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{"created":"2022-01-31T14:27:50.689037+00:00","id":"lit4480","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lipps, Gottlieb Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 116-151","fulltext":[{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgemeine Theorie der Mannigfaltigkeiten von Bewusstseinsinhalten.\nVon\nGottl. Friedr. Lipps.\n(Leipzig.)\nDas Wenige verschwindet leicht dem Blick Der vorw\u00e4rts sieht, wie viel noch \u00fcbrig bleibt Iphigenie.\nI. Die Denkth\u00e4tigkeit und der Denkgegenstand.\n1.\nDa ein Denkakt nicht anfangslos besteht, sondern ausgef\u00fchrt werden muss, und auch nicht ergebnislos vergeht, sondern in seinem Vollz\u00fcge Bestand hat, so ist an ihm die ausf\u00fchrende Th\u00e4tigkeit, das Denken, und der bleibende Erfolg der Th\u00e4tigkeit, das Gedachte, zu unterscheiden. Im Gedachten stellt sich, da es vorliegt und besteht, der Gegenstand des Denkens dar. Der Gegenstand liegt aber nicht von vorn herein bereit, um nachtr\u00e4glich durch das Denken aufgefunden und bearbeitet zu werden. Ebenso wenig steht das Denken f\u00fcr sich allein, einen Gegenstand erzeugend oder eines, ihm in den Weg tretenden Gegenstandes harrend, um sich desselben zu bem\u00e4chtigen und an ihm sich th\u00e4tig zu erweisen. Vielmehr sind das Denken und das Gedachte, die Th\u00e4tigkeit und der Gegenstand des Denkens nur im Denkakte vorhanden und untrennbar aneinander gebunden: die Denkth\u00e4tigkeit und der Denkgegenstand bedingen sich wechselweise.\nEs kann aber nicht ein unbestimmtes Denken angenommen werden, dem ein unbestimmter Gegenstand entspr\u00e4che. Denn die Denkth\u00e4tigkeit vollzieht sich nothwendig in bestimmter Weise, s0 dass ein unbestimmtes Denken nichts anderes als ein unausgef\u00fchr' tes Denken w\u00e4re. Anderseits w\u00e4re ein unbestimmter Gegenstand","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. H7\nnichts anderes als ein nicht gedachter Gegenstand, da jedem Gedachten nothwendig eine durch das Denken erzeugte Bestimmung anhaftet. Zu jedem Denkakte geh\u00f6rt daher eine bestimmte Th\u00e4tig-keit und ein bestimmter Gegenstand des Denkens, die untrennbar aneinander gebunden sind, so dass der Erfolg des Denkens in der Bestimmung seines Gegenstandes und die Bedeutung des Gegenstandes in der durch das Denken erzeugten Bestimmtheit besteht: die Denkth\u00e4tigkeit und der Denkgegenstand bestimmen sich wechselweise.\nLiegen nun mehrere Denkakte vor, so bietet jeder einzelne eine bestimmte Denkth\u00e4tigkeit und einen bestimmten Denkgegenstand dar. Man muss daher zun\u00e4chst ebenso viele verschiedene Th\u00e4tigkeiten und Gegenst\u00e4nde des Denkens anerkennen, als Denkakte unterschieden werden. Denn gleiche Th\u00e4tigkeiten w\u00fcrden gleich bestimmte Gegenst\u00e4nde und gleiche Gegenst\u00e4nde w\u00fcrden die n\u00e4mliche bestimmende Th\u00e4tigkeit voraussetzen, so dass die Denkakte selbst nicht unterscheidbar w\u00e4ren. Die verschiedenen Denkakte bestehen indessen zusammen. Dabei bleiben zwar die in ihnen vorliegenden Th\u00e4tigkeiten und Gegenst\u00e4nde des Denkens in ihrer Bestimmtheit erhalten. Denn die Denkakte werden vollzogen, ohne dass sie einander beeinflussen und etwa zu einem neuen Denkakte verschmelzen. Die Th\u00e4tigkeit des einen Denkaktes wird demgem\u00e4\u00df ohne R\u00fccksicht auf die Th\u00e4tigkeit eines and\u00e8ren Aktes ausgef\u00fchrt, so dass auch die verschiedenen Bestimmungen, welche die Denkakte darbieten, neben einander sich behaupten. Es zeigt sich aber, dass die in den Denkakten gegenst\u00e4ndlich vorliegenden Bestimmungen entweder zusammen geh\u00f6ren oder zusammenhangslos bestehen und im letzteren Falle entweder mit einander vertr\u00e4glich sind oder einander widerstreiten.\nDies kann nicht in dem Zusammenbestehen der Denkakte begr\u00fcndet sein. Denn es m\u00fcssten alsdann je zwei zusammenbestehende Denkakte auch stets in gleicher Weise zusammengeh\u00f6rige oder miteinander vertr\u00e4gliche Bestimmungen enthalten. Sie k\u00f6nnten hingegen licht wie es in Wirklichkeit der Fall ist \u2014 ebensowohl zusammen-\u00e4ngende oder vereinbare wie auch zusammenhangslose oder unvereinbare Bestimmungen darbieten. Die Zusammengeh\u00f6rigkeit und ereinbarkeit von Bestimmungen ist darum neben dem Vollzug ^\u2019selben in zusammenbestehenden Denkakten als eine besondere Tatsache anzuerkennen.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nGotti. Priedr. Lipps.\n2.\nDiese -Thatsache kann, eben weil die Beth\u00e4tigungen und die Erfolge des Denkens in jedem Falle sich in unver\u00e4nderter Selbst\u00e4ndigkeit behaupten, nur darin ihren Ausdruck finden, dass die in den verschiedenen Denkakten vorhegenden Gegenst\u00e4nde ihre Selbst\u00e4ndigkeit aufgeben. Dies geschieht, wenn diese Gegenst\u00e4nde zu einem und demselben, mehrfach bestimmten Gegenst\u00e4nde verschmelzen. Es erh\u00e4lt alsdann der in einem Denkakte bestimmte Gegenstand durch andere Denkakte weitere Bestimmungen: er wird zum Tr\u00e4ger eines Vereins zusammengeh\u00f6riger oder zusammenfassbarer Bestimmungen.\nGibt es demgem\u00e4\u00df Bestimmungen, die in einem und demselben Gegenst\u00e4nde ihren gemeinsamen Tr\u00e4ger finden, so kann auch eine und dieselbe Denkth\u00e4tigkeit zur Bestimmung verschiedener Gegenst\u00e4nde beitragen. Denn verschiedene Gegenst\u00e4nde werden nunmehr durch verschiedene Vereine von Denkth\u00e4tigkeiten bestimmt, und die Verschiedenheit der Vereine wird durch gemeinsame Glieder nicht aufgehoben, falls nur nicht alle Glieder gemeinsam sind, so dass die Vereine Glied f\u00fcr Glied \u00fcbereinstimmen. Es kann sonach in der That eine Denkth\u00e4tigkeit, die f\u00fcr sich allein nur einen und denselben Gegenstand bedingen und bestimmen w\u00fcrde, auf Grund ihrer Zugeh\u00f6rigkeit zu verschiedenen Vereinen eine \u00fcbereinstimmende Bestimmung verschiedener Gegenst\u00e4nde liefern.\nWird aber der n\u00e4mliche Gegenstand durch verschiedene Denkth\u00e4tigkeiten bestimmt, und dr\u00fcckt die n\u00e4mliche Denkth\u00e4tigkeit verschiedenen Gegenst\u00e4nden ihr Gepr\u00e4ge auf, so scheint es, dass Gegenstand und Th\u00e4tigkeit des Denkens nicht mehr untrennbar zusammengeh\u00f6ren, sondern als \u00bbDing an sich\u00ab und \u00bbDenken an sich\u00ab eine selbst\u00e4ndige Existenz gewinnen. Denn die m\u00f6glichen Bestimmungen eines Gegenstandes m\u00fcssen nicht insgesammt wirklich vollzogen werden, sondern die eine kann ohne die anderen bestehen. Und wenn an verschiedenen Gegenst\u00e4nden eine gemeinsame Bestimmung ausf\u00fchrbar ist, so ist ihr Auftreten an dem einen Gegenst\u00e4nde unabh\u00e4ngig von dem Auftreten an den anderen Gegenst\u00e4nden. Es kann daher ein thats\u00e4chlich vorhandener Gegenstand einer Bestimmung f\u00e4hig sein, ohne sie bereits zu besitzen, und es kann eine thats\u00e4chlich bestehende Denkth\u00e4tigkeit im Stande sein, einen Gegen","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":".Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 119\nstand zu bestimmen, ohne an ihm die Bestimmung bereits ausgef\u00fchrt zu haben. Dies k\u00f6nnte zu der Annahme verleiten, dass der Gegenstand, eben weil er einer mehr oder minder weit gehenden Bestimmung f\u00e4hig ist, ohne jede Betsimmung als leerer Tr\u00e4ger des Denkens harre, und dass die Denkth\u00e4tigkeit, eben weil sie bald an diesem bald an jenem Gegenst\u00e4nde ihre Bestimmung vollf\u00fchren kann, unabh\u00e4ngig von jedem Gegenst\u00e4nde bestehe.