\u201424\t7\u201425\n100\t\u2014\t4\t\u2014\t2\t8\u201425\t8\u201427\nBeobachter: Herr Hicks. Beeiltes Auge.\nD\tFe\t\tFa\t\t8\t\n\t\tu\t\tu\te\ta\n20\t2\t1\t. 1\t2\t2\u20145\t3\u20146\n30\t3\t1\t1\t1\t3-7\t2\u20146\n40\t3\t\t2\t\t4\u201418\t4\u201410\n50\t5\t1\t2\t\t4\u201433\t6\u201420\n60\t4\t\t4\t1\t6\u201413\t5\u201413\n80\t5\t\t4\t\t7\u201420\t4\u201416\nMan ersieht aus diesen Tabellen, dass die Zahl der falschen Urtheile im Durchschnitt l/3 aller und auch noch weniger betr\u00e4gt; sieht man aber die Entfernungsstrecken an, in die sie sich vertheilen, und ich muss noch hinzuf\u00fcgen, dass die geringeren Unterschiedsstrecken nur selten vorkamen, so muss das Besultat als ein negatives","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nMaximilian Arrer.\nbezeichnet werden. Nur die n\u00e4chsten Distanzen, 20 und 30 cm, scheinen eine geringe Ausnahme zu machen. Die Resultate m\u00fcssen aber um so mehr negative genannt werden, wenn man sich das Verfahren der Beobachter seihst dahei vergegenw\u00e4rtigt. Alle f\u00fcnf Beobachter erkannten schnell, dass sie beim continuirlichen Nachgehen mit der Accommodation Tiefenverschiebungen \u00fcberhaupt nicht erkennen k\u00f6nnen. Zudem war ein solches Verfahren sehr erm\u00fcdend, denn um mit der Accommodation wirklich folgen zu k\u00f6nnen, musste der Beobachter seine ganze Aufmerksamkeit dem Scharfsehen der Kante zuwenden. Dieses Bem\u00fchen ist aber, sofern es sich darum handelt, einer mathematischen Linie nahe zu kommen, vergeblich, da die Kante wegen der starken Irradiation, die hier besteht und verm\u00f6ge der starken Helligkeitsunterschiede der beiden Fl\u00e4chen nicht beseitigt werden kann, immer ein verwaschenes Object bleibt, so dass die Accommodation in Folge dessen ganz unsicher wird. Darum achteten die Beobachter vornehmlich auf das Undeutlicherwerden der Kante, um daraus die Verr\u00fcckung zu erschlie\u00dfen. Ferner bemerkten die Herren Thi\u00e9ry, Fruit, Ussow und Hicks, dass sich neben der Kante im dunklen Felde eine farbige Oontrastlinie bildete, die durch das r\u00f6thliche Licht der Beleuchtung bedingt war, und dass sich auch diese mit der Ann\u00e4herung und Entfernung ver\u00e4nderte, Sodann beobachtete Herr Fruit, dass er eigentlich nicht die ganze L\u00e4nge der Kante und der neben ihr liegenden Oontrastlinie gleich scharf sehe, sondern nur den mittelsten Theil, und dass dieser im Verh\u00e4ltnis zu den weniger scharf erscheinenden Enden mit der Entfernung an L\u00e4nge ahnahm, und umgekehrt. Auch die Gr\u00f6\u00dfe des Gesichtsfeldes seihst scheint f\u00fcr den aufmerksamen Beobachter nicht der schematischen geometrischen Construction zufolge gleich gro\u00df zu bleiben, sondern sich mit der Ann\u00e4herung zu verkleinern und mit der Entfernung zu vergr\u00f6\u00dfern. Die Ver\u00e4nderungen der Linse bei An- und Abspannung der Accommodation, und in Folge davon die etwas ver\u00e4nderte Strahlenbrechung machen diese Erscheinung wohl begreiflich. Es wird, wenn diese Voraussetzung richtig ist, das Netzhautbild nicht immer dasselbe sein. Nun fand aber G\u00f6tz Martius, dass uns zwei Objecte, die sich in verschiedener Entfernung befinden, ann als gleich gro\u00df erscheinen, wenn das fernere nach seinem Abstande vom n\u00e4heren wirklich gr\u00f6\u00dfer ist, dass die Ohjectzunahme aber","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 281\nbedeutend langsamer wachsen muss als das Netzhautbild1). Alles das fand Martius, wenn dem Beobachter die Entfernungen der Fu\u00dfpunkte der Vergleichsobjecte nicht verdeckt waren. Da nun in unseren Versuchen der Beobachter eine Entfemungs\u00e4nderung gar nicht wahrnimmt, sondern auf eine solche aus secund\u00e4ren Kriterien erst nachtr\u00e4glich schlie\u00dft, so wird die gr\u00f6\u00dfere Bildgr\u00f6\u00dfe auf der Netzhaut auf dieselbe Entfernung bezogen, und es wird nat\u00fcrlich ein gr\u00f6\u00dferes Object gesehen. Dass der Beobachter in unserem Falle nicht n\u00e4her urtheilt, sondern umgekehrt, beruht, glaube ich, auf der Kenntniss, die er davon hat, dass das objective Gesichtsfeld thats\u00e4chlich mit der Entfernung gr\u00f6\u00dfer wird. Schlie\u00dflich will ich noch erw\u00e4hnen, dass es Herrn Thi\u00e9ry eigentlich nur dann m\u00f6glich war, auf die Verschiebungen der Kante zu schlie\u00dfen, wenn er statt der Kante irgend einen Punkt daneben fixirte, und so aus parallaktischen Verschiebungen auf die Entfernung oder Ann\u00e4herung schloss.\nDiese Mittheilungen d\u00fcrften gen\u00fcgen, um das vollkommen negative Resultat der besprochenen Versuche darzuthun.\n\u00a7 53. Conform allen bis jetzt mitgetheilten eigenen Versuchen w\u00e4hlte ich auch f\u00fcr die Wiederholung der Hillebrand\u2019schen der zweiten Versuchsclasse f\u00fcr die relativen Verschiebungen immer denselben Ausgangspunkt. Ich theile zun\u00e4chst in tabellarischer Ueber-sicht die so gewonnenen Resultate mit. E. Eu bedeutet die absolute Distanz vom Beobachter und die zugeh\u00f6rige Unterschiedsstrecke aus je zehn Versuchen f\u00fcr Entfernung und aus ebenso vielen f\u00fcr N\u00e4herung. Auf die angegebenen Intervalle entfallen mit sehr geringen Ausnahmen fast nur richtige Urtheile. D bezeichnet die Dioptriedifferenz zwischen der absoluten Entfernung und ihrer Vergleichsstrecke. Die Entfernungen sind alle in Centimetern ausgedr\u00fcckt.\n(Herr Tawney ist Myop (1,5), ebenfalls Herr Ussow (\u00fcber 3,5 D); die Sehsch\u00e4rfe des Herrn Hicks ist auch nicht ganz normal.)\n1) \u00bbUeber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde und ihre Beziehung zur Gr\u00f6\u00dfe der Netzhautbilder\u00ab, Wundt, Phil. Studien Bd. V. S. ti05 ff.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nMaximilian Arrer.\nHr. Hicks\tq\tTH O'\t0,8 0,7\t0,7 0,8\t0,5 0,5\t0,5 0,3\t\t\n\t\tlO GO CM tH 1 1 o o <M CM\t30\u201440 30\u201425\t40\u201455 40\u201430\t50\u201465 50\u201440\t60\u201480 60\u201450\t\t\n\u25ba O EG EG P w\t(=1\tt'- co \u2022rH r-l\trH !*\u25a0 \u2014T o'\t0,7 0,8\tiO^ lO o' cT\t\t\t\n\tjE.JEu\to *o CO T-H 1 1 O O CM CM\t30\u201445 30\u201425\t40\u201455 40\u201430\ti 50\u201465 50\u201440\t\t\t\nHr. Tawney\tq\tlO\t0,6 0,7\tcf o'\t0,3 0,4\t0,4 0,3\tCM^ cT cf\t\n\tsi\txO GO GM H 1 I o o CM GM\t30\u201437 30\u201425\t40\u201450 40\u201435\t50\u201460 50\u201442\t60\u201475 60\u201448\t70\u201485 70\u201465\t\nHr. Fruit\tq\t\t0,8 0,7\t0,5 0,4\tlO CO O o'\t0,4 0,3\t0,3 0,3\t0,2 0,2\n\tE.Eu\t20\u201425 20\u201417\t30\u201440 30\u201425\t40\u201450 40\u201435\t50\u201465 50\u201443\t60\u201475 60\u201450\t70\u201490 70\u201460\t80\u2014100 80\u201470\nHr. Dr. Thi\u00e9ry\tq\t1 1,6\t\u00ab l\u2014\t0,8 0,8\t0,5 0,5\t0,4 0,3\t0,3 0,3\t\n\tq\tCM *H 1 1 o o CM GM\t30\u201450 30\u201425\t40\u201460 40\u201430\t50\u201465 50\u201440\t6 J\u201475 60\u201452\t70\u201490 70\u201460\t\n\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t\tEntfernung\t Ann\u00e4herung\t","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahmehmung. 233\nWenn man diese Tabelle mit den fr\u00fcheren vergleicht, die bei den Versuchen an der Wundt\u2019sehen Versuchsanordnung gewonnen wurden, so wird man ihre Aehnlichkeit mit jenen kaum verkennen k\u00f6nnen. Auch liier der bekannte Unterschied zwischen den Entfernungs- und Ann\u00e4herungsstrecken, und das Kleinerwerden der Dioptriedifferenzen mit dem Wachsen der absoluten Entfernung, analog der dort gefundenen Verminderung des Oonvergenzwinkels (oder Wachsen des Drehungswinkels). Man k\u00f6nnte leicht versucht sein, diese Versuche ebenso zu erkl\u00e4ren wie die dortigen. Uebersieht man aber, was die innere Wahrnehmung der einzelnen Beobachter hier an den Tag brachte, so wird man von einem solchen Versuche zun\u00e4chst absehen m\u00fcssen.