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{"created":"2022-01-31T15:10:11.831669+00:00","id":"lit4476","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Zeitler, Julius","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 16: 380-463","fulltext":[{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen Uber das Lesen.\nYon\nJulius Zeitler.\nMit 1 Figur im Text.\nSeitdem die Brauchbarkeit des Tachistoskops und die Exactheit tachistoskopisclier Experimente \u00fcberhaupt angezweifelt wurde, sind die bisher besonders auf tachistoskopischem Wege gef\u00f6rderten Untersuchungen \u00fcber das Lesen in eine neue Phase eingetreten. Ein Fortschritt ist wesentlich der Neuconstruction eines Tachistoskops zu verdanken, die von Herrn Professor Wundt herr\u00fchrt. Die Herstellung des in der beigegebenen Figur abgebildeten neuen Fall-Tachistoskops erfolgte unter Zugrundelegung des Oattell\u2019schen Apparats1). Es besteht im wesentlichen aus einem auf einem Fu\u00dfbrett vertical stehenden Messingrahmen, von 80 cm, bezw. (mit dem Rad der Atwood\u2019schen Vorrichtung) 1 m H\u00f6he, zwischen dessen im Abstand von 10 cm angebrachten S\u00e4ulen sich eine Fallscheibe 8 von geschw\u00e4rztem Eisenblech bewegt. An dieser Fallscheibe befindet sich die rechteckige, zur Exposition des Objectes bestimmte Oeffnung. deren H\u00f6he durch einen Schieber von 8 cm Querdurchmesser beliebig verstellt werden kann. Die Fallh\u00f6he der Expositionsscheibe selbst kann innerhalb 50 cm beliebig variirt werden. Die M\u00f6glichkeit, den Spalt jederzeit zu ver\u00e4ndern, gestattet aber auch eine rasche Variation der Expositionszeit, ohne dass die Fallh\u00f6he ge\u00e4ndert zu werden braucht. Vor der Exposition wird die Fallscheibe mittels des an\n1) Cattell, lieber die Tr\u00e4gheit der Netzhaut und des Sehcentrums. Phil. Stud. HI, S. 94, 97 ff. Der neue Apparat ist von dem Mechaniker des psychologischen Instituts Herrn E. Zimmermann in vorz\u00fcglicher Weise ausgef\u00fchrt.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n381\nihr befindlichen eisernen Ankers A von den beiden Elektromagneten E festgehalten. Der Carton, auf dem sich das zur Exposition gelangende Wort befindet, wird von zwei unmittelbar hinter der Eallvorrichtung befindlichen Federn festgehalten und ist vor der Exposition durch ein geschw\u00e4rztes Schutzblech B verdeckt, in dessen Mitte genau \u00fcber der Mitte des Sehobjectes eine graue runde Fixirmarke von 4 mm Durchmesser angebracht ist. W\u00e4hrend B in der Ruhelage durch Federn locker festgehalten wird, wird es im Augenblick der Exposition von der Fallscheibe in ein unten befindliches Fangschild F heruntergeschnellt, so zwar, dass das Object sofort wieder von der Expositionsscheibe verdeckt wird, die selbst von den in ihrer Yerticalebene befindlichen Fangfedern C aufgenommen wird. Der Moment, den die beigegebene Figur darstellt, ist der Augenblick der Exposition selbst. Zur Regulirung der Fallbewegung ist weiterhin eine Atwood-sehe Vorrichtung angebracht. Der Faden f, an dem die Fallscheibe h\u00e4ngt, ist \u00fcber ein m\u00f6glichst reibungslos zwischen Spitzen laufendes","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nJulius Zeitler.\nEad R geschlungen und an seinem Ende mit einer Vorrichtung versehen, mittels deren er mit Gewichten beh\u00e4ngen werden kann. Das daran befindliche Gewicht hebt, sobald es den an einer Scala verschiebbaren und festzuschraubenden Hing t passirt, ein auf diesem liegendes zweites Gewicht q in die H\u00f6he, wodurch die bei den kleinsten Zeiten sehr rasche Abw\u00e4rtsbewegung der Eallscheibe in dem Augenblick gehemmt wird, wo letztere von den Eangfedern gefasst wird. Durch geeignete Variation des Scheibenspalts 0. der Gewichte und der Fallh\u00f6hen l\u00e4sst sich jede Expositionszeit zwischen 0,005 Sec. und 0,2 Sec. herstellen.\nZur Beobachtung dient ein schwach vergr\u00f6\u00dferndes astronomisches Fernrohr mit Fadenkreuz, das auf den Fixirpunkt des Fallschildes eingestellt ist. Wegen der durch das Fernrohr erzeugten Umkehrung der Bilder m\u00fcssen auch die Schriftohjecte in umgekehrter Stellung eingesetzt werden.\nDas aufzufassende Wortbild muss gerade so lange einwirken, als zu einer einmaligen Apperception erforderlich ist. Die Expositionszeit darf daher weder unterhalb der Grenze der dazu \u00fcberhaupt noth-wendigen Dauer Hegen, noch darf sie die Grenze \u00fcberschreiten, wo eine Wanderung der Aufmerksamkeit stattfinden k\u00f6nnte. Die bei den Versuchen angewandten niedrigen Expositionszeiten d\u00fcrften das Auftreten von Aufmerksamkeitswanderungen v\u00f6lhg ausschlie\u00dfen, w\u00e4hrend sie Augenhewegungen von vornherein verhindern.\nDie mit dem Apparat herstellbaren Expositionszeiten wurden in der Weise gemessen, dass eine Stimmgabel von 476 Schwingungen in der Secunde vor der herabschie\u00dfenden Fallscheibe in Schwingungen gesetzt wurde. Auf der Curve wurde dann die r\u00e4umliche Strecke festgestellt, innerhalb deren das Object sichtbar war, wonach die Zeit unmittelbar von der Curve abgelesen werden konnte. Jede Zeitbestimmung wurde sechsmal wiederholt und aus dem arithmetischen Mittel die Normalzeit f\u00fcr jede Spaltweite und Belastung berechnet.\nF\u00fcr die Feststellung der Expositionszeit, d. i. der Dauer, in der das Schriftbild sichtbar ist, waren folgende Erw\u00e4gungen ma\u00dfgebend.\nTheoretisch lassen sich folgende Phasen f\u00fcr die Sichtbarkeit des Objects auf stellen:\n1) Vom Beginn der Exposition, an dem der untere Strich der Expositionsspalte die obere Begrenzungslinie des Schriftbildes passirt,","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopisehe Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n383\nbis zur v\u00f6lligen Sichtbarkeit desselben verl\u00e4uft eine sehr kurze Zeit, die die \u00bbPr\u00e4expositionszeit\u00ab genannt werden mag. Auf diese folgt:\n2)\tDie absolute Expositionszeit.\n3)\tDer Vorgang wird abgeschlossen von der \u00bbPostexpositionszeit\u00ab , jener Zeit, innerhalb deren der obere Strich der Spalte die obere und untere Begrenzungslinie des Wortbildes passirt.\nDiese Zeiten betrugen bei den verschiedenen Gewichten nach den Messungen:\nGewicht\tSchwingungen\tZeit\n0\tlk~*k\t1\u20141,5 er\n1\t1\t2 <r\n2\t1,5\t3 a\n3\t2\u20142,5\t4\u20145 <r\nNun sind aber gewisse Theile sowohl der Pr\u00e4- als auch der Postexposition zur eigentlichen Exposition noch hinzuzurechnen. Theilt man n\u00e4mlich das Schriftbild horizontal in 3 parallele Streifen, so liegen die charakteristischen Merkmale der Buchstaben in den beiden oberen Streifen; sobald sie sichtbar sind, kann das Wort schon gelesen werden. Die Messung konnte also die Grenze der Exposition entsprechend verlegen. Ebenso erweitert sich die Expositionszeit in das Gebiet der Postexposition hinein. Bei der sehr schwierigen Markirung der Expositionsdauer auf der Schwingungscurve wurden daher im allgemeinen die Zeiten unter Ber\u00fccksichtigung dieser Abgrenzungen gewonnen, die ohnedies nur bei den kleinsten Zeiten ins Gewicht fallen, hei gr\u00f6\u00dferen dagegen im Vergleich zur absoluten Expositionsdauer bedeutungslos sind. Auch bei den Versuchen, die ohne Gewicht angestellt wurden und bei denen allein jene Minimalzeiten von Wichtigkeit sein d\u00fcrften, betrug der auf die Abgrenzungen entfallende Zeitbetrag insgesammt nur 1\u20141,5 a.\nAlle Zeitmessungen wurden ohne Anwendung des Fernrohrs gemacht. Auch indem dieses die Objecte in der umgekehrten Folge bringt, d. h. indem es den nicht charakteristischen Streifen zuerst aufdeckt, ist eine Compensation dadurch geschaffen, dass beim Schluss der Exposition der charakteristische Streifen zuletzt verschwindet,","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nJulius Zeitler.\nwodurch sich die ohnedies wohl unbedeutenden Zeitunterschiede wieder ausgleichen.\nJedenfalls kommen die Phasen der Pr\u00e4- und der Postexposition f\u00fcr den Beobachter subjectiv nicht in Betracht; dass das Vorbild allm\u00e4hlich aufgedeckt w\u00fcrde, entzieht sich der Beobachtung vollst\u00e4ndig, f\u00fcr die es ebenso pl\u00f6tzlich enth\u00fcllt als wieder verh\u00fcllt wird. Das Vor\u00fcbergleiten der Scheibe wird \u00fcberhaupt in keiner Weise wahrgenommen, im Gegentheil besteht nur der Eindruck, dass das Bild simultan auftaucht und wieder verschwindet.\nEs wurden folgende Werthe festgestellt, in denen innerhalb jeder Belastungsgrenze die Spaltweiten so abgestuft wurden, dass jedes Zeitma\u00df bis auf 1 mm genau durch Verschiebung derselben hergestellt werden konnte.\nBei einer constanten Fallh\u00f6he von 50 cm, ohne Anwendung eines Gewichtes, entsprachen sich Spaltweite und Expositionszeit folgenderma\u00dfen:\n12 mm\t5\t<s\n20 \u00bb\t10\t\u00bb\n30\t\u00bb\t15 \u00bb\n43 \u00bb\t20\t\u00bb\nNach Anbringen des kleinsten Gewichtes \u00e4nderte sich das Ver-h\u00e4ltniss wie folgt:\n23 mm\t15\ta\n31\t\u00bb\t20\t\u00bb\n43\t\u00bb\t25\t\u00bb\n55 \u00bb\t30\t>\nBeim mittleren Gewicht:\n35 mm\t30\ta\n44\t>\t35\t\u00bb\n53 \u00bb\t40\t\u00bb\nDas schwerste Gewicht gelangte nur zur Herstellung ganz gro\u00dfer Expositionszeiten zur Anwendung, wobei au\u00dfer der Variation der Spaltweite noch die der Fallh\u00f6he zu H\u00fclfe genommen werden musste :\nSpaltweite\tFallh\u00f6he\t<s\n40 mm\t50 cm\t100\n60 \u00bb\t35 \u00bb\t150\n60 \u00bb\t25 \u00bb\t200","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n385\nDie geringsten Zeiten wurden mit folgenden Spaltweiten gewonnen :\n5 <r\t12 mm\n6 >\t13,6 \u00bb\n7 \u00bb\t15,2 \u00bb\n8 \u00bb\t16,8 \u00bb\n9 \u00bb\t18,4 \u00bb\n10 \u00bb\t20 \u00bb\nDas Fernrohr befand sich mit seinem Ocular 70 cm vom Fixir-punkt entfernt und wies eine Vergr\u00f6\u00dferung von 2 : 3,3 auf.\nZwischen dem Fixirpunkt auf dem Fixirschild und dem Expositionsobject befindet sich nur soviel Zwischenraum, um die Fallscheibe, die das Herabsto\u00dfen des Schildes zu bewerkstelligen hat, ungehindert hindurch passiren zu lassen. Damit ist die Nothwendig-keit einer neuen Einstellung im Moment der Exposition ausgeschlossen.\nHerr Geheimrath Professor Wundt beauftragte mich, mit diesem vervollkommnten tachistoskopischen Apparat Untersuchungen anzustellen, und begleitete sie, w\u00e4hrend ich sie wesentlich im Wintersemester 1899/1900 in seinem Institute ausf\u00fchrte, mit Path und Theilnalime, wof\u00fcr ich ihm hier meinen warmen Dank ausdr\u00fccken m\u00f6chte.\nAls Versuchspersonen resp. Beobachter stellten sich die Herren Dr. M\u00fcller, Linke, Almy, D\u00fcrr, Dr. Scott in liebensw\u00fcrdiger Weise zur Verf\u00fcgung; ich danke ihnen hiermit f\u00fcr die Ausdauer und Bereitwilligkeit, mit der sie sich an den Untersuchungen betheiligten.\n1. Appercipirendes und assimilirendes Lesen.\nEs gibt zwei verschiedene Arten der Beobachtung bei tachistoskopischen Versuchen, die nach den dabei sich geltend machenden Symptomen sowohl objectiv wie suhjectiv verschieden sind. Diese Hauptunterschiede beruhen auf dem relativen Uebergewicht der Vorg\u00e4nge der Apperception einerseits und der Assimilation anderseits, die bei dem Process der Beobachtung stattfinden.","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nJulius Zeitler.\nObjectiv vollzieht sich der Akt der Apperception stets auf einer gegebenen Vorstellungsgrundlage.\nDenn der \u00e4u\u00dfere Eindruck erregt stets reproductive Elemente, die dann mit ihm die einheitliche Wortvorstellung bilden. Diese reproductiven Elemente sind aber nicht durchg\u00e4ngig gleichwertig, sondern sie tauchen in verschiedener zeitlicher Abstufung auf, indem sich an die zun\u00e4chst wirksamen in deutlicher Abfolge fortw\u00e4hrend andere anschlie\u00dfen, um dann ebenfalls in dem Bewusst-seinsprocess wirksam zu werden. Zun\u00e4chst sind es die domi-nirenden Elemente des Eindrucks, die sich zur Auffassung dr\u00e4ngen, n\u00e4chst ihnen die unmittelbar mit ihnen verbundenen Complexe. Diese dominirenden Elemente und Gebilde, als die bevorzugtesten Merkmale des Schriftzeichens, erwecken mit ihnen \u00fcbereinstimmende reproductive Elemente. Die letzteren, die dem Eindruck im allgemeinen nichts ihm fremdartiges hinzuf\u00fcgen, k\u00f6nnen daher als reproductive Eactoren ersten Grades bezeichnet werden. Solche prim\u00e4re Beproductionen, die sich mit der Apperception unmittelbar verbinden, treten besonders auch im Bereiche der gel\u00e4ufigsten W\u00f6rter ein. Denn die Gel\u00e4ufigkeit der Wortbilder beruht auf einer entsprechend starken Disposition zu ihrer Wiederemeuerung, \u2022\u2014 wobei der Begriff der Disposition nat\u00fcrlich hier wie \u00fcberall nur ein H\u00fclfsbegriff zur Erl\u00e4uterung der im Bewusstsein nachweisbaren Beziehungen des directen Eindrucks zu fr\u00fcheren Eindr\u00fccken ist. Indem der directe Sinneseindruck einen jenen Dispositionen entsprechenden Complex von Empfindungen erweckt, werden die Dispositionen selbst zu \u00bbactueilen Empfindungen\u00ab]), die mit den durch den \u00e4u\u00dferen Eindruck erweckten in eine einheitliche Vorstellung zusammenflie\u00dfen. Dieser objective Vorgang der Apperception wird dabei subjectiv stets von einem Th\u00e4tigkeitsgef\u00fchl begleitet, das wir auf eine Mitwirkung von activer Aufmerksamkeit beziehen.\nDie prim\u00e4ren reproductiven Elemente k\u00f6nnen nun aber ihrerseits wieder reproductive Elemente ins Bewusstsein heben, mit denen sich die unbetonten nur dunkel percipirten Strecken des Wortbildes verbinden. Sobald diese Verbindungen, die zwischen den reproductiven\n1) Wundt, V\u00f6lkerpsychologie I, 1, S. 540 ff.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"387\nTachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\nElementen selbst bestehen, zur Wirkung kommen, kann dann der Vorgang als secund\u00e4re Reproduction bezeichnet werden. Sie charak-terisirt die Assimilation im engsten Sinne dieses Wortes. Bei der Apperception des Bildes \u00fcberwiegen demnach die directen Elemente vor den reproducirten; bei der Assimilation oder, genauer gesprochen, bei der auf Grund umfangreicherer Assimilationen eingetretenen Apperception \u00fcberwiegen die secund\u00e4r reproducirten vor den directen. Die Assimilation stellt sich demnach deutlich als ein Verbindungsprocess zwischen direct erregten Empfindungen und secund\u00e4r reproducirten Elementen dar; und eine nachweisbare Assimilation tritt daher erst in dem Moment ein, wo reproductive Elemente, die von den direct erregten verschieden sind, zu \u00bbactuellen Empfindungen\u00ab werden, sie vollzieht sich erst mit dem vollen Eintritt der secund\u00e4ren reproductiven Elemente ins Bewusstsein, indem diese nunmehr auch auf die prim\u00e4ren zur\u00fcckwirken k\u00f6nnen. Hier werden die Verbindungsprocesse, die zwischen den Elementen der einzelnen Reproductionsinhalte selbst stattfinden k\u00f6nnen, besonders wichtig, wenn die sich verbindenden Bestandtheile im Sinne einer wechselseitigen Assimilation ver\u00e4ndernd aufeinander einwirken. Auch setzen sich leicht diese Reproductionswirkungen in successive Associationen fort, die dann nachtr\u00e4glich noch das Bild assimilativ umgestalten k\u00f6nnen. Subjectiv ist dieser ganze Vorgang charakterisirt durch passive schweifende Aufmerksamkeit.\nDas Lesen unter vorwaltendem Einfluss der Apperception und Ausschluss der secund\u00e4ren Reproductionen und Assimilationen vollzieht sich schon bei minimalen Zeiten, und zwar unter st\u00e4rkerer Spannung und activer Fixation der Aufmerksamkeit, w\u00e4hrend das assimilative Lesen mit schweifender fluctuirender Aufmerksamkeit gr\u00f6\u00dfere Zeiten ben\u00f6thigt. Bei kurzer Expositionszeit wird daher entweder nur direct appercipirt oder \u00fcberhaupt nichts erkannt, indem die reproductiven Factoren zweiten Grades hierbei gar nicht oder nur wenig in Action kommen; umfangreichere Assimilationen mit gr\u00f6\u00dferer Betheiligung reproductiver Elemente bedingen dagegen stets eine l\u00e4ngere Expositionszeit, in deren Ablauf jene secund\u00e4ren Factoren zur Entwicklung gelangen k\u00f6nnen.\nTritt im ersten Falle bei kurzer Expositionszeit, in Folge eines momentanen Nachlassens der Aufmerksamkeitsspannung, trotzdem\nWundt, Philos. Studien. XVI.\t26","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nJulius Zeitler.\neine erhebliche Assimilationswirkung ein, so erzeugt sie in der Regel ein falsches Wortbild. Dagegen wird die Apperception im zweiten Falle stets wesentlich durch den Assimilationsprocess selbst bestimmt.\nDie Bedeutsamkeit dieser sowohl nach der Wirksamkeit der prim\u00e4ren und secund\u00e4ren Reproductionen wie nach der Aufmerksam-keits- und Gef\u00fchlslage charakterisirten Unterschiede l\u00e4sst es als gerechtfertigt erscheinen, in unmittelbarer Beziehung auf dieselben bei tachistoskopischen Versuchen zwischen appercipirendem und assi-milirendem Lesen zu unterscheiden. Demnach ist vor allem die Abgrenzung der bei gespannter Aufmerksamkeit und der bei schweifender Aufmerksamkeit stattfindenden Vorg\u00e4nge von einander sch\u00e4rfer zu sondern, als es in den bisherigen Untersuchungen \u00fcber das Lesen geschehen ist, insofern diese jenen Unterschieden keine Aufmerksamkeit schenkten. Die Theilvorg\u00e4nge, die in die Processe der Apperception und der Assimilation eingehen, sind \u00fcbrigens so mannigfacher Art, dass es nat\u00fcrlich unm\u00f6glich ist, eine absolute Trennung beider Vorg\u00e4nge auszuf\u00fchren, um so mehr, da ja, wie die obigen Er\u00f6rterungen erkennen lassen, Apperception und Assimilation stets neben einander hergehen. Der Geltungsumfang der obigen, mit relativer Willk\u00fcrlichkeit a\u00fcfgestellten Bezeichnungen ist darum auf einen Kreis einzuschr\u00e4nken, in dem die zugeh\u00f6rigen relativen Bedingungen erf\u00fcllt sind.\nDa bei keiner Wortapperception vom Eingreifen der Assimilation ganz abgesehen werden kann, so werden die Versuchsbedingungen ihr Optimum haben, wenn es gelingt, die secund\u00e4ren Reproductionen und Assimilationen so viel wie m\u00f6glich auszuschalten. Den Beobachtern wurde daher stets eingesch\u00e4rft, die Associationen m\u00f6glichst zur\u00fcckzudr\u00e4ngen und dagegen dem objectiven Eindruck die st\u00e4rkste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es kam nicht auf Lesen \u00fcberhaupt, sondern auf Richtiglesen an. Es konnte kein Gewinn darin erblickt werden, wenn alle m\u00f6glichen Assimilationen sofort in die Wortform hineinstr\u00f6mten.\nDazu erwies es sich vor allem als nothwendig, die Expositionszeit bis zu dem Minimum zu verk\u00fcrzen, bei dem eine Apperception gerade noch m\u00f6glich war. Dadurch wurde das Anschie\u00dfen der Reproductionen, wie die Beobachtung zeigte, geistig sehr erschwert, und der","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n389\nBeobachter war so darauf angewiesen, seine Aufmerksamkeit auf die objectiven Fact or en aufs h\u00f6chste anzuspannen.\nDie Unterschiede zwischen dem appercipirenden und dem assi-milirenden Lesen finden einen charakteristischen Ausdruck in der verschiedenen Werthigkeit der aufgefassten Elemente und Merkmale, wie dies sogleich die ersten Resultate belegten. Die dominirenden Buchstaben, die vor allen anderen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, determihiren die Apperception, w\u00e4hrend die Assimilation vorzugsweise an die Wortform ankn\u00fcpft. Das Wortbild wird zwar secund\u00e4r scheinbar als \u00bbGanzes\u00ab assimilirt; aber prim\u00e4r apper-cipirt wird es nur in seinen dominirenden Bestandtheilen. Darin Hegt auch die Abh\u00e4ngigkeit der Assimilation von der Apperception eingeschlossen; denn jene ist nur zu bereit, auszuschweifen, wenn ihr im Wortbild nicht objectiv gegebene dominirende Elemente von der ersteren zur Verf\u00fcgung gestellt werden. Die grundlegende Arbeit im Process der Lesens hat die Apperception und die mit ihr verbundene prim\u00e4re Assimilation zu verrichten; mit ihr verschmilzt aber fortw\u00e4hrend die secund\u00e4re Assimilation, so dass beide Vorg\u00e4nge, in einander \u00fcbergreifend, sich verdeckend, sich zu verwirren scheinen.\nEin noch weiterer Spielraum wird dem assimilirenden Lesen durch Augenbewegungen er\u00f6ffnet, indem die Vorstellungsmassen und die associative Bereitschaft bei bewegtem Auge in noch viel h\u00f6herem Grade in Th\u00e4tigkeit treten.\nUm die f\u00fcr das appercipirende Lesen charakteristische Wirkungsweise der dominirenden Buchstaben f\u00fcr die Unterscheidung jener beiden Haupttypen des Lesens zu verwerthen, ist es wohl am besten, die entsprechenden Resultate der Untersuchung schon hier einzuschalten, ohne damit der sp\u00e4teren Gesammtdarstellung vorgreifen zu wollen.\nZur Schulung der Beobachter wurde mit der Exposition von normalen gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern begonnen. Dann wurde die Untersuchung von sinnlosen Buchstabenzusammensetzungen bis zu gel\u00e4ufigen gr\u00f6\u00dferen S\u00e4tzen in methodischer Stufenfolge durchgef\u00fchrt. Die erste \u00ef'rage, auf die dabei eine Antwort gesucht wurde, fu\u00dfte auf der Ver-Muthung fr\u00fcherer Autoren, dass beim appercipirenden Lesen einzelne Buchstaben in Betracht k\u00e4men. Es fragte sich dabei, in welcher Weise sie wirkten.\n26*","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nJulius Zeitler.\nu d\n\n\u25a0+\u201c \u2022-1 M\n\u00ab\u00bbS!\n&o 33\nO 03 0\nO 02\nV \u00fc","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n391\nEs ergab sich, dass die Beobachter einzelne Buchstaben im Schriftbild hervortreten sahen und dass sie \u00fcberhaupt meistens, wenn ihnen das Wortbild ungel\u00e4ufiger war, nur einzelne Buchstaben angeben konnten. Diese Buchstaben geh\u00f6rten als ober-, mittel- und unterzeilige bestimmten Kategorien an und die besonders hervorragenden ober- und unterzeiligen waren dadurch ausgezeichnet, dass sie vorzugsweise erkannt wurden.\nDies wurde durch die Verwechslungen und Verlesungen von Buchstaben bei normalen W\u00f6rtern best\u00e4tigt. Die Vocale und kleinen Consonanten waren den meisten Verlesungen ausgesetzt, die oberund unterzeiligen Buchstaben den wenigsten.\nJe charakteristischer also ein Buchstabe gestaltet ist, desto deutlicher wird er erkannt. Diese charakteristischen Buchstaben sind als dominirende Buchstaben zu bezeichnen. Wie \u00bbbei der individuellen Entwicklung bei der Bildung des Gesichtsraumes noch der Einfluss der dominirenden Punkte und Linien im Sehfelde in Betracht kommt, indem diese wie durch einen Reflexmechanismus die Stelle des deutlichsten Sehens zur Einstellung auf sich zwingen\u00ab1), so wirken beim appercipirenden Lesen die dominirenden Buchstaben und Buchstabengruppen. Die dominirenden Punkte des Sehfeldes werden in diesem Falle durch die determinirenden Buchstaben dargestellt, \u00fcber deren \u00bbHochrelief\u00ab das Auge entlang springt. Dies nur bildlich gesprochen. Denn wir k\u00f6nnen wohl annehmen, dass bei 10\u201415 a Expositionszeit keine Augenbewegung stattgefunden habe.