\nMan erkennt jedoch unmittelbar, dass weder das Ding an sich noch das Denken an sich wirklich ist. Denn der einer weiteren Bestimmung f\u00e4hige Gegenstand ist blo\u00df auf Grund der bereits vorliegenden Bestimmungen in Wahrheit vorhanden, und die Denkth\u00e4tigkeit, die im Stande ist Gegenst\u00e4nden, die von ihr noch unber\u00fchrt sind, eine Bestimmung aufzupr\u00e4gen, existirt in der That nur, sofern sie an anderen Gegenst\u00e4nden bereits bestimmend gewirkt hat. Es kann folglich das Ding an sich lediglich als die M\u00f6glichkeit Bestimmungen zu erhalten, und das Denken an sich lediglich als die M\u00f6glichkeit Bestimmungen auszuf\u00fchren sich behaupten.\nIn der Wirklichkeit hingegen tritt jede Denkth\u00e4tigkeit nothwendig in der zugeh\u00f6rigen gegenst\u00e4ndlichen Bestimmung zu Tage, und es kann kein Gegenstand vorliegen, ohne dass er durch das Denken bestimmt ist. Indem aber zusammengeh\u00f6rige oder miteinander vertr\u00e4gliche Bestimmungen zusammengefasst werden, und so die Gegenst\u00e4nde verschiedener Denkakte zu einem einzigen Gegenst\u00e4nde, dem Tr\u00e4ger eines Vereins von Bestimmungen, verschmelzen, ist die M\u00f6glichkeit vorhanden, dass ein mit wirklich vollzogenen Bestimmungen behafteter Gegenstand noch andere, erst zu vollziehende Bestimmungen erh\u00e4lt, und dass eine Denkth\u00e4tigkeit, die in der ihr zugeh\u00f6renden Bestimmung an diesem oder jenem Gegenst\u00e4nde hervortritt, auch noch an anderen Gegenst\u00e4nden bestimmend wirkt.\n3.\nDemzufolge kann zwar der Gegenstand auch als Tr\u00e4ger eines Vereins von Bestimmungen nicht ohne die ihm anhaftenden Einzelbestimmungen des Denkens, die Glieder des Vereins, bestehen. Er kann jedoch als ein der Bestimmung f\u00e4higer Gegenstand vorausgesetzt werden, dem die den Verein bildenden Bestimmungen zuerkannt und die dem Verein fremden abgesprochen werden m\u00fcssen. Das","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nGotti. Friedr. Lipps.\nZuerkennen oder Absprechen ist ein positives oder negatives Urtheil. Die angegebene Bestimmung des Gegenstandes vollzieht sich somit in positiven und negativen Urtheilen.\nDa zu den in einen Verein zusammengefassten Bestimmungen noch weitere, die dem n\u00e4mlichen Vereine zugeh\u00f6ren, hinzutreten k\u00f6nnen, so ist zwischen vollst\u00e4ndiger und unvollst\u00e4ndiger Bestimmung eines Denkgegenstandes zu unterscheiden. Ein Gegenstand ist vollst\u00e4ndig bestimmt, wenn von jeder \u00fcberhaupt vollziehbaren Bestimmung feststeht, oh sie dem Gegenst\u00e4nde zukommt oder nicht zukommt. In den Urtheilen, welche dies entscheiden, bietet sich die von dem Gegenstand vorhandene Erkenntniss oder der Begriff des Gegenstandes dar. Ein vollst\u00e4ndig oder unvollst\u00e4ndig bestimmter Gegenstand ist daher ein vollst\u00e4ndig oder unvollst\u00e4ndig erkannter oder begriffener Gegenstand. Hiernach ist die Zusammengeh\u00f6rigkeit und Vereinbarkeit von Bestimmungen als eine durch das Erkennen oder Begreifen bedingte zu bezeichnen. Je nach den Zielen und Bed\u00fcrfnissen des Erkennens werden demgem\u00e4\u00df verschiedene Motive zur Bildung und Abgrenzung der in den Gegenst\u00e4nden vorhegenden Vereine von Bestimmungen ma\u00dfgebend sein.\nEs sind anderseits selbst\u00e4ndig und unselbst\u00e4ndig bestehende Gegenst\u00e4nde des Denkens zu unterscheiden. Denn eine und dieselbe Bestimmung kann verschiedenen Gegenst\u00e4nden angeh\u00f6ren; in gleicher Weise k\u00f6nnen mehrere, zu einem Vereine zusammenfassbare Bestimmungen an verschiedenen Gegenst\u00e4nden haften. Da nun die einzelne Bestimmung ebenso wie der Verein, f\u00fcr sich allein, als Gegenstand besteht, so kann demzufolge ein Gegenstand in einem anderen Gegenst\u00e4nde sich darbieten: er ist in diesem Falle ein unselbst\u00e4ndig existirender Gegenstand. Ein Gegenstand ist hingegen selbst\u00e4ndig, wenn die ihm zukommenden Bestimmungen keinem umfassenderen Vereine gegenst\u00e4ndlich vorliegender, zusammengeh\u00f6riger oder miteinander vertr\u00e4glicher Bestimmungen angeh\u00f6ren. Ein solcher Gegenstand ist ein in r\u00e4umlicher und zeitlicher Bestimmtheit bestehendes Einzelding. Es existirt als Tr\u00e4ger eines keiner Erg\u00e4nzung oder Erweiterung f\u00e4higen Vereins von Einzelbestimmungen. Demgem\u00e4\u00df ist jeder Denkgegenstand entweder ein Einzelding oder er wurzelt in Einzeldingen, sofern er auf einer irgendwie begr\u00fcndeten Abgrenzung von Bestimmungen an Einzeldingen beruht. Die","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 121\nGesammtheit der Einzeldinge, welche der n\u00e4mlichen Bestimmungen theilhaftig sind, bilden \u2014 nach der \u00fcblichen Bezeichnungsweise \u2014 den Begriffsumfang f\u00fcr den durch jene Bestimmungen definirten\nG-egenstand.\n4.\nMan kann nun auch von den selbst\u00e4ndig existirenden Einzeldingen aus wieder zu den in jenen wurzelnden unselbst\u00e4ndigen Gegenst\u00e4nden weiterschreiten und zuletzt zu den gegenst\u00e4ndlich vorliegenden Einzelbestimmungen des Denkens gelangen. Das Einzelding wird dann zwar als gegeben hingenommen; es erweist sich aber als ein Verein zusammengeh\u00f6riger, in Denkakten hervortretender Bestimmungen. Man wird so auch auf diesem Wege zur Anerkennung der beiden Thatsachen gef\u00fchrt, dass in jedem Denkakte die Denkth\u00e4tigkeit und der Denkgegenstand sich wechselweise bedingen und bestimmen, und dass die in zusammenhestehenden Denkakten vollzogenen Bestimmungen Vereine bilden, die in mehrfach bestimmten Gegenst\u00e4nden ihre Tr\u00e4ger finden.\nDas Einzelding ist wegen der zeitlichen und r\u00e4umlichen Bestimmtheit, in der seine Besonderung und Vereinzelung ihren Ausdruck findet, ein vorstellbarer Gegenstand: es ist das \u00bbVorstellungsobject\u00ab im Sinne Wundt\u2019s1), \u00bbdas mit der Eigenschaft Object zu sein alle anderen Eigenschaften der Vorstellung in sich vereinigt\u00ab, wonach Vorstellung und Object oder Denkth\u00e4tigkeit und Denkgegenstand nicht \u00bburspr\u00fcnglich von einander verschiedene reale Thatsachen\u00ab, sondern \u00bburspr\u00fcnglich eines\u00ab sind, wonach ferner die Annahme unzul\u00e4ssig ist, \u00bbdass das Erkennen selbstth\u00e4tig seine Objecte hervorbringe, oder dass es ein passives Aufnehmen und Nachbilden unabh\u00e4ngig bestehender Objecte sei\u00ab, und vielmehr die Thatsache anerkannt werden muss, dass es \u00bbkein Object gibt, dem die Eigenschaft fehlen k\u00f6nnte denkbar zu sein, und dass es keine Denkhandlung gibt, die nicht ein Object als unver\u00e4u\u00dferlichen Bestandtheil einschlie\u00dft\u00ab.\nDie obigen, aus der Reflexion \u00fcber den Denkakt und das Zusammenbestehen von Denkakten gewonnenen Ergebnisse stehen somit in Einklang mit der Feststellung des Ausgangspunktes der Erkenntniss lu Wundt\u2019s System der Philosophie.\n1) System der Philosophie; 2. Aufl. 1897; S. 97.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nGotti. Friedr. Lipps.\nII. Das erfassende und das beziehende Denken. Die Bewusstseinsinhalte und die Substanzen.\n5.\nDa die Denkth\u00e4tigkeit und der Denkgegenstand untrennbar zusammengeh\u00f6ren, so offenbart sich in jeder Bestimmung sowohl th\u00e4tiges Denken als auch gegenst\u00e4ndlich Bestehendes. Denn von einer Bestimmung k\u00f6nnte keine Bede sein, wenn nicht eine Beth\u00e4tigungsweise des Denkens m\u00f6glich w\u00e4re, die in einem jene Bestimmung darbietenden Denkakte sich verwirklicht. Man k\u00f6nnte aber ebensowenig von einer Bestimmung reden, wenn sie nicht als Gegenstand oder an einem Gegenst\u00e4nde Bestand h\u00e4tte. Der Vollzug von Bestimmungen gew\u00e4hrt somit ebensowohl bez\u00fcglich des Denkens wie bez\u00fcglich des gegenst\u00e4ndlich Bestehenden eine Erkenntniss. Und da es weder ein Denken an sich noch ein Ding an sich gibt, vielmehr alles Denken und alles Gegenst\u00e4ndliche in thats\u00e4chlich vollziehbaren Bestimmungen sich offenbart, so kann das Denken und das Bestehende in seinem ganzen Umfange erforscht werden: es gibt weder unerkennbares Denken noch unerkennbare Gegenst\u00e4nde.