\nEs gaben alle Beobachter an, dass dann, wenn das Eintreten der zweiten Kante in das Gesichtsfeld rasch genug erfolgt, es ihnen f\u00fcr einen ersten Augenblick scheint, das Naher oder Weiter dieser zweiten Kante relativ zur vorigen zu sehen. Im n\u00e4chsten Augenblicke aber sind sie geneigt, nach der Deutlichkeit, resp. Undeutlichkeit der Kante zu urtheilen. Dabei wird meistens dann weiter ge-urtheilt, wenn die Kante verwaschener ist, n\u00e4her, wenn sie es weniger ist. Bei Herrn Tawney kam einige Male auch das Gegentlieil davon vor, wobei fast consequent alle Entfernungen als Ann\u00e4herungen und umgekehrt angegeben wurden. Worauf dieser Umschlag in der Interpretation des Kriteriums beruht, war mir nicht erfindlich. Dieser Beobachter gab an, dass ihm der zweite Schirm im ersten Augenblicke seines Erscheinens immer wie im Nebel erschien, und er beschrieb dies n\u00e4her mit dem Zusatz: wie ein Object das undeutlich gesehen wird, weil es zu nahe oder zu weit ist. Es w\u00e4re nicht unwahrscheinlich, anzunehmen, dass, je nachdem der Beobachter beim nebelhaften Erscheinen der Kante die Vorstellung gr\u00f6\u00dferer N\u00e4he oder gr\u00f6\u00dferer Ferne mit ihr verband, er sie danach auch als n\u00e4her oder weiter beurtheilte.\nSodann bemerkte zuerst Herr Fruit, dass, wenn ihm die Kante verwaschen erschien, er dann weiter sch\u00e4tzte, wenn er mehr Zeit brauchte, um sie scharf zu sehen, und umgekehrt n\u00e4her, wenn er eine k\u00fcrzere Zeit brauchte. Bald darauf machten auch Herr Ussow und Herr Tawney diese Beobachtung. Nur beil\u00e4ufig will ich erw\u00e4hnen, dass auch ich immer den Eindruck hatte, schneller auf die n\u00e4here","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nMaximilian Arrer.\nKante zu accommodiren als auf die fernere. Man k\u00f6nnte in dieser Beobachtung einen Beweis f\u00fcr Dixon\u2019s Erkl\u00e4rung dieser Versuche erblicken wollen. Freilich brauchte bei Dixon ein Beobachter mehr Zeit zur Ferneinstellung, er selbst dagegen l\u00e4ngere Zeit f\u00fcr die Naheeinstellung'). Aber man k\u00f6nnte sagen, dass das nur individuelle Unterschiede sind. Dem w\u00fcrde aber das Verhalten eines anderen Beobachters bei mir widersprechen.\nBei gelegentlichen Versuchen, die ich mit Hei'rn Dr. Meumann ausf\u00fchrte, fragte er mich einmal am Ende einer kurzen Versuchsreihe, wie die letzten Urtheile ausgefallen seien. Sie waren ebenso oft falsch als richtig. Diese Antwort befriedigte meinen Beobachter; es biete sich ihm n\u00e4mlich ein Kriterium, das er, seit er es klar erfasst, nicht zu interpretiren wisse, weshalb er versuchte, es nach den beiden sich hier darbietenden M\u00f6glichkeiten zu interpretiren, und beide Male mit demselben Erfolge oder auch Misserfolge. Herr Dr. Meumann bemerkte n\u00e4mlich auch, dass er einmal schneller, ein andermal langsamer auf die zweite Kante accommodire. Zu Anfang hatte er bei schnellerer Accommodation den Eindruck des N\u00e4heren, bei langsamerer den des Weiteren. Nun veranlasste ihn die Lect\u00fcre einer experimentellen Abhandlung, die er vor Kurzem las, und die als Resultat mittheilte, dass die Accommodationsdauer f\u00fcr die Ferne eine l\u00e4ngere sei als f\u00fcr die N\u00e4he, und nicht umgekehrt, wie man seit lange gew\u00f6hnlich annimmt1 2), eine Probe anzustellen, ob er nicht bei umgekehrter Interpretation dieselben Eindr\u00fccke hervorrufen k\u00f6nne als vorher. Und in der That gelang ihm dies, und so ward er unsicher. W\u00e4re Dixon\u2019s Ansicht richtig, so m\u00fcsste dieser Beobachter immer, auch im gew\u00f6hnlichen Leben, denn Dixon dehnt die Erkl\u00e4rung seiner Versuche so weit aus, immer Gefahr laufen, das Fernere mit dem N\u00e4heren zu verwechseln. Doch wird Dixon hier sicher zugeben, dass uns im praktischen Leben weit sicherere Mittel zu Gebote stehen, um Entfernungsunterschiede zu erkennen, als die Zeitdauer der Accommodation, wenn diese \u00fcberhaupt etwas leisten sollte.\n1)\tDixon, a. a. O. S. 200.\n2)\tC. E. Seachore, Studies from the Yale Psychological Laboratory ed. by E. W. Scripture 1893. S. 68.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. (1. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefeuwahrnehmung. 285\n\u00a7 54. Neben der Erkenntniss, dass durch die Irradiation an der Grenze des schwarzen Schirmes und des wei\u00dfen Hintergrundes die Accommodation unsicher wird, muss als ein noch wichtigeres und die Rathlosigkeit noch erh\u00f6hendes Moment die Thatsache angesehen werden, dass der Beobachter bei diesen Versuchen keine bestimmte Entfernungsvorstellung von der Kante hat. Niemals wusste der Beobachter mit Bestimmtheit anzugeben, ob die Kante, wenn sie verschoben wurde, nahe oder fern sei; und blieb sie an einem und demselben Orte stehen, so konnte er sich ebenso gut denken, sie sei n\u00e4her als ferner. Wie sollte da aber eine relative Tiefensch\u00e4tzung m\u00f6glich sein, wenn der Beobachter \u00fcberhaupt keine bestimmte Vorstellung von der Entfernung der ersten Kante hat? Ein Vertheidiger Hillebrand\u2019s w\u00fcrde wahrscheinlich sagen, dass dies seine Ansicht von der Bedeutungslosigkeit der Accommodations- und Convergenz-bewegungen f\u00fcr die Tiefensch\u00e4tzung nur best\u00e4tige, denn beide Vorg\u00e4nge fanden sicher statt. Und die relative Entfernungs\u00e4nderung wurde eben aus dem Verwaschensein der Vergleichskante und dem bewussten Willensimpulse zur Accommodation erkannt. Wie steht es aber um diese Erkl\u00e4rung, vor allem worauf st\u00fctzt sie sich? In der fr\u00fcher ausgef\u00fchrten Eorm nur auf eine Denkm\u00f6glichkeit. Aus Hillebrand\u2019s Abhandlung ist kaum zu entnehmen, dass ihm auch nur ein Beobachter den Vorgang so beschrieb, wie er ihn erkl\u00e4rt. Oder sollte er irgendwie unterbewusst geschehen ? Dies ist nach der Erkl\u00e4rung ausgeschlossen, da die Innervation immer eine bewusst gewollte sein m\u00fcsste, um f\u00fcr das Erkennen etwas zu leisten. Auch in den Aussagen der Beobachter bei Dixon und hei mir ist nichts enthalten, was die Hillebrand\u2019sehe Erkl\u00e4rung st\u00fctzen k\u00f6nnte.\nHillebrand hat zeitmessende Versuche ausgef\u00fchrt \u00fcber die Dauer der Accommodationseinstellung, je nachdem der Beobachter wusste, in welcher Richtung er accommodiren solle oder nicht, woraus sich ergab, dass er l\u00e4ngere Zeit dann brauchte, wenn er es nicht wusste. Da ferner viele Werthe, gewonnen hei bekannter Richtung, in welcher accommodirt werden soll, in das Intervall derjenigen fallen, die sich f\u00fcr die Accommodation bei unbekannter Richtung ergaben (nur bei Accommodation f\u00fcr die Entfernung war dies der Fall), so meint Hillebrand, es k\u00f6nnten die gefundenen Zeitunterschiede nicht allein aus der bestimmten Aufmerksamkeitsspannung, che hei bekannter","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nMaximilian Arrer.\nDirection der Accommodations\u00e4nderung vorhanden ist, und schon allein die Innervation f\u00f6rdert und schneller vor sich gehen l\u00e4sst, erkl\u00e4rt werden, sondern man m\u00fcsste annehmen, dass, wenn der Beobachter nicht wusste, oh das zweite Object n\u00e4her oder ferner war als das, auf welches er bis jetzt accommodirt hatte, er erst durch Aus-probiren dazu gelangte richtig einzustellen1). Zugegeben alles das, so vermag ich doch nicht einzusehen, wie diese Resultate f\u00fcr die in Rede stehende Erkl\u00e4rung sprechen sollen. Mit diesen Versuchen ist h\u00f6chstens dargethan, dass ein Ausprobiren in der Accommodation bis zu ihrer richtigen Einstellung im allgemeinen stattfinden kann. Fand aber eine solche in den Versuchen, die dadurch erkl\u00e4rt werden sollen, auch wirklich statt? Ein subjectiver Hinweis, so sahen wir, fehlt daf\u00fcr, ein objectiver Beweis w\u00e4re aber nur dann erbracht, wenn Zeitaufnahmen \u00fcber die Accommodationseinstellung bei diesen Versuchen selbst vorhegen, und diese mit jenen ersteren irgend welche Uebereinstimmung auf weisen w\u00fcrden.