\nDas Buchstabencontinuum zerf\u00e4llt also nach Aehnlichkeit und Verschiedenheit in folgende Gruppen:\nI. 1. Vocale: i e o a u\n2. mittelzeilige Consonanten\na)\tc v n m w\nb)\tr s z x\nII. oberzeilige Consonanten\nt 1 f b h d k\nHI. unterzeilige Consonanten\nq p y \u00a7\u25a0\n1) Robert M\u00fcller, Raumwahrnehmung im monocularen Sehen. Phil. Stud. XIV, S. 464 ff.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nJulius Zeitler.\nDanach ist auch der Grad zu bemessen, in dem die Buchstaben dominiren. Als besonders charakteristische Buchstaben, trotzdem sie theilweise nicht der dominirenden Kategorie angeh\u00f6ren, stellten sich x, y und z heraus, was wohl auch mit auf Rechnung ihres weniger h\u00e4ufigen Vorkommens zu setzen ist.\nAls charakteristische Beispiele seien folgende W\u00f6rter angef\u00fchrt, aus denen bei allen Beobachtern die dominirenden Buchstaben hervortraten:\nGold\tG ld\nHaut\tH t\nFliege\tF lg\nWoche\tW ch (ck)\nStreit\tSt t\nMinute\tM t.\nDie Thatsache der dominirenden Buchstaben stimmt mit dem Ergebniss Cattell\u2019s1) zusammen, dass die verschiedenen Buchstaben in verschieden langer Zeit aufgefasst werden.\nEbenso fand er, dass auch die Buchstaben desselben Alphabets nicht alle gleich gut lesbar sind; weiter bemerkte er schon die charakteristischen Verwechslungen zwischen O, Q, Gr, C2), wie sie auch in der Tabelle angegeben sind, und stellte im Alphabet Gruppen \u00e4hnlicher Buchstaben zusammen.\n2. Methode.\nSchon Pillsbury3), der haupts\u00e4chlich untersuchte, in welcher Weise objective Pactoren durch subjective erg\u00e4nzt werden, unterschied zwischen zwei Angaben des Beobachters, der ersten des Wortes, der zweiten der daraus hervortretenden bestimmteren Buchstaben. Und was die Sicherheit des Erkennens betrifft, so unterschied Erdmann4) drei Grade, n\u00e4mlich\n1.\tdas sofort Gelesene,\n2.\tdas nachtr\u00e4glich, d. h. nach kurzem Besinnen Gelesene,\n3.\tdas nur unsicher Gelesene.\n1)\tCattell a. a. 0. S. 115, 116.\n2)\tCattell a. a. 0. S. 120.\n3)\tPillsbury, A study in Apperception, Joum. of Ps. VTTT April 1897. S. 133 ff.\n4)\tErdmann-Dodge, Untersuchungen \u00fcber das Lesen. Halle 1898, S. 166.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n393\nEr machte jedoch keinen weiteren Gebrauch von dieser Unterscheidung.\nDie Schwierigkeit der Selbstbeobachtung hei tachistoskopischen Versuchen macht es sehr schwer, sichere Kriterien f\u00fcr die bei der Apperception stattfindenden inneren Vorg\u00e4nge zu gewinnen. Die dabei erreichbaren Resultate stufen sich einestheils nach dem Talent zur inneren Wahrnehmung ab, das die Beobachter mitbringen, andern-theils nach der Interpretation der Versuche resp. Combination der Selbstaussagen mit dem objectiven Thatbestand, wie ihn der Experimentator beherrscht. Aus dem Zusammenwirken beider Momente ergibt sich die Analyse der Vorg\u00e4nge beim appercipirenden Lesen, soweit es unter diesen Umst\u00e4nden m\u00f6glich ist, in sie einzudringen. Es d\u00fcrfte sich deshalb empfehlen, hier den methodischen Gang der Untersuchung kurz klarzulegen.\nDa der Hauptzweck des appercipirenden Lesens in der m\u00f6glichst getreuen Auffassung des objectiven Eindrucks besteht, legt sich der Schwerpunkt von selbst in die Feststellung des objectiven That-bestandes. Die Grade der Gewissheit, mit denen die Beobachter \u00fcber das Gesehene auszusagen verm\u00f6gen, sind sehr verschieden und k\u00f6nnen von der positiven Sicherheit zum st\u00e4rksten Zweifel variiren. Die Aussagen der Beobachter geben daher durchaus kein g\u00fcltiges Kriterium f\u00fcr die Objectivit\u00e4t ihrer Auffassung. Der strengste Hinweis darauf, m\u00f6glichst zu appercipiren und nicht zu assimiliren, verhindert nicht, dass fremdartige Vorstellungen in das Object hineingesehen werden. Es ereignete sich, dass Beobachter die dem Object heterogensten Wortbilder als mit objectiver Sicherheit gesehen be-zeichneten. Da bei einer sch\u00e4rferen Inquisition sofort suggestive Einfl\u00fcsse auftreten, muss man sich auf k\u00fcrzeste Fragen und pr\u00e4gnanteste Antwort beschr\u00e4nken. Schon jede zweite Frage macht den Beobachter stutzig und so zweifels\u00fcchtig, dass die Objectivit\u00e4t sofort verschwindet.\nDaf\u00fcr besitzt der Experimentator zwei Kriterien f\u00fcr die Richtigkeit der Aussage. Zun\u00e4chst den Thatbestand des exponirten Objects selbst, indem das subjective Wortbild mit dem Buchstabencomplex verglichen wird und die Buchstabenunterschiede des subjectiven Eindrucks festgestellt werden, ohne dass der Beobachter dabei weiter in Frage k\u00e4me. Ein weiteres Mittel, den Grad der Objectivit\u00e4t fest-","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nJulius Zeitler.\nzustellen, ist die genauere Analyse der Aussage des Beobachters. In diesem Falle gibt derselbe .zun\u00e4chst\n(1) den Gesammteindruck, dann (2) die besonders hervorragenden Bucbstabengruppen, die entweder nach ihrer objectiven Determination oder nach der subjectiven Aufmerksamkeit bevorzugt sein konnten, oder (3) falls das Wortbild zweifelhaft war oder \u00fcberhaupt nicht appercipirt wurde, die erkannten Buchstaben, und zwar ebenfalls nach dem Grad, in dem sie verschieden betont gelesen wurden. Indem die dabei erzielten Resultate mit den wirklich exponirten Zeichen zusammengehalten wurden, konnte genau festgestellt werden, was der Beobachter objectiv gesehen, was er assimilirt und was er illusionirt hatte. Auf diese Weise besteht eine fortw\u00e4hrende und sehr sichere Contr\u00f4le \u00fcber den Grad von Wahrscheinlichkeit und Glaubw\u00fcrdigkeit, der den einzelnen Aussagen beizumessen ist. Es scheint darum, als m\u00fcsse bei tachistoskopischen Versuchen der Interpretation und Analyse ein gr\u00f6\u00dferes Schwergewicht zugeschrieben werden, als dies bisher geschehen ist, wo die Aussagen der Versuchspersonen selbst als objectiv hingenommen wurden. Deren subjective Glaubw\u00fcrdigkeit steht bei alledem au\u00dfer Frage, wie man ja auch nicht von ihnen verlangen kann, mehr auszusagen, als sie subjectiv auffassen.\nEine weitere Contr\u00f4le f\u00fcr die Objectivit\u00e4t der Aussagen, wie \u00fcberhaupt f\u00fcr die Richtigkeit der Ergebnisse, bieten die Vexirver-suche, von denen sp\u00e4ter die Rede sein wird. F\u00fcr den Zweck der Untersuchung blieb die Verwendung verschiedener Alphabete gleichg\u00fcltig, denn ihr Zweck war nicht, deren verschiedene Brauchbarkeit zu eruiren, sondern die typischen Vorg\u00e4nge aufzusuchen, die bei jedem Alphabet stattfinden. Es handelte sich also nur darum, dieselben Schrifttypen im Laufe der Untersuchung streng festzuhalten, im Abstand der Buchstaben und Worte genau gleich zu bleiben, damit die Beobachter stets dieselben Schriftobjecte vor sich hatten. Ebenso blieb die Gr\u00f6\u00dfe der Typen (3\u20144 mm hoch, 2\u20143 Buchstaben pro Centimeter, nach dem Druck der \u00bbPhilosophischen Studien\u00ab angefertigt) stets die gleiche, so dass eine Constanz der objectiven Bedingungen in allen Expositionen gewahrt blieb.\nAus denselben Gr\u00fcnden empfahl es sich, umfangreichere Versuche in irgend einer fremden Sprache nicht anzuschlie\u00dfen. Gegen-","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n395\n\u00fcber der durchg\u00e4ngig muttersprachlichen Untersuchung aber war das Verhalten der fremdl\u00e4ndischen Beobachter von hohem Werthe, da bei diesen die Schwierigkeit des Lesens und die geringere Vertrautheit mit der Sprache von vornherein schwerere Bedingungen schafften.\nBei Anwendung der oben geschilderten Schriftzeichen wurde bei constanter Fixation von sinnlosen Buchstabenverbindungen ein Gebiet von 5 bis 8 Buchstaben aufgefasst. An der Peripherie desselben wurden ober- und unterzeilige Buchstaben zwar bemerkt, aber nicht erkannt. Bei instantaner Fixation wurden von analogen Objecten ebenfalls 5\u20148 Buchstaben festgestellt.\nNun liegt die Grenze des Gesichtswinkels f\u00fcr das deutliche Sehen (nach beifolgender Tabelle) bei der durchg\u00e4ngig angewandten Buchstabengr\u00f6\u00dfe zwischen\n4,32\u00b0 f\u00fcr 12 Buchstaben 5,4\u00b0\t, 16\nDa ein dominirender Complex selten \u00fcber 5\u20148 Buchstaben umfasst, so k\u00f6nnen zwei dominirende Complexe, die in sinnvollen Gebilden im Umfange von 16 Buchstaben liegen, noch bequem erkannt werden.\nIn folgender Tabelle entsprechen der ohjectiven Buchstabenanzahl und ihrer Breite in Centimetem deren Vergr\u00f6\u00dferung im Fernrohr und der dazu geh\u00f6rige Gesichtswinkel:\n4 B.\t= 2\tcm\t= 3,3 cm =\t2,16\u00b0\n8 \u00bb\t= 3\t\u00bb\t=\t4,95\t\u00bb\t=\t3,24\u00b0\n10 \u00bb\t= 3,5 \u00bb\t= 5,77\t\u00bb\t=\t3,72\u00b0\n12 \u00bb\t= 4\t\u00bb\t=\t6,6\t\u00bb\t=\t4,32\u00b0\n16 \u00bb\t= 5\t\u00bb\t=\t8,25\t\u00bb\t=\t5,4\u00b0\n20 \u00bb\t= 6\t\u00bb\t=\t9,9\t>\t=\t6,48\u00b0\nBei der Feststellung der minimalen Expositionszeit, d. h. der Zeit, in der ein gel\u00e4ufiges kurzes Wort gerade noch erkannt werden konnte, ergab sich, dass dieselbe bei Dr. M. und D. 7 a, bei A. 8 a, bei Dr. S. 10 a, bei L. 10\u201415 a betrug. Die Normalzeit wurde daher auf 10 a, bezw. 15 und 20 a festgesetzt.\nIm Hinblick auf die Buchstabenh\u00f6he, die bei Catteil 1,5\u20142 mm betrug, l\u00e4sst sich der Einwand erheben, dass sie im vorliegenden Falle zu gro\u00df sei. Die Wahl etwas gr\u00f6\u00dferer Buchstaben lag im Zwecke","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nJulius Zeitler.\nder Untersuchung begr\u00fcndet. Freilich mussten sich mit im geometrischen Yerh\u00e4ltniss verkleinerten Buchstaben dieselben Resultate erzielen lassen, wie mit gr\u00f6\u00dferen. Doch erschwert die gr\u00f6\u00dfere Con-tinuit\u00e4t des Complexes die Beobachtung dominirender Factoren; das Wortbild ist zusammengefasster, gedr\u00e4ngter, also fallen seine betonten Elemente weniger stark heraus. Der Beobachter kann bei der Exposition von aus kleineren Buchstaben zusammengesetzten Wortbildern nur in wenigen F\u00e4llen st\u00e4rker betonte Elemente feststellen. Aber auch hier kann sie der Experimentator, sobald sie nicht direct gegeben sind, wenigstens erschlie\u00dfen. Das Assimilationsproduct erscheint in allen seinen Bestandteilen dem Beobachter gleich deutlich, die Assimilation scheint gleich klar, ob ganze St\u00fccke ausgelassen werden oder nicht. Die Vorstellung, \u00bbs\u00e4mmtliche Buchstaben gleich deutlich zu sehen\u00ab, ist aber in allen F\u00e4llen eine Illusion. Die subjective Aussage ist kein Beweis f\u00fcr die Unwesentlichkeit determinirender Factoren. Das objective Verhalten ist daf\u00fcr allein ma\u00dfgebend.\nBei Versuchen mit kleineren Buchstaben konnte Beobachter Dr. M. keine dominirenden Elemente mehr feststellen; diese treten dabei in die undeutliche Gesammtform der Wortbilder zur\u00fcck. Der Beobachter war gezwungen, aus derselben zu errathen, und falsche Assimilationen stellten sich in F\u00fclle ein; und damit der schwerste Einwand, der gegen die \u00bbgr\u00f6bere Gesammtform\u00ab erhoben werden kann.\nVon der Unzul\u00e4ssigkeit des Schlusses, dass eine um so gr\u00f6\u00dfere Expositionszeit erfordert werde, je kleinere Buchstaben angewendet w\u00fcrden, resp. seiner praktischen Unanwendbarkeit soll bei der Discussion der Expositionszeit und der Expositionsfolgen gehandelt werden.\nDie bei den Versuchen wegen der sehr geringen Expositionszeit nothwendig werdende Aufmerksamkeitseinstellung konnte erst nach gro\u00dfer Uebung und Anpassung der Beobachter an den Apparat erreicht werden. Erst nach der Gew\u00f6hnung an das Ger\u00e4usch der fallenden Scheibe und an die Abw\u00e4rtsbewegung des Fixirschildes wurden die Versuche brauchbar.\nF\u00fcr die Untersuchung wurden 530 Objecte hergestellt, die in ca. 6000 Expositionen verwendet wurden.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n397\n3. Die Aufmerksamkeit.\nEines der wichtigsten Momente, wenn nicht das wichtigste bei tachistoskopischen Versuchen mit kleinsten Expositionszeiten ist die Bedingung, dass im selben Augenblicke, in dem der Scheibenspalt vor dem Object hinwegschie\u00dft, ein Aufmerksamkeitsmaximum vorhanden sei, dessen H\u00f6he sich genau mit dem Moment der Exposition deckt. Es wurde daher die Anordnung getroffen, dass der Beobachter, nachdem er das Auge durch das Fernrohr auf den Fixationspunkt mittels des Fadenkreuzes eingestellt hat, die st\u00e4rkste Concentration seiner Aufmerksamkeit abwartet und im g\u00fcnstigsten Augenblick das Commando zum Fallenlassen des Deckschildes gibt. Beobachter und Experimentator k\u00f6nnen auf diese Weise so innig Zusammenwirken, dass dem schwerwiegenden Factor der Aufmerksamkeitseinstellung nahezu v\u00f6llig Rechnung getragen wird. Die beste Unterst\u00fctzung kann dem Beobachter dabei durch Regulirung der Athemth\u00e4tigkeit werden. Versuche, bei denen der Beobachter eine Aufmerksamkeitsschwankung constatirte, blieben unber\u00fccksichtigt.\nDie verschiedene Richtung der Aufmerksamkeit, die Bevorzugung, die sie verschiedenen Theilen des Objects zukommen l\u00e4sst, ist also subjectiv bedingt:\na)\tnach der genaueren oder mangelhafteren Einstellung auf den Fixirpunkt,\nb)\tnach der Richtung der Aufmerksamkeit, unabh\u00e4ngig von der Fixation.\nObjectiv ist sie bedingt:\na)\tdurch determinirende Buchstaben, die in verschiedenen Theilen des Wortbildes gelagert sein k\u00f6nnen. Sie constituiren die betonten Silben, resp. die dominirenden Complexe;\nb)\tdurch die Anziehungskraft gro\u00dfer Anfangsbuchstaben, womit zusammenh\u00e4ngt, dass wir infolge der Uebung, von links nach rechts zu lesen, die linke Seite des exponirten Wortes vor allem bevorzugen;\nc)\tdurch die nat\u00fcrliche physiologische Fixation der Wortmitte.\nDer Aufmerksamkeitspunkt ist nicht identisch mit dem psychischen Aequivalent des physiologischen Fixirpunktes. Beide beeinflussten sich in ihrer Lage. Je kleiner die Markirung mit der Fixirscheibe, desto fr\u00fcher und sch\u00e4rfer werden beide Punkte unterschieden,","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nJulius Zeitler.\ndesto deutlicher wird die Trennung zwischen beiden; je gefesselter der Fixirpunkt ist, desto mehr wird die Abirrung des Aufmerksamkeitspunktes bewusst. Directes und indirectes Sehen sind nicht identisch mit deutlichem und undeutlichem Erkennen. Ersteres ist Function des physiologisch-optischen Apparats, letzteres der Aufmerksamkeit. Das Aufmerksamkeitsfeld ist verschieden von der Fixirsph\u00e4re. Ersteres ist psychologisch, letztere physiologisch. Ausdehnung des Aufmerksamkeitsfeldes ist eine Sache der Uehung.\nEs ist also einerseits zu unterscheiden zwischen constanter Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsschwankung, anderseits zwischen fixirter und fluctuirender Aufmerksamkeit. Die fixirte Aufmerksamkeit entspricht in der Hegel dem directen Sehen, die fluctuirende Aufmerksamkeit jedoch l\u00e4sst sich im Bereiche des indirecten Sehens nicht genau begrenzen.\nJe kleiner die Markirung des Fixirpunktes, desto fester ist die Fixation. Der Aufmerksamkeitspunkt dagegen fluctuirt im Aufmerksamkeitsumfang. Bei einer gr\u00f6\u00dferen Fixationsstelle mischen sich Fehler ein, wegen der Variation des Fixirpunktes, wodurch der Aufmerksamkeitsumfang ungeh\u00f6rig erweitert wird. Von letzterem kann also nur die Bede sein hei constant in allen Expositionen festgehaltenem Aufmerksamkeitspunkt. Nur im letzteren Falle k\u00f6nnen die Expositionsfolgen desselben Objects in gleicher Weise interpretirt werden. Die Verschiedenheit des Aufmerksamkeitspunktes bedingt auch eine totale Verschiedenheit der Expositionen. Die beste experimentelle Bedingung l\u00e4ge im Zusammenfallen des Fixirstrahls mit dem Aufmerksamkeitsstrahl. In Wirklichkeit variirt letzterer bei jeder Exposition. Die Aufmerksamkeit ist zwischen beiden, vorausgesetzt, dass Aufmerksamkeitspunkt und Fixirpunkt nicht zusammenfallen, vertheilt. Beide stehen je nach dieser Vertheilung in einer wechselseitigen Beziehung. Je mehr Aufmerksamkeit auf den ersteren entf\u00e4llt, desto weniger auf den letzteren und umgekehrt. Diese Betonung wechselt je nach Entfernung des Aufmerksamkeitspunktes vom Fixirpunkt und je nach Bewusstseinsintensit\u00e4t. Im selben Sinne erfolgt die Vertheilung der Aufmerksamkeit \u00fcber das Aufmerksamkeitsfeld, sowie dessen Ausdehnung, die ebensowohl linear als fl\u00e4chenhaft sein kann.\nHierher geh\u00f6rt, dass Beobachter Dr. S., der des Deutschen am","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n399\nwenigsten m\u00e4chtig war und in Folge dessen sinnvolle Zusammenh\u00e4nge h\u00e4ufig als sinnlose Zusammensetzungen betrachtete, bei fixir-ter Aufmerksamkeit nur ca. 4 Buchstaben im Fixirfeld und den gro\u00dfen Anfangsbuchstaben erkennen konnte. Bei schweifender Aufmerksamkeit erhob sich dieser Umfang auf ca. 7, aber die Buchstaben erschienen dann weniger deutlich, ja grau. Der gro\u00dfe Anfangsbuchstabe war dabei stets ein hervorragend dominirender Punkt im Sehfeld. Beobachter A. konnte sogar angehen, dass \u00bbdie Aufmerksamkeit hei jedem Umlaut eine Ablenkung nach oben erfuhr und gewisserma\u00dfen beim Umlaut einen Moment h\u00e4ngen blieb\u00ab. Eine metaphorische Ausdrucksweise daf\u00fcr, dass die Ausbreitung der Aufmerksamkeit eine momentane Hemmung erfuhr.\nEnth\u00e4lt ein Wortbild zwei dominirende Complexe, so findet hei festgehaltenem Fixirpunkt eine Aufmerksamkeitsvertheilung \u00fcber beide dominirende Theile statt. Derjenige Complex im Wortbild jedoch, n dem die Bedeutung hegt, zieht von vornherein die Aufmerksamkeit in h\u00f6herem Ma\u00dfe auf sich. Der Eintritt der Assimilation des zum ersten Complex geh\u00f6rigen Worthildes steigert hei der folgenden Exposition die f\u00fcr den anderen Complex verf\u00fcgbare Aufmerksamkeit.\nDie Enge der Aufmerksamkeit bei festgehaltenem Fixirpunkt ist einfach eine Function der sch\u00e4rferen oder schw\u00e4cheren Fixation. Sie variirt zwischen 5\u20148 Buchstaben. Bei schweifender Aufmerksamkeit k\u00f6nnen bequem 20 Buchstaben aufgefasst werden.\nEs wurde der Versuch gemacht, den Aufmerksamkeitspunkt mittels Markirung von Buchstaben durch rothe Kreise und Quadrate von Buchstabengr\u00f6\u00dfe au\u00dferhalb des dominirenden Complexes zu bestimmen. Liegt die charakterisierte Stelle innerhalb desselben, so nimmt die Aufmerksamkeit von vornherein ihre gew\u00f6hnliche Richtung. Im anderen Falle aber fragt es sich, ob die Aufmerksamkeit auf derartig bezeichnete Buchstaben abgelenkt wird.\nDas ist nicht der Fall. Die Aufmerksamkeit heftet sich zun\u00e4chst auf den dominirenden Complex; wird die charakterisirte Stelle bemerkt, so ist dies nur ein Nebenergebniss. F\u00e4lle, in denen die Erkennung dadurch beeintr\u00e4chtigt war, kamen nicht vor. Das Wortbild wurde stets erkannt, die charakterisirten Stellen aber erst, wenn die Beobachter auf rothe Punkte etc. aufmerksam wurden und sie auch erwarteten. Dass die Zeichen nicht scharf aufgefasst wurden,","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nJulius Zeitler.\nbewies die nur allgemeinste Localisation derselben. H\u00e4tte die Aufmerksamkeit auf der Markirung gerubt, so h\u00e4tte auch der zugeh\u00f6rige Buchstabe bezeichnet werden m\u00fcssen. Das geschah nicht. Der Beobachter war sogar au\u00dfer Stande, anzugeben, ob es Kreuze, Kreise, Quadrate oder Striche gewesen waren, die er gesehen hatte. Ebenso kamen Farbent\u00e4uschungen vor. Als in Wortbildem die Stellen sub-stituirter Buchstaben durch rothe Kreise markirt wurden, blieb doch die Feststellung davon unbeeinflusst, die Zeichen wurden zumeist gar nicht gesehen.\nBeobachter L. constatirte \u00fcberhaupt keine Markirung, so lange er nicht wusste, dass sie vorhanden war; auch dann, als er es wusste, bemerkte er sie in der H\u00e4lfte der F\u00e4lle nicht; wenn er sie bemerkte, so war doch keine Aufmerksamkeitsablenkung dabei zu beobachten. In allen diesen F\u00e4llen wurde das Wortbild richtig erkannt. Dass auch bei einem Fall falscher Assimilation die Markirung mit bemerkt wurde, bedingt keineswegs eine besondere Aufmerksamkeitsrichtung. Denn der Beobachter gab die Assimilation mit objectiver Sicherheit an.\nBeobachter A. bemerkte in allen F\u00e4llen, selbst bei der pr\u00e4gnantesten Charakterisirung der Wortbilder durch rothe Quadrate, nichts. Das Wortbild \u00fcberwog so stark f\u00fcr die Auffassung, dass eine markirte Stelle ihm gegen\u00fcber gar nicht in Betracht kam. Selbst als A. die.Wortbilder sich mit den markirten Stellen eingepr\u00e4gt hatte, konnte er doch letztere nicht bemerken. Nur in einem Falle stellte er einen schwachen rothen Schimmer fest.\nSchon die Feststellung einiger dominirender Buchstaben in der ersten Worth\u00e4lfte bringt die Sicherheit, dass die Aufmerksamkeit darauf ruhte. Aber wenn auch die Markirung mit bemerkt wurde, so konnte doch nicht der B\u00fcckschluss gemacht werden, dass nun die Aufmerksamkeit besonders darauf geruht habe. Dieser Schluss w\u00e4re erst berechtigt, wenn der Beobachter nichts weiter wahrgenommen h\u00e4tte, als die zur Umgebung der charakterisirten Stelle geh\u00f6rigen Buchstaben. Diese einseitige Richtung der Aufmerksamkeit war aber in keinem Falle zu beobachten.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n401\n4. Die Succession.\nDas Ergebniss Cattell\u2019s, dass wir W\u00f6rter als \u00bbGanzes\u00ab lesen, besteht nur zu Recht unter Voraussetzung des assimilirenden Lesens, mit dem der Schein der Simultaneit\u00e4t des Eindrucks untrennbar verkn\u00fcpft ist. Der Einfluss der Assimilation verwischt die Rolle der dominirenden Elemente sofort, nachdem sie gewirkt haben. Auch 0 at teil entging es nicht, dass der Beobachter dabei fast gar nicht im Stande ist, den Eindruck, den er hatte, zu analysiren. Der Zusammenhalt der Aussage mit dem objectiven Wortbild in den F\u00e4llen, wo nur einzelne Buchstaben erkannt wurden, oder eine falsche Assimilation eintrat, best\u00e4tigt jedoch den thats\u00e4chlichen Einfluss der in jeder Assimilation dominirenden Elemente.\nIm assimilirenden Lesen also liegt der Grund, weshalb beide Autoren, Cattell, wie Erdmann, aussagen, es w\u00fcrde stets das \u00bbGanze\u00ab gelesen. Denn es ist eben das Grundlegende des assimiliren-den Lesens, dass es die Wortbilder als ungetheilte Einheiten auffasst. Ueber den Process des Lesens ist damit freilich nichts ausgesagt.\nTrotz der scheinbaren Simultaneit\u00e4t der Auffassung f\u00e4llt der Process in eine successive Gliederung der Buchstaben und Buchstabengruppen auseinander. Die determinirenden Buchstaben treten in verschieden, aber bestimmt abgegrenzten Phasen im Bewusstsein auf, je nachdem die Aufmerksamkeit Zeit hatte, sich \u00fcber das Wortbild hin zu entwickeln. Was wir appercipiren, sind letzten Endes immer nur Buchstaben, allerdings gleichsam reliefartig herausgehobene determinirende Buchstaben, die einem bestimmt gruppirten Complex angeh\u00f6ren, der am klarsten aufgefasst wird, wenn auch die unbetonten Buchstaben \u00fcber die Schwelle ger\u00fcckt sind.\nDie Simultaneit\u00e4t der Auffassung l\u00e4sst sich h\u00f6chstens f\u00fcr benachbart gelegene dominirende Buchstaben, also f\u00fcr einen dominirenden Complex, soweit sie einen solchen zusammensetzen, aufrecht erhalten.