\nEs sind sonach \u2014 wenn ein System zusammengeh\u00f6riger Erkenntnisse als Wissenschaft bezeichnet wird \u2014 zwei Wissenschaften m\u00f6glich: die Wissenschaft vom Denken und die Wissenschaft vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden. Sie bilden besondere Gebiete des Erkennens, weil das Denken als Th\u00e4tigkeit vom Gedachten als Gegenstand unterschieden werden muss, und sie sind die einzig m\u00f6glichen, weil au\u00dfer dem Denken und den Gegenst\u00e4nden nichts weiter in den Denkakten hervortritt. Sie stehen aber wegen der Untrennbarkeit von Denkth\u00e4tigkeit und Denkgegenstand nicht beziehungslos neben einander, so dass es scheinen k\u00f6nnte, als ob sie im Grunde genommen eine und dieselbe Wissenschaft w\u00e4ren, deren Erkenntnisse nur eine doppelte Deutung erfahren, je nachdem sie als eine Offenbarung des Denkens oder des gegenst\u00e4ndlich Bestehenden aufgefasst werden.\nDies w\u00e4re in der That der Fall, wenn durch das Denken die Gegenst\u00e4nde erst erzeugt w\u00fcrden, oder wenn das Denken lediglich ein Spiegel der Gegenst\u00e4nde w\u00e4re, in welchem die letzteren ein zweites, schattenhaftes Dasein gew\u00e4nnen. Dann m\u00fcsste die Lehre vom Denken zugleich die Lehre von den Gegenst\u00e4nden enthalten und umgekehrt.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 123\nIn Wahrheit behaupten sich jedoch das Denken und das Gegenst\u00e4ndliche neben einander als zwei sich wechselweise bedingende und bestimmende Factor en, die sich von vom herein dadurch unterscheiden, dass es dem Denken eigenth\u00fcmlich ist, in Einzelbestimmungen zu Tage zu treten, w\u00e4hrend das gegenst\u00e4ndlich Bestehende sich in der Gesammtheit der Einzeldinge darbietet, von welchen jedes der Tr\u00e4ger eines Vereins zusammengeh\u00f6riger Einzelbestimmungen ist.\nDemzufolge hat die Wissenschaft vom Denken die Aufgabe, die in Einzelbestimmungen zu Tage tretenden Best\u00e4tigungsweisen oder Formen des Denkens zu untersuchen. Diese Untersuchung wird an Gegenst\u00e4nden gef\u00fchrt. Denn das Denken ist nicht als reine Th\u00e4tig-keit erfassbar, sondern kann nur in den Bestimmungen der Denkakte offenbar werden, und diese Bestimmungen bestehen gegenst\u00e4ndlich. Die Gegenst\u00e4nde der Untersuchung sind jedoch nicht die Einzeldinge, obwohl sie \u2014 wie es nicht anders sein kann \u2014 an denselben nachweisbar sind. Die Einzeldinge kommen n\u00e4mlich nicht so, wie sie sind, sondern nur sofern sie mit dieser oder jener Bestimmung behaftet sind, unter Absehen von allen anderen Bestimmungen, in Betracht. Sie gewinnen darum blo\u00df als Unterlage des Abstractions-processes, der gewisse bislang unbemerkt gebliebene Bestimmungen aufzufinden und festzustellen gestattet, oder beim Nachweis des Umfangs, in welchem eine vorliegende Bestimmung in der gegenst\u00e4ndlich bestehenden Welt zur Geltung kommt, eine Bedeutung.\nDie Untersuchungsgegenst\u00e4nde selbst sind aber nichts anderes als die Tr\u00e4ger der Bestimmungen, in denen die untersuchte Form des Denkens offenbar wird. Als solche sind sie keine, in selbst\u00e4ndiger Wirklichkeit gegebenen Dinge; auch bed\u00fcrfen sie nicht des Nachweises, dass sie an diesen Dingen thats\u00e4chlich Bestand haben. Sie beruhen vielmehr auf der Wirklichkeit des Denkens, und ihre Existenz ist, ohne dass sie bewiesen werden m\u00fcsste, von vornherein gewiss, da von einer bestimmten Form des Denkens gar nicht geredet werden k\u00f6nnte, wenn sie nicht an einem gegenst\u00e4ndlichen Tr\u00e4ger zur Ausgestaltung k\u00e4me.\nDer Satz \u00bbjede Denkform besitzt ihren gegenst\u00e4ndlichen Tr\u00e4ger, an dem sie zur Ausgestaltung kommt\u00ab hat darum als Grundsatz f\u00fcr die Lehre vom Denken zu gelten.\nDie Wissenschaft vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden hingegen hat","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nG-ottl. Friedr. Lipps.\ndie Aufgabe, die Welt der Einzeldinge zu erforschen. Diese Dinge m\u00fcssen allerdings schon vor dem Eintritt in die Untersuchung mit Bestimmungen behaftet sein, da sie nur als irgendwie bestimmte Dinge gegeben sein k\u00f6nnen. Aber die bereits erkannten Bestimmungen kommen wesentlich nur, sofern sie den Ausgangspunkt der Forschung bestimmen und eine vorl\u00e4ufige Abgrenzung des Forschungsgebietes erm\u00f6glichen, in Betracht. Die weiterschreitende Untersuchung hat vielmehr die Gegenst\u00e4nde, so wie sie in der Wirklichkeit Bestand haben, allseitig zu erforschen, indem sie die Gesammtheit der ihnen zukommenden Bestimmungen auf sucht und feststellt. Der Vollzug dieser Bestimmungen erfolgt durch das Denken und l\u00e4sst die Beschaffenheit der erforschten Dinge zu Tage treten. Die Beschaffenheit wird jedoch nicht durch das Denken erzeugt oder ver\u00e4ndert, sie wird nur beachtet und anerkannt. Das Beachten und Anerkennen des thats\u00e4chlich Bestehenden, die Erfahrung, ist demgem\u00e4\u00df hier die Quelle der Erkenntniss, und jede auf Grund der bisherigen Erfahrung gewonnene Erkenntniss muss durch fortgesetzte Erfahrung ihre Best\u00e4tigung oder Berichtigung finden.\nDie Wissenschaft vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden ist darum als Erfahrungswissenschaft zu bezeichnen. Da indessen jeder Erfahrungsinhalt sich als ein System von Bestimmungen darbietet, die in Denkakten gegenst\u00e4ndlich vorliegen, so ist nur eine in den Formen des Denkens sich vollziehende Erfahrung m\u00f6glich und jede auf Erfahrung beruhende Erkenntniss kann nur die Verwirklichung einer dem Denken m\u00f6glichen Erkenntniss sein. Denn es k\u00f6nnte vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden gar nicht die Rede sein, wenn es nicht durch die Beth\u00e4tigung des Denkens seine Bestimmung f\u00e4nde.\nDer Satz \u00bballes gegenst\u00e4ndlich Bestehende findet durch das Denken seine Bestimmung\u00ab hat somit als Grundsatz der Erfahrungswissenschaft in ihrem ganzen Umfange zu gelten.\nHiernach hat jede der beiden Wissenschaften ihre besondere Aufgabe. Sie stehen jedoch unbeschadet ihrer Selbst\u00e4ndigkeit in Wechselwirkung, sofern einestheils das Denkm\u00f6gliche in der Erfahrung seine Verwirklichung findet, und anderseits das erfahrungsgem\u00e4\u00df Bestehende, da es durch das Denken begriffen wird, die Spuren der Denkarbeit an sich tr\u00e4gt und die Formen, in denen das Denken sich beth\u00e4tigt, erkennen l\u00e4sst.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 125\nUnter Ber\u00fccksichtigung dieser Wechselwirkung l\u00e4sst sich in einfacher Weise ein erster orientirender Ueberblick \u00fcber beide Forschungsgebiete gewinnen.\n6.\nDas Allgemeinste n\u00e4mlich, was \u00fcber die Gegenst\u00e4nde des Denkens sich aussagen l\u00e4sst, findet in den beiden S\u00e4tzen seinen Ausdruck: es gibt Gegenst\u00e4nde, und es gibt Beziehungen zwischen Gegenst\u00e4nden. Der eine gilt nicht ohne den anderen ; denn indem Gegenst\u00e4nde unterschieden werden, bestehen sie zusammen, und in dem Zusammenhestehen liegt die Nothwendigkeit, nicht nur den einen sondern auch den andern zu denken. Auf diese Weise treten die Gegenst\u00e4nde in Beziehung und bilden in ihrer Gesammtheit die eine, in sich zusammenh\u00e4ngende Welt des Bestehenden.\nGibt es aber Gegenst\u00e4nde und Beziehungen zwischen Gegenst\u00e4nden, so gibt es auch ein Gegenst\u00e4nde erfassendes und Beziehungen setzendes Denken. Und jede Denkth\u00e4tigkeit ist ein Erfassen und Beziehen, da das Dasein und Bezogensein der Gegenst\u00e4nde die ganze Welt des Bestehenden ausmacht. Die Wissenschaft vom Denken hat daher das im Erfassen und Beziehen sich beth\u00e4tigende Denken zu erforschen. Ihre Objecte sind die Tr\u00e4ger der Bestimmungen, in denen sich das Dasein als solches und das Bezogensein als solches (n\u00e4mlich so wie es durch das Denken gesetzt wird) darstellt.