\nDer eben erhobene Einwand gegen die Erkl\u00e4rung von Hillebrand steht nicht allein. Auch wei\u00df ich, dass er im Grunde nicht mehr aussagt, als dass die f\u00fcr die Erkl\u00e4rung gegebene Best\u00e4tigung ungen\u00fcgend sei, somit die Erkl\u00e4rung, wenn sie glaubw\u00fcrdig erscheinen soll, erst einer Begr\u00fcndung bed\u00fcrfe. Es erhebt sich aber ein anderer Einwand, der, wie mir scheint, die ganze Erkl\u00e4rung als ungen\u00fcgend, um nicht zu sagen unbrauchbar erscheinen l\u00e4sst. Um ihn klar zu machen, muss ich ihn durch ein Beispiel veranschaulichen. Der Beobachter fixirt die eine Kante; es erscheint die zweite; nehmen wir an, sie sei weiter, und die Accommodation \u00e4ndere sich im ersten Augenblicke zun\u00e4chst unwillk\u00fcrlich im Sinne der Entfernung. Das Deutlichsehen w\u00fcrde hier wohl gef\u00f6rdert, aber da die Accommodation unwillk\u00fcrlich erfolgt, so ist darin kein Hinweis f\u00fcr die Verr\u00fcckung der neuen Kante enthalten. Nehmen wir jetzt weiter an, der Beobachter \u00e4ndere seine Accommodation willk\u00fcrlich, und zwar wieder im Sinne der Entfernung. Hier eine Erage: wird er das Deutlichsehen unbedingt f\u00f6rdern m\u00fcssen? Nur in dem einen Falle, wenn er mit der Accommodation nicht \u00fcber das Ziel hinausschie\u00dft. Dies w\u00e4re aber ohne weiteres m\u00f6glich, und der Beobachter kehrt nun mit der\n1) Hillebrand, a. a. O. S. 139\u201414G.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergera- u. Accouiraodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 287\nAccommodation um, f\u00f6rdert jetzt vielleicht das Deutlichsehen und sch\u00e4tzt n\u00e4her, trotzdem die Kante weiter war, und zwar weiter als das Ausma\u00df der unwillk\u00fcrlichen Accommodations\u00e4nderung betrug. Darauf kam es an. Dasselbe l\u00e4sst sich auch f\u00fcr die Ann\u00e4herung demonstriren. Gegen die M\u00f6glichkeit, man kehre, wenn man bei willk\u00fcrlicher Accommodation \u00fcber das Ziel hinausgegangen ist, wieder um, einzuwenden, dass man in diesem Palle ein Bewusstsein von diesen Accommodationsgr\u00f6\u00dfen haben m\u00fcsste, ginge kaum an, denn es ist leicht einzusehen, dass dann dem Erkennen der Tiefenverschiebungen ein Vergleichen der Accommodationsgr\u00f6\u00dfen zu Grunde liegen m\u00fcsste; dazu fehlen aber Andeutungen. Uehrigens w\u00fcrde selbst ein solches Vergleichen der Accommodationsgr\u00f6\u00dfen kaum etwas n\u00fctzen. Sobald nur die erste Accommodations\u00e4nderung unwillk\u00fcrlich erfolgt, d. h. der Richtung und Gr\u00f6\u00dfe nach f\u00fcr unser Bewusstsein unbestimmt ist, so w\u00fcrde ein fester Ausgangspunkt f\u00fcr die Vergleichung fehlen. Ferner ist die Annahme, dass das Ausma\u00df der unwillk\u00fcrlichen Accommodations\u00e4nderung ein beschr\u00e4nktes sei, in der Weise wie Hillebrand voraussetzt zun\u00e4chst nur eine Annahme. Das wirkliche Ausma\u00df der unwillk\u00fcrlichen Accommodations\u00e4nderung ist durch die Gr\u00f6\u00dfe der Zerstreuungskreise vorgeschriehen ; sind diese zu gro\u00df und sollte die Accommodation nicht sofort um das richtige Ma\u00df erfolgen, so besteht zwischen der willk\u00fcrlich intendirten Accommodations\u00e4nderung und der unwillk\u00fcrlichen nur der Unterschied, der durch die adjec-tiven Bezeichnungen ausgedr\u00fcckt ist, die eine ist bewusst gewollt, die andere ist es nicht, warum sie in ihrem Ausma\u00dfe verschieden sein sollen, ist nicht einzusehen.\nEndlich muss noch auf eines in Hillebrand\u2019s Erkl\u00e4rung hingewiesen werden. Als Hauptsatz derselben ist offenbar folgender anzusehen: \u00bbEs erweist sich also der bewusste Willensimpuls als das f\u00fcr das Erkennen der relativen Entfernung Entscheidende\u00ab1). Es ist leicht einzusehen, dass der Inhalt dieses Schlusses keineswegs aus der gegebenen Erkl\u00e4rung sich ergibt. Das wirkliche Kriterium, wonach die Tiefenunterschiede erschlossen wurden, ist das Undeutlichsehen der Kante, und der bewusste Willensimpuls, von jenem Undeulichsehen selbst herkommend, nur das Mittel zur Interpretation\n1) Hillebrand, a. a. O. S. 147.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nMaximilian Arrer.\ndieses Kriteriums. Der voreilige Schluss, dass das Mittel f\u00fcr das Erkennen der relativen Entfernungsunterschiede der bewusste Willensimpuls sei, scheint durch eine allzugro\u00dfe Anh\u00e4nglichkeit an eine vorgefasste Theorie zu Stande gekommen zu sein. Der Inhalt dieses Schlusses ist aber auch psychologisch leer, denn ein Willensimpuls muss eine Vorstellungsgrundlage haben, er muss sich ferner auf etwas beziehen. Seine Grundlage ist das undeutliche Bild der Kante, sein Zweck das Deutlichsehen, die Verbindung beider und die Schlussfolgerung sind logische Vorg\u00e4nge. Also auch nach dieser Seite ist nicht er es, der das Erkennen der relativen Tiefenunterschiede bedingt.\n\u00a7 55. Die Betrachtung der Erkl\u00e4rungen, die Hillebrand und Dixon ihren Versuchen gaben, f\u00fchrt also zur Verwerfung dieser Erkl\u00e4rungen. Es fragt sich aber, was sich Besseres an ihre Stelle setzen l\u00e4sst. Was die erste Versuchsclasse anbelangt, so hat Dixon richtig bemerkt, ihr negatives Ergebniss erkl\u00e4re sich vor allem dadurch, dass sowohl die Accommodation wie die Oonvergenz zu sehr abgestuft waren *), wozu noch kommt, dass diese Vorg\u00e4nge durch die Irradiation der Kante \u00fcberhaupt unsicher waren. Die angef\u00fchrten Tabellen d\u00fcrfen nicht als Beweis angesehen werden, dass der Beobachter die Tiefenunterschiede erkannte. Die Urtheile kamen meist pl\u00f6tzlich zu Stande, nachdem der Beobachter oft l\u00e4ngere Zeit keine Ver\u00e4nderung wahrnahm, und dann pl\u00f6tzlich, sei es durch eine Accom-modationsschwankung oder ein Abschweifen des Blickes nach der Seite die Verschiebung bemerkte und nun darauf hin sein Urtheil abgab. Dass aber die Kante wirklich n\u00e4her oder weiter ger\u00fcckt sei, wurde niemals gesehen, au\u00dfer in gewissen F\u00e4llen, wenn die Verschiebung 30\u201440 cm betrug, und auch da nicht immer.\nBei den Ergebnissen der zweiten Versuchsclasse f\u00e4llt auf, dass die Beobachter im ersten Augenblicke, besonders nach einiger Uebung, innerhalb der angef\u00fchrten Intervalle fast durchg\u00e4ngig richtig sch\u00e4tzten, und ihr Urtheil nur dann getr\u00fcbt wurde, wenn sie nachtr\u00e4glich l\u00e4nger fixirten und \u00fcber die Eindr\u00fccke reflectirten. Sodann, dass vier Beobachter das Zeitmoment bei der Accommodation hervorhoben (zwei andere machten dar\u00fcber keine Aussagen). Dass die Accommodationszeit\n1) A. a. O. S. 204.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenvvahrnehmung. 