\nEinen Beweis gegen die Simultaneit\u00e4t bieten zun\u00e4chst die F\u00e4lle, in denen nur die erste Worth\u00e4lfte appercipirt wurde. Die Assimilationen, die sich f\u00fcr die zweite H\u00e4lfte auf dr\u00e4ngten, erzeugten dabei ganz unm\u00f6gliche Wortbilder. Nichtsdestoweniger waren die Beobachter objectiv sicher, das \u00bbGanze\u00ab gesehen zu haben.","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nJulius Zeitler.\nWeiterhin gibt es ganze Reihen von der Buchstabenzusammen-setzung nach analogen W\u00f6rtern, die durch Ab\u00e4nderung eines Buchstaben an derselben Stelle heterogene Bedeutungen durchlaufen. Die Symbole der Schriftbilder erhalten durch eine solche Ab\u00e4nderung einen ganz verschiedenen Bedeutungsinhalt. Damit die neue Bedeutung eines derartig ge\u00e4nderten Wortbildes erkannt werde, muss der Buchstabe festgestellt werden, d. h. es muss buchstabirt werden. Geschieht dies nicht, so setzt die Assimilation immer wieder das alte Wortbild ein und mit ihm die alte Bedeutung und kommt nicht zur Auffassung des neuen.\nWeiterhin kommen hier jene F\u00e4lle in Betracht, in denen der Beobachter zwar Buchstaben appercipirte, aber nicht den Sinn des Wortbildes. Auch wenn objectiv ein sinnvolles Wort gegeben war, so wurde doch h\u00e4ufig subjectiv eine sinnlose Buchstabenreihe aufgefasst. Die dominirenden Buchstaben wurden dabei durchg\u00e4ngig bevorzugt. Am charakteristischsten gestaltete sich der Vorgang, wenn einzelne unbetonte Buchstaben ausfielen und L\u00fccken in der Buchstabenreihe klafften. Die Beobachter machten dann die Wahrnehmung, dass die Auffassung der dominirenden Buchstaben wesentlich successiv, von links nach rechts, vor sich ging, so dass die zusammenhangslosen Buchstaben weiter rechts deutlich sp\u00e4ter aufgefasst wurden, als die Buchstabengruppe links. Der Schein, dass ein \u00bbGanzes\u00ab gelesen w\u00fcrde, wird nur durch die Assimilation bewirkt, die aus dem Vorstellungsschatz das ad\u00e4quate Wortbild sofort in das Ger\u00fcst der dominirenden Buchstaben hineinf\u00fcgt und es so rasch ausf\u00fcllt, dass der Vorgang \u00fcberhaupt keine Zeit in Anspruch genommen zu haben scheint.\nDen besten Beweis f\u00fcr die Succession der Auffassung bieten die Vexirversuche. Wenn bei 8\u2014lObuchstabigen W\u00f6rtern, in denen ein Vocal oder ein mittelzeiliger Consonant analog ver\u00e4ndert war, die Ver\u00e4nderung erkannt wurde, ohne dass trotzdem Assimilation eintrat, so hinderte dieser Buchstabe die richtige Auffassung der ihm folgenden. Die Aufmerksamkeit blieb f\u00f6rmlich an diesem Buchstaben h\u00e4ngen und konnte sich nicht weiterhin \u00fcber benachbarte Regionen ausdehnen. Bietet sich der Apperception ein Hinderniss in Gestalt eines falschen Buchstaben, so kann der ganze Process stocken. In der Unm\u00f6glichkeit, die weiter rechts liegenden Wort-","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Taehistoskopisohe Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n403\nbestandtheile richtig aufzufassen, liegt ein klarer objectiver Beweis f\u00fcr die Succession. Aber auch subjectiv best\u00e4tigen die Beobachter, dass sie Intervalle im Auf tauchen der Wortzeichen im Bewusstsein deutlich wahrnehmen. Es ist \u00e4hnlich, wie der Setzer einmal einen falschen Griff thut, erst nach einigen Augenblicken den Irrthum merkt und mit dem Versuch der Correctur den ruhigen successiven Ablauf seiner Arbeit ins Stocken bringt. Die besten Feststellungen waren in diesem Sinne bei den fremdl\u00e4ndischen Beobachtern zu machen, da ihre geringere Bekanntheit mit der deutschen Sprache die Wirksamkeit von Assimilationen stets hintanhielt.\nDie Pl\u00f6tzlichkeit des Vorganges der Assimilation verf\u00fchrt die deutschen Beobachter fast stets zur Aussage, \u00bbsimultan\u00ab gesehen zu haben. Der Process des Lesens findet nur beim entwickelten Menschen so rasch statt, dass er in sprungweiser Simultaneit\u00e4t zu geschehen scheint, aber im Grunde reihen wir die dominirenden Complexe \u00e4hnlich successiv aneinander, wie beim primitivsten buch-stabirenden Lesen die Buchstaben. Der Ablauf des Lesens ist nur sehr rasch, darum ist er aber nicht weniger successiv. Mit dem gew\u00f6hnlichen Buchstabiren hat dies jedoch nichts zu schaffen; wir reihen vielmehr die dominirenden Buchstaben und betonten Complexe an einander. Dies erfolgt m\u00f6glicher Weise in einer Art rhythmischer Succession, mit fortw\u00e4hrender Variation des Rhythmus.\nDie Simultaneit\u00e4t der Auffassung l\u00f6st sich demnach f\u00fcr die Tachistoskopie in eine Succession auf, deren einzelne Ketten f\u00fcr den Beobachter so rasch folgen, dass sie sofort in eins verschmelzen. Wenn tiefere Einsicht in den Vorgang gewonnen werden soll, muss er daher in seine einzelnen Phasen zerlegt werden. Die successiven Akte, in denen das Wortbild auftaucht, entsprechen dabei durchaus nicht der ohjectiven Aufeinanderfolge der Elemente selbst. Zun\u00e4chst tauchen die einzelnen Buchstabengruppen in verschiedener zeitlicher Abstufung auf, wof\u00fcr weniger ihre r\u00e4umliche Reihenfolge, als vielmehr die Gliederung nach ihrer determinirenden Beschaffenheit in Pr\u00e4ge kommt. Die einzelnen Phasen der Erkennung l\u00f6sen einander i'asch ab bis zur Vort\u00e4uschung der Simultaneit\u00e4t des Worthildes.\nDie subjective schlie\u00dflich nicht mehr in eine Succession aufzul\u00f6sende Simultaneit\u00e4t ist nur eine Folge der Uebung in der Succession. Sie besteht besonders in der Sph\u00e4re der gel\u00e4ufigsten Wort-\nWundt Philos. Studien. XYI.\t27","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nJulius Zeitler.\nbilder. Der Grad der Bereitschaft der Wortbildmassen ist es, der die T\u00e4uschung der momentanen Entstehung des \u00bbGanzen\u00ab erzeugt. Aber schon hei weniger gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern l\u00e4sst sich feststellen, dass auch suhjectiv das simultane Lesen nur f\u00fcr den Umfang eines dominirenden Complexes besteht.\nEs muss hei alledem betont werden, dass es sich um keine Succession des Buchstabirens, sondern um eine sehr rasche Succession der Bewusstseinsvorg\u00e4nge beim Lesen handelt. Die beiden Compo-nenten, auf deren Grundlage letztere sich aufbaut, sind\na)\tdie Gliederung der dominirenden Buchstabengruppen von links nach rechts,\nb)\tdie verschiedene H\u00f6henlage der Buchstaben im Wortbild in der Yerticalrichtung.\nDie Resultante aus beiden Eactoren liefert die Basis f\u00fcr den Bewusstseinsvorgang.\nNur auf einen Zusammenhang sei hier noch hingewiesen. Die motorischen Wortvorstellungen haben einen successiven Ablauf, Laut f\u00fcr Laut. Wir sprechen in einer zeitlichen Folge, gliedern das Satzbild in betonte und unbetonte Glieder und legen den Nachdruck der Sprache auf die pr\u00e4gnantesten Bezeichnungen des Satzzusammenhangs. Die betonten Stellen sind stets dominirende Complexe, seien es Silben im Wort, seien es W\u00f6rter im Satz.\n5. Die Wanderungen der Aufmerksamkeit.\nIm Zusammenhang mit der Succession des Lesens steht die Aufmerksamkeitswanderung. Jene bezieht sich mehr auf die objec-tiven Factoren, diese ist mehr subjectiver Natur. Die Aufmerksam-keitswanderung stellt sich dar als Aufeinanderfolge im Heraustreten, im Klarheitsgrad von verschieden deutlich appercipirten Buchstabengruppen. Stellt man sich das Schriftbild bildlich als Relief vor, indem man sich die st\u00e4rker accentuirten Wortbestandtheile \u00fcber die anderen erh\u00f6ht denkt, so liegen zwischen den Buchstabengruppen im Hochrelief die L\u00fccken der Apperception, die erst durch Assimilation ausgef\u00fcllt werden. Es kann hier der Einwand gemacht werden, dass die Buchstaben auf dem Wortrelief in der Totalit\u00e4t des Wortzusammenhangs gleichzeitig auftauchten und in gleichen Klarheitsabstufungen","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n405\nsich verdeutlichten. Das ist aber nicht der Fall. Die Klarheit des Wortbildes nimmt in der Richtung von links nach rechts ab, so dass die Erkennung einer links befindlichen Buchstabengruppe jener einer rechts befindlichen vorangeht. Die Assimilation zum bevorzugten (lominirenden Complex stellt sich fr\u00fcher ein, als zum angeschlossenen. Damit findet eine Aufmerksamkeitswanderung vom einen Complex zum anderen statt, in der Richtung vom stark betonten zum weniger betonten. Die Pause dazwischen ist'unter einem Umfang von 15 Buchstaben subjectiv schwer festzustellen; objectiv aber k\u00f6nnte man den Vorgang mit einer Art Wellenlinie vergleichen.\nVom Gesammtumfang von ca. 15 Buchstaben an wird die Aufmerksamkeitswanderung zwischen den Silbencomplexen auch subjectiv deutlich, in dem Sinne, dass auch mehrere Expositionen nothwendig werden. Au\u00dferdem k\u00f6nnen die Beobachter von dieser Grenze ab sehr h\u00e4ufig angeben, dass das Wortbild successiv, in einer wahrnehmbaren Aufeinanderfolge im Bewusstsein aufgetreten sei.\nDie Wanderung der Aufmerksamkeit erweist sich also als ein sprungweises Uebergehen von einem dominirenden Complex zum anderen. Sie tritt fast stets unter Mitwirkung von Assimilation auf.\nNun lassen sich Versuche, die mit einer Expositionszeit von 10(7 angestellt wurden, mit solchen von 100 a Expositionszeit, wie sie Erdmann anwandte, \u00fcberhaupt nicht vergleichen. Die Aufmerk-samkeitswanderung tritt bei einer so hohen Zeit so offenkundig auf, begleitet den Vorgang so constant, dass Versuche von 100 er Expositionszeit vom gew\u00f6hnlichen Lesen nicht so sehr unterschieden sind, als dies die Experimentatoren annahmen, die sich jener hohen Zeit bedienten.\nObjectiv d\u00fcrfte die Succession der Aufmerksamkeit auch bei der kleinsten Zeit noch vorhanden sein, subjectiv merkbar aber wird sie erst bei gr\u00f6\u00dferer Expositionszeit unter Anwendung gr\u00f6\u00dferer Wortbilder, d. h. solcher, die einen Umfang von 15 Buchstaben \u00fcberschreiten. Die Grenze, von der an der Aufmerksamkeitswechsel subjectiv bemerkbar wird, kann nicht exact festgestellt werden, da folgende Schwierigkeiten bestehen:\n1) variirt der Aufmerksamkeitswechsel bei jedem Beobachter,\n_ f^i jedem Wort, da der Aufmerksamkeitsvorgang an die objective Structur des Schriftbildes gekn\u00fcpft ist,\n27*","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nJulius Zeitler.\n3) wird seine Bemerkbarkeit von der rasch eintretenden Assimilation sofort ausgel\u00f6scht und verwischt. Denn es ist der Charakter der Assimilation, dass sie dem Beobachter den Eindruck der Simul-taneit\u00e4t macht. Die Aufmerksamkeitscomponente geht dabei unterschiedslos in den Assimilationsvorgang mit ein. Die Assimilation verhindert oder erschwert auch bei gro\u00dfen Zeiten die Beobachtung des Aufmerksamkeitsvorganges so sehr, dass ihm nur mit ganz gro\u00dfen und ganz ungel\u00e4ufigen W\u00f6rtern beizukommen ist.\nIm Vergleich mit Versuchen bei kleinsten Expositionszeiten lie\u00df sich also voraussetzen, dass bei der Erdmann\u2019schen Anordnung der Aufmerksamkeitswechsel eine um so bedeutendere Rolle spielte, je weniger auf ihn von vornherein von den dabei betheiligten Versuchsleitern und Versuchspersonen Werth gelegt wurde, da dieselben stets nur die Ausschaltung von Augenbewegungen betonen.\nMittels des Fernrohr-Tachistoskops lie\u00dfen sich leicht Bedingungen lierstellen, die, abgesehen von den abweichenden Beleuchtungsver-h\u00e4ltnissen (der Tagesbeleuchtung bei unseren Tachistoskopversuchen), im wesentlichen den Erdmann\u2019schen glichen. Es gelangten dabei drei gro\u00dfe Expositionszeiten zur Verwendung, in denen das schwerste Gewicht ben\u00fctzt wurde. Je nach Spaltweite und Fallh\u00f6he wurden die Zeiten von 100 a, 150 a, 200 a hergestellt. Die Pr\u00e4expositionszeit betrug daf\u00fcr f\u00fcr 100 er nur 4\u20145 a, kam also gegen\u00fcber der Gesammtzeit nicht in Betracht. Das langsamere Vor\u00fcbergleiten der Pallscheibe beeinflusste die eigentliche Exposition nicht, von einem allm\u00e4hlichen Auftauchen des Sehobjects f\u00fcr den Beobachter war auch hier keine Rede.\nDie Mehrzahl der Versuche erfolgte bei 100 a Expositionszeit, da die Versuche mit den beiden h\u00f6heren Zeiten f\u00fcr die Beobachter vom reinen Lesen kaum oder \u00fcberhaupt nicht unterschieden waren.\nDie Ergebnisse best\u00e4tigten alles, was dabei \u00fcberhaupt vorausgesetzt werden konnte. Die Wirksamkeit des Aufmerksamkeitswechsels war in vollem Umfange zu beobachten.\nZun\u00e4chst machte sich noch eine Schwierigkeit geltend. Die Beobachter brauchten l\u00e4ngere Zeit, um sich auf die neue Versuchsreihe einzu\u00fcben (gegen\u00fcber der Anwendung der k\u00fcrzeren Zeiten, bei denen sie l\u00e4ngere Zeit Versuche ausgef\u00fchrt hatten). Sie mussten sich erst an die l\u00e4ngere Dauer der Exposition gew\u00f6hnen. Dabei ist","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"achistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n407\njedoch hervorzuheben, dass die mangelnde Uebung den Vorgang der Aufmerksamkeitswanderung nicht st\u00f6rte. Die Beobachtung derselben ist bei fehlender Schulung des Beobachters eher beg\u00fcnstigt, da sie weniger durch die Angew\u00f6hnung an Assimilationen verdeckt wird. Die zuerst eintretende Abirrung des Fixirpunktes f\u00fchrte anf\u00e4nglich eine hochgradige Zerstreuung der Aufmerksamkeit herbei. Nachdem die sichere Einstellung einge\u00fcbt war, ergab sich eine neue Schwierigkeit. In dem Ma\u00dfe als die Fixation sch\u00e4rfer wurde, verhinderte sie die Wahrnehmung von Aufmerksamkeitswanderungen, indem sie den Eintritt einer unmittelbaren Assimilation beg\u00fcnstigte. Was bei dem Versuch also eigentlich beobachtet werden sollte, kam dabei zu kurz, im Beginn des Processes durch die Fixation und am Ende durch die Assimilation. Die durch das Fadenkreuz bewirkte scharfe Einstellung der Aufmerksamkeit stand offenbar der Beobachtung der Aufmerksamkeitsfluctuation hindernd im Wege. Der Beobachter erhielt daher zun\u00e4chst die Weisung, seine Aufmerksamkeit schweifen zu lassen. Dazu wurden Versuche ohne Anwendung des Fernrohrs eingeschoben und allm\u00e4hlich stellten auch die Beobachter \u00fcbereinstimmend fest, dass sich die Aufmerksamkeitswanderung bei Fixation durch das Fadenkreuz ebenso geltend machte, als bei der freien Anordnung unter weniger scharfer Fixation.\nDie gr\u00f6\u00dfte Schwierigkeit der Ein\u00fcbung bestand bei Beobachter D., dessen Aufmerksamkeitspunkt in ungef\u00e4hr der ersten H\u00e4lfte der Exposition anormal fluctuirte, bis er sich auf das Wortbild einstellte. Diese Zeit war nutzlos verbraucht; dann erfolgte aber stets eine so rasche Assimilation, dass der Eindruck dem Beobachter vorzugsweise ein simultaner schien. In die Assimilation gingen alle Nebenvorg\u00e4nge unterschiedslos mit ein und konnten nicht mehr daraus ana-lysirt werden. Mit wachsender Uebung wurde jedoch die Aufmerksamkeitsbewegung immer bemerkbarer. Au\u00dferdem machte sie sich stets geltend, wenn nur die ersten H\u00e4lften der Wortbilder, d. h. links stehende Complexe aufgefasst wurden und zur Erkennung des rechts stehenden Complexes ein Aufmerksamkeitswechsel nothwendig wurde. Die Assimilation konnte dann die beiden Complexe nicht mehr zusammenschmelzen und die dazwischen gelegene Pause der Aufmerksamkeitsbewegung nicht v\u00f6llig verwischen. Als der Beobachter vollst\u00e4ndig einge\u00fcbt war, erschienen ihm die Versuche bei","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nJulius Zeitler.\n100 ff Expositionszeit als blo\u00dfe Leseversuche, in denen keine anderen Bedingungen Vorlagen, als die des gew\u00f6hnlichen Lesens selber.\nBei den \u00fcbrigen Beobachtern erwies sich eine l\u00e4ngere Ein\u00fcbung als unn\u00f6thig. Sie constatirten von Anfang an den Aufmerksamkeits-wechsel, unbeeinflusst von den Versuchsbedingungen. Die Aufmerk-samkeitsbewegung ist demnach eng an die Assimilation gebunden, beide wirken in einem einheitlichen Processe zusammen. Je langsamer aber der letztere vor sich geht, desto mehr ist die \"Wahrnehmung der ersteren f\u00fcr den Beobachter erleichtert. So macht Beobachter Dr. M. die Aussage: \u00bbdie Aufmerksamkeit gleitet langsam \u00fcber das Schriftbild hinweg, das ruhig gelesen wird, sie haftet l\u00e4nger auf den dominirenden Oomplexen und \u00fcberwindet rascher die unbetonten Strecken. Die Bewegung erfolgt von links nach rechts, dem Zusammenhang der Zeichen entsprechend, sie ist keine sprunghafte, sondern dem objectiven Bilde nach beschleunigt oder verlangsamt. Sie ist also jedenfalls eine Succession, derma\u00dfen, dass zwischen der Aufmerksamkeitsfluctuation von einem linken zu einem rechts gelegenen Complex eine auch subjectiv merkbare Pause besteht. Je gr\u00f6\u00dfer die verf\u00fcgbare Zeit, desto mehr wird die Aufmerksamkeitsbewegung eine elementare, d. h. sie gleitet von Element zu Element.\u00ab\nDamit stimmt die Angabe des Beobachters A. \u00fcberein, der (bei 150 er Expositionszeit) auf diese Weise \u00bballe Buchstaben eines ihm unbekannten Wortes zusammensetzt, ohne das Wort selbst erkennen zu k\u00f6nnen\u00ab. Er \u00bbhat ein deutliches Bewusstsein davon, dass bei dem Erkennen der linken H\u00e4lfte eines Wortes die rechte noch nicht aufgefasst sei\u00ab. Dass unbekannte W\u00f6rter und Buchstabenzusammensetzungen stets successiv aufgefasst werden, findet seinen Beleg in der Aussage des Beobachters A., dass, \u00bbauch wenn nichts erkannt oder nur Buchstaben festgestellt werden, der Eindruck der Aufmerksamkeitswanderung deutlich vorhanden sei. Diese findet statt, ob ein Erkennen erfolgt oder nicht\u00ab.\nBeobachter L. stellte in allen F\u00e4llen die Succession fest, er las langsam und ruhig von links nach rechts durch und konnte auch Intervalle, Hebungen und Senkungen der Aufmerksamkeitswelle con-statiren. Die Aufmerksamkeit \u00bbh\u00fcpfte\u00ab nach seinen Angaben \u00fcber die dominirenden Buchstaben und Complexe, auf letzteren l\u00e4nger","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n409\nhaftend, als auf den unbetonten Strecken. Bei gr\u00f6\u00dferen Zeiten gleitet die Aufmerksamkeit ruhig \u00fcber die Reihenfolge der Elemente hinweg.\nDer Einfluss der Structur des objectiven Wortbildes erweist sich darin, dass die Aufmerksamkeitspunkte w\u00e4hrend einer ganzen Bewegung auf die dominirenden Buchstaben fallen. Im unbekannten Wortbild bestimmen die determinirenden Elemente die Aufmerksam-keitsfluctuation. Letztere wurde stets festgestellt, auch wenn nur einzelne dominirende Buchstaben erkannt wurden. Am offenkundigsten aber bestand sie, wenn sich der Aufmerksamkeitsvorgang vollst\u00e4ndig von der Erkennung des Zeichencomplexes trennte, wenn er beobachtet wurde, w\u00e4hrend das exponirte Object selbst nicht festgestellt wurde. Der Experimentator befand sich in einem jeden solchen Falle einem reinen Aufmerksamkeitswechsel gegen\u00fcber, der aus dem Gesammtvorgang scharf herausgel\u00f6st war.\nAls Beispiele der Aufmerksamkeitswanderung seien angef\u00fchrt:\nPharmakodynamik\nKilimandscharo\nRochefoucauld\nPr\u00e4raffaeliten\nDemonstrationsversuch\nTagesheleuchtung\nTaubstummenlehrer\nRotimischulder\nRots\u00e4 misch leder)\n*\nDictatur p i g sch\n(paragraph)\nA.\nA.\nDr. M. Dr. M. L. L. D. A.\nA.\nDie Striche unter den W\u00f6rtern bezeichnen die betonten Stellen im Wortbild, die gebogenen Pfeile \u00fcber denselben den subjectiv wahrgenommenen Weg der Aufmerksamkeitswanderung.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nJulius Zeitler.\nNach alledem d\u00fcrfte \u00fcber die wesentlichen Einfl\u00fcsse des Aufmerksamkeitsfactors, wie ihnen auch die Erdmann\u2019sehen Versuche unterlagen, kein Zweifel mehr bestehen.\nDass Catteil die Aufmerksamkeitswanderung nicht bemerkte, daraus kann ihm ein besonderer Vorwurf nicht gemacht werden, weil ja die niedrige Expositionszeit von 10 a, die er anwandte, die Beobachtung derselben sehr erschwerte. Dazu kam die Wirksamkeit von Assimilationen, welche jenen Factor stets zu verdecken geeignet sind. Dies mag auch der Grund sein, dass in den Versuchen von Erdmann und Dodge die Wanderung der Aufmerksamkeit v\u00f6llig \u00fcbersehen wurde. Die von ihnen angewandte au\u00dferordentlich hohe Expositionszeit von 100 <7 lie\u00df dem Eintreten secund\u00e4rer Assimilationen einen so breiten Baum, dass die Aufmerksamkeitswanderung unter ihnen um so eher verschwinden musste, als \u00fcberhaupt an die Wirksamkeit eines derartigen Factors nicht gedacht wurde.\n6. Der Umfang der Aufmerksamkeit.\nDie Feststellung des Umfangs der Aufmerksamkeit mittels Buchstaben unterliegt manchen Bedenken. Denn jeder Buchstabe ist an sich schon ein sehr complicirtes Gebilde, das nicht als gleichwerthiges Element sich in den Complex des Aufmerksamkeitsfeldes einf\u00fcgt. Es wird damit nicht ein absoluter Aufmerksamkeitsumfang gemessen, sondern ein solcher, der sich \u00fcber ganz bestimmte Zeichen erstreckt und an sie gebunden ist. Es l\u00e4ge nahe, denselben in Beziehung zum Erdmann\u2019schen Lesefeld zu bringen; aber dieses entspricht nur dem Vorgang der Assimilation. Demnach w\u00e4re der Aufmerk-keitsumfang nur festzustellen mittels einer sinnlosen silbenlosen Buchstabenreihe. Er ist f\u00fcr die verschiedenen Gebiete der Buchstabenzusammensetzungen ein ganz verschiedener. Er steigert sich mit zunehmendem Sinn. Nat\u00fcrlich ist er determinirend f\u00fcr die Assimilation, aber er kann dabei nicht mehr klar herausgel\u00f6st werden.\nBei Expositionen jeder Art, besonders von kurzen S\u00e4tzen und grammatischen Constructionen, zeigte sich, dass das Apperceptions-gehiet vom Assimilationsgebiet nicht scharf abgegrenzt werden kann. Der Hauptvorgang geh\u00f6rt der Apperception an und zeigt sich in dem successiven Fortschreiten der Aufmerksamkeit \u00fcber die Mitte","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n411\ndes Objects hin bis zu einer Grenze, jenseits deren nur einzelne Buchstaben und zwar vorzugsweise dominirende aufgefasst werden, die sogleich als Anhaltspunkte f\u00fcr die rasch eintretenden, aber meist unergiebigen Assimilationen dienen. Befindet sich in der Mitte kein betontes Wort, stehen dagegen gr\u00f6\u00dfere W\u00f6rter in den Seitentheilen der Satzform, so kann die Aufmerksamkeit nicht auf sie \u00fchergreifen und der Process kommt \u00fcber haltlose, werthlose Assimilationen nicht hinaus.\nDies erweckt das Bedenken, dass Versuche, in denen \u00fcberhaupt nur Assimilationsm\u00f6glichkeiten vorliegen, zu einer Bestimmung des Aufmerksamkeitsumfanges ungeeignet seien. Nun gibt schon jeder Buchstabencomplex, der einen Sinn hat, der Assimilation Raum; d. h. bei der Auffassung sinnvoller Gebilde ist die Assimilation \u00fcberhaupt nicht zu eliminiren. Um sie m\u00f6glichst auszuschlie\u00dfen, m\u00fcsste die Forderung erf\u00fcllt werden, dass keine Buchstabengruppe irgend einen Sinn ergibt.\nDie dominirenden Elemente machen die Wortbilder zudem zu dis-continuirlichen Gebilden. Bei der Auffassung von continuirlichen Strecken ist der Aufmerksamkeitsumfang gr\u00f6\u00dfer, als bei discon-tinuirliehen, da bei letzteren die Aufmerksamkeit fortw\u00e4hrend Widerst\u00e4nde zu \u00fcberwinden hat, um zu einer Vergr\u00f6\u00dferung zu gelangen. Continua haben ein gr\u00f6\u00dferes Aufmerksamkeitsfeld als Discontinua.