\nDie L\u00f6sung dieser Aufgabe f\u00fchrt nicht nur zu den Lehren der formalen Logik von den Arten der Urtheile, von den Verh\u00e4ltnissen der Begriffe und von den Schlussfiguren oder \u2014 wie man wohl auch sagen kann \u2014 zu der Einsicht in den Schematismus der Denkarbeit, die ein System zusammenh\u00e4ngender Erkenntniss erzeugt. Sie er\u00f6ffnet auch den Zugang zur Mathematik.\nUnterwirft man n\u00e4mlich zun\u00e4chst das erfassende Denken der Untersuchung, so zeigt sich dasselbe als ein reihenf\u00f6rmig fortschreitendes Denken, das mit einem Akte des Erfassens beginnend in gleichartigem und unbegrenztem Weiterschreiten sich entwickelt. Es erh\u00e4lt ln der Reihe von Denkohjecten, die blo\u00df als Tr\u00e4ger der aufeinanderfolgenden Akte des erfassenden Denkens zur Geltung kommen und demgem\u00e4\u00df lediglich mit den Merkmalen der Reihenform behaftet sind, seme Ausgestaltung. Diese vom Anfangsgliede aus ohne Ende fort-","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nGotti. Friedr. Lipps.\nlaufende, von jedem Gliede aus reproducirbare, homogene Reihe, welche in einzigartiger und allgemeing\u00fcltiger Weise die Reihenform des Denkens zur Darstellung bringt, ist aber \u2014 wie man unmittelbar erkennt \u2014 die Reihe der nat\u00fcrlichen Zahlen 1, 2, 3, . . . in inf. Sie dient zum Erfassen jeder Vielheit von Objecten, wobei jedes Object in gleicher Weise wie jedes andere nur als Tr\u00e4ger des erfassenden Denkens, als absolute Einheit, auftritt. Und die M\u00f6glichkeit, in der gegeben vorliegenden Zahlenreihe vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts (bis zum Anfangsgliede, aber nicht dar\u00fcber hinaus) zu gehen oder vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts zu z\u00e4hlen, bedingt die Ausf\u00fchrbarkeit von Z\u00e4hlprocessen, auf denen die Mathematik der Zahlenreihe beruht.\nDer Akt des beziehenden Denkens ferner bietet sich als der im Denken vollzogene Uebergang von einem zu Grunde liegenden Gegenst\u00e4nde a zu einem aus a folgenden und an a gebundenen Gegenst\u00e4nde a{ dar. Er kann daher, wenn die auf a gerichtete und zu \u00ab, f\u00fchrende Denkth\u00e4tigkeit durch a bezeichnet wird, in der symbolischen Gleichung a a = a{ seinen Ausdruck finden. Mit R\u00fccksicht hierauf ist der auf a gerichtete und bei a verharrende Akt des erfassenden Denkens durch \u00ab0a = a darzustellen, wenn die Denkth\u00e4tigkeit in diesem Palle durch a0 angedeutet wird. Und da jeder, als Tr\u00e4ger irgend welcher Beziehung auftretende Gegenstand nothwendig, sofern er vorliegt, einen Akt des erfassenden Denkens voraussetzt, so bedingt der Vollzug von aa = a{ zugleich das Erfassen von a und ax oder die Ausf\u00fchrung von a0 a \u2014 a und \u00ab0 aK =\nGestattet nun das auf a bezogene a, in gleicher Weise wie a die Ausf\u00fchrung von er, so dass durch den Denkakt \u00ab\u00ab, = der Gegenstand in eben dieselbe Beziehung zu \u00ab, tritt wie \u00ab, zu a, und l\u00e4sst sich dieser Process des Weiterschreitens und Beziehens in unbegrenzter Folge wiederholen, so entsteht durch die Kette der Denkakte aa = \u00ab, ; aaK = aa\u00b1 = a:!; . . . die unbegrenzte Reihe a, a{, a,, a3 ..., in welcher je zwei aufeinanderfolgende und allgemein je zwei durch die n\u00e4mliche Anzahl von Zwischengliedern getrennte Glieder die Tr\u00e4ger der n\u00e4mlichen. Beziehung sind. Findet auf diese Weise eine Form des beziehenden Denkens in den Beziehungen einer unbegrenzten Reihe von Denkobjecten ihre Ausgestaltung, so m\u00f6ge sie als iterirbar bezeichnet werden. Dann ist auch die immer wiedei ausf\u00fchrbare Th\u00e4tigkeit des rein erfassenden Denkens \u00ab0 iterirbar zU","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 127\nnennen. Es zeigt sich so die Zugeh\u00f6rigkeit des erfassenden Denkens zu den iterirbaren Formen des beziehenden Denkens.\nDie Annahme einer iterirbaren Beth\u00e4tigungsweise des Denkens a, mit der sich das rein erfassende Denken a0 ohne weiteres combinirt, f\u00fchrt zu Systemen von m Gfegenst\u00e4nden a, mi Gegenst\u00e4nden ff,, m\u201e Gegenst\u00e4nden at u. s. w., wo die Anzahlen m) mlt m3 . . . unabh\u00e4ngig von einander gleich 0, 1, 2 . . . sein k\u00f6nnen, falls nur nicht jede dieser Anzahlen gleich Null ist. Mit diesen Systemen lassen sich \u2014 was ohne weiteres ersichtlich ist \u2014 zwei und nur zwei Processe vornehmen: je zwei Systeme sind zusammenfasshar, und jedes System kann ebenso wie jedes einzelne Glied der Reihe a, ff,, ff3 . . . als Unterlage f\u00fcr die Ausf\u00fchrung des erfassenden und beziehenden Denkens a0 und \u00ab und der Iterirungen desselben sowie jedes Vereins solcher Denkth\u00e4tigkeiten dienen. In dem einen und in dem anderen Falle erh\u00e4lt man wiederum ein aus Gegenst\u00e4nden \u00bb, ff,, ffs . . . bestehendes System. Das System der m Gegenst\u00e4nde ff, m{ Gegenst\u00e4nde ff,, mi Gegenst\u00e4nde \u00ab2 u. s. w. ist aber durch die Anzahl ma + mi + mta^ -j- \u2022 \u2022 \u2022 vollst\u00e4ndig bestimmt, wo die Beif\u00fcgung der Indices a, ff,, ff2 . . . angibt, was f\u00fcr Objecte in den H\u00e4ufigkeiten m, mi} mt . . . vorhanden sind. Wird demselben ein zweites System, dessen Anzahl gleich -f- wtK + K0n+ \u2022 \u25a0 \u2022 ist, beigesellt, so ist die Anzahl des aus der Zusammenfassung resul-tirenden Systems gleich\t+ (m, + m{)a^ + (to2 +\nwonach das Zusammenfassen von Systemen in der Addition ihrer Anzahlen seinen Ausdruck findet. Wird ferner das aus m' Objecten ff, mt' Objecten ff,, m\\ Objecten ff2 u. s. w. bestehende System m-mal der rein erfassenden Denkth\u00e4tigkeit a0, m{ - mal der einfachen beziehenden Denkth\u00e4tigkeit a, m^-mal der zweimal nacheinander auszuf\u00fchrenden Denkth\u00e4tigkeit aa oder ai, m3-mal der dreimal succe-direnden Denkth\u00e4tigkeit a a a oder a, unterworfen gedacht u. s. w., und wird der Verein dieser Denkth\u00e4tigkeiten durch die als Multipli-cator auftretende Anzahl mUo +\tu,2 + \u2022 \u25a0 \u2022 angegeben, so\nbestimmt sich die Anzahl des nach Ausf\u00fchrung aller dieser Denkth\u00e4tigkeiten resultirenden Systems durch\n(mUo 4- mK Ui + m2 u% 4------) \u2022 \u00ab + Ko, + Ko2 4-----------) =\n[m . m')a -(- [m \u25a0 m[ 4- mi \u2022 m')a (m \u25a0 mi + m, \u2022 m{ mi \u2022 vri)aSL \u25a0 \u2022 \u2022\nEs findet sonach die Ausf\u00fchrung eines Vereins von Denkth\u00e4tigkeiten","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nGotti. Friedr. Lipps.\nan einem gegebenen Systeme von Gegenst\u00e4nden in dem Producte seinen Ausdruck, dessen Multiplicator die Anzahl des Vereins und dessen Multiplicand die Anzahl des Systems ist. Insbesondere f\u00fchrt die einmalige Ausf\u00fchrung der Denkth\u00e4tigkeit \u00ab an dem als Grundeinheit dienenden Objecte a zu al, wonach lu \u25a0 1(J = la^ ist, w\u00e4hrend das einmalige blo\u00dfe Setzen von a oder die einmalige Ausf\u00fchrung von \u00abo an a durch \u2022 lfl = la oder durch das gew\u00f6hnliche 1-1 = 1 ausgedr\u00fcckt wird.\nSind z. B. a und a{ die Tr\u00e4ger der Beziehung des Gegensatzes, so bestehen die Denkakte a a = a, und aat = a neben a0a = a und a0al = a{ und es heben sich die Objecte a und a{ in ihrem Zusammenbestehen gegenseitig auf, so dass ein beliebiges System in seiner reducirten Form entweder eine Anzahl von Objecten a oder eine Anzahl von Objecten at oder gar kein Object darbietet. Als Anzahlen treten daher nur ma oder mia oder 0 auf, und f\u00fcr ihre Multiplication gelten die Regeln l\u00abo-10 = la; 1\u00ab \u2022 10 = la ; !