289\nf\u00fcr die Ann\u00e4herung k\u00fcrzer ist als, f\u00fcr die Entfernung, ergibt sich auch aus den zeitmessenden Versuchen von Hillebrand1). Es d\u00fcrfte dies wahrscheinlich daher kommen, dass bei allen diesen Versuchen \u00fcber die Zeitdauer der Accommodations\u00e4nderung diese seihst nicht wie im gew\u00f6hnlichen Lehen durch Entfernungsvorstellungen und Mittel, die dieser dienen, geleitet wird, sondern wegen Ausschluss aller dieser Motive allein auf die Undeutlichkeit des Bildes, d. h. die Zerstreuungskreise, gegr\u00fcndet ist. Und da d\u00fcrfte im ersten Augenblicke, wenn die Zerstreuungskreise nicht allzu gro\u00df sind, wahrscheinlich immer zun\u00e4chst ein Antrieb zur Accommodationsanspannung entstehen, der sich fortsetzt, wenn damit das Deutlichsehen gef\u00f6rdert wird, und umkehrt, wenn durch die Vergr\u00f6\u00dferung der Zerstreuungskreise die entgegengesetzte Accommodation gefordert wird. So k\u00f6nnte sich der gr\u00f6\u00dfere Zeitverbrauch f\u00fcr die Accommodation f\u00fcr die Ferne erkl\u00e4ren lassen. Dann aber ist es sicher, dass bei diesen Versuchen immerhin kleine Augenhewegungen ausgef\u00fchrt werden, die, wenn auch nur in geringem Ma\u00dfe, andere Motive der Tiefensch\u00e4tzung herbeif\u00fchien k\u00f6nnen, \u2014 besonders dadurch, dass im ersten Augenblicke beim abrupten Wechsel der Entfernungsunterschiede Ersch\u00fctterungen der Kanten gesehen werden \u2014 Motive, die f\u00fcr die Accommodations-\u00e4nderungen Bedingungen abgehen, wie sie dem gew\u00f6hnlichen Lehen entsprechen. Es k\u00f6nnte so gleich von vorneherein bei entfernterer Lage der zweiten Kante eine richtige Entfernungsaccommodation eingeleitet werden. Dass dann auch hier eine gr\u00f6\u00dfere Zeit erforderlich ist f\u00fcr die Entfernungseinstellung als umgekehrt, w\u00fcrde sich dadurch erkl\u00e4ren lassen, dass wir heim Nachlassen contrahirter Muskeln (z. B. des Armes) immer etwas vorsichtiger verfahren als heim Anspannen, denn wir m\u00fcssen dort das Bestreben der Mhskeln, von seihst in ihren relativen Ruhestand \u00fcber- und so \u00fcber das Ziel hinauszugehen, \u00fcberwinden; und geschieht dies, und m\u00fcssen wir umkehren, so werden wir f\u00fcr die Accommodation auf die Ferne erst recht mehr Zeit brauchen als f\u00fcr die Ann\u00e4herung. Freilich ist es etwas anderes, wenn wir die Armmuskeln abspannen, als wenn mit der Accommodation nachgelassen wird. Aber in den besprochenen Versuchen, wo die zweite Kante fast in dem Augenblicke eintrifft,\n1) A. a. O. S. 143.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nMaximilian Arrer.\nwo die erste verschwindet, und durch die Ersch\u00fctterungen jene oben erw\u00e4hnten Motive f\u00fcr ihre Direction entstehen, wird man kaum annehmen k\u00f6nnen, dass sich hier die Accommodation ganz entspannt sie wird vielmehr entweder angespannt werden und, wenn die Kante weiter war, umkehren, dann gilt die erste Erkl\u00e4rung; oder sie wird den Motiven f\u00fcr die Entfernungs\u00e4nderung folgen und sich allm\u00e4hlich abspannen, allm\u00e4hlich deshalb, weil der Beobachter thats\u00e4chlich bestrebt ist, den Eindruck des ersten Augenblickes festzuhalten.\nDass hier auch der Entspannung des Muskels f\u00fcr das Bewusstsein eine Bedeutung zugeschrieben wird, widerspricht durchaus nicht der Meinung von Wundt (und vor ihm anderer Physiologen und Psychologen), dass der Nachlass des Contrahirten Muskels von keiner Empfindung gefolgt werde. Denn ein solches Entspannen der Muskeln, wie es hier beschrieben wurde, ist keineswegs ein blo\u00dfes Nachlassen der Spannung, sondern es ist ein allm\u00e4hliches Nachlassen des contrahirten Muskels, begleitet in jedem Augenblicke von einem gewissen Festhalten der Contraction, und also von einer solchen selbst. Ferner aber, wenn wirklich durch die Entspannung der Muskeln selbst keinerlei Empfindungen f\u00fcr das Bewusstsein entstehen sollten, so ist die durch den Nachlass des contrahirten Muskels bedingte Verminderung der Anstrengungsempfindung oder der Muskelempfindung auch ein Vorgang, der im Bewusstsein bemerkt werden muss. Darauf kam es hier an. Ob dann aber \u00bbdie Erkl\u00e4rung Wundt\u2019s, dass wir es hier (n\u00e4mlich bei der Accommodationsempfindung) nur mit einem Specialfall des allgemeinen Gesetzes zu tliun haben, demzufolge nur die active Zusammenziehung gewisser Muskeln von einem an die Bewegung gebundenen Gef\u00fchle begleitet ist, w\u00e4hrend dem Nachlass der Zusammenziehung, der Erschlaffung, niemals ein Muskelgef\u00fchl folgt\u00ab, wie Hillebrand meint \u00bbgegenstandslos\u00ab ist, \u00bbweil die Thatsache nicht besteht\u00ab \u2014 n\u00e4mlich die Verschiedenheit der Ent-fernungs- und Ann\u00e4herungs strecken \u2014 \u00bbdie auf diese Weise erkl\u00e4rt werden soll\u00ab '), ist, wie ich eben hervorhob, mindestens f\u00fcr Hille-brand\u2019s Versuche nicht entschieden. Wenn ich mich aber auf die Ergebnisse meiner Experimente verlassen darf, so scheint die bestrittene Thatsache doch zu bestehen. In der Tabelle auf S. 108 sind\n1) A. a. O. S. 136.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aecommodationsbevv. f. d. Tiefenvvahrnehmung. 291\nnicht nur alle Entfernungsstrecken gr\u00f6\u00dfer als die Ann\u00e4herungsstrecken; was bei gleichem Ausgangspunkte f\u00fcr die Entfernung und Ann\u00e4herung des Objectes von vornherein zu erwarten war, sondern es sind auch in der Mehrzahl der F\u00e4lle die Dioptriedifferenzen, die den Entfernungen entsprechen, etwas gr\u00f6\u00dfer als diejenigen hei den N\u00e4herungen. Es entfallen f\u00fcr Herrn Fruit auf sieben F\u00e4lle vier, in denen die Dioptriedifferenz f\u00fcr die Ann\u00e4herung kleiner ist als f\u00fcr die Entfernung, drei, in denen sie gr\u00f6\u00dfer ist; f\u00fcr Herrn Tawney vier kleiner und zwei gr\u00f6\u00dfer; f\u00fcr Herrn Ussow zwei kleiner, einer gr\u00f6\u00dfer und einer gleich; f\u00fcr Herrn Hicks drei kleiner, einer gr\u00f6\u00dfer und einer gleich. Nur Herr Thi\u00e9ry macht eine Ausnahme, hei ihm sind zwei gr\u00f6\u00dfer, einer kleiner und drei gleich. Herr Thi\u00e9ry verhielt sich auch am unsichersten hei diesen Versuchen. Im Ganzen entfallen auf 28 Versuche 14 F\u00e4lle mit kleinerer Dioptriedifferenz f\u00fcr die Ann\u00e4herung, f\u00fcnf mit gr\u00f6\u00dferer, und acht Mal ist sie f\u00fcr Ann\u00e4herung und Entfernung gleich gro\u00df. Vergleicht man \u00fcbrigens die Dioptriedifferenzen auch in Hillebrand\u2019s Resultaten, so ist unter f\u00fcnf Beobachtern eigentlich nur einer, hei dem in einem Falle die Differenz f\u00fcr die N\u00e4herung gr\u00f6\u00dfer ist als f\u00fcr die Entfernung, bei zwei anderen ist sie geringer, und wieder hei zwei anderen gleich gro\u00df. Bei Dixon ist ein Resultat in dieser Beziehung nicht zu entnehmen, seine Tabellen gehen nur Aufschluss \u00fcber das Verh\u00e4ltniss von richtigen und falschen Urtheilen, allerdings sind aber unter sechs Beobachtern vier, die f\u00fcr die Ann\u00e4herung eine weit geringere Anzahl von Fehlurtheilen aufweisen als f\u00fcr die Entfernung. Der wahrscheinlichste Schluss aus allem dem ist wohl nur der, dass auch hier, sofern man das Verh\u00e4ltniss der Unterschiedsstrecken in\u2019s Auge fasst, die Ann\u00e4herung auch dann genauer beurtheilt wird, wenn die Unterschiedsstrecken in Dioptriedifferenzen gemessen werden. F\u00fcr die Erkl\u00e4rung dieser Thatsache k\u00f6nnen auch nur diese Differenzen selbst in Betracht kommen. Gerade so wie sich f\u00fcr die Convergenzbewegungen ein kleinerer Drehungswinkel f\u00fcr das Erkennen einer ehenmerklichen Tiefenverschiebung ergab als f\u00fcr die Divergenzbewegungen, weil jene eine gr\u00f6\u00dfere Anstrengung erfordern als diese, ebenso erfordert hier die Accommodationsanspannung eine gr\u00f6\u00dfere Anstrengung in den Ciliarmuskeln hei der Anspannung als bei der Abspannung in dem oben beschriebenen Sinne. Handelt es sich aber um gleich erkennbare\nWundt, Philos. Studien XIII.\t20","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nMaximilian Arrer.\nEmpfindungswerthe als Tiefenstrecken, so werden die Dioptriedifferenzen f\u00fcr die Ann\u00e4herung nothwendig geringer sein m\u00fcssen als f\u00fcr die Entfernung, und die Differenzen der Unterschiedsstrecken sind dann nur eine ebenso nothwendige Consequent dieser zuletzt hervorgehobenen Thatsache.