\nDer Umfang der Aufmerksamkeit muss also f\u00fcr die verschiedenen Gebiete von Buchstabenzusammensetzungen genauer unterschieden werden. Er kann in dieser Hinsicht nicht allgemein angegeben werden, da er von den sinnlosen Buchstabencomplexen bis zu den sinnvollen Satzverbindungen sich von einem Minimum zu einem Maximum \u00e4ndert.\n1.\tAm engsten ist der Umfang bei sinnlos zusammengesetzten Buchstaben, die je nach dem Grad der Determination aus verschiedenen Classen genommen sind.\n2.\tDer Umfang erweitert sich bei sinnlosen Silben, die heterogen aneinandergereiht sind, da Silben schon Assimilationscomplexe sind, die leichter aufgefasst werden, als zusammenhangslose Buchstabenelemente.\nDie Zahl der gelesenen Buchstaben betrug bei","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nJulius Zeitler.\n1.\tsinnlosen Buchstabenzusammensetzungen\na)\tohne Vocale 4\u20147\nb)\tmit Vocalen 5\u20148\n2.\tsinnlosen Silbenverbindungen 6\u201410.\n3.\tMit dem Uebergang zu W\u00f6rtern steigert sich der Umfang ganz betr\u00e4cbtbcb. Je nach dem Grad der Bekanntheit und Gel\u00e4ufigkeit eines Wortes variirt der Umfang zwischen 15 und 25 Buchstaben. Hierbei treten von Anfang an Assimilationsprocesse hinzu, so dass der Aufmerksamkeitsumfang hier nur in Hinsicht auf Assimilation zu charak-terisiren ist. Das Auffallende der umfangreichsten Assimilationen erkl\u00e4rt sich daraus, dass es in den gr\u00f6\u00dferen Wortgebilden bestimmte Regionen, dominirende Silbencomplexe gibt, nach deren Auffassung die \u00fcbrigen Bestandtheile assimilativ anschie\u00dfen. In der Regel sind das jene Gruppen, in denen der Sinn des Wortes wesentlich enthalten ist.\n4.\tWortzusammensetzungen stehen in einer nothwendigen Verkn\u00fcpfung, eben im Bedeutungszusammenhang; Zusammensetzungen einzelner W\u00f6rter jedoch ermangeln desselben in dem Grade, als sie sinnlos werden. Der Umfang sinkt daher bei W\u00f6rtern, die sinnlos nebeneinanderstehen, j\u00e4h herunter und erstreckt sich h\u00f6chstens auf ein Wort und die rechts und links benachbarten Buchstaben.\n5.\tJe gel\u00e4ufiger aber die Satzbildung, desto mehr steigt der Umfang, der bei Sprichw\u00f6rtern, Redewendungen des Umgangs und wissenschaftlichen Lehrs\u00e4tzen seinen h\u00f6chsten Grad erreicht. S\u00e4tze von 4\u20145 kurzen W\u00f6rtern im Gesammtumfang von 20 \u2014 30 Buchstaben werden bequem aufgefasst. An ein Wort schon schlie\u00dfen sich die \u00fcbrigen Satzglieder rasch an. Dies ist nat\u00fcrlich der Assimilation zuzurechnen, deren Leistungen mit dem objectiv Gesehenen zu einer schwer trennbaren Einheit verschmelzen.\nAls Beispiel zum Aufmerksamkeitsumfang bei W\u00f6rtern seien einige Ergebnisse von Dr. M. bei 10 n Expositionszeit angef\u00fchrt.\nWort\tBuchstabenzahl Expositionen\nVergleichseindruck\t18\t2\nBewusstseinszustand\t19\t1\nR\u00fccksichtslosigkeit\t19\t1\nDemonstrationsversuch\t21\t2\nV orstellungsverbindung\t22\t2\nAufmerksamkeitsschwankung\t25\t1","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n413\n7. Die Versuche.\nDie Versuche erstreckten sich \u00fcber folgende Objecte:\nI.\tsinnlose Buchstabenverbindungen,\n\u00cf\u00cf. \u00bb Silbenverhindungen,\nHL ungel\u00e4ufige W\u00f6rter,\nIV.\tgel\u00e4ufige W\u00f6rter,\nV.\tungel\u00e4ufige S\u00e4tze,\nVI.\tgel\u00e4ufige S\u00e4tze.\nI. Bei Versuchen mit sinnlosen Buchstaben aus heterogenen Gebieten des Alphabets ergab sich:\n1. Vocallose sinnlose Gebilde sind am schwersten aufzufassen, die Buchstaben sind nicht festzuhalten und verdr\u00e4ngen sich im Bewusstsein des Beobachters fortw\u00e4hrend, bis sie ein v\u00f6lliges Chaos geben. W\u00e4hrend der Beobachter einen Buchstaben constatiren will, setzt sich schon ein anderer an seine Stelle.\nAls Beispiele seien angef\u00fchrt: vcpfnglw\n8\nrgsypzfkqlhtbx\n14\nwgknydvplzqsfcwb\n16\nvcfgln D.\n5(6)\nrgsypzfk Dr. M.\n8\nyndvpw L.\n5(6)\n2.\tDie dominirenden Buchstaben werden zuerst erkannt und in ihrer Lage festgestellt, und am wenigsten umgesetzt oder verwechselt. Die kleinen Buchstaben fluctuiren beziehungslos dazwischen und werden, wenn \u00fcberhaupt erkannt, nur ganz unsicher eingegliedert.\n3.\tSobald in das sinnlose Gebilde ein paar Vocale eingeschoben werden, stellen sich schon Silben ein und werden Assimilationen m\u00f6glich. Wo \u00fcberhaupt ein Complex als Silbe assimilirt werden kann, werden die Buchstaben in der Folge der gel\u00e4ufigen Silbe gestellt.\nAls Beispiele seien angef\u00fchrt:\nivdtemtz\tividenmtz\tD.\n8\t7\t(9)\necranzw\tecranzow\tL.\neroxvsifmag\n11\nlbivmsfdewr\nll\n6(7)\nexsiferung A.\n7 (10)\nlbvimsfdrew Dr. M. il (ID","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nJulius Zeitler.\nDie erkannte Buchstabenzahl der vocallosen Gebilde verh\u00e4lt sich zu der der vocalverhundenen Gebilde wie 4 bis 7 : 5 bis 8. Bei den letzteren werden fast alle Vocale mit aufgefasst. Dies ist nun kein Kriterium f\u00fcr die h\u00f6here Deutlichkeit oder leichtere Erkennbarkeit der Vocale, sondern die Vocale sind nur der Anlass zur silbenweisen Assimilation. Sowie Vocale unter die dominirenden Buchstaben treten, bilden sich Silben. Diese werden assimilirt, mit ihnen also schmuggeln sich die Vocale in die Auffassung hinein.\nDie Beproduction der Buchstabenfolge h\u00e4tte nach dem Auffassungsbild zu erfolgen, dabei wird aber nur die erste H\u00e4lfte regelrecht reproducirt, w\u00e4hrend die zweite H\u00e4lfte schon unter die Schwelle des Bewusstseins sinkt.\nVertauschungen von Buchstaben kommen stets vor. Jedenfalls kann die Beproduction nicht so rasch vor sich gehen, dass alle Elemente in ihrer objectiven Beihenfolge dargelegt w\u00fcrden. Es werden nur die in der N\u00e4he des Eixirpunktes gelegenen Buchstaben objectiv behalten. Jene Beihenfolge besteht nur f\u00fcr die dominirenden Buchstaben, die dazwischen liegenden unbetonten Buchstaben werden dagegen entweder vertauscht oder vergessen.\nDer Apperceptionsakt. seihst ist deutlich zu unterscheiden von der Beproduction des in demselben aufgefassten Elementencomplexes. Das Appercipirte bestimmt auch sofort die daran sich anschlie\u00dfenden Assimilationen.\nLetztere erleichtern die Beproduction. Es werden um so mehr Buchstaben aufgefasst, in einen je zusammenh\u00e4ngenderen Complex sie gebracht werden k\u00f6nnen. Die Erfolglosigkeit, die Buchstaben in Silben zusammenzufassen, setzt auch, wie schon erw\u00e4hnt, den Aufmerksamkeitsumfang herab.\nDen deutschen Beobachtern dr\u00e4ngten sich auch bei sinnlosen Buchstabengebilden sofort Assimilationsh\u00fclfen auf. W\u00e4hrend bei einigen Beobachtern f\u00fcr Buchstabengruppen nur Silben assimilir wurden, wurden von anderen ganze W\u00f6rter gesehen, die mit ihrem Buchstabenbestande nat\u00fcrlich die ganze Auffassung beeinflussten. Bei einem Beobachter (L.) konnten \u00fcberhaupt erst auf Grund einer Assimilation Buchstaben festgestellt werden. War das Zeichen zu complicirt, um eine gel\u00e4ufige Assimilation zuzulassen, so wurden nur wenige Buchstaben erkannt. Bei Ausschluss der Assimilation","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n415\nverengerte sich der Aufmerksamkeitsumfang hei L. auf die H\u00e4lfte bis ein Drittel der vorher gesehenen Zeichen.\nII. Bei Versuchen mit sinnlos zusammengesetzten sinnvollen gel\u00e4ufigen Silben von je 3\u20144 Buchstaben zeigt sich der Einfluss der Assimilation darin, dass die in der Zusammenfassung einen Sinn ergebenden Silben sofort zu Assimilationscomplexen zusammengef\u00fcgt werden; zu dieser Configuration ist aber unbedingt eine 'Wortassimilation n\u00f6thig; tritt diese nicht ein, so f\u00e4llt nicht nur der Complex, sondern fallen auch die Silben in frei aneinanderh\u00e4ngende Buchstabenelemente auseinander. Ganze Reihen von Buchstaben schwinden wieder aus dem Bewusstsein, ohne aufgefasst worden zu sein. Buchstaben, die sich nicht in ein sinnvolles Schriftbild deponiren k\u00f6nnen, werden entweder sofort wieder vergessen, oder sie ragen einzeln, zusammenhangslos aus dem Riff von Sinnlosigkeit, das sie als domi-nirende Elemente kr\u00f6nen.\nIn welchem Grade die gel\u00e4ufigen Silben die Auffassung trotzdem erleichtern, zeigte schon die Erh\u00f6hung des Aufmerksamkeitsumfangs. Aber auch hier sagen die Beobachter noch h\u00e4ufig aus, sie h\u00e4tten die Buchstaben wohl gesehen, aber sie h\u00e4tten sie vergessen. Wenn sie unmittelbar nach der Exposition glauben, sie hersagen zu k\u00f6nnen, im n\u00e4chsten Augenblicke ist ihnen schon die H\u00e4lfte entschwunden.\nAls Beispiele solcher sinnloser Silbenverbindungen seien angef\u00fchrt:\nzigpasamheit\n12\nwigaramhaut L. 7 (11)\nhalschreitahl\n13\nschreibtafel D. 9(12)\nlencurbilber\n12\nlosverkungwei\n13\nlecurhilder A.\n10 (ll)\nlosverkungswei Dr. M. 13 (14)\nHI. Die Exposition ungel\u00e4ufiger W\u00f6rter, von denen vorausgesetzt werden konnte, dass sie den Beobachtern unbekannt waren, ergab eine \u00fcberraschende Beziehung zur vorhergehenden Versuchsreihe von sinnlosen Silben.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nJulius Zeitler.\nZun\u00e4chst k\u00f6nnen zwischen den Versuchen mit sinnlosen Silben und sinnvollen aber unbekannten \"W\u00f6rtern von den Beobachtern selbst nur geringe Unterschiede constatirt werden.\nUnbekannte W\u00f6rter, die den ad\u00e4quaten Aufmerksamkeitsumfang nicht \u00fcberschreiten, werden in mehreren Expositionen buchstabirend gelesen, ohne dass ihr Sinn festgestellt w\u00fcrde; nur einzelne Silben werden assimilativ aufgefasst, im \u00fcbrigen zerf\u00e4llt das Bild in Buchstaben.\nDie Versuche mit unbekannten schwierigen W\u00f6rtern rangiren mit Versuchen mit sinnlosen Silbencomplexen insofern in derselben Linie, als an ihnen nur die dominirenden Buchstaben gesehen und die gel\u00e4ufigen Silben assimilirt werden. Je \u00e4hnlicher ein Buchstaben-complex einer gel\u00e4ufigen Silbe, desto rascher tritt letztere f\u00fcr ihn ein und ver\u00e4ndert ihn in ihrem Sinn. Wie im sinnlosen Buchstaben-complex ganze Gruppen zu Silben zusammengefasst werden, so werden in das unbekannte Wortbild gel\u00e4ufige Silben hineinassimilirt.\nUnbekannte W\u00f6rter, die schon nach mehreren Expositionen gelesen werden, ohne ihrer Bedeutung nach festgestellt zu werden, stehen nach ihrem Untersuchungswerth sinnvollen Silbenzusammensetzungen n\u00e4her, als gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern. Ein Wort kann gelesen werden, ohne seiner Bedeutung nach bekannt zu sein. Der Mangel der Bedeutung ist kein Hinderungsgrund f\u00fcr die richtige Auffassung, deren Bedingung wesentlich in der leichten Zusammengliederung der Silben liegt. Im Ganzen sind Versuche mit diesen W\u00f6rtern dem Lesen sinnloser Gebilde beizuz\u00e4hlen.\nAuch bei weniger ungel\u00e4ufigen W\u00f6rtern kam es vor, dass die Beobachter das Wortbild feststellten, es aber seinem Sinn nach nicht identificiren konnten. Das Wort besa\u00df wohl eine gr\u00f6\u00dfere Bekanntheitsqualit\u00e4t, die Silben wurden gel\u00e4ufiger gelesen und das optische Bild schien sich ganz mechanisch einzustellen. Von einer Exposition zur anderen f\u00fcgte sich ein St\u00fcck mehr zusammen \u2014 aber der Sinn blieb verborgen.\nBesonders die fremdl\u00e4ndischen Beobachter fassten ungel\u00e4ufige W\u00f6rter so auf, als w\u00e4ren es sinnlose Silbenzusammensetzungen; der Unterschied ist nur der, dass es bei ersteren leichter ist, sie im Zusammenhang zu lesen, als bei letzteren; dagegen wird aber der Sinn bei ersteren nicht klarer.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Taehistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n417\nA.\nB.\nDie Versuche zerfallen also nach dem Bekanntheitsgrade der Objecte bis hierher in sechs Abstufungen:\n1.\tsinnlose Buchstabenverbindungen ohne Vocale,\n2.\tdesgl. mit Vocalen,\n3.\tsinnlose Silbenverbindungen,\n4.\tschwer lesbare unbekannte W\u00f6rter,\n5.\tunbekannte W\u00f6rter mit ungel\u00e4ufigen Silben,\n6.\tdesgl. mit gel\u00e4ufigen Silben.\nW\u00f6rter, die richtig gelesen werden, ohne dem Beobachter bekannt zu sein, verdanken dies nur ihrer leichtverst\u00e4ndlichen Silben-zusammenf\u00fcgung. Insofern gilt f\u00fcr sie die expositionsweise steigende Feststellung des Bestandes.\nSolche ungel\u00e4ufige W\u00f6rter waren zum Beispiel:\nBelanptere D.\nBdnoptera L.\nRotamschiere Dr. M. Rossd\u00e4msch\u00fcvr D.\nBalaenoptera\nRots\u00e4mischleder\nGthirlandajo\nKnorpelgeschwulst\nReal . . sch. L. Clandig . . L. Kompelgesch ... L.\nEs ist wichtig, hier einzelne Aussagen, die zur Reproduction des Aufgefassten gemacht wurden, beizubringen. Schon Cattell erkannte die Schwierigkeiten derselben sehr wohl.\nD. z. B. sieht bei gro\u00dfen unbekannten W\u00f6rtern (15 Buchstaben) \u00bballe Buchstaben, kann sie aber nicht zusammenpacken, weil kein Sinn hineinzubringen ist. Die Buchstaben werden deutlich gesehen, aber nicht behalten, weil ohne sinnvollen Zusammenhang\u00ab.\nOder derselbe: \u00bbWenn das Wortbild nicht vorhanden w\u00e4re, w\u00fcrde ich keinen oder doch nur wenig Buchstaben erkennen k\u00f6nnen\u00ab. \u00bbDie Fixirung der Buchstaben im Schriftbild wird nur durch die Erkennung des ganzen Sinnes bewirkt.\u00ab\nFreilich ist jeder Buchstabe in einer Wortvorstellung deponirt, da wir ja einzelne Buchstaben \u00fcberhaupt nicht vor uns haben. Darum ist aber das Wortbild noch nicht die Bedingung zur Erkennung, der Buchstaben, wie ja \u00fcberhaupt das Problem gerade darin besteht, in welcher Weise sich die Buchstaben zum sinnvollen Wort zusammenschlie\u00dfen. Jene Aussage ist subjectiv und beruht auf Assimilation;","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nJulius Zeitler.\nzur Feststellung des Rangwerths der dominirenden Buchstaben im objectiven Wortbild jedoch tr\u00e4gt sie nichts hei.\nDerselbe Beobachter gab bei sp\u00e4teren Versuchen mit Satzcon-structionen die Aussage, \u00bber habe die Wortbilder mit Klarheit vor Augen, ohne aber einen einzelnen Buchstaben daraus zu erkennen\u00ab\nMit alledem ist nur die starke Wirkung der Assimilation bewiesen. Wenn man den grundlegenden Satz Cattell\u2019s f\u00fcr Buchstaben und W\u00f6rter interpretirt, statt f\u00fcr W\u00f6rter und S\u00e4tze, so deckt er sich mit diesen Ausf\u00fchrungen. Cattell sagt n\u00e4mlich1):\n\u00bbBilden die W\u00f6rter einen Satz, so kann man die doppelte Zahl derselben auffassen, als wenn sie ohne Zusammenhang nebeneinander stehen. Der Satz wird als ein Ganzes aufgefasst; ist er nicht aufgefasst, so hat man auch von den einzelnen W\u00f6rtern so gut wie nichts gesehen, ist er aufgefasst, so erscheinen die einzelnen W\u00f6rter sehr deutlich.\u00ab\nDer Einfluss der Assimilation wird an zwei Stellen bei Cattell1) deutlich: einmal \u00bbnannte der Beobachter oft das Zeichen richtig, wenn er nur sehr wenig davon gesehen hatte, und glaubte umgekehrt^ oft ein Schriftzeichen deutlich erkannt zu haben, welches gar nicht da war\u00ab. Weiter bezeichnet Cattell in einer Selbstbeobachtung die Erkennung als ein \u00bbErrathen\u00ab der als Beiz dienenden Objecte aus den aufgefassten Spuren!\nDie Interpretation der Versuche mit ungel\u00e4ufigen W\u00f6rtern bringt m der Richtung von Inversionen und Permutationen weitere Aufschl\u00fcsse. Davon wird noch die Rede sein.\nAssimilirt der Beobachter ein Wort falsch, so reproducirt er, wenn man ihn nach den Buchstaben fragt, nicht den objectiven Bestand, sondern er buchstabirt einfach seine Assimilationen.\nEs scheint, als ob die Buchstaben im Bewusstsein durcheinander gesch\u00fcttelt w\u00fcrden. Die urspr\u00fcngliche Reihenfolge ist im Repro-ductionsact mannigfach ver\u00e4ndert: die Einordnung der Buchstabenfolge beruht nur auf Assimilationswirkung. Eine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit nach dem Rang kann bei diesem Vorgang nur den dominirenden Buchstaben zuerkannt werden, die hinwiederum so gesetzt werden, wie sie dem gel\u00e4ufigeren Silbencomplex entsprechen.\n1) Cattell, a. a. O. S. 127.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n419\nDazu machte Beobachter Dr. M. die charakteristische Aussage: sWird das Wort nicht gleich erkannt, so ger\u00e4th das optische Bild sofort in Verwirrung, die Buchstaben zerstreuen sich sogleich und fallen v\u00f6llig auseinander\u00ab.\nZu diesen Versuchen sind noch einige Bemerkungen zu machen.\nAls in sp\u00e4tere Versuche mit gel\u00e4ufigen Objecten mehrfach Expositionen von sinnlosen Zusammensetzungen eingeschaltet wurden, zeigte sich hei mehreren Beobachtern eine Aenderung im Aufmerk-samkeits- und Bewusstseinszustand. Z. B. definirte Beobachter D. den Zustand gegen\u00fcber sinnlosen Gebilden als \u00bbGleichg\u00fcltigkeit und Theilnahmslosigkeit\u00ab (m\u00f6glicherweise Uninteressirtheit in Folge Weg-fallens anregender Assimilationen).\nAnderseits erwiesen sich beim Uebergang auf sinnvolle W\u00f6rter und S\u00e4tze die Eindr\u00fccke einer vorhergehenden sinnlosen Versuchsreihe als so stark, dass z. B. Beobachter Dr. M. im unmittelbar folgenden sinnvollen Satzbild nur sinnlose Buchstabencombinationen sah.\nIV. Die Versuche mit gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern ergaben, dass der unter Einfluss der Assimilationen eintretende Aufmerksamkeitsumfang bis zu 25 Buchstaben betragen kann und zwar schon auf die erste Exposition hin. Im \u00fcbrigen konnten die Versuche nur die bisherigen Resultate best\u00e4tigen, waren aber gerade wegen des prompten Er-kennens dabei weniger fruchtbar.\nDie dabei auftretenden falschen Assimilationen lassen sich ausnahmslos auf das Wirken der dominirenden Buchstaben, resp. deren Substitutionen durch andere analoger Rangklasse, zur\u00fcckf\u00fchren.\nZu jeder gegebenen Wortform stellt sich eine F\u00fclle von Assimilationen ein, die nur Sinn erhalten durch Erkennung objectiver Merkmale. Ist der dominirende Buchstabencomplex erkannt, so l\u00e4sst er nur die ihm ad\u00e4quate Assimilation anschie\u00dfen und verhindert die Einstellung von falschen.\nWenn der Beobachter das Wortbild falsch assimilirt, die dominirenden Bestandtheile und die Wortform jedoch aufgefasst hatte (letztere schon mit der falschen Assimilation), so kam es vor, dass er das Bild nach l\u00e4ngerer bewusster Reflexion mit dem richtigen Wort ausf\u00fcllte.\nV und VI. In kurzen S\u00e4tzen tragen die den Sinn fixirenden Bestandtheile auch f\u00fcr die Assimilation dominirenden Charakter. Den\nWnnat, Philos. Studien. XVI.\n28","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nJulius Zeitler.\ndominirenden Buchstaben im Wortbild k\u00f6nnen sonach dominirende W\u00f6rter oder Wortcomplexe im Satzbild angereiht und gegen\u00fcbergestellt werden.\nStellt sich an der Peripherie des mittleren Wortbildes keine Assimilation ein, so werden nur die dominirenden Buchstaben der Nachbarworte erkannt. Unter dem Gesichtspunkt der Apperception findet dabei eine erhebliche Einengung des Aufmerksamkeitsgebiets statt. Befinden sich n\u00e4mlich in der Mitte desselben bedeutungslose, der assimilativen Beziehung ermangelnde W\u00f6rter, so schrumpft der Aufmerksamkeitsumfang auf diese ein und greift h\u00f6chstens auf einige benachbarte Buchstaben \u00fcber. Befindet sich dagegen in der Mitte ein f\u00fcr den Satzzusammenhang charakteristisches Wort, so stellt sich sofort die Assimilation des Ganzen ein. Die Stellung des charakteristischen Wortes f\u00f6rdert oder hemmt darnach die Wirkung der assimilativen Beziehungen. Dazu tritt erleichternd oder erschwerend der gel\u00e4ufigere oder der weniger gel\u00e4ufige Sinn des Satzzusammenhanges.\nZ. B. wurden mehrere Expositionen noting bei folgenden S\u00e4tzen:\nvolle Freiheit das Wasser flie\u00dft Sie sind, unaufmerksam Alle K\u00f6rper sind schwer\nDagegen wurden folgende gel\u00e4ufige Verbindungen meistens schon nach der ersten Exposition aufgefasst:\nEile mit Weile Wissen ist Macht Ein Mann, ein Wort Morgenstunde hat Gold im Munde\nVersuche mit sinnvollen W\u00f6rtern, die entweder sehr gel\u00e4ufige S\u00e4tze oder Sprichw\u00f6rter der Umgangssprache bildeten, ergaben das Besultat, dass dabei nur ein dominirendes Wort erkannt zu werden brauchte, um die ganze Assimilation anschie\u00dfen zu lassen. Die \u00fcbrigen Bestandteile wurden einfach associirt. Wurde das dominirende Bestandst\u00fcck nicht erkannt, so wurden auch nur wenig Buchstabengruppen rechts und links noch festgestellt.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n421\nDie Macht der Assimilation ist dabei so stark, dass sich sogar der Zwang einstellen kann, \u00fcber 2\u20143 W\u00f6rter und ihre L\u00fccken hinwegzulesen und sie in einen Wortcomplex zusammenzufassen.\nBei fremdl\u00e4ndischen Beobachtern stellt sich zweierlei ein: Ist ihnen ein Sprichwort bekannt, so assimiliren sie m\u00fchelos, wenn nicht, so lesen sie es, soweit es geht, ohne aber in den Sinn einzudringen Je weniger ihnen \u00fcberhaupt Assimilationsh\u00fclfen zu Gebote stehen, desto mehr m\u00fcssen sie sich auf den objectiven Eindruck concentriren, desto mehr verengert sich auch ihr Aufmerksamkeitsumfang.\nBei ganz gel\u00e4ufigen Sprichw\u00f6rtern braucht der Anfang und das Ende in der Expositionsspalte \u00fcberhaupt nicht sichtbar zu sein, die Assimilation stellt sich doch p\u00fcnktlich ein. Und so sicher, dass der Beobachter glaubt, die (unsichtbaren oder \u00fcberhaupt nicht vorhandenen) Seitentheile des Satzes besonders deutlich gesehen zu haben. Das dominirende Worthild entscheidet so sehr bei der Assimilation von Sprichw\u00f6rtern und gel\u00e4ufigen Redensarten, dass au\u00dferhalb seines Complexes Ver\u00e4nderungen und Verst\u00fcmmelungen sein k\u00f6nnen, ja \u00fcberhaupt nichts sichtbar zu sein braucht -\u2014 der Satz wird trotzdem assimilirt.\nDie Auffassung von kurzen gel\u00e4ufigen S\u00e4tzen geht im Gegensatz zu der von W\u00f6rtern auch f\u00fcr den Beobachter successiv vor sich, indem zuerst das mittlere Wort im Bewusstsein auftaucht und sich daran sogleich die Assimilation der \u00fcbrigen schlie\u00dft, wobei aber zwischen der Apperception des dominirenden Wortes 'und dem Zusammenschie\u00dfen der Wortvorstellungen zum klaren Satzbild ein deutliches Zeitintervall liegt. Dabei ist die Succession der Deutlichkeits-und Bewusstseinsphasen offenbar.\nAls Catteil bei Versuchen mit mehreren W\u00f6rtern oder Worten im Satzzusammenh\u00e4nge diese in untereinanderstehende Reihen vertheilte, so dass sie das Feld des deutlichen Sehens \u00fcberragten, \u00fcbersah er, dass die doppelzeilige Anordnung der Schriftzeichen den normalen Bedingungen des tachistoskopischen Lesens widerstreitet.\nDementsprechend gaben auch Versuche mit doppelzeiligen Gebilden kein Resultat. Die Erkennung erfolgte dabei nur expositionsweise, d. h. in einer besonderen Expositionsfolge f\u00fcr jede Zeile. Bei doppelzeiligen Complexen, die aus 16\u201419 Buchstaben pro Zeile bestanden, derma\u00dfen, dass jede Zeile f\u00fcr sich einen Bedeutungs-\n28*","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nJulius Zeitler.