\u00abo \u2022 la, = l0i; 1 a \u25a0 I\u00df, = 10. Man gelangt auf diese Weise zu den positiven und negativen Zahlen. Um dieselben in der \u00fcblichen Form zu erhalten, ist blo\u00df la resp. 1^ durch + 1 und la^ resp. 1 a durch \u2014 1 zu ersetzen, wodurch zugleich erhellt, dass die Vorzeichen + und \u2014 nunmehr nicht blo\u00df als Zeichen f\u00fcr die Addition und Subtraction sondern auch zur Bestimmung der Art der Anzahlen dienen. \u2014 Soll hingegen die Beziehung des Theils zum Ganzen in der unbegrenzten Reihe von Denkakten a a \u2014 \u01534; a al =\t; \u00ab a,\n= **;\u2022\u2022\u2022 ihre Darstellung finden, so ist in der Reihe a, a{, ai: a3. . \u25a0 jedes Object (mit Ausnahme des ersten) ein bestimmter Theil des unmittelbar vorangehenden. Man erh\u00e4lt daher in den Anzahlen ma + mt a, +\u2022 mi \u00df2 + \u2022 \u2022 \u2022 die Mannigfaltigkeit der positiven reellen Zahlen, welche die ganzen und gebrochenen, rationalen und irrationalen und \u00fcberdies die algebraisch und transcendent irrationalen positiven Zahlen in sich schlie\u00dft.\nDiese Beispiele gen\u00fcgen, um zu zeigen, dass die allgemeinen Zahlen der Mathematik auf den iterirbaren Formen des beziehenden Denkens beruhen. Und da die Ausf\u00fchrung der Beziehungen stets eine Ordnung der aufeinander bezogenen Objecte bedingt, so ist es offenbar m\u00f6glich, durch die Untersuchung dieser Formen eine allgemeine Math ematik der objectiv begr\u00fcndeten ordnenden Beziehungen zu entwickeln.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 129\n7.\nIst hiernach die Unterscheidung zwischen dem erfassenden und dem beziehenden Denken f\u00fcr die Wissenschaft vom Denken \u00fcberhaupt und insbesondere f\u00fcr die Mathematik von grundlegender Bedeutung, so gestattet sie, wie man sich leicht \u00fcberzeugt, auch die Erfahrungswissenschaft vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden in zwei wesentlich verschiedene Gebiete zu trennen.\nJeder Erfahrungsinhalt ist n\u00e4mlich durch gewisse, in Denkakten vollzogene Bestimmungen gegeben. Und da sich das Denken sowohl im Erfassen als auch im Beziehen beth\u00e4tigt, so k\u00f6nnen die Bestimmungen, durch welche ein Inhalt gegeben ist und auf Grund welcher er der Untersuchung unterstellt wird, nicht nur im erfassenden sondern auch im beziehenden Denken ihre Quelle haben. Dass hierbei in jedem Falle das erfassende Denken in Betracht kommt, versteht sich von seihst. Denn jedes Beziehen setzt das Erfassen voraus. Es sind daher nur die beiden F\u00e4lle m\u00f6glich, dass einmal blo\u00df das erfassende Denken, ein andermal das beziehende zugleich mit dem erfassenden Denken den Erfahrungsinhalt darbietet.\nWird ein Akt des erfassenden Denkens, der durch a0a = a darstellbar ist, vollzogen, so liegt in demselben der Gegenstand a vor, der ohne E\u00fccksicht auf sonstige Bestimmungen besteht. Ein in solcher Weise gegebener Gegenstand soll ein Bewusstseinsinhalt hei\u00dfen. Es ist somit jeder Erfahrungsinhalt nothwendig und in erster Linie ein Bewusstseinsinhalt, und er ist nichts weiter als ein Bewusstseinsinhalt, wenn er lediglich durch die Beth\u00e4tigung des erfassenden Denkens gegeben ist.\nWird ferner ein Akt des beziehenden Denkens, der durch aa = ai darstellbar ist, vollzogen, so bedingt seine Ausf\u00fchrung das Erfassen von a und aK durch die beiden Denkakte u\u00fca \u2014 a und a0 ai \u2014 a{, die ohne weiteres mit a a = a{ gegeben sind. Er bietet somit die beiden Bewusstseinsinhalte a und a, dar. Beruht nun die Beziehung zwischen a und al einzig und allein auf dem Erfassen von a und aK, also darauf, dass a und aK als Bewusstseinsinhalte vorliegen, so ist Sle eine unmittelbare Folge des Zusammenbestehens von Bewusstseins-Balten und enth\u00e4lt eine auf Bewusstseinsinhalte sich beziehende \u00aerkenntniss. Sofern solche Erkenntnisse m\u00f6glich sind, gibt es eine\nWundt, Philos. Studien. XX.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130 *\nGotti. Friedr. Lipps.\nWissenschaft von den Bewusstseinsinhalten, die der Erfahrungswissenschaft vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden zugeh\u00f6rt.\nIst hingegen die Beziehung nicht durch das blo\u00dfe Erfassen von a und a{ bedingt, so bildet sie einen urspr\u00fcnglich und schlechthin gegebenen Bestandtheil der Erfahrung, der im Verein mit der That-sache, dass a und a{ als Bewusstseinsinhalte vorliegen, anerkannt werden muss. Zu der Bestimmtheit, die a und ai als Bewusstseinsinhalte besitzen, tritt somit noch die weitere, neue, im Akte des beziehenden Denkens gegebene Bestimmung, wonach das Bestehen von a das Bestehen von aK im Zusammenhang mit a zur Folge hat. Demgem\u00e4\u00df ersch\u00f6pft sich die Bedeutung von a nicht darin, ein Bewusstseinsinhalt zu sein; es muss ihm vielmehr \u00fcberdies die nicht in der Bestimmtheit des Bewusstseinsinhalts liegende M\u00f6glichkeit zuerkannt werden, das Auftreten von aK zu veranlassen, wonach es als die Ursache von a{ zu bezeichnen ist. In entsprechender Weise gewinnt a,, abgesehen davon, dass es als Bewusstseinsinhalt auftritt, die Bedeutung in seinem Bestehen von a abh\u00e4ngig zu sein und sonach als die Wirkung von a sich darzubieten. Ein in solcher Weise als Tr\u00e4ger einer Ursache oder einer Wirkung gegebener Gegenstand soll eine Substanz genannt werden.\nDa nun die Ursache als der substanziell bestehende Grund und die Wirkung als die substanziell bestehende Folge sich wechselweise bedingen, so k\u00f6nnen die Substanzen nicht beziehungslos existiren. Sind es doch gerade die von der Erfahrung dargehotenen und nicht in den Bewusstseinsinhalten als solchen begr\u00fcndeten Beziehungen, welche dazu n\u00f6thigen, den mit ihnen behafteten Gegenst\u00e4nden eine substanzielle Existenz zuzuschreiben. Das Erkennen solcher Beziehungen ist die Aufgabe der Wissenschaft von den Substanzen.\nDemgem\u00e4\u00df zerf\u00e4llt die Erfahrungswissenschaft vom gegenst\u00e4ndlich Bestehenden in die beiden Wissenschaften von den Bewusstseinsinhalten und von den Substanzen, sofern einerseits die Bewusstseinsinhalte auf der Beth\u00e4tigung des erfassenden Denkens und ihre Beziehungen auf den im erfassenden Denken zu Tage tretenden Thatsachen der Erfahrung beruhen, und sofern anderseits jede Substanz und zugleich jede Beziehung zwischen Substanzen auf einen im beziehenden Denken gegebenen Erfahrungsinhalt sich gr\u00fcndet,","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 131\nEs sind dies gesonderte Gebiete des Erkennens, da die Erforschung der Bewusstseinsinhalte von derjenigen der Substanzen der ganzen Art nach verschieden ist. Die Bewusstseinsinhalte sind n\u00e4mlich, weil sie dem erfassenden Denken ihr Dasein verdanken, keine kraftbegabte Substanzen. Sie sind unf\u00e4hig, Wirkungen auszu\u00fcben und in einer vermeintlichen Wirkungsweise sich zu unterst\u00fctzen oder zu hemmen. Sie k\u00f6nnen auch nicht durch eine ihnen innewohnende oder an sie herantretende Kraft ver\u00e4ndert werden. Ver\u00e4nderlich k\u00f6nnen sie darum nur in dem Sinne hei\u00dfen, dass von verschiedenen Bewusstseinsinhalten, die auf Grund gemeinsamer Bestimmungen einer und derselben Mannigfaltigkeit angeh\u00f6ren, der eine den andern ab-l\u00f6sen und jeder in gleicher Weise als Repr\u00e4sentant der Mannigfaltigkeit auftreten kann. Die Ver\u00e4nderlichkeit der Bewusstseinsinhalte findet somit ihr Urbild in der Ver\u00e4nderlichkeit der Zahl, die lediglich in der Ersetzbarkeit des einen Zahlenwerthes durch einen anderen, der n\u00e4mlichen Zahlenmannigfaltigkeit angeh\u00f6renden besteht. \u2014 Aber auch nicht als Wirkungen von Substanzen lassen sich die Bewusstseinsinhalte auffassen. Denn der Akt des erfassenden Denkens, welcher einen Bewusstseinsinhalt darbietet, ist kein AJct des beziehenden Denkens, und nur in einem solchen kann eine Wirkung vorliegen, die demnach selbst wieder nothwendig substanziell besteht.