\nBei solcher Uebereinstimmung der Ergebnisse der Hille-hrand\u2019schen Versuche hier und der W und rischen dort wird es wohl nicht m\u00f6glich sein, den Einfluss der Augenmuskelempfindungen f\u00fcr das Erkennen von Tiefenunterschieden zu \u00fcbersehen. Ihr Einfluss thut sich in den von allen Beobachtern hervorgehohenen ersten Augenblicken kund, wo es ihnen, noch vor dem Verschwinden der Zerstreuungskreise, in denen die Vergleichskante auftritt, scheint, dass sie die Tiefenunterschiede unmittelbar wahrnehmen. Es soll damit nicht gesagt sein, dass das secund\u00e4re Motiv, die unscharf gesehene Kante, hier keine Rolle spielte; ich habe dies gen\u00fcgend betont. Doch eine Frage scheint mir in Bezug darauf von Interesse. W\u00fcrden diese secund\u00e4ren Motive eine eindeutige Rolle spielen k\u00f6nnen, ohne jene Verh\u00e4ltnisse auf Seite der Accommodations\u00e4nderungen und -empfindungen ? Offenbar nur dann, wenn der Vorgang ein solcher w\u00e4re, wie ihn Hillebrand beschrieb. Er war aber kein solcher. Wird trotzdem am Ende vielleicht zugestanden werden m\u00fcssen, dass der Beobachter hier nicht ganz ohne Reflexion \u00fcber die Eindr\u00fccke verfuhr, so fehlte ihm doch nicht auch ein gewisser Grad unmittelbaren Erkennens. Dieses k\u00f6nnen die Zerstreuungskreise allein nicht leisten, sie k\u00f6nnen es jedoch in Verbindung mit den Augenmuskelempfindungen. Dass diese aber in ihrem objectiven Ma\u00dfe, den Dioptriedifferenzen nach, so gro\u00df sein mussten, dass sie das Entstehen ziemlich gro\u00dfer Zerstreuungskreise erm\u00f6glichten, erkl\u00e4rt sich daraus, dass der Beobachter hier niemals eine bestimmte Vorstellung von der absoluten Entfernung der Kante hatte. Es mussten also, um erfolgreich sch\u00e4tzen zu k\u00f6nnen, secund\u00e4re Motive geschaffen werden, die das einigerma\u00dfen ersetzen sollten, was anderw\u00e4rts eine anschauliche Tiefenvorstellung leistet. Koch anders gesagt, die Accommodationshewegungen und -empfindungen konnten nicht schon allein zum Sch\u00e4tzen der Tiefe verhelfen, weil es an einer bestimmten und anschaulichen Tiefenvorstellung fehlte, innerhalb deren sie eine eindeutige Rolle spielen konnten. Sie mussten deshalb so zu sagen","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 293\n\u00fcbermerklich sein, um im Bewusstsein den Eindruck verschiedener Tiefe zu erwecken, wof\u00fcr auch die immerw\u00e4hrenden Klagen der Beobachter sprechen, dass sie alsbald nach Beginn jedes Versuches einen unangenehmen Druck oder Ziehen, kurz Erm\u00fcdung in den Augen wahmahmen.\nDie Betrachtungen dieses Capitels f\u00fchren unmittelbar zu folgenden zwei Schl\u00fcssen:\n1)\tAlles in diesem Oapitel Mitgetheilte enth\u00e4lt einen unzweideutigen Hinweis darauf, dass eine relative Tiefensch\u00e4tzung \u00fcberall dort nicht m\u00f6glich ist, wo die Exclusion der Motive normaler Verh\u00e4ltnisse eine zu gro\u00dfe ist, und deshalb die Ausbildung einer anschaulichen und bestimmten Tiefenvorstellung nicht zul\u00e4sst; und\n2)\tinsofern der Hillebrand\u2019sche Apparat es unm\u00f6glich macht, dass bei einer bestimmten Entfernung des Objectes auch die Tiefen-localisation eine bestimmte ist, eignet er sich nicht, um irgendwie eine positive Antwort oder Best\u00e4tigung in Fragen der Tiefenlocali-sation zu geben. Damit soll sein Werth nicht geleugnet werden, sofern er sich eignet, in negativer Weise f\u00fcr die L\u00f6sung unserer Frage beizutragen.\n\u00a7 56. Ich will jetzt in einem letzten Paragraphen dieses Capitels noch einmal auf Hillebrand\u2019s Apparat, die daran gewonnenen Ergebnisse und die darauf sich st\u00fctzenden Erkl\u00e4rungen eingehen, um von den gewonnenen Erkenntnissen aus diese selbst noch klarer hervorzuheben, und dann auch einige Punkte der polemischen Ausf\u00fchrungen von Hillebrand zu ber\u00fccksichtigen.\nVergegenw\u00e4rtigen wir uns noch einmal, was der Beobachter sieht, wenn er sein Auge an das Blickrohr des Apparates bringt: eine Fl\u00e4che, die zur H\u00e4lfte schwarz ist, zur anderen hell beleuchtet; nichts sonst kann in sein Gesichtsfeld hineinfallen, denn er befindet sich in einem vollkommen dunklen und leeren Baume. Als Object wird ihm die Grenzlinie^ zwischen dem dunklen und dem hellen Theil seines Gesichtsfeldes geboten. Ist das aber ein Object? War es vor allem auch das wirkliche Object der Beobachter? Mancher von ihnen, mit dem Apparat noch nicht bekannt, hielt beim ersten Hineinsehen in das Blickrohr die beleuchtete Fl\u00e4che f\u00fcr das Object und den schwarzen Theil des Gesichtsfeldes f\u00fcr das Dunkel des Dunkelzimmers. Es wurde dann der sichtbare Theil der beleuchteten\n20*","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nMaximilian Arrer.\nGlasplatte f\u00fcr n\u00e4her gehalten als der dunkle Schirm, von dem der Beobachter nichts wusste. Man wird mir sagen, solche T\u00e4uschungen beweisen nichts au\u00dfer ihrer M\u00f6glichkeit; und dann hat man dem Beobachter zu sagen, dass ihm als Object eben jene Farbengrenze zu dienen habe. Letzteres ist aber nicht m\u00f6glich, denn es m\u00fcsste dann diese Grenze unabh\u00e4ngig von den Objecten bestehen, unabh\u00e4ngig von ihnen localisirt werden k\u00f6nnen. Die Grenze eines Objectes, sofern sie eben als Grenze des Objectes oder der Objecte aufgefasst wird, wird aber mit den Objecten selbst localisirt. Nun gibt es kein Mittel, bei scharfer Accommodation auf die Grenze zweier Fl\u00e4chen, die gleichm\u00e4\u00dfig in der Farbe und absolut allein im Gesichtsfelde unterscheidbar sind, diese irgendwie bestimmt zu loca-lisiren. Man kann nicht zweifeln, dass, wenn bei Aufstellung des Hillebrand\u2019sehen Apparates irgendwie die Anordnung getroffen w\u00e4re, dass man auch die verwaschenen R\u00e4nder des Tubus nicht s\u00e4he und gar kein verschiedenes Licht von den Seiten hereinfiele, der verschiebbare Schirm also ebenso dunkel w\u00e4re wie das Dunkel des Zimmers, man noch unbestimmter localisiren w\u00fcrde, und noch weniger f\u00e4hig w\u00e4re, relative Tiefenunterschiede zu erkennen, als dies schon ohnedem der Fall war1). Eine Tiefenlocalisation ist dann mit dem Vorwissen, was als Object localisirt werden soll, nur\n1) Wie sich die Bestimmtheit der Tiefenlocalisation bei Exclusion der H\u00fclfs-motive \u00e4ndert, ist sehr sch\u00f6n an einem Beispiele zu ersehen, das Helmholtz daf\u00fcr anf\u00fchrt. Indem er in einem Experimente, wo stereoskopische Zeichnungen im Stereoskop combinirt werden, und au\u00dfer ihnen kein anderer Gegenstand sichtbar ist, die von Wundt gefundene Untersch\u00e4tzung der absoluten Distanz best\u00e4tigt fand, und indem er versuchte, die Lage des Objectes mit der Hand au\u00dferhalb zu bezeichnen, und immer zu nahe griff, schreibt er: \u00bbSehr viel besser als mit der nach dem Gef\u00fchl bestimmten Lage der nicht gesehenen Hand pflegt dagegen die Vergleichung mit ein\u00e4ugig rechts und links vom Stereoskop gesehenen Objecten zu gelingen. Die K\u00e4sten der Brewster\u2019 sehen Stereoskope sind meistens nicht so breit, dass man nicht mit dem rechten Auge einige von den rechts liegenden reellen Objecten, mit dem linken links liegende sehen k\u00f6nnte, deren Entfernung und Gr\u00f6\u00dfe bekannt ist. Trotzdem man diese nur ein\u00e4ugig sieht, und trotzdem die Entfernung des stereoskopischen Raumbildes nur durch das zwei\u00e4ugige Sehen bestimmt wird, macht man meist ziemlich genaue Bestimmungen, die nicht viel ge\u00e4ndert werden, wenn man nachher das Raumbild mit zwei\u00e4ugig \u00fcber oder unter dem Stereoskop gesehenen reellen Objecten vergleicht\u00ab (Handbuch d. phys. Optik II. Aufl. S. 798). Der letzte Zusatz von Helmholtz, ob richtig oder unrichtig localisirt wird, kommt hier nicht in Betracht, die Hauptsache ist,","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aecommodationsbew. f. d. Tiefenwahmehmung. 