\nZusammenhang repr\u00e4sentirte, machte sich eine solche Zerstreuung der Aufmerksamkeit geltend, dass h\u00f6chstens einzelne ganz gel\u00e4ufige W\u00f6rter erkannt wurden, sonst aber nichts. Die Aufmerksamkeit schien, gleichg\u00fcltig ob irgendwo etwas erkannt wurde oder nicht, auf alle Buchstaben vertheilt, \u00fcber dem ganzen Objecte fluctuirend, ohne sich aber auf charakteristische Merkmale concentriren zu k\u00f6nnen.\nAngesichts dieser Erfolglosigkeit konnte mit Fug und Hecht von weiteren Versuchen in dieser Eichtung abgesehen werden.\n8. Expositionszahl und Expositionszeit.\nCattell\u2019s Ergebnisse sind \u00bbSchlussergebnisse\u00ab. Er exponirte in der Hegel 5 Mal nacheinander; d. h. wenn bis zur 5. Exposition nichts oder nicht viel erkannt wurde, nahm er an, dass eine weitere Wiederholung nutzlos sein w\u00fcrde. Durch Versuche, in denen diese Annahme nachgepr\u00fcft wurde und die sich beim Beginn bis auf zehn Expositionen erstreckten, wurde dieselbe best\u00e4tigt. (Uebrigens treten die Expositionsfolgen in den Ausf\u00fchrungen der Cattell\u2019schen Abhandlung nicht so deutlich hervor, als dies w\u00fcnschenswerth w\u00e4re.)\nAber es ist zun\u00e4chst nicht die Zahl der Wiederholungen, sondern die Wiederholung \u00fcberhaupt, die Bedenken erregt. Der Idealfall eines Versuchs w\u00e4re die einmalige Exposition eines Objects. Denn jede folgende Exposition findet unter Bedingungen statt, die die Heinlichkeit der Beobachtung um so mehr beeintr\u00e4chtigen, je \u00f6fter das Object exponirt wird.\nGrundlegend ist vor allem die erste Exposition. Sie zeigt den Umfang der Aufmerksamkeit unter den gegebenen Bedingungen. Falls nur einzelne Buchstaben oder Buchstabengruppen erkannt werden, so bleiben diese doch als objectiv sicher im Vordergrund des Bewusstseins, werden bei der folgenden Exposition schon mit hinzugebracht und sind als Assimilationsh\u00fclfen sehr betr\u00e4chtlich in Anschlag zu bringen. Die Folge ist, dass die Aufmerksamkeit sich sofort auf die noch unbekannte Region des Wortbildes st\u00fcrzt und dass die hier appercipirten Schriftzeichen mit den schon im Ged\u00e4chtniss als Residua deponirten verschmelzen. Wie die Expositionen sich folgen, findet eine st\u00fcckweise Angliederung und Zusammenschwei\u00dfung des Wortbildes statt, so zwar, dass die Auf-","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\t423\nmerksamkeit in jeder Exposition auf einem anderen Punkte des Objects ruht.\nDer Einfluss des in der Vorstellungsmasse bereit gelagerten Schriftbildes, das in jede neue Exposition mit hin\u00fcbergetragen wird, erweist sich auch bei Aenderung des Expositionsobjectes als so m\u00e4chtig, dass in vielen F\u00e4llen noch der fr\u00fchere Eindruck gelesen wird, wenn schon ein ganz neues Object dargeboten ist.\nNun lie\u00dfe sich die Hypothese aufstellen, dass der geringeren Gel\u00e4ufigkeit von Wortbildern die gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Expositionen entspreche, so dass nach dieser die W\u00f6rter wieder in einer Gel\u00e4ufigkeitsscala abzustufen seien. Aber es ist fraglich, ob dieser Schluss von der Expositionszahl auf die Gel\u00e4ufigkeit berechtigt ist.\nOben ist schon gesagt worden: Ist ein Wort unbekannt, so unterscheidet es sich von einem sinnlosen Complex nur dadurch, dass seine Silben in einen besseren Zusammenhang gebracht werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend sie bei letzterem nur mit Zwang aneinander gekettet werden. Der Sinn bleibt aber in beiden F\u00e4llen verborgen.\nJedes Wortbild, gleichviel ob es bekannt ist oder nicht bekannt ist, zerf\u00e4llt in gel\u00e4ufigere und ungel\u00e4ufigere Silbenbestandtheile. Die gel\u00e4ufigen Silben werden assimilirt, d. h. simultan und instantan appercipirt; die ungel\u00e4ufigen werden buchstabirt, ihrem Zeichen-bestande nach festgestellt; f\u00fcr letzteren gilt die erweiternde Folge von Expositionen, jene aber hat keinerlei Beziehung zur Expositionsfolge. Es treten also beim unbekannten Wortbild zwei Akte zusammen, das Lesen von gel\u00e4ufigen Silben und das Lesen von unbekannten Buchstabengruppen. Ersteres ist Assimilation, letzteres expositionsweises Buchstabiren.\nEs kommt ganz auf das Wortmaterial des Beobachters an, f\u00fcr den es eigentlich nur zwei Arten von W\u00f6rtern gibt: bekannte und unbekannte. Den unbekannten W\u00f6rtern kann auch der niedrigste Gel\u00e4ufigkeitsgrad nicht zugeschrieben werden, da sie f\u00fcr den entsprechenden Beobachter unter den -Begriff der sinnlosen Complexe fallen. Unbekannte W\u00f6rter werden buchstabirend gelesen, bekannte assimilirend. Nur in ersterem Falle kann von Expositionsfolgen die Bede sein. Aber die Expositionsfolge schlie\u00dft auch nicht eine proportionale Erh\u00f6hung der Buchstabenzahl in sich, da die Lage der gesehenen Buchstaben zeigt, dass der Aufmerksamkeitsumfang in","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nJulius Zeitler.\nallen Expositionen derselbe ist, dass nur die Buchstaben expositionsweise sch\u00e4rfer ins Bewusstsein eintreten und den Aufmerksamkeits-umfang ausf\u00fcllen. Die F\u00e4lle, in denen das Wortbild nach seinen Buchstaben in mehreren Expositionen festgestellt wird, k\u00f6nnen nicht f\u00fcr die Hypothese angef\u00fchrt werden. Denn jene Feststellung bezieht sich nur auf den Buchstabenbestand; die Auffassung des richtigen Bildes hat keine directe Beziehung zur Auffassung der Bedeutung.\nDas unbekannte Wort erscheint dem Beobachter als sinnlose Buchstabenzusamfaensetzung. Er stellt nach mehreren Expositionen wohl die Buchstabenfolge fest, ohne aber in ihren Sinn einzudringen. Die Expositionsfolge bezieht sich nur auf die Fixirung des Buchstabenbestands, ohne den Sinn zu betreffen. Jener kann bei den ungel\u00e4ufigen W\u00f6rtern schon bei der 2. und 3. Exposition festgestellt werden, w\u00e4hrend der Sinn der gel\u00e4ufigen W\u00f6rter zuweilen erst bei der 4. und 5. Exposition auftaucht. Der Buchstabenbestand muss also von dem Sinne des Wortes streng auseinander gehalten werden. Die folgenden Expositionen erweitern nur den Zeichencomplex, haben aber zur Feststellung der Bedeutung keine directe Beziehung.\nDie Phasen des Erkennens betreffen:\n1.\tDie dominirenden Buchstaben.\n2.\tWortform und Wortl\u00e4nge.\n3.\tDie Feststellung des Buchstabenbestandes.\nBis hierher beruht der Akt zum Theil auf physiologischen Vorbedingungen, n\u00e4mlich auf der Normalzeit des Beobachters, von der noch die Rede sein soll. Bei sinnlosen Complexen endet er hier.\n4.\tDie Apperception des Sinnes, der Bedeutung.\nNun verschmelzen Akt 3 und 4 bei gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern vollst\u00e4ndig in einen einzigen. Meistens werden alle vier in einen bei einer Exposition stattfindenden zusammengezogen. Sind jedoch mehrere Expositionen n\u00f6thig, so ist das kein Kriterium f\u00fcr die Gel\u00e4ufigkeit, denn\n1) ist die Expositionsanzahl ganz unabh\u00e4ngig vom Expositionsinhalt. Da der Buchstabenbestand meistens schon bei der 2. oder 3. Exposition festgestellt wird, kann nicht eine 4. oder 5. Exposition f\u00fcr die Erkennung des Sinnes beansprucht werden. Zahlreiche F\u00e4lle ergaben, dass die Assimilation ganz unabh\u00e4ngig von der Exposition eintrat, rein auf Grund des erkannten Buchstabenmaterials.","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\t425\n2)\tbetrifft die Zahl der Expositionen nur die Erh\u00f6hung des Buchstabenbestandes, nicht den Sinn. Jede Exposition gibt an die andere einen bestimmten Complex fils Residuum hin\u00fcber, der als assimilatives Product in die neue Erkennung mit einbezogen wird.\n3)\tstreiten dagegen die F\u00e4lle, in denen die Akte 1 und 2 falsche Assimilationen bewirken, die erschwerend von einer Exposition in die andere hin\u00fcbergetragen wurden. Es ist offenbar, dass eine 4. oder 5. Exposition, in der dann unmittelbar und pl\u00f6tzlich das Wort erkannt wurde, nicht mit den vorhergegangenen Expositionen zusammengeworfen werden darf.\n4)\tleuchtet aus alledem ein, dass jede Exposition f\u00fcr sich zu interpretiren ist, dass zum mindesten nur die Expositionen, die der Feststellung des Buchstabenbestandes gelten, unter einen gemeinsamen Begriff zusammengefasst werden k\u00f6nnen; die Erkennung der Bedeutung eines Wortes hat mit der Zahl von Expositionen nichts zu schaffen. Jede, von der 1. bis zur 5. ist in diesem Sinne f\u00e4hig, in einer Apperception zu culminiren, die ein momentaner ganz unabh\u00e4ngiger Akt ist.\nBesonderes Gewicht muss auf Punkt 3 gelegt werden: es w\u00e4re ein schwerer logischer Fehler, die sp\u00e4teren Expositionen, f\u00fcr die Gel\u00e4ufigkeitsgrade in Anspruch nehmen zu wollen. Es k\u00f6nnen drei, vier falsche Assimilationen stattgefunden haben, bis das Wort richtig appercipirt wurde. Die Heterogenit\u00e4t der vorhergehenden Assimilationen l\u00e4sst nicht zu, sie als von helfender Vorbereitung f\u00fcr die entscheidende Exposition in Anspruch zu nehmen. Im Gegentheil ist diese Exposition ganz f\u00fcr sich zu betrachten.\nZum Beweis, dass die Expositionsfolgen keine unmittelbare Beziehung zum Worterkennen haben, auch wenn von einer Exposition zur anderen mehr Bestandst\u00fccke, darunter dominirende Buchstaben, erkannt werden m\u00f6gen, seien ein paar frappante F\u00e4lle von Expositionsfolgen angegeben:\n1.\tBindskotelett.\n2.\tRochefort.\n3.\tRetouche.\n4.\tRochefaucauld.\nRochefoucauld (L.)","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"Julius Zeitler.\n426\nAgoraphobie (Dr. M.)\t1. Petrus Arbues.\n2.\tAgos . . .\n3.\tAgrarpolitik.\n4.\tAmorphopsie.\n5.\tAgoraphobie.\nGhirlandajo (Dr. M.)\t1. Chronoskop.\n2.\tOhr......op.\n3.\tPhonendoskop.\n4.\tGhirlandajo.\nAlle diese Gr\u00fcnde streiten dagegen, dass der Gel\u00e4ufigkeitsgrad der W\u00f6rter auf die Zahl der Expositionen gebaut werde. Die Gel\u00e4ufigkeit betrifft den Sinn, der instantan erfasst wird, sobald nur die objectiven Bedingungen (1., 2., 3. Phase) dazu gegeben sind, diese Auffassung ist jedoch ein ganz selbstst\u00e4ndiger psychologischer Akt. Also :\n1.\tDas unbekannte Wort wird nur nach dem Zeichencomplex festgestellt. Gesetzt den Fall, das sei bei der 2. Exposition geschehen und es folgte die Auffassung des Sinnes erst bei einer der folgenden Expositionen, so sind diese an der Apperception ganz unschuldig. Der psychische Akt tritt ganz unabh\u00e4ngig davon ein. Darum hat es auch keinen Sinn, ein unbekanntes Wort weiter zu exponiren, nachdem sein Buchstabencomplex, soweit dies \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, aufgefasst worden ist.\n2.\tDas bekannte Wort hat zwei Erkennungsphasen:\na)\tDie Apperception der dominirenden Elementengruppe, des determinirenden Buchstahencomplexes und der Gesammtform.\nb)\tDaran anschlie\u00dfend die Assimilation des Ganzen und die Apperception der Bedeutung.\nNun werden in allen F\u00e4llen die dominirenden Buchstaben zuerst erkannt; fallen sie mit der dominirenden Elementengruppe zusammen, wie zumeist, so ist die Assimilation um so mehr erleichtert.\nNun hat jedes Wort seine individuelle Structur an seinen dominirenden Buchstaben. In der Lagenbeziehung des Aufmerksamkeitspunktes zum dominirenden Complex liegt auch eine Beziehung zur Expositionsanzahl beschlossen; d. li. je ung\u00fcnstiger die Lage der Buchstaben, desto mehr Expositionen. Hierauf kann aber keine Ge-","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopisclie Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\t427\nsetzm\u00e4\u00dfigkeit gegr\u00fcndet werden, da die Variation dieser Lage in keiner Beziehung zur Gel\u00e4ufigkeit der Wortbilder steht.\nGewiss tr\u00e4gt die Erweiterung des Buchstabenbestandes auch zur Feststellung des dominirenden Complexes hei, aber die instantan\u00e9 Wirkung des letzteren auf die Auffassung hat mit der zeichenweisen Constatirung der Buchstaben nichts zu schaffen. Wenn \u00fcberhaupt eine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit besteht, so ist es diese.\nDie Wortbilder werden nur erkannt, wenn ihr dominirender Buchstabencomplex appercipirt worden ist. In welcher Exposition auch die Erkennung des dominirenden Complexes stattfinden mag, so ist diese doch nicht mit den Buchstabenbest\u00e4nden der vorhergehenden Expositionen zu confundiren. Die Erkennungsexposition schlie\u00dft einen Akt f\u00fcr sich ein, der auch bei den gel\u00e4ufigsten W\u00f6rtern nach den verschiedensten Malen von Expositionen eintreten kann. Jene Expositionen, bei denen nur einzelne Buchstaben oder Best\u00e4nde festgestellt werden, sind belanglos gegen\u00fcber der Feststellung des dominirenden Complexes. Da mit dessen Bedeutung die Zahl der Expositionen nicht in Beziehung gesetzt werden darf, bildet letztere auch keinen Gradmesser der Gel\u00e4ufigkeit.\nDie Expositionsfolgen verdeutlichen nur das optische Wortbild, mit den Bedeutungsvorstellungen selbst haben sie nichts zu schaffen. Die Apperception des optischen Bildes ist an die Folge der Expositionen gebunden, die Apperception der Bedeutung an den dominirenden Complex. Zwischen dem letzteren und der Bedeutungsvorstellung herrscht eine directe Beziehung, ebenso wie zwischen den Expositionen und dem Bild.\nZwischen den Expositionsfolgen und dem dominirenden Complex besteht keine unmittelbare directe Beziehung, kein nothwendiger, sondern nur ein zuf\u00e4lliger Zusammenhang. Darum kann die Zahl der Expositionen nicht mit dem dominirenden Complex in Rechnung gesetzt werden.\nEine weitere Discussion erfordert die Expositionszeit. Sie ist eine rein physiologische Zeit, eben die Zeit, die zur Netzhauterregung erforderlich ist, wozu dann noch eventuell die Dauer des Nachbildes hinzukommt. Sie ist f\u00fcr die verschiedenen Beobachter verschieden, bleibt aber f\u00fcr ein und denselben Beobachter in geringen Grenzen (von h\u00f6chstens 5 a) constant. Sie variirt zwischen 6 und 20 a f\u00fcr","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nJulius Zeitler.\nalle Beobachter. Die Expositionszeit repr\u00e4sentirt also nur die Reizdauer des Schriftbildes. Nun entspricht jeder Expositionszeit eine bestimmte Bilddauer. Je l\u00e4nger letztere ist, desto tiefer gr\u00e4bt sich der Eindruck ins Bewusstsein. Je mehr die Normalzeit der noth-wendigen Normalbilddauer entspricht, desto besser ist die Auffassung. Es entsteht nun die Frage, inwiefern und ob eine Steigerung der ersteren auch der letzteren zu gute kommt. Die Hypothese, die sich hier aufstellen l\u00e4sst, betrifft die Beziehung zwischen der Expositionszeit und dem Aufmerksamkeitsumfang einerseits und dem Gel\u00e4ufigkeitsgrad anderseits; d. h. es l\u00e4sst sich der Schluss machen, je ungel\u00e4ufiger ein Wort sei, bei einer desto h\u00f6heren Zeit m\u00fcsse es erkannt werden. Die Versuche, die in dieser Richtung gemacht wurden, ergaben das Folgende:\nJeder Beobachter hat die seinem physiologisch-optischen Apparat entsprechende Normalexpositionszeit. Diese hat aber nur eine Beziehung zur Feststellung des objectiven Buchstabenbestandes. Ob derselbe einen Sinn ergibt oder nicht, hat mit der Normalzeit nichts zu schaffen, da auch ihre ausgiebigste Erh\u00f6hung ungeeignet ist, einen Sinn herbeizuf\u00fchren.\nUnter den dem Beobachter bekannten W\u00f6rtern besteht keine Gel\u00e4ufigkeitsabstufung in dem Sinne, dass sie in einer zur Erkennung n\u00f6thigen gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Expositionszeit erkennbar w\u00e4re; ist ein Wort gel\u00e4ufig, so wird es unmittelbar assimilirt, im andern Fall wird sein Sinn auch bei 40 und 50 o nicht tiefer erfasst als bei 10 a. Die Expositionszeit wie die Expositionsfolge bezieht sich nur auf die Feststellung des objectiven Buchstabenbestandes; der Sinn, der mit ihm verbunden wird, ist Sache des Vorstellungszusammenhangs und Wortvorraths und als solcher ein psychologischer Factor, dem mit einer Variirung der Expositionszeit nicht beizukommen ist.\nIst ein Wort \u00fcberhaupt unbekannt, so kann keine Erh\u00f6hung der Expositionszeit ein Resultat vermitteln. Dieselbe ist f\u00fcr die Erkennung von unbekannten Objecten ganz nutzlos.\nEine Beziehung des Gel\u00e4ufigkeitsgrades der W\u00f6rter zu einer ihnen ad\u00e4quaten Expositionszeit l\u00e4sst sich also nicht feststellen. Unbekannte W\u00f6rter werden bei erh\u00f6hter Expositionszeit wohl nach ihren Buchstaben gelesen \u2014 aber ihr Sinn bleibt verborgen. Diese Erh\u00f6hung","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen-\t429\nkann freilich eine geringe Erweiterung des Aufmerksamkeitsumfangs mit sich f\u00fchren; aber nicht auf diesen, sondern auf die Erkennung ist es abgesehen. Es kommt also nur darauf an, ob ein Eindruck das ihm entsprechende labile Wortvorstellungsresiduum vorfindet und zugleich die ihm entsprechende Bedeutungsvorstellung weckt.\nNun konnte nur bei einem Beobachter, und zwar charakteristischer Weise hei L. der mit der geringsten Sehsch\u00e4rfe ausgestattet war, eine geringe subjective Bemerkbarkeit der Variation der Zeit constat\u00e2t werden; aber auch die deutlichste Ver\u00e4nderung der Zeit hatte darum noch kein sinnvolleres Erkennen im Gefolge. Bei allen andern Beobachtern war die Ver\u00e4nderung der Zeit suhjectiv nicht bemerkbar.\nAber auch die Erweiterung des Aufmerksamkeitsumfangs ist unwesentlich. Jedenfalls steht sie nicht in einer gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehung zur wachsenden Zeitgr\u00f6\u00dfe; auf 5\u201410 ff Erh\u00f6hung kommen, wenn \u00fcberhaupt, h\u00f6chstens 3\u20144 Buchstaben. Jede weitere Erh\u00f6hung ist resultatlos.\nIst ein Wort, das sich innerhalb des normalen Aufmerksamkeits-mnfangs h\u00e4lt, unbekannt, so mag es zwischen 40 und 50 a Expositionszeit wohl seinem Buchstabenbestand nach festgestellt werden. Aber von Interesse ist die Kenntniss jener Zeit, bei der eine Buchstabenfolge so deutlich aufgefasst wird, dass sie genau reproducirt werden kann, nicht, da diese rein individuelle und specielle Feststellung zu einer Erkl\u00e4rung des appercipirenden Lesens nichts beitr\u00e4gt.\nUeherhaupt ist jedes Wortbild ein Individuum, ein individueller Complex von Zeichen. Bei der unendlichen Variabilit\u00e4t derselben f\u00fcr jeden Beobachter und f\u00fcr jedes Wort seines eigensten Ged\u00e4chtnisses eine bestimmte Zeit feststellen zu wollen, hie\u00dfe eine Sisyphusarbeit verrichten.\nSo bliebe nur noch die Interpretation der gr\u00f6\u00dferen Expositionszeit als einer l\u00e4ngeren Bildzeit, deren Einfluss insofern besteht, als die Buchstabenfolge um so klarer reproducirt wird, je l\u00e4nger das Wortbild auf die Netzhaut einwirken konnte. Das erweitert aber wiederum den Buchstabenbestand nur nach der .Reproduction, bleibt jedoch belanglos f\u00fcr die Auffassung des Sinnes. Die Steigerung der Bilddauer f\u00fchrt hier allm\u00e4hlich zu Ged\u00e4chtniss\u00fcbungen mit Buchstabenbildern \u00fcber.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nJulius Zeitler,\n9. Kritik der Cattell\u2019schen Versuche.\nDie Nachpr\u00fcfung der Cattell\u2019schen Versuche1) ergab mannigfache Unterschiede gegen\u00fcber den bei der Fernrohranordnung beobachteten Vorg\u00e4ngen. Es wurde vor allem klar, dass f\u00fcr die Beobachter Oattell\u2019s der Eindruck der Simultaneit\u00e4t noch viel stringenter war, als hei letzterer.\nDie Einw\u00e4nde, die gegen die Cattell\u2019schen Versuche gemacht werden k\u00f6nnen, sind aber folgende.\nZun\u00e4chst ist darauf hinzuweisen, dass Versuche, in denen Assimilationsprocessen ein so weiter Kaum gew\u00e4hrt ist, wie bei jenen, kein Kriterium f\u00fcr eine Feststellung des Aufmerksamkeitsumfangs abgehen k\u00f6nnen. Die einer in den aufeinanderfolgenden Expositionen gen\u00fcgenden Constanz entbehrende Einstellung der Aufmerksamkeit leistete dem Eintreten von Assimilationsprocessen bei Cattell um so mehr Vorschub, je mehr solche schon durch den objectiven Wort-und Satzzusammenhang nahe gelegt waren.\nDadurch, dass die Cattell\u2019sche Anordnung das binoculare Sehen gestattet, ist von vornherein die Eixationssph\u00e4re eine erweiterte, damit auch das Aufmerksamkeitsgebiet ein umf\u00e4nglicheres. Dazu tritt die M\u00f6glichkeit des Schwedens der Aufmerksamkeit \u00fcber das Object hinweg, so dass die Stelle der Fixation mit jeder Exposition eine andere wird. Dadurch erweitert sich der Aufmerksamkeitsumfang in unberechtigter Weise. Jede Exposition erfolgt so unter andern Bedingungen. Die Beobachter sagen aus, dass sie zwar den Willen haben, ihre Aufmerksamkeit auf den Fixirpunkt zu concentriren, dass sie aber nur schwer der Neigung Widerstand leisten, in der Dichtung abzulenken, wo noch unbekannte Worttheile liegen. Die Neigung geht von der Mitte aus vornehmlich nach rechts, dem Zuge des Lesens und der Assimilation folgend, weniger nach links. Der Aufmerksamkeitspunkt fluctuirt in dieser Sph\u00e4re, die sich weiter rechts vom fixirten Silbencomplex erstreckt als links. Mit Vergr\u00f6\u00dferung des Aufmerksamkeitsgebiets vergr\u00f6\u00dfert sich aber auch der Bereich und die M\u00f6glichkeit der Assimilation.\nSo erforderte die Cattell\u2019sche Anordnung eine gr\u00f6\u00dfere Concentration und strengere Fixation. Dem hei ihr stattfindenden assimi-lirenden Lesen ist zuzuschreiben, dass die Beobachter darin \u00fcber-\n1) Cattell a. a. O. S. 94.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n431\neinstimmen (hierin Cattel best\u00e4tigend), die Auffassung sei deutlich simultan. So D. : \u00bbDas gesammte Wortbild hebe sich gleichzeitig aus dem Bewusstsein; wenn auch einzelne Bestandtheile daraus sch\u00e4rfer herausgehoben scheinen, so kann doch nicht analysirt werden, inwiefern dieselben von gr\u00f6\u00dferer Bedeutung f\u00fcr die Auffassung waren, als die \u00fcbrigen.\u00ab\nCat teil nahm solche Aussagen ohne weiteres mit in sein Ergehniss hin\u00fcber. Dass aber f\u00fcr seine Anordnung die Bolle der dominirenden Elemente auf directem Wege schwer festzustellen ist, widerlegt sie nicht. Es handelt sich darum, den ganzen Vorgang des Lesens zu analysiren; in diesem Sinn ist die Fernrohranordnung die g\u00fcnstigere. Die Beobachter sagen zwar aus, dass ihnen das CatteH\u2019sche hinoculare Sehen weit bequemer sei; aber es tr\u00e4gt zum Zwecke der Untersuchung nichts hei, wenn es auch den Bedingungen des gew\u00f6hnlichen Lesens n\u00e4her kommt, als die monoculare Fixation.\nNun leiden die Cattell\u2019schen Ergebnisse weiter daran, dass sie das Besultat mehrfacher Expositionen sind. Seine Beobachter konnten in den ersten Expositionen nur einzelne Buchstaben sehen. Diese Elemente und Wortst\u00fccke blieben im Ged\u00e4chtniss haften und \u00e4nderten die Aufmerksamkeitsrichtung \u2014 Merkmale genug, dass die Aufmerksamkeit bei den folgenden Expositionen auf benachbarte, noch unbekannte Begionen hin\u00fcherlenkt, nach dem Bestreben des Beobachters, die L\u00fccke in der Auffassung auszuf\u00fcllen und das Fehlende zu erg\u00e4nzen. Auch dadurch konnte der Aufmerksamkeitsumfang in unberechtigter Weise wachsen, indem sich mit jeder Exposition neue Bestandtheile eingliederten.