\nEben deswegen sind anderseits die Substanzen, da sie im beziehenden Denken gegeben werden, als das, was sie sind, nicht erfassbar. Sie existiren nur als Tr\u00e4ger von Kr\u00e4ften, durch welche sie aufeinander wirken und sich ver\u00e4ndern, oder als Tr\u00e4ger von Dispositionen, auf Grund welcher sie bef\u00e4higt sind, Entwicklungsprocesse zu durchlaufen.\nDen Substanzen, die in wechselnden Zust\u00e4nden beharren, Wirkungen aus\u00fcben und empfangen oder urspr\u00fcnglich vorhandene Anlagen zur Entfaltung bringen, treten so die lediglich in aufeinanderfolgenden Akten des erfassenden Denkens vorliegenden und als solche zusammenbestehenden Bewusstseinsinhalte gegen\u00fcber.\nDie beiden Gebiete unterscheiden sich aber nur durch die Weise des Erkennens, w\u00e4hrend die Gegenst\u00e4nde des Erkennens untrennbar zusammengeh\u00f6ren. Denn von den Substanzen lassen sich die Bewusstseinsinhalte nur in abstrahirendem Denken, nicht in der Wirklichkeit trennen. Es ist ja mit dem beziehenden Denken das\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nGotti. Friedr. Lipps.\nerfassende Denken unl\u00f6slich verkn\u00fcpft, so dass jedem als Bewusstseinsinhalt vorliegenden Gegenst\u00e4nde eine substanzielle Existenz zuerkannt werden muss, sobald er als der Tr\u00e4ger einer Ursache oder einer Wirkung in einem Akte des beziehenden Denkens auftritt.\nDiese Verwebung kann dazu verleiten, entweder den Bewusstseinsinhalten oder den Substanzen eine selbst\u00e4ndige Bedeutung abzusprechen, falls man die Thatsache, dass bei ihrer Bestimmung wesenthch verschiedene Betb\u00e4tigungsweisen des Denkens in Betracht kommen, au\u00dfer Acht l\u00e4sst.\nHat sich demgem\u00e4\u00df die Ansicht festgesetzt, dass es nur kraftbegabte Substanzen gebe, so sind die Bewusstseinsinhalte als Wirkungen von Substanzen aufzufassen und k\u00f6nnen blo\u00df in ihrer Abh\u00e4ngigkeit von denselben erforscht werden. Denn jede. Erkenntniss bez\u00fcglich der Bewusstseinsinhalte ist bei dieser Auffassungsweise auf die zu Grunde liegenden Substanzen zu beziehen. Da sich aber die Bewusstseinsinhalte, weil sie auf dem erfassenden Denken beruhen, nicht als Wirkungen von Substanzen begreifen lassen und doch unzweifelhaft bestehen, so ist ihr Vorhandensein ein unl\u00f6sbares R\u00e4thsel. \u2014 F\u00fchrt hingegen die Besinnung auf das unmittelbar Gegebene zu der Ansicht, dass die ganze Welt doch blo\u00df als Inhalt des Bewusstseins existire, so verfl\u00fcchtigen sich die Substanzen zu gewohnheitsm\u00e4\u00dfig aneinander gekn\u00fcpften Bewusstseinsinhalten und man muss darnach trachten, die gesammte Erfahrung als ein Gewebe von Bewusstseinsinhalten zu begreifen. Eine Wissenschaft von den Substanzen kann es alsdann nicht geben, da Substanz und Oausalit\u00e4t als unberechtigte Zuthaten des Denkens, das \u00fcber das unmittelbar Gegebene hinausgeht, aufzufassen sind.\nDie Einseitigkeit der einen und der anderen Auffassungsweise wird jedoch offenbar, wenn man beachtet, dass Denkgegenstand und Denkth\u00e4tigkeit sich wechselweise bedingen und bestimmen, und dass sich das Denken im Erfassen ebensowohl wie im Beziehen beth\u00e4tigt. Denn auf Grund dieser Thatsache muss man zugehen, dass die Gegenst\u00e4nde der Erfahrung im erfassenden und im beziehenden Denken gegeben werden und somit einerseits als Bewusstseinsinhalte, anderseits als Substanzen der Untersuchung zug\u00e4nglich sind.\nDie Zusammengeh\u00f6rigkeit dieser Untersuchungsgegenst\u00e4nde hebt aber ihre Selbst\u00e4ndigkeit und principielle Verschiedenheit nicht auf-","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 133\nDenn, indem ein Bewusstseinsinhalt den jeweils erfassbaren Zustand einer Substanz offenbart, ist er weder selbst die Substanz noch wird er durch dieselbe erzeugt; er ist vielmehr blo\u00df ein Symbol, das auf die Substanz hinweist, deren Wesen ganz und gar auf den Beziehungen, durch die sie bestimmt wird, beruht. Diese Symbole vertreten die Substanzen in den Akten des erfassenden Denkens. Sie k\u00f6nnen darum zwar nicht entbehrt werden, wenn man die Substanzen aufzeigen und kenntbcb machen will; sie sind jedoch nur ein H\u00fclfs-mittel, um auf Grund der in den Akten des beziehenden Denkens dargebotenen Erfahrungsthatsacben die Beschaffenheit der Substanzen zu erforschen. Ebenso dienen die Substanzen als Kennzeichen f\u00fcr das zu erwartende Auftreten von Bewusstseinsinhalten. Sie sind unentbehrlich, um in den ihre Ver\u00e4nderungen begleitenden Akten des erfassenden Denkens vorbestimmte und variirbare Successionen von Bewusstseinsinhalten zu erhalten und auf diese Weise das Studium der Bewusstseinsinhalte auf eine experimentelle Grundlage zu stellen.\nHiernach behaupten sich die Bewusstseinsinhalte und die Substanzen selbst\u00e4ndig nebeneinander, indem sie einander wechselweise entsprechen: es besteht ein Parallelismus zwischen Bewusstseinsinhalt und Substanz. Die Untersuchung desselben ist f\u00fcr die beiden Wissenschaften von den Bewusstseinsinhalten und von den Substanzen ein Bed\u00fcrfniss, das von jeder, soweit es erforderlich ist, befriedigt werden muss. Sie beansprucht jedoch \u00fcberdies eine selbst\u00e4ndige Bedeutung, so dass neben den beiden unterschiedenen Forschungsgebieten und im Anschluss an dieselben ein Grenzgebiet anzuerkennen ist, das den Umfang und die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten in dem wechselweisen Entsprechen von Bewusstseinsinhalten und Substanzen zu erforschen hat. Der Parallelismus selbst ist aber nicht etwa \u2014 im Widerspruch mit den obigen Er\u00f6rterungen \u2014 als eine Abart causaler Beziehungen zu erkl\u00e4ren, sondern als eine Thatsache hinzunehmen, die darin ihre Erkl\u00e4rung findet, dass das beziehende Denken, in dem die Substanzen gegeben werden, und das erfassende Denken, in dem die Bewusstseinsinhalte vorliegen, in der Wirklichkeit untrennbar zusammengeh\u00f6ren und nur in der Reflexion unterscheidbar sind. Darum existirt weder die Welt der Bewusstseinsinhalte noch die Welt der Substanzen f\u00fcr sich allein, sondern beide","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nGotti. Friedr. Lipps.\nzusammen bilden in ihrer Verwebung die eine, wirkliche \"Welt des gegenst\u00e4ndlich Bestehenden.\nWird in dieser Weise die Trennung der Erfahrungswissenschaft in zwei Gebiete, die in einem Grenzgebiete Zusammenh\u00e4ngen, durch die Betrachtung der Denkth\u00e4tigkeit, welche den Erfahrungsinhalt darbietet, ohne weiteres gefordert, so kann hingegen nicht die Reflexion \u00fcber das Denken, sondern nur die Feststellung des gegenst\u00e4ndlich Bestehenden lehren, was f\u00fcr Substanzen und was f\u00fcr Bewusstseinsinhalte existiren und in wie weit sie einander entsprechen : der Inhalt und der Umfang eines jeden Forschungsgebietes wird durch die Erfahrung bestimmt.\n8.\nEs ist aber von Interesse, mit dieser erkenntnisstheoretisch begr\u00fcndeten Trennung die herk\u00f6mmliche Spaltung der Erfahrungswissenschaft in Naturwissenschaften und Psychologie zu vergleichen. Hierbei ist folgende Bemerkung zu beachten.\nMit Erw\u00e4gungen \u00fcber die Grundlagen des Erkennens pflegt die auf Gegenst\u00e4nde der Erfahrung gerichtete wissenschaftliche Arbeit nicht zu beginnen. Man wird es vielmehr als die Regel bezeichnen d\u00fcrfen, dass volksth\u00fcmliche Erkenntnisse den Ausgangspunkt bilden und einzelne Probleme, deren L\u00f6sung von allgemeinerem Interesse ist, den Fortgang bestimmen. Die verschiedenen Zweige der Erfahrungswissenschaft, die der historischen Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntniss ihr Dasein und den Grad ihrer Ausbildung verdanken, werden darum die soeben abgeleitete Gliederung nicht unmittelbar hervortreten lassen; sie werden ihr aber doch insoweit entsprechen m\u00fcssen, dass jeder, einer bestimmten Auffassung f\u00e4hige, selbst\u00e4ndige Zweig entweder der Lehre von den Substanzen oder der Lehre von den Bewusstseinsinhalten zugewiesen werden kann. Denn w\u00e4re dies nicht der Fall, so l\u00e4ge ein Gemenge von Erkenntnissen vor, das nur unter Verkennung der principiellen Verschiedenheit der Bewusstseinsinhalte und der Substanzen als zusammengeh\u00f6rig angesehen werden k\u00f6nnte und, da es in \"Wahrheit nicht zusammengeh\u00f6rt, einer einheitlichen Zusammenfassung widerstreiten m\u00fcsste.