295\nnoch aus secund\u00e4ren Kriterien und ihrer Interpretation m\u00f6glich. Der Yertheidiger Hillehr and\u2019s w\u00fcrde vielleicht sagen: eben das geht aus den Untersuchungen von Hillehrand hervor, und weil dem so ist, liegt darin der Beweis, dass sich jan Accommodationsbewegungen, die doch hier gewiss vorhanden waren, keine Tiefenempfindungen kn\u00fcpfen. Diese Bemerkung, der Abhandlung von Hillehrand seihst entnommen, ist bezeichnend. Sicher kn\u00fcpfen sich an die Accommodationsbewegungen keine \u00bbTiefenempfindungen\u00ab. Aber behauptete denn auch Jemand, dass Accommodations\u00e4nderungen \u00bbTiefenempfindungen\u00ab produciren? Hillehrand wendet sich vor allem polemisch gegen Wundt. Es war aber niemals Wundt\u2019s Meinung, dass in den Accommodations- oder Convergenzempfindungen schon urspr\u00fcnglich Tiefenempfindungen gelegen seien.. Was sollte man auch unter solchen \u00bbTiefenempfindungen\u00ab in der Terminologie Wundt\u2019s verstehen? Empfindungen sind nach Wundt nicht selbst\u00e4ndige Inhalte, sie sind uns in der Erfahrung niemals direct gegeben, sie sind nur letzte Bewusstseinselemente, zu denen die Analyse unserer Vorstellungen f\u00fchrt. Und wenn man von ihnen wie von selbst\u00e4ndigen Gebilden spricht, so ist es nur die Abstraction von den Inhalten, in denen sie Vorkommen, die sie zu solchen macht1). Nun ist aber weiter, wie bereits ausgef\u00fchrt, nach Wundt die Raumvorstellung ein h\u00f6chst zusammengesetztes G-ebilde, seinem psychischen Processe nach n\u00e4her bestimmt ein synthetisches Verschmelzungsproduct, in welchem erst das Anschauen der Dimensionen f\u00fcr unser Bewusstsein zum Ausdruck gelangt2). Dann ist es aber nicht zu verstehen, wie man von Empfindungen sprechen kann, die nicht nur schon allein eine r\u00e4umliche Beziehung zum Ausdruck bringen sollen, sondern\ndass je nach dem Vorhandensein oder\u00eeFehlen von H\u00fclfsmotiven die Localisation eine andere war, die dann auch die relative Tiefenlocalisation bedingte. Wenn Donders dagegen einmal sagt, dass beim Sehen durch das Stereoskop, dessen Dimensionen eine gewisse Vorstellung von der Entfernung mit sich bringen, die Tiefensch\u00e4tzung eine ungenauere sei als ohne jene Momente (Archiv f. Ophthalmologie Bd. XVII. 2, S. 18), so kann das nur daher kommen, dass man unter den H\u00fclfsmotiven nicht eine Auswahl getroffen hat, um sich in jedem einzelnen Falle danach zu richten, sondern alle zugleich in ungeregelter Weise auf sich einwirken lie\u00df, und vielleicht bald mehr auf dieses, bald mehr auf jenes achtete.\n1)\tWundt, Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie 4. Aufl. I, S. 281, II, S. 437.\n2)\tA. a. O. II. S. 217 f., dann auch S. 23, 33, 38.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nMaximilian Arrer.\nsogar die Empfindung nur einer reinen Dimension. Und das m\u00fcssten die Tiefenempfindungen in dem Falle thun, wo sie uns bei Ausschluss s\u00e4mmtlicher Localisationsmotive \u00fcber die Entfernung eines ann\u00e4hernd ausdehnungslosen Objectes Aufschluss geben sollten. Und dass das nicht blo\u00df f\u00fcr Tiefenempfindungen aus Accommodation oder Oonvergenz gilt, sondern ganz allgemein f\u00fcr jede Empfindung, der die Aufgabe zufallen soll, reine Tiefenempfindung zu sein, ist klar.\nAn Accommodationsempfindungen werden Tiefenvorstellungen auch associativ nicht gekn\u00fcpft, war der zweite negative Schluss, den Hillebrand mit R\u00fccksicht auf diese Empfindungen zog. Die Experimente von Hillebrand und Dixon und mir best\u00e4tigen zweifellos dieses Resultat, aber wohl gemerkt unter den Bedingungen, unter welchen diese Versuche gemacht wurden. Die Frage, ob sich an Accommodations- oder Convergenzempfindungen Tiefenvorstellungen \u00fcberhaupt associativ kn\u00fcpfen, soll liier au\u00dfer Acht gelassen werden. Angenommen, es sei dem im allgemeinen so, so w\u00fcrden die am Hi lie brand\u2019 sehen Apparate und unter der Voraussetzung des darin vorgeschriebenen Fixationsobjectes gewonnenen Resultate doch nichts gegen diese Ansicht beweisen. Denn sie fordert gewisse charakteristische Eigenschaften des Objectes selbst, wenn es mit Accommodations- oder Convergenzempfindungen associirt und auf Grund dieser in gewisser Entfernung vorgestellt werden soll. Ein isolirter Punkt oder eine mathematische Linie aber ist in diesem Sinne kein Object.\nBisher wurde in der Kritik immer nur vom Wundt\u2019sehen Begriff der Empfindung ausgegangen, f\u00fcr Hillebrand verbindet sich aber ein anderer Begriff mit dieser Bezeichnung. Er unterscheidet primitive und modificirte Empfindungen. Eine primitive Empfindung ist jeder Eindruck oder Inhalt, der bei Ausschluss aller anderen zum selben Erfolge concurrirenden Motive mit sinnlicher Evidenz uns das zum Bewusstsein bringt, was seine n\u00e4here Bestimmung ausdr\u00fcckt, den Eindruck der Tiefe also, wenn es sich um Tiefenempfindungen handelt1). Was dann modificirte Empfindungen sind, ergibt sich von selbst. Die Accommodations- oder Convergenzempfindungen\n1) Hillebrand, \u00bbUeber die Stabilit\u00e4t der Raumwerthe auf der Netzhaut\u00ab. Ebbinghaus\u2019 u. K\u00f6nig\u2019s Zeitschr. f. Psychologie Bd. Y. S. 3 ff.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Ueb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 297\nk\u00f6nnen aber auch f\u00fcr Hillebrand nichts anderes bedeuten, als was sie f\u00fcr Wundt und jeden Anderen bedeuten k\u00f6nnen, und so gilt das oben Ausgef\u00fchrte vollkommen, trotz der sonst verschiedenen Begriffe, die mit dem Worte Empfindung bezeichnet werden.\nEs ist nicht ohne Interesse, f\u00fcr einen Augenblick von diesem speciellen Falle abzusehen und sich zu fragen, was der letztgegebenen Begriffsbestimmung der Empfindung von Hillebrand bei Wundt entspricht. Zun\u00e4chst ist sicher, dass ihr eine Vorstellung entsprechen wird, und zwar diejenige, die Wundt TiefenvorStellung nennt. Diese ist aber nicht einfach Accommodations- oder Convergenzempfindung. Die Convergenzempfindungen sind wohl zun\u00e4chst dasjenige Glied, welches die Localisation eines r\u00e4umlichen Inhaltes in Beziehung auf das Subject zum Ausdruck bringen, aber sofern die Tiefenlocalisation nur ein bestimmtes Verh\u00e4ltniss des zu localisirenden Inhaltes zum vorstellenden Subjecte ausdr\u00fcckt, m\u00fcssen die Convergenzempfindungen mit dem vorgestellten Inhalte selbst irgendwie psychisch verbunden sein. Hach Wundt sind sie es dadurch, dass sie mit den Localzeichen des fl\u00e4chenhaften Bildes .oder der Netzhaut \u00fcberhaupt in ein System complexer Localzeichen eingehen, und dann setzen sie sich (es treten noch Tastempfindungen der Orbita hinzu) in Entfernungs- .. Vorstellungen um '). Diese Entfernungsvorstellungen w\u00fcrden den Tiefenempfindungen hei Hillebrand und Anderen entsprechen. Daraus ergeben sich mannigfache Antworten auf gegnerische Einw\u00fcrfe gegen diese Theorie. Zun\u00e4chst geht daraus hervor, dass aus den Convergenzempfindungen allein gewiss nicht Tiefenvorstellungen entstehen, dass sie aber wesentliche Elemente einer solchen sind, die wesentlichsten, wenn es sich um die absolute Localisation nach der Tiefe (wieder nicht im Sinne von richtig) handelt. Stumpf beh\u00e4lt daher gewiss Recht, wenn er sagt, dass Muskelempfindungen eben Muskelempfindungen und nicht \u00bbOrtsempfindungen\u00ab sind1 2), letzteres hat aber auch in diesem Zusammenh\u00e4nge Niemand behauptet.\nEs ist ferner klar, dass, sofern es sich um die Verlegung eines Objectes nach der Tiefe handelt, und alle unterst\u00fctzenden Motive\n1)\tAm klarsten hat das Wundt dargelegt in seinem letzten psychologischen Werke: \u00bbGrundriss der Psychologie\u00ab Leipzig 1896, S. 156fF. Yergl. auch Grundz\u00fcge der physiol. Psychologie 4. Aufl. II. S. 219\u2014221.\n2)\tStumpf, Ueber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung S.;149.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nMaximilian Arrer.