\nGewiss scheint nach der letzten Exposition das Wortbild simultan aufzutauchen, aber es darf nicht vergessen werden, dass bei jeder neuen Exposition das Besultat der vorangegangenen als wesentlich bestimmtes Bestandst\u00fcck mit eingeht. Die in der folgenden Exposition erneuerte Feststellung desselben ist als Assimilation zu betrachten, neu hinzutretende Elemente aber sind der Apperception zu verdanken.\nDiese Einw\u00e4nde sind freilich nur theoretischer Natur, denn die praktischen Ergebnisse Cattell\u2019s bed\u00fcrfen im allgemeinen nur geringer Modificationen, die jedoch erheblicher werden, sobald zwischen dem assimilirenden und dem appercipirenden Lesen scharf unterschieden wird.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nJulius Zeitler.\nDiese Einw\u00e4nde sollten haupts\u00e4chlich dazu dienen, die Vorz\u00fcge der Eernrohranordnung zu bekr\u00e4ftigen, wie sie in der strengeren Fixirung des Objects und in der sch\u00e4rferen Aufmerksamkeitseinstellung begr\u00fcndet sind.\nCattell\u2019s Versuche sind also im obigen Sinne als Assimilationsversuche zu charakterisiren, zum Unterschied von reinen Apperceptions-versuchen, von welchen letzteren doch wesentliche Aufschl\u00fcsse \u00fcber den Leseprocess erwartet werden k\u00f6nnen. Cattell schied nicht zwischen den Bestandteilen, die auf Grund einer Apperception, und jenen, die auf Grund einer Assimilation erkannt wurden. Es liegt daher von vornherein die Vermuthung nahe, dass er dieAssimilationsprocesse unbedenklich mit hineinmischte und auf Conto der Apperception schrieb, was\" lediglich der Assimilation anheimf\u00e4llt. Es braucht nicht darauf hingewiesen zu werden, wie sich Erdmann diesen Fehler noch in unvergleichlich h\u00f6herem Grade zu Schulden kommen lie\u00df, dessen Versuche bei 100 a Expositionszeit offenbar \u00fcberhaupt nur reine Assimilationsversuche waren.\n10. Die dominirenden Buchstaben und die Gesammtform.\na. \"Wortl\u00e4nge und Wortform.\nIn den Untersuchungen, die \u00fcber das Lesen angestellt wurden, spielt die Wortl\u00e4nge als wesentlicher Factor hei der Apperception von Wortzeichen eine bedeutende Rolle. Es verlohnt sich, diesen Factor einer Analyse zu unterziehen.\nDie Wortl\u00e4nge wird im allgemeinen bestimmt von der Zahl der Buchstaben, aus denen das Wortbild zusammengesetzt ist. Die Erkennung des Wortumfangs ist nun zun\u00e4chst von der Wortzusammensetzung und von der Richtung der Aufmerksamkeit abh\u00e4ngig. Der Eindruck der Wortl\u00e4nge kann nun schon durch den grauen Streifen hervorgerufen werden, den alle Beobachter nach den dominirenden Buchstaben als ihren n\u00e4chsten Eindruck bezeichnen. In Wirklichkeit aber ist die Gewissheit \u00fcber die Ausdehnung dieses grauen Streifens eine sehr vage und allzu unbestimmte. Die Assimilationen sehr langer W\u00f6rter in ganz kurze hinein geben ein Kriterium daf\u00fcr, welchen T\u00e4uschungen hier der Beobachter unterworfen ist.\nEs ist n\u00e4mlich die Regel, dass in kurze oder mittelgro\u00dfe W\u00f6rter, die nur in ihrer ersten H\u00e4lfte objectiv erkannt werden und deren letzter Buchstabe nicht feststeht, lange W\u00f6rter hinein assimilirt werden.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n433\nEine genauere Constatirung der Wortl\u00e4nge wird also allein durch die Erkennung der letzten Buchstaben oder ihrer analogen Substitutionen gew\u00e4hrleistet.\nSowie aber einer der letzten Buchstaben erkannt wurde, ist die Wortbezeichnung schon in einer ganz anderen Weise determinirt, als sie es durch die Wortl\u00e4nge w\u00e4re, mit der zusammen ohnedies elementare Bestandtheile gegeben sein m\u00fcssen, damit sie \u00fcberhaupt wirksam werden kann.\nDer Vorgang, in dem die Wortl\u00e4nge wirkt, d\u00fcrfte also folgender sein: Der Beobachter sieht unmittelbar nach den dominirenden Buchstaben einen grauen Streifen, in dem aber die erste H\u00e4lfte der Buchstaben so deutlich heraustritt, dass diese fr\u00fcher erkannt werden, als der graue Streifen in seiner L\u00e4nge erfasst ist. Zwischen der Apperception der ersten dominirenden Elemente und der allgemeinen Bestimmung des Wortendes ist ein deutlich wahrnehmbares Zeitintervall, das den Vorgang trennt, in dem sich der successive Auf-fassungsprocess abspielt. Die Beobachter constatiren bei gr\u00f6\u00dferen W\u00f6rtern zwischen der Auffassung der ersten Worth\u00e4lfte und der Wortl\u00e4nge eine deutliche Pause.\nNach der Wortl\u00e4nge wurde der Wortform, dem Gesammteindruck, eine ausschlaggebende Bedeutung zugesprochen. Einer Analyse der Resultate h\u00e4lt aber auch diese Behauptung nicht stand. Gewiss kommt die Wortform bei der Apperception genau so wie die Wortl\u00e4nge mit in Betracht. Aber psychologisch kann die Bezeichnung \u00bbWortform\u00ab zum Ausdruck einer Beziehung nicht gen\u00fcgen. Die Wortform als solche verf\u00fchrt bei der Auffassung zu den gr\u00f6\u00dften Irrth\u00fcmern ; sie muss in ihre Eactoren zerlegt und nach ihren dominirenden Be-standtlieilen abgesch\u00e4tzt werden. Denn die dominirenden Elemente sind es, die die Wortform erst zusammensetzen; erst das Zur\u00fcckgehen auf diese entscheidenden Eactoren gibt Aufschluss dar\u00fcber, welche Momente beim appercipirenden Lesen als fundamental in Betracht kommen. Dass bei der allgemeinen Wortform nicht stehen geblieben werden kann, beweisen zwei Reihen von Beobachtungen:\n1. Die Aehnlichkeitsassimilationen bei Normalversuchen. Bei gegebener Wortform wurden ganze Reihen von W\u00f6rtern producirt, die eine \u00e4hnliche Form besa\u00dfen. In einer gro\u00dfen Anzahl von F\u00e4llen ging die Assimilation in die Illusion \u00fcber; dabei","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nJulius Zeitler.\nsinkt die Procentziffer der objectiv gegebenen Buchstaben, die noch in dem subjectiven Wortbild enthalten sind, stetig, ohne dass daraus aber ein Schluss auf die Gfradabstufung von der objectiven Apperception bis zur 'subjectiven Illusion gemacht werden k\u00f6nnte.\n2. Die Assimilationen bei Vexirversuchen. Diese sollen sp\u00e4ter ausf\u00fchrlich behandelt werden. Sie stellen eigentlich eine \u00e4hnliche Versuchsgruppe dar, wie die vorhergehende. Wenn in einem Wortbild ein oder mehrere Buchstaben ver\u00e4ndert werden, so ist damit der vorigen Art von Assimilationen kein Eintrag gethan. Sie gehen vor sich, unbek\u00fcmmert um die objective Ver\u00e4nderung, wenn nur die allgemeine Wortform gewahrt bleibt. Wird aber durch eine besondre Disposition oder Richtung der Aufmerksamkeit der ver\u00e4nderte Buchstabe erkannt, so determinirt er die Assimilation, jedoch nur in dem Sinn, dass er ihrem Ablauf eine allgemeine Richtung gibt. Der Buchstabe hemmt das Anschie\u00dfen der richtigen Assimilation, beg\u00fcnstigt aber um so mehr das Eintreten falscher.\nDa hier nur die Wortform beurtheilt werden soll, so kann auf die genauere Analyse dieser Vexirversuche erst sp\u00e4ter eingegangen werden. Jedenfalls steht fest, dass die Wortform und mit ihr im Zusammenhang die Wortl\u00e4nge nur vorbereitenden Charakter tragen, aber f\u00fcr die Apperception keine ausschlaggebende Bedeutung besitzen. Thre Bedeutung hegt vielmehr in der Begleitung und Unterst\u00fctzung der Wirkung der dominirenden Buchstaben, in dem allgemeinen Ueberblick \u00fcber das Object.\nHinge die Apperception nur von Wortl\u00e4nge und Wortform ab, so f\u00e4nde entweder \u00fcberhaupt keine Erkennung statt, oder \u2014 und das bei Beobachtern mit einem reichen Phantasieleben besonders \u2014 eine Fehlassimilation.\nb. Zur Theorie der \u00bbdeterminirenden< Buchstaben.\nVon den Hypothesen der Psychiater, die f\u00fcr das successiv buch-stabirende Lesen eintreten, kann nach der Kritik, die ihnen Erdmann widmete, abgesehen werden. Eine bestimmte Variet\u00e4t jedoch, n\u00e4mlich die Hypothese der determinirenden Buchstaben von Goldscheider-M\u00fcller1) ist zu wichtig, als dass sie \u00fcbergangen werden d\u00fcrfte.\n1) Goldscheider u. R. F. M\u00fcller, Zur Physiologie und Pathologie des Lesens. Zeitschr. f. klin. Med. XXIII. Berlin 1893. 8. 131 ff.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopisehe Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\t435\nDie Erkenntniss, dass schon eine unvollst\u00e4ndige Reihe von Merkmalen im Stande sei, optische Reproductionen zu erregen, f\u00fchrte Goldscheider zur Frage nach der Art dieser Merkmale, also nach der Rolle, welche die einzelnen Buchstaben im Wortbild spielen. Dieses lie\u00df er wohl gelten, aber nicht in seiner Totalit\u00e4t; sondern er determinirte es durch die Form seiner charakteristischen Buchstaben, die er determinirende nannte. Er exponirte Buchstabengruppen von gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern bei 10 a Expositionszeit. Dabei ergab sich, dass determinirende und indifferente Buchstaben vorhanden waren, die f\u00fcr jedes Wort wechselten und in denen zudem Yocale wie Oonsonanten gleichm\u00e4\u00dfig vertreten waren.\nAber Goldscheider sagt nicht, welches die jeweilig determi-nirenden Buchstaben sind, die man herausgreife und zu denen man die \u00fcbrigen erg\u00e4nze. Die \u00bbdeterminirenden\u00ab Buchstaben sollen \u00bbdie zu ihnen geh\u00f6rigen phonetischen Wortklangerinnerungen\u00ab erwecken, die dann wieder \u00bbdas vollst\u00e4ndige Wortklangbild\u00ab hervorrufen. Sie werden \u00bbdiscontinuirlich appercipirt\u00ab, d. h. sie werden \u00bbsuccessiv\u00ab in den Wortklang \u00fcbersetzt.\nDie \u00bbBuchstabengruppen\u00ab, in denen sich nach Goldscheider das Lesen von Wortbildern vollzieht, sind deshalb nicht mit den elementaren Reizcomplexen identisch, weil in denselben die determinirenden Schriftzeichen \u00bbdiscontinuirlich appercipirt\u00ab, sprungweise gelesen werden. Aber die dominirenden Elemente im Reizcomplex \u2014 und zwar nur diese \u2014 werden simultan appercipirt, und das \u00bbsprungweise\u00ab Lesen bezieht sich nur auf den associativen Zusammenhang der Reizcomplexe. F\u00fcr die Erkennung des Wortes sind nur die im Reizcomplex befindlichen dominirenden Elemente ma\u00dfgebend. Diese, als ober- und unterzeilige Oonsonanten, als Buchstaben erster Ordnung, sind nicht identisch mit den determinirenden Buchstaben Gold-scheider\u2019s, deren Idee auch weniger auf optischem Wege, als vielmehr auf phonetischem, lautsprachlichem gefasst wurde. Die Elemente, die dem Reizcomplex nicht angeh\u00f6ren, sind von secund\u00e4rer Bedeutung, da sie die Apperception nicht bestimmen. Dabei sind sie aber immer noch wichtiger als die Gesammtform.\nDen Werth, den Goldscheider den \u00bbdeterminirenden\u00ab Buchstaben beilegt, sucht Erdmann dadurch zu entkr\u00e4ften, dass sie ja nicht mehr erkannt w\u00fcrden, sobald sie an die Grenze des deutlich\nWundt Philos. Studien. XVI.\t29","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nJulius Zeitler.\nWahrnehmbaren hinausr\u00fccken. Goldscheider mag nun auch den Buchstaben in jener Region einen determinirenden Charakter beigelegt haben. Aber Erdmann w\u00fcrde mit seinem Einwand nicht die dominirenden Buchstaben widerlegen.\nWohl widersprechen die Voraussetzungen Goldscheider\u2019s den physiologischen Erkenntnissbedingungen des Lesens, sobald pr\u00e4sumirt wird, dass die \u00bbdeterminirenden\u00ab Buchstaben im ganzen Umfang einer maximalen Assimilation aufgefasst werden, nimmermehr aber, wenn die elementare Wirksamkeit der determinirenden Buchstaben auf den dominirenden Reizcomplex eingeschr\u00e4nkt wird, der im Verh\u00e4ltnis zu dem Gesammtumfang sich stets in macularen Grenzen h\u00e4lt. Das Schwergewicht liegt dabei auf den dominirenden Complexen, die Erdmann \u00bboptisch geschlossene Buchstabengruppen\u00ab nannte. Im Reizbestand des Wortes bilden eben die dominirenden Buchstaben den elementaren Reizcomplex, diese m\u00fcssen unbedingt erkannt werden, die andern brauchen gar nicht erkannt zu sein. Es handelt sich also nicht um den optischen Typus des Wortbildes, sondern um den optischen Typus des Reizcomplexes. Die Buchstaben, die denselben constituiren, nehmen stets eine hervorragende Position im Aufmerksamkeitsfeld ein, die Buchstaben, die nicht dazu geh\u00f6rig an der Peripherie des Worthildes liegen, kommen f\u00fcr die Assimilation gar nicht in Betracht, brauchen also nicht appercipirt zu werden.\nDies mag ein charakteristischer Versuch illustriren.\nDie Lage des Eixirpunktes in der Mitte des Wortes Knorpelgeschwulst\nlie\u00df nur\nK pelgeschw\terkennen,\nw\u00e4hrend die beiden dominirenden Complexe rechts und links unerkannt blieben. Beweis der Nothwendigkeit ihrer Auffassung. Der Aufmerksamkeitsumfang betrug dabei 9 Buchstaben, da sie aber nach keiner Seite hin einen dominirenden Complex umfassten, wurde das Wort nicht erkannt.\nAls eine Spielart der Hypothese determinirender Buchstaben stellt sich der \u00bbAuffassungsrhythmus\u00ab von Cron und Kraepelin1) dar, deren Ausf\u00fchrungen hier ihre Stelle finden m\u00f6gen. Dass \u00bbdie\n1) Cron nnd Kr\u00e4pelin, Ueber die Messung der Auffassungsf\u00e4higkeit. 1898.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopisohe Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n437\nBuchstaben f\u00fcr die Auffassung nicht als durchweg gleichartig angesehen werden d\u00fcrfen\u00ab, wird auch von ihnen anerkannt. Nicht zutreffend ist jedoch, dass \u00bbdie Aufmerksamkeit allgemein am st\u00e4rksten dem mittelsten Buchstaben zugewendet\u00ab sei, eine Annahme, die ebenso wie die \u00bbcentrale Fixation\u00ab bei Erdmann nicht einwandfrei ist. Kraepelin constatirt also einen \u00bbAuffassungsrhythmus\u00ab, ein Bevorzugen des jeweiligen 1. und 3. Buchstaben vor dem 2. und 4., eine Zerlegung des ganzen Wortes in paarweise Buchstabengruppen. Er nennt das die \u00bbrhythmische Gliederung\u00ab des Wortes. Ebenso soll die Auffassung der zweisilbigen W\u00f6rter huchstabirend erfolgen. Dabei erstreckt sich der Auffassungsrhythmus bis zum 6. Buchstaben regelm\u00e4\u00dfig, indem der 1., 3. und 5. Buchstabe gut, der 2., 4. und 6. schlechter erkannt werden!\nc. Die Gesammtform.\nNachdem Cat teil gefunden hatte, dass W\u00f6rter als \u00bbGanzes\u00ab gelesen w\u00fcrden, und nachdem schon Goldscheider die Wortbilder mehr ber\u00fccksichtigt hatte, als die Vertreter des buchstabirenden Lesens, legte Erdmann1) allen Nachdruck auf die Gesammtform des Wortes. Er warf die Frage auf, in welcher Weise die optischen Gesammtbilder der Schriftw\u00f6rter mit den einzelnen deutlich erkannten Buchstaben beim Lesen Zusammenwirken. Die \u00bbGesammtform\u00ab, wie sie Erdmann definirt, \u00bbumfasst in engerer Bedeutung den Inbegriff der gr\u00f6beren Z\u00fcge eines Worts, die deutlich bleiben k\u00f6nnen, auch wenn kein einzelner von den Buchstaben erkennbar ist, die das Wort constituiren, in weiterer Bedeutung schlie\u00dft sie alle Einzelheiten ein, in denen die schwarze Zeichnung der Buchstaben mit den wei\u00dfen Fl\u00e4chen des Untergrundes contrastirt.\u00ab Erdmann unterscheidet also zwischen einer groben und einer feinen Gesammtform und versteht unter der letzteren die deutlich erkennbaren Buchstaben. Er fragt nun, von welchem Formbestandtlieil das Worterkennen seinen Ausgangspunkt nimmt, von der Gruppe deutlich erkannter Buchstaben oder der groben Gesammtform. Das Worterkennen ist freilich die Hauptsache. Wird aber dabei der Unterschied zwischen apper-cipirendem und assimilirendem Lesen aufrecht erhalten, so ist klar, dass ersteres nur auf die deutlich erkennbaren Buchstaben begr\u00fcndet\n1) Erdmann-Dodge, a. a. 0. Cap. VI u. VII. S. 141\u2014185.\n29*","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nJulius Zeitler.\nwerden kann. Die gr\u00f6bere Gesammtform ist innig verschwistert mit der Assimilation. Deren Resultate sind aber auch danach. Indem Er dmann diese optische Gesammtform als ausschlaggebend bezeichnet, redet er nur den Verlesungen und Fehlassimilationen das \"Wort. Er behauptet, dass \u00bbdie gr\u00f6bere Wortform auf genommen wird, ehe die Buchstaben der W\u00f6rter selbst und mit ihnen die volle Gesammtform wahrgenommen werden kann.\u00ab Eben diese Reihenfolge ist strittig. Erdmann sagt dann, dass jene Versuche, in denen die gr\u00f6bere Wortform zugleich mit der specieller bestimmten gegeben wird, keine H\u00fclfsmittel gew\u00e4hren, durch eine nachtr\u00e4gliche Analyse des Erkannten zu entscheiden, was in ihnen den deutlich wahrgenommenen Buchstaben, was der gr\u00f6beren Gesammtform zuzuschreiben ist, weil\n1)\tdie Schriftw\u00f6rter \u00bbin vollster Deutlichkeit des Gesammtbildes\u00ab, auch wenn sie verkannt wurden, auftreten,\n2)\tweil diese Deutlichkeit eine durchaus unmittelbare ist.\nDie Schwierigkeit der Trennung ist Erdmann zuzugeben, aber sie ist nicht un\u00fcberwindlich. Die beiden Formbestandtheile sind eben nicht untrennbar und simultan gegeben.\nDie Versuche, die Erdmann mit constanter Exposition zum Beweis seines Gesanimttypus heranzog, sind hinf\u00e4llig, da er zwischen ober-, mittel- und unterzeiligen Buchstaben \u00fcberhaupt nicht unterschied, wonach er eine Entfernungsabstufung h\u00e4tte annehmen m\u00fcssen. Bei den Versuchen mit \u00bbW\u00f6rtern, die als Ganze erkennbar sind, w\u00e4hrend ihre einzelnen Buchstaben nicht erkannt werden k\u00f6nnen\u00ab, wird vorausgesetzt, dass letztere durchg\u00e4ngig gleichartig sind. Das ist aber nicht der Fall.\nDie meisten Verlesungen, mit denen Erdmann merkw\u00fcrdiger Weise seine grobe Gesammtform st\u00fctzt, beziehen sich auf unbetonte Buchstaben. Erdmann \u00fcbersieht jedoch, dass Verlesungen wie\nGeb\u00e4rdensprache zu Gardensprode oder\nvirtuelle\tzu vereitelte\noder\nbefindest du\tzu freundlichst um\nnicht beweiskr\u00e4ftiger f\u00fcr dominirende Buchstaben sein k\u00f6nnten. Dazu muss er anerkennen, dass ihm keine F\u00e4lle vorkamen, in denen \u00bbkein","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"439\nTachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\nBuchstabe des exponirten mit denen des scheinbar erkannten Wortes \u00fcbereinstimmte\u00ab.\nGewiss gelangt die grobe Gesammtform zur Mitwirkung, aber nur secund\u00e4r. Sie leistet keineswegs einem identificirenden Erkennen, sondern h\u00f6chstens einer schon betr\u00e4chtlich zur Illusion neigenden Assimilation Vorschub. Darauf beruht auch ihr sehr relativer Werth.\nDie \u00bbreproductiv ausgel\u00f6ste gr\u00f6bere optische Gesammtform\u00ab, die Erdmann aufstellt, besteht durchg\u00e4ngig aus der Wirksamkeit von secund\u00e4ren reproductiven Elementen und deren Verbindungen. Desgleichen sind alle \u00bbGed\u00e4chtnissresiduen\u00ab, die er f\u00fcr seine Theorie anf\u00fchrt, hierher zu rechnen. Erdmann hat wegen seiner hohen Expositionszeit kein Recht, die hei seinen Versuchen wirkende Reproduction als eine apperceptive zu bezeichnen. Nicht als \u00bbapperceptive Oomponenten\u00ab verschmelzen jene Elemente mit den \u00bbper-ceptiven Reizcomponenten\u00ab, sondern sie verschmelzen als secund\u00e4re assimilative und associative Oomponenten mit den prim\u00e4r reprodu-cirten Elementen und Gebilden. Auf diese Weise kommt die apperceptive Verschmelzung zu Stande, in der der ganze Vorgang gipfelt. Ueherhaupt l\u00e4sst die Erdmann\u2019sehe Expositionszeit ebensowohl assimilativen, wie associativen Processen Raum, seine Versuche fallen also durchweg unter den Begriff des assimilirenden Lesens. Die residualen Elemente, in denen die \u00bbapperceptiveErg\u00e4nzung\u00ab Erdmann\u2019s ihre Grundlage hat, geh\u00f6ren durchweg der Wirksamkeit der secund\u00e4ren Reproduction an.\nWenn die deutlich erkannten Buchstaben und Worttheile es bewirken, dass auch die undeutlichen Strecken \u00bbapperceptiv richtig erg\u00e4nzt\u00ab werden, so ist die Bedeutung jener Elemente doch eine andere als dieser. Umgekehrt: jene Elemente und Gebilde werden prim\u00e4r, apperceptiv reproducirt, die letzteren aber secund\u00e4r, assimilativ. Wenn der ganze Vorgang schlie\u00dflich in den Schlussakt einer Apperception einm\u00fcndet, so l\u00e4sst sich dieser darum doch nicht \u00bbapperceptive Verschmelzung\u00ab nennen. Wbnn \u00fcberhaupt, dann w\u00e4re der Begriff nur auf die Wirksamkeit der prim\u00e4ren Reproduction zu beziehen, die Wirkungsweise derselben bleibt aber unter den Erdmann\u2019schen Versuchsbedingungen v\u00f6llig unzug\u00e4nglich ; herrschende Elemente konnten damit gar nicht beobachtet werden; auf die f\u00fcr die stattfindenden Processe bestimmenden Elemente des Eindrucks kommt es jedoch an.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nJulius Zeitler.\nAlso: jenen Vorgang meint Erdmann gar nicht mit der \u00bbapper-ceptiven Verschmelzung\u00ab. Er hat es gegen\u00fcber den in seinen Versuchen wirksamen secund\u00e4ren Reproductionen h\u00f6chstens mit einer \u00bbassimilativen Verschmelzung\u00ab zu thun. Und das ist nicht dasselbe. Diese Bezeichnungen bestehen aber nur bei Aufrechterhaltung der Erdmann\u2019schen Voraussetzungen zu Recht.\nTrotzdem Erdmann so die Gesammtform in den Vordergrund r\u00fcckt, stellt er einmal1) die charakteristische Form der Buchstabengruppe als gleichwerthig mit der gr\u00f6beren Gesammtform hin. In einer weiteren These2) erkennt er den Werth der deutlich erkannten Buchstaben f\u00fcr die richtige Assimilation an. Dass die deutlich erkannten Buchstaben eben die charakteristische Buchstabengruppe constituiren, h\u00e4tte er nicht \u00fcbersehen d\u00fcrfen, sonst w\u00fcrde ihm die gr\u00f6bere Gesammtform nicht entscheidend f\u00fcr die Auffassung geworden sein. Ueberhaupt gehen manche Ausf\u00fchrungen einen Hinweis darauf, dass sich Erdmann in einem Dilemma befand, indem er zwischen seiner groben und seiner feinen Form hin\u00fcber und her\u00fcber schwankte, ohne einen festen Standpunkt dabei einnehmen zu k\u00f6nnen.\nIn der Discussion mit Goldscheider gibt Erdmann zu, dass es Buchstaben gibt, \u00bbvon denen aus das gesammte akustisch-motorische Lautwort erregt werden kann\u00ab. Er zieht dazu ganz richtig die Verk\u00fcrzungen und Abbreviaturen heran, \u00fcbersieht aber vollkommen, dass letztere haupts\u00e4chlich aus dominirenden Elementen zusammengesetzt sind. Er h\u00e4lt diese f\u00fcr ein nur \u00bbgelegentlich mitwirkendes\u00ab, \u00bbunwesentliches Moment\u00ab und glaubt ihre Wichtigkeit durch den Hinweis auf den Bedeutungszusammenhang, der sie leicht errathen lie\u00dfe, zu entkr\u00e4ften.\nGelegentlich spricht Erdmann von optisch \u00bbscharfgeformten\u00ab W\u00f6rtern \u2014 worin diese scharfe Form beruht, eben im dominirenden Complex, sagt er nicht. Oder er stellt optisch wohl charakterisirte W\u00f6rter in Gegensatz zu \u00bbwenig scharf charakterisirten\u00ab \u2014 aber er kl\u00e4rt nicht dar\u00fcber auf, worin dieser Charakter besteht. Dabei hebt er noch hervor, dass erstere meist richtig gelesen, letztere \u00bbnicht blo\u00df vielfach verkannt, sondern auch mehrfach \u00fcbersehen wurden\u00ab. Ein andermal wieder ist von \u00bbspeciellen Buchstabenformen\u00ab die Rede.\nMit der Thatsache, dass \u00bbweniger gewohnte Wortformen eine\n1)\tErdmann-Dodge, a. a. O. S. 184. Nr. 52.\n2)\tDies. S. 184 Nr. 53.