\nNun geh\u00f6ren die Naturwissenschaften zweifellos der Lehre von den Substanzen an, da jedes Naturobject substanziell besteht und","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 135\nmit H\u00fclfe des Parallelismus zwischen Bewusstseinsinhalt und Substanz in seiner wahren d. h. substanziellen Beschaffenheit erforscht wird. Eine entsprechend einheitliche Zuweisung zu der Lehre von den Substanzen oder von den Bewusstseinsinhalten ist hingegen f\u00fcr die gemeinhin als Psychologie bezeichneten Erkenntnisse nicht durchf\u00fchrbar , selbst wenn man unter diesem Namen nicht eine alle anderen Wissenschaften, auch Logik und Mathematik, umschlie\u00dfende oder vorbereitende Grundwissenschaft, sondern eine reine Erfahrungswissenschaft begreift und davon absieht, dass die Erfahrung durch willk\u00fcrliche Annahmen verf\u00e4lscht und ihre Auffassung mit Unklarheiten behaftet sein kann.\nDies weist darauf hin, dass es principiell verschiedene Gebiete des Erkennens sind, die in gleicher Weise als Psychologie bezeichnet zu werden pflegen.\nWill n\u00e4mlich die Psychologie eine Lehre von der Seele sein, die als Tr\u00e4gerin von Kr\u00e4ften und F\u00e4higkeiten irgendwie sei es materiell sei es immateriell existirt, so ist sie ein Bestandtheil der Wissenschaft von den Substanzen. Sie kann alsdann gleich den Naturwissenschaften die Bewusstseinsinhalte blo\u00df als Symbole ben\u00fctzen, die auf erfahrungsgem\u00e4\u00df gegebene und substanziell bestehende seelische Kr\u00e4fte und F\u00e4higkeiten hindeuten. Nennt man die letzteren, da sie als solche nicht erfassbar sind, im Gegensatz zu den Bewusstseinsinhalten das \u00bbUnbewusste\u00ab, so hat diese Wissenschaft die Erforschung des Unbewussten zur Aufgabe. Sie wird so von der Wissenschaft von den Bewusstseinsinhalten, nicht aber von den Naturwissenschaften abgetrennt. Denn auch die Naturobjecte sind blo\u00df in Akten des beziehenden Denkens als Substanzen und nicht als Bewusstseinsinhalte gegeben, so dass sie gleichfalls dem Reiche des Unbewussten angeh\u00f6ren. Es kann daher erst auf Grund eines vollst\u00e4ndig entwickelten Substanzbegriffs, der auf der Er\u00f6rterung der verschiedenen Beth\u00e4tigungsweisen des beziehenden Denkens und auf der Feststellung der in solchen Beth\u00e4tigungen gegebenen Thatsachen der Erfahrung beruhen muss, die Grenzlinie zwischen der Lehre von den Naturobjecten und der Lehre von der substanziellen Seele innerhalb der Wissenschaft von den Substanzen gezogen werden.\nVon vornherein jedoch ist klar, dass diese Psychologie die Wissenschaft von den Bewusstseinsinhalten nicht in sich aufnehmen","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nGrottl. Friedr. Lipps.\nkann. Denn die Bewusstseinsinhalte sind keine kraftbegabte Substanzen. Der Satz Herbart\u2019s: \u00bbVorstellungen werden Kr\u00e4fte, indem sie einander widerstehen\u00ab, mit dem die Darlegung der Grundlehre in seinem Lehrbuche zur Psychologie beginnt, kann folglich \u2014 da die Vorstellungen Bewusstseinsinhalte sind \u2014 unm\u00f6glich Geltung beanspruchen. Die Bewusstseinsinhalte sind aber auch nicht als Wirkungen von Substanzen denkbar. Man kann daher nur die Thatsache feststellen, dass sie als Begleiter substanzieller Processe auftreten. Und diese Thatsache besteht urspr\u00fcnglich und schlechthin, ohne einer Ableitung f\u00e4hig zu sein, da sie auf dem untrennbaren Zusammen des beziehenden und erfassenden Denkens beruht. \u2014 Zugleich erhellt, dass der Parallelismus zwischen Bewusstseinsinhalt und Substanz nichts mit einer behaupteten oder in Zweifel gezogenen Wechselwirkung zwischen einer physischen und einer psychischen Substanz, zwischen substanziellem Leib und substanzieller Seele zu thun hat. Er besteht vielmehr zwischen den Bewusstseinsinhalten und der mit Kr\u00e4ften und F\u00e4higkeiten begabten Seele ebenso wie zwischen den Bewusstseinsinhalten und den in mechanischen und chemischen Processen sich kr\u00e4ftig erweisenden Naturobjecten.\nErforscht hingegen der Psychologe das, was er unmittelbar f\u00fchlt und empfindet, so geh\u00f6ren seine Forschungen \u2014 weil das Gef\u00fchlte und Empfundene als Bewusstseinsinhalt gegeben ist \u2014 der Lehre von den Bewusstseinsinhalten an. Denn die Empfindungen und Gef\u00fchle sind als das, was sie sind, und nicht als Symbole f\u00fcr Substanzen die Gegenst\u00e4nde der Untersuchung, w\u00e4hrend die Substanzen, m\u00f6gen sie materiell oder immateriell existiren und die Tr\u00e4ger physischer oder psychischer Kr\u00e4fte sein, blo\u00df als Zeichen f\u00fcr das Auftreten bestimmter Bewusstseinsinhalte und bestimmter Successionen von Bewusstseinsinhalten auf Grund des Parallelismus zwischen Bewusstseinsinhalt und Substanz Ber\u00fccksichtigung finden. Es kommt daher hier eine substanziell bestehende materielle oder immaterielle Seele als Object der Forschung \u00fcberhaupt nicht in Betracht: ihre Existenz wird weder vorausgesetzt noch bestritten.\nDie Berechtigung, die Lehre von den Bewusstseinsinhalten als Psychologie in Anspruch zu nehmen, liegt aber darin, dass man die Bewusstseinsinhalte allgemein psychische oder seelische Erlebnisse zu nennen pflegt. Das Wort \u00bbSeele\u00ab dient alsdann \u2014 ohne B\u00fccksicht-","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 137\nn\u00e4hme auf den volksth\u00fcmlichen Sprachgebrauch, der f\u00fcr die Wissenschaft nicht bindend ist \u2014 zur Bezeichnung der Gesammtheit der Erlebnisse, die das Lehen des Menschen erf\u00fcllen. Die Psychologie ist alsdann die Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, als welche sie von Wundt definirt wird; denn unter unmittelbarer Erfahrung hat man die im erfassenden Denken durch Empfindungen und Gef\u00fchle gegebene zu verstehen. F\u00fcr dieselbe kann in der That, wie Wundt1) sagt, \u00bbdie Seele nie etwas anderes sein als der thats\u00e4chlich gegebene Zusammenhang der psychischen Erlebnisse, nichts was zu diesen von au\u00dfen oder von innen hinzukommt\u00ab. Stellt man ihr die Naturwissenschaften als Physik (im weitesten Sinne des Wortes) gegen\u00fcber, so ist der Parallelismus zwischen Bewusstseinsinhalt und Naturobject als psychophysischer Parallelismus und seine Erforschung als die Aufgabe der Psychophysik zu bezeichnen.\nIII. Die Bewusstseinsinhalte als Combinationen von Elementen und ihre Mannigfaltigkeiten.\n9.\nDie Gegenst\u00e4nde, welche die Wissenschaft von den Bewusstseinsinhalten zu untersuchen hat, werden wie alle Gegenst\u00e4nde in Denkakten gegeben. Das Besondere liegt nur darin, dass ausschlie\u00dflich Akte des erfassenden Denkens in Betracht kommen und in denselben thats\u00e4chlich Bestehendes zur Beachtung und Anerkennung gelangt.\nDa nicht das erfassende Denken selbst, sondern der in ihm hervortretende Erfahrungsinhalt zu untersuchen ist, so handelt es sich nicht um einzelne Bestimmungen, in denen sich das Denken offenbart, sondern um die mit den Bestimmungen behafteten Gegenst\u00e4nde. Die letzteren bieten sich erfahrungsgem\u00e4\u00df als die Tr\u00e4ger von Vereinen zusammengeh\u00f6riger Bestimmungen dar. Sie existiren aber nebst ihren Bestimmungen blo\u00df im erfassenden Denken. Als solche sind sie zwar wie selbst\u00e4ndige Gegenst\u00e4nde zu behandeln; sie d\u00fcrfen jedoch nicht als Einzeldinge oder Vorstellungsobjecte in dem fr\u00fcher angegebenen Sinne aufgefasst werden, eben weil von dem im beziehenden Denken gegebenen Erfahrungsinhalte abgesehen wird.