\nder Localisation ausgeschlossen sind, eine erfolgreiche Tiefensch\u00e4tzung \u00fcberall dort nicht m\u00f6glich ist, wo das Object seihst nicht gewisse Bedingungen dazu in sich tr\u00e4gt. Das ist aber nicht der Fall, wenn z. B. das Object eine isolirt wahrgenommene mathematische oder physische Linie ist. Wenn es daher auch sicher ist, dass in den Versuchen von Wundt, die in dieser Abhandlung unter verbesserten Umst\u00e4nden zur Nachpr\u00fcfung kamen, auch jetzt nicht alle Nebenumst\u00e4nde der Tiefenlocalisation ausgeschlossen waren, so zeigte es sich doch auch gleichzeitig, wie unumg\u00e4nglich nothwendig sie f\u00fcr die erfolgvolle Tiefensch\u00e4tzung sind, und dass dort, wo sie unbe achtet blieben, auch der Erfolg ausblieb ; ihre vollst\u00e4ndige Exclusion war dann in der Hillebrand\u2019sehen Versuchsanordnung verwirklicht, und der vollst\u00e4ndige negative Erfolg war dann um so auff\u00e4lliger. Der Beweis f\u00fcr die vertretene Ansicht ist also vollst\u00e4ndig. Dass trotzdem bei der Hillebrand\u2019schen Versuchsanordnung einige auch positiv werthvolle Resultate gewonnen wurden, erkl\u00e4rt sich dadurch, dass auf anderem Wege secund\u00e4re Kriterien geschaffen wurden, die dann zur Tiefensch\u00e4tzung verhalten.\nEndlich ist zu ersehen, wie die ganze psychologische Ueberlegung, die der Hillebrand\u2019schen Untersuchung voranging, von vornherein g\u00e4nzlich verfehlt war, ja psychologisch Unm\u00f6gliches in sich trug. Auch nach der Theorie von Hering, und sicherlich auch nach jeder anderen, geschieht die Tiefenlocalisation selbstverst\u00e4ndlich in Bezug auf das vorstellende Subject1)- Ebenso gewiss ist es weiter, dass in der Vorstellung, die localisirt werden soll, diejenigen Raumwerthe bereits enthalten sind und sein m\u00fcssen, die ihre Localisation bedingen. Welche Raum-, vor allem Tiefenwerthe besitzt aber eine mathematische Linie auf dem mittleren L\u00e4ngsschnitte nur einer Netzhaut ? Keine anderen als Null. Und um dieses Null zu localisiren, fehlt dann jedes Motiv. Auch der bewusste Wille vermag es nicht, denn hier fehlt ihm erst recht eine Vorstellungsgrundlage.\nAus den letzten Betrachtungen ergibt sich noch, dass man von einer urspr\u00fcnglichen Tiefenempfindung nur in dem Sinne sprechen kann, wie dies Hering thut, indem er an die einzelnen Netzhautpunkte solche kn\u00fcpft und in seiner Terminologie als \u00bbGef\u00fchle\u00ab\n1) Hering, Beitr\u00e4ge V, S. 342ff.","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Oeb. d. Bedeutung d. Convergent- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 299\nbezeichnet. Dannfist aber der Begriff der Empfindung anders definirt, er ist die einfache Reaction eines irgendwie gedachten einfachen physiologischen Processes. Es ergibt sich aber dann um so mehr, dass der Einfluss solcher urspr\u00fcnglicher Tiefenempfindungen auf die Localisation niemals f\u00fcr sich untersucht werden kann, denn diese Tiefenwerthe sind immer mit Breitenempfindungen verbunden und in der localisirten Vorstellung enthalten. Sie sind, psychologisch betrachtet, nicht Tiefen-, sondern Orts- oder Raumempfindungen in der Sprache Hering\u2019s. Dies ist in der That Hering\u2019s Meinung: sie sind r\u00e4umliche Gebilde, in denen der dreidimensionale Raum vollkommen gegeben ist1). Zudem geben gerade diese Raumwerthe der Netzhaut keinen Aufschluss \u00fcber die absolute Tiefenlocalisation, sind aber in ihrem Werthe jeweilig von dieser abh\u00e4ngig. Dieses letztere ist \u00fcbrigens eine Thatsache, die von jeder Theorie ber\u00fccksichtigt werden m\u00fcsste, wie immer sie die Ausmessung des Gesichtsfeldes und die Gr\u00f6\u00dfenbestimmungen darin verst\u00e4ndlich machen will, denn diese sind in jedem einzelnen Falle abh\u00e4ngig von der Entfernung, in die das Gesichtsfeld verlegt wird. Deshalb thut Hering gewiss Recht, wenn er alle Gr\u00f6\u00dfen- und Lagebestimmungen im Gesichtsfelde mehr oder weniger mit R\u00fccksicht auf deren Localisation nach der Tiefe betrachtet. Denn diese geht, so unbestimmt sie auch in manchen F\u00e4llen sein mag, den genaueren Gr\u00f6\u00dfenbestimmungen im Gesichtsfelde voraus, sie ist einfach mit dem selbst noch wenig bestimmten Gesichtsfelde gegeben. Erst dann wird es auch vollkommen verst\u00e4ndlich, wie nach der Theorie, die die Augenbewegungen in ausgedehntestem Ma\u00dfe f\u00fcr die Ausbildung der Raumanschauung verwerthet, die Entfemungs-vorstellung auf die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Objecte von Einfluss ist. Die Empfindungswerthe beim Durchlaufen einer Strecke mit dem Blicke sind nothwendig verschieden, je nachdem sich die Sehachsen in gr\u00f6\u00dferer oder geringerer Convergenz befinden. Denn was man Parallelbewegung der Augen nennt, ist nicht ein paralleles Bewegen der Sehachsen in dem Sinne, dass sie wirklich parallel gerichtet sind, sondern blo\u00df Seitw\u00e4rtsbewegung, wobei sie eigentlich immer convergent bleiben f\u00fcr diejenige Entfernung, die durch das Object bestimmt ist. Hieraus ergibt sich dann der Einfluss der Convergenz-\n1) Hering, Beitr\u00e4ge V, S. 289.","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nMaximilian Arrer.\nbewegungen auf unsere s\u00e4mmtlichen Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen im R\u00e4ume. Die Idee der Kernfl\u00e4che, in dieser Weise bestimmt, und wie alle Breiten-, H\u00f6hen- und Tiefenlocalisation mittelst (Augenbewegungen und Augenmuskelempfindungen in und relativ zur Kernfl\u00e4che entsteht, ist schon bei Mei\u00dfner klar ausgef\u00fchrt1).\nFassen wir zusammen, was in diesem Paragraphen an kritischen Bemerkungen ausgef\u00fchrt wurde, so ergibt sich, dass s\u00e4mmtliche Einw\u00e4nde gegen die Leistungsf\u00e4higkeit der Convergenzempfindungen f\u00fcr die Tiefenlocalisation unhaltbar sind. Sie beruhen zum gr\u00f6\u00dften Theil auf Missverst\u00e4ndnissen der wahren Bedeutung, die ihnen zukommt und zugeschrieben wird. Diese Missverst\u00e4ndnisse sind wieder meistens dadurch bedingt, dass nicht immer mit gen\u00fcgender Objectivit\u00e4t fremde Ansichten \u00fcberlegt, sondern eigene in sie hineingetragen werden, die sich mit jenen nicht vertragen.\nSchlussbetrachtung.\n\u00a7 57. Ich hoffe, dass in den Untersuchungen und Betrachtungen dieser Abhandlung alles das ber\u00fccksichtigt wurde, was in der Einleitung als Aufgabe hingestellt war, wenn auch nicht in gleichem Ma\u00dfe. Dies war von vornherein nicht zu erwarten; die Hauptaufgabe war nur die eine : welches ist die Bedeutung der Convergenz- und Accommodationsempfindungen f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung ? Die andern stehen im Dienste dieser. Und wenn auch die fr\u00fcheren Zeilen, wie ich hoffe, gerade mit R\u00fccksicht auf diese Frage deutlich genug darauf hinweisen, welche Rolle diesen Functionen hier zuzuschreiben sei, so scheint es mir doch nicht \u00fcberfl\u00fcssig, noch einmal mit einigen Worten darauf zur\u00fcckzukommen, um in einigen wenigen S\u00e4tzen das endg\u00fcltige Resultat zusammenzufassen.\nWir sahen, dass in allen den mitgetheilten Experimenten nicht nur ein Motiv vorhanden war, das zur Tiefensch\u00e4tzung verhalf, sondern deren mehrere. Unter ihnen befanden sich nat\u00fcrlich auch die Convergenz- und Accommodationsbewegungen. Was ist, ganz eindeutig bestimmt, der Antheil und die Bedeutung dieser Motive in allen Versuchen gewesen?\n1) Physiologie des Sehorgans, S. 111. Vergl. hierzu Wundt: Vorlesungen \u00fcber Menschen- und Thierseele, 2. Aufl. S. 193.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Oeb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Aecommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 301\nBetrachten wir auf der einen Seite alle Ergebnisse der mitge-theilten Versuche, so muss eines besonders auf fallen, n\u00e4mlich dass uns in den Unterschiedsstrecken, wenn auch nicht \u00fcberall ihrem absoluten Werthe, so doch dem allgemeinen Charakter nach, \u00fcberall gleiche Verh\u00e4ltnisse entgegentreten (vergl. S. 67 ff., 116 f. ; sodann die Tabellen S. 45, 75, 88). Dies konnte aber nur dadurch zu Stande kommen, dass in allen diesen Versuchen ein und derselbe Factor in gleicher Weise wirksam war.