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"441\nTachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\nbetr\u00e4chtlich geringere Lesbarkeit\u00ab haben, gibt Erdmann zu, dass ihn da seine Gesammtformen im Stich lassen. Denn ein Wort, das ich \u00fcberhaupt nicht kenne, kann ich doch nicht wohl aus einer schon vorher bekannten Gesammtform erkennen. Nun werden aber solche W\u00f6rter gelesen, trotzdem sie unbekannt sind. Welche Function hatte dabei die \u00bbGesammtform\u00ab?\nDie optische Gesammtform bietet also keine eindeutige unbedingte Bestimmung des Wortes. Dass tiefer gegangen werden muss, gibt Erdmann schon damit zu, dass er sagt, das Erkennen sei um so sicherer, je charakteristischer die Wortform ist. In der That enth\u00e4lt die optische Gesammtform als wesentlichsten Bestandtheil den dominirenden Complex, der an Erkennungswerth der Gesammtform \u00fcberlegen ist und ihr als Apperceptionsfactor vorangeht, ja sie erst constituirt. Gerade die Erkennbarkeit der einzelnen den dominirenden Complex constituirenden Buchstaben entscheidet \u00fcber die Erkennung des Wortes.\nEbenso stellt Erdmann fest, dass bei bekannten fest eingepr\u00e4gten S\u00e4tzen meist schon ein charakteristisches Wort gen\u00fcgte, um den ganzen Satz identificiren zu lassen. Bei anderen Versuchen erkannte Erdmann S\u00e4tze nur \u00bbaus central gelegenen Worten\u00ab. Welche Bolle spielten solche W\u00f6rter im Satz? Kommt hier eine Gesammtform des Satzes in Betracht?\nDie Bolle des dominirenden Complexes wird im Satz vom dominirenden Wort \u00fcbernommen, das den Schl\u00fcssel f\u00fcr den Bedeutungs-Zusammenhang liefert, an den die Erkennung von S\u00e4tzen gebunden ist.\nEin weiterer Vertreter des assimilirenden Lesens, des Lesens in Wortformen, ist Pillsbury1), der trotz seiner sehr unvollkommenen experimentellen Vorrichtungen einige wesentliche Ergebnisse erzielte. Pillsbury l\u00e4sst zwei Hauptfactoren zu gleicher Zeit wirksam sein: 1) die Wortl\u00e4nge, 2) die Lage und den Charakter der einzelnen Buchstaben. Den letzteren definirt er noch weiterhin als die relative Lage der hohen und niedrigen Buchstaben. Er bestimmt also den Werth der Buchstaben nach ihrer Lage im Wortbild und nach ihrem Charakter, schreibt aber der Wortl\u00e4nge und Wortform eine \u00fcbergeordnete Bedeutung zu, in der er h\u00f6chstens den ersten Buchstaben\n1) Pillsbury, a. a. O. S. 333\u2014394.","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nJulius Zeitler.\nnoch einigen Einfluss bel\u00e4sst. Er \u00fcbersieht dabei, dass die Lage der Buchstaben im Wort erst mit der Zugeh\u00f6rigkeit zum domini-renden Complex in Betracht kommt.\nAuch den Phasen, die Pillsbury im Assimilationsprocess unterscheidet, ist die Zustimmung zu versagen. Diese sind: 1) der allgemeine dunkle Eindruck des Wortes und einige unbestimmte Bruchst\u00fccke, 2) die Erkennung (\u00bbflash of recognition\u00ab). Er ist der Ansicht dass das Wortbild das urspr\u00fcngliche sei, aus dem erst die einzelnen Buchstaben festgestellt werden. Aber diese Buchstaben bleiben nur auf Grund der Assimilation \u00bbverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig unbemerkt\u00ab. Gerade \u00bbthe small part of the word really seen\u00ab ist ma\u00dfgebend. Pills-bury gibt hier zu, dass die Association zwischen bestimmten erkannten Buchstaben und dem Wortganzen die Assimilation bewirke. Auch er spricht von einem Wortcharakter, auf dessen Definition er sich aber nicht weiter einl\u00e4sst. An anderer Stelle leugnet er wieder den Einfluss einzelner Buchstaben, auf denen doch der Wortcharakter beruhen m\u00fcsste.\nDass die Gesammtform eines Wortes nicht entscheidend ist, und dass die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erkennung tiefer gesucht werden m\u00fcssen, zeigen die doppelten Assimilationen des Beobachters Dr. M., wie z. B.:\nPhalanst\u00e8re\tPhantasie oder\nPhalanst\u00e8re\nSkioptikon\tSkorpion oder\nSkioptikon\nPygmalion\tPygm\u00e4e oder\nPygmalion\nbei denen es ihm unm\u00f6glich war, zu entscheiden, welche er f\u00fcr richtig hielt. Der optische Typus ist nur geeignet, zu falschen Assimilationen zu verf\u00fchren. Der Schwerpunkt r\u00fcckt in die leitenden Elemente hinein, die den Typus constituiren.\nNat\u00fcrlich kommt die Gesammtform mit in Betracht, aber ihre Wesentlichkeit verschiebt sich um eine Instanz nach dem Ergebniss, dass in dem optischen Typus Factoren enthalten sind, die ihn erst constituiren: von diesen dominirenden Eactoren, deren Gesammtheit den Eeizcomplex bildet, wird erst der optische Typus bestimmt. Die Erkennung eines Wortes ist an den elementaren Complex gebunden; Bestandst\u00fccke, die au\u00dferhalb desselben fallen, sind unwesentlich und","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n443\ndeterminiren die Assimilation nicht. Hinwiederum ist diejenige Assimilation, die sich nur auf den Gesammttypus hin einstellt, regelrecht eine falsche. Mit dem vagen allgemeinen Begriff \u00bbGfesammtform\u00ab kann hier \u00fcberhaupt nicht operirt werden.\nIn der Reihe der Versuche von den sinnlosen Buchstabenverbindungen bis zu den gel\u00e4ufigsten W\u00f6rtern und S\u00e4tzen spielen die dominirenden Elemente eine durchg\u00e4ngige Rolle, die dominirenden Complexe aber von da ah, wo sinnvolle Silben auftreten, bis die Erkennung von W\u00f6rtern und S\u00e4tzen ganz den sinnvollen Complexen zuf\u00e4llt.\nDass wir seit Einf\u00fchrung der \u00bbNormalw\u00f6rtermethode\u00ab durch die P\u00e4dagogik in Worthildern lesen, kann die Theorie der Gesammt-formen nicht st\u00fctzen. Uebrigens wies schon Cattell auf diese neuere Lehrmethode hin, nach der fr\u00fcher W\u00f6rter gesprochen, gelernt und gelesen als in Buchstaben zerlegt werden. Aber bei dieser p\u00e4da,-gogischen Methode handelt es sich um etwas ganz anderes, als' um eine Psychologie des Lesens. Au\u00dferdem muss im Bereiche einer psychologischen Theorie die Competenz der P\u00e4dagogik abgelehnt werden.\n11. Die Aehnlichkeits-Assimilation.\nDass die Gesammtform eine den dominirenden Elementen untergeordnete Rolle spielt, beweisen die determinirten falschen Assimilationen, in denen Wort und Assimilation nach den dominirenden Buchstaben v\u00f6llig \u00fcber einstimm en und nur die indifferenten Zwischenst\u00fccke verschieden sind. Diese Eixirung der richtigen dominirenden Elemente in der falschen Assimilation beweist ihre grundlegende Bedeutung gegen\u00fcber der Gesammtform, in der keinerlei Momente liegen, um eine wenigstens nach Elementen determinate Aehnlich-keitsassimilation hervorzurufen.\nLichtenberg erz\u00e4hlt bekanntlich von einem Gelehrten, der das klassische Alterthum so sehr liebte, dass er statt \u00bbAngenommen\u00ab immer \u00bbAgamemnon\u00ab las. In dieser Aehnlichkeitsassimilation, die noch dazu eine interessante Permutation enth\u00e4lt, bezeugt schon Lichtenberg die Wirkung dominirender Buchstaben.\nPillshury constatirt ,die Aehnlichkeitsassimilation als jene falsche Assimilation, die sich auf Grund der Uebereinstimmung ein-","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nJulius Zeitler.\nzelner Merkmale einstellt. Erdmann nennt sie \u00bbVerkennung\u00ab, daneben stellt er einen Begriff \u00bbVerlesung\u00ab im engeren Sinne auf. Die Zutheilung der ersteren zum optischen Gebiete, der letzteren zum lautsprachlicken ist unhaltbar, da beide in der Assimilation untrennbar sind und jede Verlesung auf eine Verkennung zur\u00fcckzuf\u00fchren sein d\u00fcrfte. Auch h\u00e4tten die Substitutionen, die Erdmann bei seinen Versuchen mit sinnlosen Buchstabengruppen bemerkte, ihn auf den Gedanken bringen k\u00f6nnen, dass die alphabetischen Zeichen nach ihrer Aehnlichkeit fest gruppirt werden k\u00f6nnen. Dagegen er-, kannte schon Kraepelin, dass die Wortverwechslungen auf der Ueber-einstimmung mehr oder weniger zahlreicher einzelner Buchstaben beruhen, ohne aber weitere Untersuchungen dar\u00fcber beizubringen.\nDie falschen Assimilationen, in denen aber die dominirenden Bestandst\u00fccke enthalten sind, gewinnen dadurch einen besonderen Werth, weil sie die Wichtigkeit der dominirenden Elemente befestigen.\nDaf\u00fcr seien als Beispiele angef\u00fchrt:\nEpaminondas\tEpimenides L.\nPhalanst\u00e8re\tPolarstern L.\nHedschra\tHeidschnuk Dr. M.\nKandelaber\tKanadabalsam Dr. M.\nBitardando\tBetirande L.\nPraeglacial\tPortugal L.\nHudsonbai\tHasdrubal L.\nKosekante\tKosaken L.\nHaiduken\tHalunken L.\nKreisartige\tKartonage Dr. M.\nKleopatra\tKlephten oder Karpathen Dr. M.\nLepidodendron\tLeoparden L.\nHermaphroditismus\t. . . prohibitismus L.\nIndvdalit\u00e4t\tLavendel\u00f6l\n(Individualit\u00e4t) oder\tInvalidit\u00e4t\noder\tIndividualit\u00e4t Dr. M.\nGebednspache (Geberdensprache)\tGr\u00fcnspecht Dr. M.","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n445\nGed\u00e4chtniss\tGoldschnitt\tL.\nYalutaregulirung Voluntary. .\t.\tA.\nVrmpmzy\tVampyr L.\nAgoraphobie\tAgraphie Dr.\tM.\n12. Die Assimilationsversuche.\nDie Wirkung der Assimilation l\u00e4sst sich haupts\u00e4chlich an ver\u00e4nderten Objecten feststellen. Schon Pillsbury arbeitete in dieser Richtung. Er ver\u00e4nderte die Objecte in dreifacher Weise:\n1)\tdurch Auslassung.\n2)\t\u00bb\tSubstitution.\n3)\t\u00bb\tVerst\u00fcmmelung.\nOb in dieser Anordnung der Grad der Leichtigkeit der Assimilation mitgegeben sei, muss noch dahingestellt bleiben.\nJedenfalls ist den Versuchen Pillsbury\u2019s mit Auslassungen von Buchstaben entgegenzuhalten, dass die planlose Eliminirung deutlichere Ver\u00e4nderungen hervorruft, als die mit bestimmter Absicht erfolgende. Wenn er schon in zwei Fehlern das Maximum erblickte, \u00fcber das hinaus keine Erkennung mehr m\u00f6glich sein sollte, so setzte er die Ziffer viel zu niedrig an. Es k\u00f6nnen, allerdings unter besonderen Bedingungen, bis zu 8 Buchstaben ver\u00e4ndert sein, ohne dass der Eintritt der gew\u00fcnschten Assimilation gest\u00f6rt w\u00fcrde.\nDie Variation der Bedingungen in unsern Assimilationsversuchen wurde erreicht:\n1)\tdurch Ver\u00e4nderung (Substitution),\n2)\t\u00bb Auslassung.\nDie Versuche der ersten Gruppe wurden zu dem Zwecke gemacht., zu eruiren, bis zu welchem Grade ein verst\u00fcmmeltes Wortbild noch assimilirt werden konnte. Die Schriftzeichen wurden so ver\u00e4ndert, dass je ein Buchstabe mit einem andern aus seiner oder einer benachbarten Determinationsklasse vertauscht wurde. Der Plan der Versuche war somit gegeben, indem\n1)\tmittelzeilige Buchstaben,\n2)\tober- und unterzeilige Buchstaben,\n3)\tbesonders dominirende \u00bb\n4)\theterogene Buchstaben variirt wurden.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nJulias Zeitler.\nDabei l\u00e4sst sich voraussehen, dass die ersten 3 Gruppen sich langsam nach der Assimilationsleichtigkeit abstufen, so dass die dritte mehr objective Feststellungen und weniger Assimilationen enth\u00e4lt, als die erste, dass aber die letzte Gruppe wegen der Heterogenit\u00e4t der substituirten Buchstaben Assimilationen nicht mehr zulassen werde.\nDies tritt auch darin hervor, dass sich die Procentziffern der Assimilationen folgenderma\u00dfen abstufen:\n1.\tGruppe\na)\tYocale.........................\nb)\tmittlere Consonanten...........\n2.\tGruppe\nober- und unterzeilige Consonanten\n3.\tGruppe\na)\tdominirende Buchstaben ....\nb)\tx y, z.........................\nDr. M.\tD.\tL.\tA.\n90\t95\t80\t70\n80\t80\t78\t60\n81\t81\t68\t62\n77\t69\t33\t46\n54\t63\t63\t40\nDie Ver\u00e4nderung der Buchstaben wurde nach folgenden gruppenweise angeordneten Beispielen vorgenommen; in welchen dem links stehenden Vexirwort das rechts stehende Assimilationswort entpricht.\n1. Gruppe.\nNadol\nStaut\nLeot\u00fcre\nSignul\nGronze\nGednl\nKinche\nFasbe\nKnankbeit\nSywpathie\nMeirong\nFniede\nNadel\nStaat\nLect\u00fcre\nSignal\nGrenze\nGeduld.\nKirche\nFarbe\nKrankheit\nSympathie\nMeinung\nFriede.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n447\n2. Gruppe.\nYieb\tVieh\nSchtaf\tSchlaf\nLopik\tLogik\nEolpe\tFolge\nKulfur\tKultur\nKrafl\tKraft\nG\u00f6lhe\tG\u00f6the\nStaliv\tStativ\nProdlem\tProblem\nSch\u00f6nbeit\tSch\u00f6nheit\nBeisgiel\tBeispiel.\n3.\tGruppe.\nSculqtur\ta. Sculptur\nSckichsal\tSchicksal\nMethobe\tMethode\nPerceqtion\tPerception\nEr\u00fcdling\tFr\u00fchling\n\tb.\nHyxterie\tHysterie\nSgmptom\tSymptom\nEssag\tEssay\nMusix\tMusik\nCruxifiz\tCruzifix\nersten 3 Gruppen in den \u00fcberwiegenden F\u00e4llen das\t\nurspr\u00fcngliche Wortbild richtig assimilirt wird, kann keine Unterst\u00fctzung f\u00fcr das assimilirende Lesen sein. Denn der Erfolg war bezweckt durch die planm\u00e4\u00dfige Substitution von Buchstaben in gel\u00e4ufigsten kurzen oder mittelgro\u00dfen W\u00f6rtern. Es sollte damit der Deutung der dominirenden Buchstaben f\u00fcr die Assimilation nachgegangen werden. So lange jene analog ver\u00e4ndert werden, tritt sie correct ein, sobald sie heterogen ver\u00e4ndert werden, ist ihre Wirkung zu Ende und die falschen Buchstaben werden .appercipirt.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nJulius Zeitler.\nDie 4. Gruppe liefert nur die Best\u00e4tigung f\u00fcr die richtigen Feststellungen in den ersten drei Gruppen. In diesen liegen drei M\u00f6glichkeiten vor:\n1.\tDas Wortbild wird assimilirt, ohne dass der falsche Buchstabe erkannt wird.\n2.\tDer Buchstabe wird zwar erkannt, wird aber vom Wortbild umcorrigirt. Die Beobachter glauben in diesem Falle selbst eine Illusion gehabt zu haben. Der Gesammteindruck erweist sich als m\u00e4chtiger und die Assimilation geht ungehindert von statten.\nEinige Beobachter sagten dabei aus, \u00bbdie Buchstaben w\u00fcrden zun\u00e4chst in einer regellosen willk\u00fcrlichen Folge gesehen, dann nach ihrer Reihenfolge geordnet, mit den sich einstellenden apperceptiven Erg\u00e4nzungen versehen und so assimilirt\u00ab. Dem liegt eine T\u00e4uschung zu Grunde. Der Beobachter sah den objectiven Buchstaben, konnte ihn aber nicht in Einklang mit dem assimilirten Wortbild bringen. Dadurch entstand auf einen Moment der Eindruck der Regellosigkeit, w\u00e4hrend gleich darauf die Assimilation obgesiegt hatte. Dann wurde der Thatbestand umgekehrt dargestellt. Der objective Buchstabe wurde zwar bezeichnet, aber als subjectiv, illusionirt, und ausdr\u00fccklich als unrichtig angegeben.\n3.\tDer Buchstabe wird appercipirt, als Thatsache constatirt. In diesem Falle hemmt er die Assimilation sofort und als Resultat wird nur eine Reihe sinnlos zusammengesetzter Buchstaben aufgefasst. Je determinirender ein Buchstabe, je bevorzugter seine Position im Wortbild, desto mehr st\u00f6rt er den Zustrom der gewollten Schriftbildvorstellung. Hier kann von einem Lesen des \u00bbGanzen\u00ab nicht mehr die Rede sein, denn der Beobachter ist nun gezwungen, die Buchstaben zu constatiren. Ist der falsche Buchstabe ein besonders dominirender, so zieht er vor allem die Aufmerksamkeit auf sich und haftet so hartn\u00e4ckig im Vordergr\u00fcnde der Vorstellungen, dass \u00fcberhaupt keine Assimilation sich einstellt, sondern die Apperception nur die domi-nirenden Buchstaben aufnimmt.\nDie Voraussetzung, dass bei heterogener Ver\u00e4nderung von domi-nirenden Buchstaben die Substitutionen erkannt werden, traf fast allgemein zu ; nur bei Beobachter D. war die Macht der Assimilation noch so stark, dass er in den \u00fcberwiegenden F\u00e4llen die Buchstaben \u00fcbersah. Dagegen stellten die \u00fcbrigen Beobachter ausnahmslos die","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n449\nVer\u00e4nderungen fest. Falls Dr. M. sie nicht feststellte, so sah er den Buchstaben \u00fcberhaupt nicht, sondern nahm eine Auslassung an.\nNicht selten war dabei eine Assimilation zu beobachten, die ganz charakteristisch verlief. Meistens constatirte der Beobachter eine merkbare Pause zwischen der Erkennung des Buchstaben und der Assimilation. Hatte nun der Beobachter den falschen Buchstaben zwar erkannt, aber daf\u00fcr andere, benachbarte Buchstaben gef\u00e4lscht, so hatte er von vornherein ein corrumpirtes Buchstahenskelett. An dieses nun, und nicht an irgend welche Merkmale, heftete sich die Assimilation, die danach als Blusion zu charakterisiren w\u00e4re.\nEs sollen nun die Versuche, in denen der erkannte ver\u00e4nderte Buchstabe die Assimilation hinderte und den Fluss der Wortvorstellungen in ein seiner Lage entsprechendes Gebiet ablenkte, inter-pretirt werden.\nDie Erkennung des falschen Buchstaben lie\u00df, wie geschildert, die bezweckte Assimilation nicht aufkommen. Er verband sich mit dem Eindruck von Wortform und Wortl\u00e4nge.\nSo konnte zweierlei eintreten:\n1)\twurde der Buchstahenhestand als sinnloses Gebilde gelesen,\n2)\tergab das Assimilationsproduct eine sinnvolle Verschmelzung der objectiven Elemente.\nAls Beispiele seien angef\u00fchrt:\nPhgsick\tPlagwitz\nSgmtom\tSignum\nMaterei\tMaterie\nEssag\tEssig\nLopik\tLepra\nKulfur\tKupfer\nKrankheit\tKrankbett\nPankt\tPaket\nMusix\tMastix.\nDie meisten dieser Ver\u00e4nderungen betrafen dominirende Buchstaben, die zum dominirenden Complex geh\u00f6rten. Sobald die Buchstaben also \u00fcberhaupt erkannt wurden, schufen sie ganz neue Assi-nailationsbedingungen. Der Complex, der sich als Basis f\u00fcr die Assimilation anbot, wirkte von vornherein bestimmend.","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nJulius Zeitler.\nDie Phasen, in denen dieser Vorgang verl\u00e4uft, sind identisch mit denen der gew\u00f6hnlichen Assimilation, mit dem Unterschied, dass hier die Basis der regelrecht dominirende Complex ist, dort aber ein willk\u00fcrlich verst\u00fcmmelter, der nur in einzelnen dominirenden Elementen mit den richtigen \u00fchereinstimmt. Die erste Phase ist die Feststellung des Complexbestandes, die zweite die Assimilation, die nach dem Princip der gr\u00f6\u00dferen Aehnlichkeit erfolgt.\nDie Lage der ver\u00e4nderten Buchstaben ist nur bestimmend, so weit sie dem dominirenden Complex angeh\u00f6ren. Hier kann mit Sicherheit eine entsprechende Assimilation erwartet werden.\nDiese Versuche gehen Aufschluss dar\u00fcber, dass die Buchstaben durchaus nicht so fest aneinander gekettet sind, als es scheint; erst der Sinn schmiedet sie zusammen. Im Gegentheil scheinen die Buchstaben des so festgef\u00fcgten Wortbildes doch nur in einer losen, lockern Verkn\u00fcpfung zu stehen.\nDas nur optische Wortbild ist fortw\u00e4hrend geneigt, in seine Elemente zu zerfallen, zusammengehalten wird es nur durch das Gerippe1), das die dominirenden Buchstaben bilden. Dabei k\u00f6nnen die mittleren und unbetonten Buchstaben noch ganz regellos per-mutirt werden.\nDas Wortbild bleibt unsicher, labil, wenn es nicht sofort seine Bedeutung empf\u00e4ngt. Erst durch den Sinn wird das Buchstabengef\u00fcge gefestigt.\nDie normalen Versuche dieser Art beschr\u00e4nkten sich auf Ver\u00e4nderungen von h\u00f6chstens zwei Buchstaben. Um mit bedeutenderen Ver\u00e4nderungen experimentiren zu k\u00f6nnen, war es nothwendig, die Suggestion des richtigen Wortbildes mit der Exposition zu verbinden.\n13. Die Suggestions-Assimilation.\nZu den Versuchen wurden 2 Beihen von Objecten hergestellt, eine von richtigen und eine von falschen. Die Substitutionen und\n1) Einer \u00e4hnlichen bildlichen Ausdrucksweise bediente sich Jacob Grimm, Deutsche Grammatik S. 36: \u00bbMan darf die Consonanten Knochen und Muskeln der Sprache nennen; die Vocale sind das, was diese festen Theile durchstr\u00f6mt, Blut und Athem. Die Consonanten scheinen gleichsam den Leib, die Vocale die Seele herzugeben, auf den Consonanten beruht die Gestalt, auf den Vocalen die F\u00e4rbung.\u00ab","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n451\nVerst\u00fcmmelungen variirten bei letzteren zwischen 2 und 8 Buchstaben. Der Anfangsbuchstabe blieb stets unver\u00e4ndert, auch bei tieferen Eingriffen in das Bucbstabengef\u00fcge wurde der dominirende Complex m\u00f6glichst unversehrt erhalten.\nDie Versuche gingen so vor sich, dass zuerst die richtigen Wortbilder exponirt wurden, die der Beobachter gel\u00e4ufig las. Dabei war er nicht beauftragt, sie sich besonders einzupr\u00e4gen, da jede Voreingenommenheit der Versuchsperson ausgeschlossen bleiben musste. Die falschen Wortbilder wurden hierauf in der Weise exponirt, dass sie dem ihnen entsprechenden richtigen Wortbild in einem Abstand von 3 Expositionen folgten. Durch diese geringe Unterbrechung war dessen Reproduction wesentlich erleichtert. Das vorhergehende Wortbild wirkte als Suggestion zur Beeinflussung des ihm folgenden falschen Wortbildes.\nIn der 1. Versuchsgruppe wurden z. B. folgende Ver\u00e4nderungen angewendet :\nKitiwxuhscheru\tKilimandscharo\nIrronumstatt\tIrrenanstalt.\n(4)\t\nOhxtbauwzuckt\tObstbaumzucht\n(4)\t\nTrnuhxnckt\tTrunksucht\n(6)\t\nzweiten :\t\nApporeoptien (4)\tApperception\nRcprednetieu\tReproduction\n(6)\t\nHallneiuotiou\tHallucination\n(5)\t\nSowuxwbnlic\tSomnambulie\n(6)\nIn einer zweiten Versuchsreihe folgte das falsche Object in einer unmittelbaren Exposition dem prim\u00e4ren Eindruck. Durch lautes Zurufen des Wortes vor der Exposition wurde der Eindruck noch\nverst\u00e4rkt.\nWenn auch zun\u00e4chst die Beobachter in zufriedenstellender Weise assimilirten, so wurden sie doch bald unruhig, fanden die Eindr\u00fccke \u00bbsehr komisch\u00ab und stellten auch bald falsche Buchstaben fest. Doch\nWundt, Philos. Studien. XVI.\n30","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nJulius Zeitler.\nwaren dies, wenn das Wortbild \u00fcberhaupt assimilirt wurde, nie mehr als zwei, und die Unsicherheit, die \u00fcber diese herrschte, ging aus den zahlreichen Angaben von Ver\u00e4nderungen hervor, in F\u00e4llen, wo objectiv gar nichts oder doch anders ver\u00e4ndert worden war. Eingeschobene Vexirversuche stellten dabei die subjective Unsicherheit der Angaben in besonders helles Licht.\nDer Unterschied von den normalen Assimilationsversuchen besteht nur darin, dass eine weitaus gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Buchstaben ver\u00e4ndert ist und dass dem Beobachter ein objectiver Eindruck vorhergegeben wird, der ihm die richtige Reproduction aufzwingen soll.\nDie Versuche ergaben zwei F\u00e4lle:\n1.\tDie Feststellung des objectiven Bestandes. Die falschen Buchstaben wurden einfach gelesen, wie sinnlose Gebilde.\n2.\tDie Assimilation des Wortbildes\na)\tohne Feststellung falscher Bestandteile,\nb)\tmit Feststellung derselben, aber stets nur in begrenzter Weise.\nNach den Aussagen der Beobachter d\u00fcrfte der Process auf folgende Weise verlaufen. Voraussetzung ist, dass trotz der Verst\u00fcmmelung des Wortbildes die Wortform erhalten geblieben ist, was dadurch erreicht wird, dass die Buchstaben nur innerhalb ihrer Aehnlichkeits-reihe ver\u00e4ndert werden. Zun\u00e4chst wirkt der objective Eindruck, der dominirende Complex und die Gesammtform. Die falschen Buchstaben werden gelesen. Ist aber der erstere intact, so erfolgt die Assimilation augenblicklich; das reproducirte Wortbild schiebt sich \u00fcber das aufgefasste, verdeckt es und wandelt die falschen Buchstaben und Silben in ad\u00e4quate richtige um. Vom objectiven Bild bleibt nur ein \u00bbkomischer Eindruck\u00ab \u00fcbrig, \u00fcber dessen Ursachen aber weiter nichts ausgesagt werden kann. Der ganze Vorgang tr\u00e4gt deutlich den Charakter der Illusion, indem sich das suggerirte subjective Wortbild \u00fcber das objective ver\u00e4nderte schiebt und es in seinem Sinne umwandelt, w\u00e4hrend es doch eigentlich in seinem objectiven Best\u00e4nde gelesen werden sollte.