\nBetrachten wir jetzt auf der andern Seite die Motive, die zum Erfolg concurrirten. Es waren dies, wie die Untersuchungen lehrten, die besondere Form des beschr\u00e4nkten Gesichtsraumes im weitesten Sinne, also seine Begrenzung und die in ihm enthaltenen unterscheidbaren Baumverh\u00e4ltnisse. Sodann die Besonderheit des Distanzobjectes (und sein Bild nat\u00fcrlich), das zum Theil f\u00fcr jenes erste Motiv mit-bestimmend ist, aber doch einer besonderen Betrachtung unterzogen werden muss. Ferner die in den Versuchen der Wundt\u2019sehen Anordnung nicht immer gleichbleibende Helligkeit. Und endlich die Convergenz- und Accommodationsbewegungen.\nSehen wir zu, wie weit diese Factor en in gleicher Weise \u2014 diese Bedingung wird durch die Ergebnisse gefordert \u2014 in allen Versuchen vorhanden waren.\nDie besondere Form des beschr\u00e4nkten Gesichtsraumes war in keinem der Versuche dieselbe. Dass sie es in der Hillebrand-schen Versuchsanordnung nicht war, bedarf keines besonderen Hinweises. Sie war es aber auch nicht in den monocularen und bino-cularen Versuchen der Wundt\u2019sehen Versuchsanordnung. In den binocularen Versuchen ist das Gesichtsfeld anders begrenzt als in den monocularen, die Plastik des ganzen Gesichtsraumes ist dort eine andere als hier (vergl. S. 76). Aber dieser Factor, kann er auch manche Verschiedenheit in den Ergebnissen erkl\u00e4ren, so doch nicht das Gemeinsame in ihnen.\n/Das Distanzobject war in den Wundt\u2019schen und Hillebrand-schen Versuchen ein g\u00e4nzlich verschiedenes. Und auch in den monocularen und binocularen Versuchen allein der Versuchsanordnung von Wundt kann es nicht ohne weiteres als gleich betrachtet werden. Denn wollte man auch annehmen, dass zwei gleiche Netzhautbilder auf den mittleren Meridianen zum Tiefensch\u00e4tzen nicht mehr ' ver-","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nMaximilian Arrer.\nhelfen als nur eines, so ist doch sicher, dass das Ganze eines hinocularen Gesichtsfeldes anders erscheint als das eines monocu-laren, und es ist daher nicht zul\u00e4ssig, beide F\u00e4lle einander gleich zu setzen. Und was die Ver\u00e4nderungen des Durchmessers des Objectes anlangt, so wird man Hillebrand ohne weiteres Recht geben k\u00f6nnen, dass sie auch dort m\u00f6glicher \"Weise von Einfluss sein konnten, wo es zu einer klaren und bewussten Wahrnehmung dieser Ver\u00e4nderung nicht kam '). Aber gerade wegen dieses letzteren Umstandes konnten sie f\u00fcr den Erfolg nur mitbestimmend, nicht Ursache sein, denn diesen Ver\u00e4nderungen gingen andere in gewissem Betracht voran, die zun\u00e4chst allein auf die Tiefenvorstellung Bezug haben, und mit deren Ver\u00e4nderung jene parallel gehen, denn alle Ver\u00e4nderungen im fl\u00e4chenhaften Gesichtsfelde sind ebenso sehr abh\u00e4ngig von der Entfernung, in die dieses verlegt wird (S. 125).\nDer Einfluss der wechselnden Helligkeit endlich, den ich hier nur der Vollst\u00e4ndigkeit halber erw\u00e4hne, gab sich in den Versuchen der Wundt\u2019schen Anordnung unmittelbar zu erkennen (S. 52), er war dann in der Hillebrand\u2019sehen Versuchsanordnung ganz ausgeschlossen.\nEs bleiben nur noch die Convergenz- und Accommodations-bewegungen, und diese waren in der That in allen Versuchen in gleicher Weise vorhanden. Sie sind auch durch ihre Beschaffenheit als Bewusstseinselemente zur Erkl\u00e4rung der in Rede stehenden Verh\u00e4ltnisse geeignet. Das Gemeinsame jener Ergebnisse, sofern es wirklich allen in gleichem Ma\u00dfe gemeinsam ist, besteht in quantitativen Verh\u00e4ltnissen. Und gerade in dieser Beziehung waren die erstgenannten Motive in verschiedener und ungleichm\u00e4\u00dfiger Weise vorhanden. Die Convergenz- und Accommodationsempfindungen dagegen sind schon an und f\u00fcr sich auch f\u00fcr die unmittelbare Auffassung qualitativ wenig verschieden, sie scheinen haupts\u00e4chlich quantitativ abgestuft zu sein; eben darum aber eignen sie sich zu einem Ma\u00dfe der Vergleichung gleichartiger Inhalte. Das ist die Bedeutung, und gewiss keine geringe, die den Convergenz- und Accommodationsempfindungen in allen den mitgetheilten Versuchen zukam: sie\n1) Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie v. Ebbinghaus u. K\u00f6nig, Bd. VII. S. 113 ff.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Deb. d. Bedeutung d. Convergenz- u. Accommodationsbew. f. d. Tiefenwahrnehmung. 303\nwaren das Ma\u00df, nach dem die Tiefenvorstellungen verglichen werden konnten und auch verglichen wurden1).\nMan hat der hier vertretenen Theorie vorgeworfen, sie nehme ein System von Muskelempfindungen an, denen \u00bbFunctionen zuge-muthet werden, die voraussetzten, dass ihre graduellen Abstufungen an Feinheit mindestens den Raumsinn der Netzhaut erreichen\u00ab (Hillebrand). Gewiss, sie thut dies mehr oder weniger. Aber wenn man diesen Einwand erhebt, m\u00f6ge man sich auch Folgendes \u00fcberlegen: Erstens, wie w\u00fcrde es um unsere F\u00e4higkeit, Raumverh\u00e4ltnisse zu unterscheiden, stehen, auch wenn sich diese aus Functionen und Verh\u00e4ltnissen auf der Netzhaut erkl\u00e4ren lie\u00dfen, wenn dem Raumsinn derselben nicht ein ebenso fein ahgestufter Bewegungsmechanismus zur Seite st\u00fcnde ? Und zweitens, ob es wirklich schwerer ist zu denken, es entspreche einem so fein abgestuften Bewegungsmechanismus ein ebenso fein abgestuftes System von Muskelempfindungen, als es zu denken ist, dass jedem Netzhautpunkt eine \u00bbRaumempfindung\u00ab zukommt, die, abgesehen von ihrem Gesichtsinhalt, noch aus drei verschiedenen \u00bbGef\u00fchlen\u00ab componirt ist?\nKehren wir zu den Schlussbetrachtungen zur\u00fcck, so ergibt sich, wie eine n\u00fcchterne Abw\u00e4gung der gleichzeitig vorhandenen Motive und eine ebensolche Ueherlegung lehrt, was jedem einzelnen von ihnen in einem gegebenen Falle und \u00fcberhaupt zukommt. Es ist also nicht nothwendig, um die Leistung nur eines Motivs kennen zu leimen, alle \u00fcbrigen auszuschlie\u00dfen, ja, es ist sogar irrig, zu meinen, dass man auf diesem Wege zu besserer Erkenntniss gelangen k\u00f6nne, denn die einzelnen Motive sind niemals f\u00fcr sich allein wirksam, sondern nur in Gemeinschaft mit andern. Die Untersuchungen im Laboratorium haben es doch mit Fragen zu thun, die dem wirklichen Bewusstseinsleben entnommen sein sollen; diese Untersuchungen werden aber nothwendig werthlos werden, oder doch nur als negative Erg\u00e4nzung zu andern in Betracht kommen k\u00f6nnen, wenn darin Bedingungen geschaffen werden, die mit dem wirklichen Leben schlechterdings nichts mehr gemeinsam haben. Es ist ein eigenth\u00fcm-liches und bezeichnendes Schicksal gerade derjenigen Theorie, die der psychologischen Erfahrung besser zu dienen glaubt, indem sie\n1) Vergl. Wundt, Grundz\u00fcge d. physiolog. Psychologie, 4. Aufl. II. S. 218.","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304 Maximilian Arrer. \u00fceb. d. Bedeut, d. Converg.- u. Accommodationsb. f. d. Tiefenwahrn.\ndie Rauminhalte selbst schon zu letzten Bewusstseinseinheiten macht, dass gerade diese Theorie dazu gelangt, f\u00fcr die Untersuchung dieser Inhalte Bedingungen aufzustellen, die nichts weniger als der psychologischen Erfahrung entnommen sind, und einzig und allein nur in der Theorie bestehen k\u00f6nnen. Und geschieht dies mit einiger Consequenz, so richtet sich eine solche Theorie von selbst. Unf\u00e4hig, der Erfahrung, die sie erkl\u00e4ren wollte, gerecht zu werden, thut sie dieser Zwang an oder ignorirt sie.","page":304}],"identifier":"lit4260","issued":"1898","language":"de","pages":"222-304","startpages":"222","title":"Ueber die Bedeutung der Convergenz- und Accommodationsbewegungen f\u00fcr die Tiefenwahrnehmung, Schluss","type":"Journal Article","volume":"13"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:17:18.911287+00:00"}