\nDass der Einfluss der Assimilation und Reproduction hier so gewaltig steigt, k\u00f6nnte noch keinen Beweis daf\u00fcr abgehen, dass das Worthild aus der \u00bbGesammtform\u00ab erkannt werde. Im Gegentheil kommt es auf den Grad der Verst\u00fcmmelung des dominirenden Complexes an, auf dem die Auffassung wesentlich beruht. Die Ver\u00e4nde-","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n453\nrung desselben f\u00e4llt schwerer ins Gewicht als die Ver\u00e4nderung der Gesammtform. Im ersteren Fall, bei sonst gleichen Factoren, wird entweder der sinnlose Complex buchstabirt oder falsch assimilirt, im letzteren Fall erzwingt der richtige dominirende Complex die gew\u00fcnschte Assimilation. Ohne vorherige Beeinflussung w\u00e4ren die Objecte bei der gro\u00dfen Anzahl falscher Buchstaben nur buchstabirend festgestellt worden.\nUnter den Beobachtern zeigten sich charakteristische Unterschiede. In einzelnen F\u00e4llen tauchten die falschen Buchstaben erst sp\u00e4ter auf als die Assimilation; in andern gingen sie ihr voran, so dass zuerst eine Assimilation im Sinn der falschen Buchstaben erfolgte, bis erst durch Reflexion die gew\u00fcnschte Assimilation herbeigeholt wurde.\nSowie die Beobachter eine Unregelm\u00e4\u00dfigkeit bemerken, sind sie auch schon geneigt, an der Stelle der unsicher erkannten Elemente ver\u00e4nderte einzuschieben. Ueberhaupt sind subjective Eindr\u00fccke schwer auszuschlie\u00dfen; denn sobald der Beobachter wei\u00df, dass er get\u00e4uscht werden soll, wird er mit der Absicht, sich nicht t\u00e4uschen zu lassen, seine Eindr\u00fccke modificiren. Doch sind die Aussagen stets leicht zu controlliren durch den Zusammenhalt des objectiven Bestandes mit den Aussagen des Beobachters.\nDiese d\u00fcrften eine ausf\u00fchrlichere Angabe verdienen.\nBei Beobachter L. war charakteristisch, dass die objectiven falschen Buchstaben geraume Zeit sp\u00e4ter im Bewusstsein auftauchten, als die Assimilation. Diese war das Prim\u00e4re, dann stiegen erst einzelne objective Elemente daraus hervor. Die erkannten Buchstaben lagen meist im ersten Drittel des Wortes. In den meisten F\u00e4llen wurde \u00fcberhaupt nur ein Buchstabe festgestellt, auch wenn bis zu 0\u20148 Buchstaben ver\u00e4ndert waren.\nWenn in der Assimilationsexposition schwere Verst\u00fcmmelungen \u00fcberwogen, constatirte Beobachter D. einen \u00bbfremdartigen Eindruck, der mit dem suggerirten nicht im Geringsten zusammenhing.\u00ab Die Aussage lautete sonst h\u00e4ufig auf \u00bbUnregelm\u00e4\u00dfigkeiten\u00ab, \u00bbfalsche Con-sonanten\u00ab, aber genaueres lie\u00df sich nicht feststellen. Die objectiv falschen Buchstaben traten unmittelbar und urspr\u00fcnglich mit in die Assimilation hinein und wurden als falsch constatirt. Traten sie in gr\u00f6\u00dferer Anzahl auf, so unterdr\u00fcckten sie die suggerirte Assimilation von vornherein.\n30*","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nJulius Zeitler.\nDer erfahrene Beobachter Dr. M. constatirte so scharf nach dem Sinneseindruck, dass die Assimilation ohne vorhergehende Suggestion \u00fcberhaupt nicht h\u00e4tte eintreten k\u00f6nnen. Er stellte zuerst die Buchstaben fest und dann erst die Gesammtform. Erst auf Grund der Buchstaben stellte sich die Assimilation ein. Waren die falschen Buchstaben jedoch zu zahlreich und verdeckten sie den dominirenden Complex vollst\u00e4ndig, so dr\u00e4ngten sie sich so unmittelbar zur Apperception, dass die Assimilation nicht eintrat, auch wenn sie noch so stark suggestiv eingesch\u00e4rft worden war.\n14. Assimilationsversuche mit Auslassungen.\nAuslassungen von Buchstaben im Wortbild haben eine verschiedene Wirkung, je nachdem es dominirende oder unbetonte Buchstaben, stark hervortretende Consonanten oder Vocale sind.\nBei Auslassung von unbetonten Buchstaben kann dreierlei eintreten :\n1)\tdie unmittelbare Assimilation ohne irgend ein Bewusstsein von fehlenden Elementen,\n2)\tdie Feststellung des Bestandes, halb als fremdartiger Eindruck, halb als sinnloser Complex, worauf sich erst die Assimilation einstellt,\n3)\tdie Wirkung der K\u00fcrze des Wortbildes gegen\u00fcber der Assimilation, woraus auf fehlende Elemente geschlossen wird, ohne dass sich eine bestimmte Angabe bietet, da die Assimilation in Folge ihres raschen Eintritts den objectiven Eindruck einfach \u00fcberw\u00e4ltigt.\nIn allen diesen F\u00e4llen stellt sich aber die richtige Assimilation ein; sogar bei Vorwissen des Beobachters, dass Theile des Wortbildes' fehlen, ist er nicht im Stande, dieselben genau anzugeben, falls nur die Assimilation hinl\u00e4nglich rasch sich einstellte, um den objectiven Eindruck zu verwischen.\nFallen auch 3\u20144 unbetonte Buchstaben im Wortbild aus, so vermag der Beobachter doch selten mehr als einen davon namhaft zu machen. Die dominirenden Buchstaben constituiren das Gerippe des Schriftbildes, das unverletzt sein muss, und das doch eine Assimilation erweckt, auch wenn die Vocale g\u00e4nzlich fehlen. Die Vocale sind uns nur Leseh\u00fclfen, eigentlich brauchten wir sie gar nicht, wir","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"455\nTachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\nlesen in Consonanten, d. h. in dominirenden Buchstaben und f\u00fcllen jede Abbreviatur sogleich mit Yocalen aus.\nAls Beispiele der ersten Versuchsgruppe seien angef\u00fchrt:\nMnmotehnik\t(2)\tMnemotechnik\nSterskop\t(2)\tStereoskop\nIndvdalit\u00e4t\t(3)\tIndividualit\u00e4t\nGebednspache\t(2)\tGeberdensprache\nAmsphre\t(3)\tAtmosph\u00e4re.\nDer zweiten:\t\t\nKlepomanie\t(1)\tKleptomanie\nPapiesreifen\t(2)\tPapierstreifen\nGesihsfed\t(3)\tGesichtsfeld\nGarenbume\t(2)\tGartenblume.\nFallen dagegen dominirende Buchstaben aus, so st\u00ab\t\t\nVorgang so dar:\t\t\n1. Die Fehler bleiben unerkannt und es wird assimilir\t\t\nwird angegeben, dass Vocale fehlen. Es l\u00e4sst sich vermuthen, dass auch im reproducirten Wortbild die Elemente eine verschiedene Valenz besitzen; die betonten Elemente haben mehr Wahrscheinlich-\nkeit, zur Geltung zu kommen, als die unbetonten.\n2.\tDie Auslassung wird erkannt und nach einer merkbaren Pause tritt die Assimilation ein.\n3.\tDie Auslassung wird erkannt und es stellt sich eine falsche oder \u00fcberhaupt keine Assimilation ein.\nIn der Gruppe der unbetonten Auslassungen ist auch der mit der Methode vertraute Beobachter nicht im Stande, mit Sicherheit anzugehen, in welchen Elementen ihm das Worthild mangelhaft geschienen habe. Auch wenn er unmittelbar sieht, dass das Wort zu kurz ist, so wei\u00df er doch nie, welche Buchstaben darin fehlen.\nJedenfalls ist die Beobachtung Pillsbury\u2019s, dass Auslassungen immer constatirt w\u00fcrden, nicht ganz einwandfrei, denn es handelt sich sehr darum, was f\u00fcr Buchstaben es sind, die ausgelassen werden, welche Position sie im Worthild einnehmen.\nBei Beobachter L. waren die Versuche in dem Sinne erfolgreich, dass er in der ersten Gruppe bei keiner Exposition eine Auslassung constatiren konnte, in der zweiten Gruppe wenigstens in der H\u00e4lfte","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nJulius Zeitler.\nder F\u00e4lle, wobei er dennoch w\u00e4hrend der ganzen ersten Versuchsreihe im guten Glauben an die objective Intactheit der Schriftbilder befangen blieb. Die Angaben waren meist ganz illusorisch, indem Buchstaben fehlen sollten, die objectiv vorhanden, oder wenn Silben als nicht gesehen bezeichnet wurden, die den fehlenden gerade benachbart waren. Was er mit Sicherheit sagen konnte, war schlie\u00dflich nur, dass das Wortbild zu kurz sei, um richtig sein zu k\u00f6nnen.\nBeobachter D. konnte nur angeben, das Wort habe \u00bbetwas Schwieriges\u00ab, es sei \u00bbzu kurz\u00ab, es \u00bbfehle\u00ab ein oberzeiliger Buchstabe, es \u00bbfehle sehr viel\u00ab, und \u00bbes sehe sehr verschroben aus\u00ab.\nBebachter A. konnte, sobald er nur assimilirt hatte, seine Aussagen ebensowenig bestimmt abgeben. Meistens jedoch stellte er den Buchstabenbestand fest und constatirte die Auslassungen. Darin kam ihm als Amerikaner die geringere Gel\u00e4ufigkeit der Wortbilder zu gute. Jedenfalls war die objective Feststellung das Prim\u00e4re und dann erfolgte erst m\u00f6glicher Weise die Assimilation, wobei nat\u00fcrlich die Fehler blieben und nicht ausgemerzt wurden.\nZwischen der Apperception der Buchstabengruppe und der Assimilation des Wortbildes war ein deutliches Zeitintervall \u2014 wiederum eine Thatsache, die auf die Succession des Vorganges hinweist. Nur waren in diesem Falle die objectiven Elemente so \u00fcberm\u00e4chtig, dass ihnen die Assimilation, die sie weckten, nur zugeordnet wurde, ohne dass diese ihrerseits auf sie zur\u00fcckwirken konnte. War dagegen die Assimilation zuerst da, so gingen die objectiven Elemente in ihr auf, ohne dass Ver\u00e4nderungen oder Mangelhaftigkeiten an ihnen erkannt werden konnten.\nDer Unterschied, ob L\u00fccken blieben oder ob nach Auslassungen das Wortbild zusammengezogen war, konnte nicht bemerkt werden.\nEs ist hier noch einzuschalten, dass die richtige Assimilation von fehlenden dominirenden Buchstaben vorzugsweise nur bei paarweiser Verkn\u00fcpfung mit einem anderen dominirenden Element einzutreten scheint. Fehlt das weniger wichtige Element von beiden dominirenden Gliedern, so wird assimilirt, fehlt das wichtigere, wird buchstabirt.\nDas werthvollste Ergebniss lieferte bei diesen Versuchen Beobachter Dr. M.\nEs muss vorausgeschickt werden, dass der Beobachter die","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n457\nMethode kannte und wusste, dass ganze St\u00fccke aus den Wortbildern herausfielen; er wusste auch, was mit der Versuchsreihe bezweckt war, und kannte ebenso die daran sich kn\u00fcpfende Theorie.\nDer Beobachter liest bei 10 s von sinnlosen Complexen ca. 10 Buchstaben sicher, in diesem Falle aber stellte er nicht einmal die objective Buchstabenreihe fest. Gelegentlich der Exposition von gel\u00e4ufigen W\u00f6rtern, in denen unbetonte Elemente ausgelassen waren, brachte ihn das Bestreben, den objectiven Bestand festzustellen, dazu, heterogene Buchstaben hinein zu assimiliren.\nDies konnte nur auf Grund einer starken subjectiven Beeinflussung m\u00f6glich sein. Der Wille, sich nicht t\u00e4uschen zu lassen, hatte den Erfolg, dass nun der Beobachter sich selbst t\u00e4uschte.\nDen Beweis daf\u00fcr erbrachte die Einschiebung von Vexirver-suchen, d. h. Wortbildern, die der Beobachter in fr\u00fcheren Versuchsreihen sofort bei der ersten Exposition aufgefasst hatte. Dass die Kenntniss der gegenw\u00e4rtigen Versuchsreihe seinen Bewusstseinszustand ver\u00e4ndert hatte, wurde damit bewiesen, dass der Beobachter keines dieser Worte unverst\u00fcmmelt und unver\u00e4ndert sah, ja, dass er sie zuerst buchstabirte und falsche Buchstaben in den objectiven Bestand hinein assimilirte. In der Meinung, dass an dem Wort etwas falsch sein m\u00fcsse, wurden Fehler gesehen, die dem objectiven Best\u00e4nde ganz fremd waren. Am charakteristischsten fielen jene Vexirversuche aus, in denen selbst ein mehrmaliges Buchstabiren nicht die Assimilation weckte, die in fr\u00fcheren .Reihen sich m\u00fchelos und glatt eingestellt hatte. Erfolgte sie endlich, so wurden wenigstens ein paar Buchstaben angegeben, die illusionirt waren. Damit werden schon fr\u00fchere Beobachtungen best\u00e4tigt, dass alle Aussagen subjectiv unsicher sind und objective Begr\u00fcndung erst durch Vergleichung mit dem Thatbestand erhalten.\nDer Wunsch, das Richtige festzustellen, dr\u00e4ngte alle Assimilationen zur\u00fcck. Wurde \u2014 selten \u2014 einmal assimilirt, so konnte nichts Auff\u00e4lliges bemerkt werden. Dagegen wurden in fast allen F\u00e4llen falsche Buchstaben substituirt. Auch beim Zurufen des richtigen Wortes seitens des Versuchsleiters wurden unter dem Einfluss der Voreingenommenheit doch falsche Elemente gesehen.\nWas objectiv in einer unabh\u00e4ngigen Versuchsreihe als Resultat gelten kann, scheint den Vorgang so zu bestimmen:","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nJulius Zeitler.\nWenn die Aufmerksamkeitsbedingungen die g\u00fcnstigsten sind, werden vom Beobachter Dr. M. zun\u00e4chst die Buchstaben als sinnlose separate Netzhauterregungen empfunden. Zeitlich subjectiv davon getrennt, aber sehr rasch folgend, beginnt eine unmittelbare Reproduction, welche, wenn die objectiven Bedingungen dementsprechend sind, den objectiven Bestand einfach feststellt. Erst eine nachtr\u00e4gliche Ueberlegung \u00fcber den Zusammenhang der Versuche kann dann, wenn im objectiven Material nicht un\u00fcberw\u00e4ltigbar widerstrebende Factoren vorhanden sind, zu einer nachtr\u00e4glichen Assimilation f\u00fchren. Jedenfalls engt bei g\u00fcnstigen Aufmerksamkeitsbedingungen der Zwang der Wahrnehmung die M\u00f6glichkeit der Assimilation auf ein Minimum ein.\n15. Inversionen und Permutationen.\nErdmann interpretirt die Inversionen dahin, dass die Erregungen nicht mehr \u00bbder Regel entsprechend\u00ab zu wirken verm\u00f6gen, die Substitutionen als Stellvertretungen f\u00fcr \u00bbzu schwach gewordene ad\u00e4quate Erregungen\u00ab. Diese Erkl\u00e4rungen d\u00fcrften unzul\u00e4nglich sein.\nDie vorkommenden F\u00e4lle von Inversionen gewinnen dadurch an Bedeutung, dass sie \u00fcber die Bewegungen der Buchstaben einigerma\u00dfen Aufschluss gew\u00e4hren. Die Beobachter sagen h\u00e4ufig aus, sie bef\u00e4nden sich einer verwirrenden F\u00fclle von Buchstaben gegen\u00fcber, in die sie erst Ordnung zu bringen h\u00e4tten. Sobald es ihnen nicht gel\u00e4nge, die chaotische Masse von Eindr\u00fccken sinnvoll zu gruppiren, verschw\u00e4nde ihnen ein gro\u00dfer Theil davon wieder aus dem Ged\u00e4chtniss.\nAus den Versuchen, die Inversionen ergaben, l\u00e4sst sich der Verlauf des Auffassungsvorganges in solchem Falle wenigstens im Umrisse erschlie\u00dfen.\nDie erste Phase der Apperception gibt die dominirenden Buchstaben; sie sind das Rohmaterial f\u00fcr die folgenden Vorg\u00e4nge.\nDas weitere h\u00e4ngt von zwei Umst\u00e4nden ab:\na)\tsobald sich eine Assimilation auf dr\u00e4ngt, modificirt sie den Sachverhalt, d. h. die objective Anordnung der Buchstaben zu ihren Gunsten ;\nb)\taber schon an sich k\u00f6nnen die Buchstaben in verschiedener Zeit aufsteigen und sich demgem\u00e4\u00df ordnen, dann wird die daran","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n459\nsich anschlie\u00dfende Assimilation schon dieser Anordnung Beclinung tragen. (Yon diesem Falle soll unten des Ausf\u00fchrlicheren die Bede sein.) Diese beiden Momente setzen, mannigfach in einander \u00fcbergreifend, die zweite Phase des Vorganges zusammen. Durch Eintreten von Associationen und Beflexionen kann sich hieran die dritte Phase anschlie\u00dfen, in der die Assimilation corrigirt wird. Dies ist aber ein bewusster Vorgang und f\u00e4llt au\u00dferhalb der durch die Apperception determinirten Vorstellungsbewegungen.\nJeder dominirende Buchstabe hat einen gewissen Spielraum, in dem er mit seinen Nachbarn vertauscht werden kann. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Buchstaben in einem Wirbeltanz begriffen w\u00e4ren, sie schweben nur, haltlos in ihrem Herd (womit nur ihre Lage im Wortbild bezeichnet sein soll) oscillirend, im wechselnden Spiel der Vorstellungen und erstarren erst zum Wortcomplex, wenn sie an der Stelle, die ihnen die Wortvorstellung zuertheilt, fest verankert sind.\nWie verh\u00e4lt es sich nun mit jenem selbst\u00e4ndigen Wirken von Buchstaben, aus dem eine Inversion der Beihenfolge resultiren kann?\nDie Buchstabenvertauschungen, die Umsetzungen von benachbarten Elementen wurden bisher als Folge eines regellosen Spiels der Einbildungskraft gedeutet. Es gab keine M\u00f6glichkeit, tiefer in das Problem einzudringen. Die Theorie der dominirenden Buchstaben d\u00fcrfte auch in diese Schwierigkeiten einige Ordnung bringen.\nDie Buchstaben erheben sich subjectiv in einer anderen Beihenfolge im Bewusstsein, als sie objectiv das Wortbild zusammensetzen. Stets tauchen die dominirenden Buchstaben am fr\u00fchesten im Bewusstsein auf. Sie k\u00f6nnen also im optischen Gebiet gruppirt werden, noch bevor die unbetonten Buchstaben nachger\u00fcckt sind. Die objectiven Buchstabengruppen werden, sobald ihrer Anordnung keine Bedeutung zu H\u00fclfe kommt, auch in der Beihenfolge reproducirt werden, in der sie im Bewusstsein auftreten. Der Beobachter glaubt in der zeitlichen Abfolge der Buchstaben ihre r\u00e4umliche Gliederung zu erhalten und setzt die Zeichen so zusammen, wie sie im zeitlichen Ablauf seines Bewusstseins auftauchen. Die r\u00e4umliche Beihe wird zeitlich gegliedert. Der Beobachter glaubt einen r\u00e4umlichen Eindruck zu reproduciren ; in der That reproducirt er einen zeitlichen. Daher werden die dominirenden Buchstaben den unbetonten vorangestellt","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460\nJulius Zeitler.\n\u2014 eine Umkehrung, die aber nur f\u00fcr einen engen Buchstabenherd unter unmittelbar benachbarten Buchstaben eintritt, w\u00e4hrend mehrere solcher zu weit auseinander liegen, um in ihrer Anordnung St\u00f6rungen zu erleiden.\nAls charakteristische F\u00e4lle solcher Inversionen der Reihenfolge hei dominirenden Elementen seien angef\u00fchrt:\n1.\tFarbe 2.\tSywdol (Symbol) 3.\tElukubration\tFabrik Dr. M. Swynol A. Ekluberation L. Elkuberation D.\n4.\tMeludie (Melodie) 5.\tArdeit (Arbeit) 6.\tAnalgse (Analyse) 7.\tGef\u00fcdl (Gef\u00fchl) 8.\tK\u00fclge (K\u00fclpe) 9.\tPolixei (Polizei) 10. Sipnal (Signal) 41. G\u00f6ltzschthal 12.\tAntananarivo 13.\tGesihsfed (Gesichtsfeld) 14.\tIndvdalit\u00e4t (Individualit\u00e4t) 15.\tFoltivna\tMedulla Dr. M. L. Abtei Dr. M. Angelos oder Anglais Dr. M. Gefilde L. D. Klage L. D. Polka oder Pokal L. Spinal A. Gl\u00f6tzschthal D. Analvarino S. Geshidfeld A. Invalidit\u00e4t Dr. M. Feltwiese Dr. M. Feldwiene\n16. Patiwysest (Palimpsest)\tPatywest Dr. M.","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n461\nMit der Inversion verband sich h\u00e4ufig noch eine Substitution. Die Inversion der Reihenfolge kann von der Permutation nicht scharf abgetrennt werden; sie ist nur eine Permutation im engeren Sinne. Als F\u00e4lle von Permutationen seien angef\u00fchrt:\n1. Fniede\tFeinde A. L.\n(Friede)\tFreunde\n2. Analomie\tAnomalie Dr. M.\n(Anatomie)\t\n3. Flagollanten\tFolgerungen D.\n(e)\t\n4. . . . magnet\t. . . mangel D.\n5. Crnagora\tCronagra Dr. M.\n6. Balaenoptera\tCanogra L. Cinoruga A. Bonaparte D.\n7. Dscliengis . . .\tDiogenes A.\n8. Backchylides\tDolognis, S. Blackydes A.\n9. Sphymometrie\tSymphnometrie A.\n10. Collectivma\u00dflehre\t. . . massiver ... A.\n11. Schnaderh\u00fcpfl\tSchanderhapf A.\n12. S\u00e4kularisation\tS\u00e4kularistan L.\n13. Hudsonbai\tHasdrubal L.\n14. Ghirlandayo\tMirandola D.\n15. Antananarivo\tAntanivera D.\n16. Benzaldehyd\tAntanarvino A. Benzardeyld A.\n17. thut mir leid\tm\u00fclerei A.\n18. lencurbilber\tCouleurbilder D.\n19. csqnxgw\tcosqnvx Dr. M.\n20. lbivmsfdewr\t(convex) lbvimsfdrew Dr. M.\nblimsfeder D. libims ... L. F\u00e4lle von progressiver Buchstabenangleichung, in denen z. B.\t\neine folgende Liquida im Sinne einer\tvorausgehenden ver\u00e4ndert wurde,\nkommen zu selten vor, um genauer\tbeobachtet werden zu k\u00f6nnen.","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462\nJulius Zeitler.\nZu den Versuchsbeispielen.\nVielleicht ist es von Werth, den oben eingestreuten Versuchsbeispielen eine kurze Charakteristik der Beobachter beizugeben, indem deren individuelle Verschiedenheit in der Art zu beobachten darin deutlich zum Ausdruck kommt.\nBeobachter Dr.M. verf\u00fcgt \u00fcber einen umfangreichen Vorstellungsschatz, \u00fcber ein bedeutendes Wortmaterial, aus dem er eine gegebene Wortform mit den heterogensten Bezeichnungen auszuf\u00fcllen vermag. M\u00fchelos stellen sich aus dem Ged\u00e4chtnisse die Assimilationen ein. Vor allem aber besitzt er ein geschultes Beobachtungstalent, hat als Mikroskopiker einen scharfen objectiven Blick und ist daher f\u00fcr die Auffassung objectiver Thatbest\u00e4nde gut geeignet. Aehnlich ist es bei Beobachter D. Doch \u00fcberwiegen bei ihm die Assimilationen schon in bemerkbarer Weise. Beide Beobachter sind normalsichtig. Dagegen bedarf Beobachter L. aus physiologischen Gr\u00fcnden einer l\u00e4ngeren Bilddauer als die gew\u00f6hnliche, da eine bedeutende Tr\u00e4gheit der Netzhaut vom Eindruck zu \u00fcberwinden ist. L. hat eine um mehr als die H\u00e4lfte schw\u00e4chere Sehsch\u00e4rfe als die normale. Seine Normalexpositionszeit betr\u00e4gt 20 a. Der Vorstellungsschatz des Beobachters ist wegen seiner starken Concentration enger, schwerfl\u00fcssiger, stabiler. Dies verband sich mit der Nothwendigkeit, angestrengter zu beobachten, um m\u00f6glichst viel objective Merkmale aufzufassen. Anderseits ging die Assimilation wegen der weniger labilen Wortvorstellungen langsamer vor sich. Daf\u00fcr pflegte die rasch eintretende Assimilation auf objective Factoren nicht begr\u00fcndet zu sein.\nDie Stellung der fremdl\u00e4ndischen (amerikanischen) Beobachter wurde durch ihre gr\u00f6\u00dfere oder geringere Unbekanntheit mit der deutschen Sprache bedingt. Von beiden Amerikanern besa\u00df A. das umf\u00e4nglichere deutsche Wortmaterial, Dr. S. das geringere. Dies fand sich in den Resultaten deutlich ausgepr\u00e4gt. Je geringer das Wortmaterial war, desto mehr n\u00e4herte sich das Lesen dem Buchstabiren, w\u00e4hrend die Wortcomplexe selbst sinnlose Zusammensetzungen wurden, zwischen deren Elementen jedes geistige Band fehlte. Von diesen Beobachtern, besonders von A. konnten daher nicht unwesentliche Aufschl\u00fcsse \u00fcber den Leseprocess erhalten werden, die von den mit ihrer Muttersprache Vertrauten schwieriger zu erlangen waren.","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen.\n463\nAnmerkung zu den Assimilationsversuchen.\nIn der Zeit, in der ich Assimilationsversuche mit Worthildern machte, deren Elemente gr\u00f6\u00dftentheils ver\u00e4ndert waren, war ich durch die Anfertigung der verst\u00fcmmelten Objecte so beeinflusst, dass ich sehr h\u00e4ufig Druckfehler zu sehen glaubte, wo gar keine waren. Die Verwandtschaftsgruppen der Schrifttypen waren mir so gel\u00e4ufig, dass ich die Zeichen unwillk\u00fcrlich in der Assimilation substituirte. Erst bei genauerem Hinsehen stellte sich mir die Eichtigkeit des Wortbildes heraus.","page":463}],"identifier":"lit4476","issued":"1900","language":"de","pages":"380-463","startpages":"380","title":"Tachistoskopische Untersuchungen \u00fcber das Lesen","type":"Journal Article","volume":"16"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:10:11.831674+00:00"}