\n1) V\u00f6lkerpsychologie I. 1. 1900; S. 9.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nGotti. Friedr. Lipps.\nEs lassen sich nun zwei Arten empirischer Zusammengeh\u00f6rigkeit von Bestimmungen und hiernach zwei Arten von Untersuchungsgegenst\u00e4nden unterscheiden.\nEinerseits geh\u00f6ren Bestimmungen zusammen, wenn die eine zugleich mit den anderen erfasst wird. Man kann alsdann von der einen blo\u00df unter Abstraction von den anderen reden. Wird die Abstraction vollzogen, so l\u00e4sst sich jede einzelne Bestimmung als Inhalt des Bewusstseins bezeichnen. In Wirklichkeit liegen jedoch zugleich die anderen vor; sie k\u00f6nnen nur hei der Beurtheilung au\u00dfer Acht gelassen werden. Um diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, soll nicht jede f\u00fcr sich der Beurtheilung zug\u00e4ngliche Einzelbestimmung, sondern lediglich der in einem Akte des erfassenden Denkens thats\u00e4chlich vorhegende Verein zusammengeh\u00f6riger Bestimmungen ein Bewusstseinsinhalt genannt werden. Die Bewusstseinsinhalte sind somit die Untersuchungsgegenst\u00e4nde erster Art.\nAnderseits geh\u00f6ren Bestimmungen zusammen, auch wenn sie in verschiedenen Akten des Erfassens gegeben sind und demnach ein System von Bewusstseinsinhalten bilden, falls nur die letzteren sich der Erfahrung zufolge als zusammenh\u00e4ngend darbieten. Die Untersuchungsgegenst\u00e4nde zweiter Art sind folglich die verschiedenartigen, den Zusammenhang des Erlebten bedingenden Vergesellschaftungen von Bewusstseinsinhalten.\nEs sind demgem\u00e4\u00df sowohl die Beziehungen, welche in der Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte begr\u00fcndet sind, als auch die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten des Zusammenhangs, in welchem die Bewusstseinsinhalte erlebt werden, zu erforschen.\nVon dem weiten Untersuchungsgebiete, das sich so er\u00f6ffnet, soll indessen hier nur ein kleiner Theil betreten werden. Denn lediglich die Bewusstseinsinhalte seihst, nicht ihre Vergesellschaftungen kommen in Betracht und es soll \u00fcberdies blo\u00df eine empirisch zul\u00e4ssige und logisch begr\u00fcndete Auffassungsweise derselben entwickelt werden, die eine Ableitung der erfahrungsgem\u00e4\u00df bestehenden Beziehungen erm\u00f6glicht und so den Zugang zu der allgemeinen Theorie der auf Grund jener Beziehungen in sich zusammenh\u00e4ngenden Manmg' faltigkeiten von Bewusstseinsinhalten er\u00f6ffnet.","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 139\n10.\nDa hierbei die empirisch einfache oder zusammengesetzte Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte eine wesentliche Bedeutung erlangt, so ist zun\u00e4chst festzustellen, was die einfachen und die zusammengesetzten Bewusstseinsinhalte der Erfahrung zufolge sind und wodurch sie sich von einander unterscheiden.\nJeder Bewusstseinsinhalt besteht gesondert von jedem anderen in unanfechtbarer Einheit und Selbst\u00e4ndigkeit auf Grund des ihn darbietenden Aktes des erfassenden Denkens, zu dem sich nichts hinzuf\u00fcgen und von dem sich nichts wegnehmen l\u00e4sst. Sofern er aber als der Tr\u00e4ger zusammengeh\u00f6riger Bestimmungen Gegenstand der Untersuchung ist, kann er durch den Verein dieser Bestimmungen charakterisirt und mit K\u00fccksicht auf dieselben als einfach oder zusammengesetzt bezeichnet werden.\nEs haben n\u00e4mlich zwei Bewusstseinsinhalte A und B als gleich zu gelten, wenn dem einen und dem anderen jede der Beurtheilung zug\u00e4ngliche und in Betracht gezogene Bestimmung zukommt. Trifft dies nicht zu, so sind sie als verschieden anzusehen. Sind nun A und B in diesem Sinne verschieden, so ist es m\u00f6glich, dass zwar die Bestimmungen von B auch A zugeh\u00f6ren, dass hingegen die Bestimmungen von A nicht insgesammt mit denjenigen von B identisch sind. Der Verein der Bestimmungen von B ist in diesem Falle in dem Verein der Bestimmungen von A enthalten: A ist ein zusammengesetzter Bewusstseinsinhalt und B ist ein Bestandtheil von A. Ebenso wie B sind auch die Bewusstseinsinhalte C, D . . . Bestandteile von A, wenn die Vereine ihrer Bestimmungen, jeder f\u00fcr sich betrachtet, in A vorliegen. A ist hingegen ein einfacher Bewusstseinsinhalt, wenn kein anderer Bewusstseinsinhalt in Erfahrung gebracht werden kann, dessen Bestimmungen vereint in den Bestimmungen von A erfasst werden.\nEs l\u00e4sst sich sonach nicht von vorn herein bestimmen, welche Bewusstseinsinhalte einfach und welche zusammengesetzt sind. Denn ohne R\u00fccksichtnahme auf die Erfahrung kann man nur sagen, dass jeder Bewusstseinsinhalt, m\u00f6ge er einfach oder zusammengesetzt sein, in einem einheitlichen und selbst\u00e4ndigen Akte des Erfassens als Tr\u00e4ger zusammengeh\u00f6riger Bestimmungen gegeben wird.\nAuch kann nicht im Gebiete der substanziellen Vorg\u00e4nge, die","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nGotti. Friedr. Lipps.\nerfahrungsgem\u00e4\u00df den Bewusstseinsinhalten zur Seite stehen, ein Kennzeichen f\u00fcr die einfache oder zusammengesetzte Beschaffenheit der letzteren gesucht werden. Es wird ja das im erfassenden Denken Gegebene nicht durch jene Vorg\u00e4nge verursacht, da es nicht seinerseits substanziell besteht. Und wenn es auch denkbar ist, dass den einfachen Bewusstseinsinhalten einfache substanzielle Processe im Leibe des Menschen oder in der \u00e4u\u00dferen Welt entsprechen, so darf dies doch, so lange der Nachweis fehlt, nicht als eine Thatsache angesehen werden. Der Nachweis l\u00e4sst sich aber erst erbringen, wenn die einfachen Bewusstseinsinhalte einerseits und die einfachen substanziellen Vorg\u00e4nge anderseits bereits bekannt sind, und der zwischen denselben etwa vorhandene Parallelismus gepr\u00fcft wird. Der Parallelismus zwischen Bewusstseinsinhalt und Substanz kann darum nicht als Leitfaden bei der Feststellung der einfachen Bewusstseinsinhalte dienen.\nLassen sich aber die letzteren nur auf Grund unmittelbaren Erlebens und Vergleichen bestimmen, so ist klar, dass ein Bewusstseinsinhalt nicht an und f\u00fcr sich, sondern nur mit R\u00fccksicht auf die bereits erlebten einfach oder zusammengesetzt ist. Er kann daher ebensowohl, wofern die zum Vergleiche nothwendigen Erlebnisse nicht zu Gebote stehen, als einfach sich erweisen, wie auch, falls der erforderliche Reichtum an Erfahrung vorhanden ist, als zusammengesetzt erkannt werden.\nHieraus folgt, dass der einfache und der zusammengesetzte Bewusstseinsinhalt nicht der Art nach von einander verschieden sind, sondern gleichartige Bestimmungen besitzen. Was f\u00fcr Bestimmungen dies sind, lehrt folgende Erw\u00e4gung.\nDa ein Bewusstseinsinhalt nur existirt, sofern er erfasst wird, so bedingt sein Dasein eine Beth\u00e4tigung des erfassenden Denkens. Je nachdem diese Th\u00e4tigkeit in st\u00e4rkerem oder schw\u00e4cherem Ma\u00dfe auf-tritt, liegt ein Mehr oder Minder des Erfassten vor. Hierin stellt sich die Intensit\u00e4t des Bewusstseinsinhalts dar, die somit nicht als eine Kraft\u00e4u\u00dferung des letzteren (die gar nicht denkbar w\u00e4re), sondern als eine mehr oder minder starke Inanspruchnahme des erfassenden Denkens zu deuten ist. Die Th\u00e4tigkeit des Erfassens muss aber auch in bestimmter Weise erfolgen. Die Weise des Erfassens findet in der Qualit\u00e4t des Bewusstseinsinhalts ihre Verwirklichung.","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 141\nDie Intensit\u00e4t und die Qualit\u00e4t sind die zur Charakterisirung eines Bewusstseinsinhaltes nothwendigen und hinreichenden Bestimmungen. Sie sind nothwendig, weil das Erfassen sowohl ein bestimmtes Ma\u00df als auch eine bestimmte Form haben muss. Die beiden Bestimmungen sind daher ihrem Wesen nach untrennbar aneinander gebunden, so dass von jeder einzelnen nur unter Abstraction von der anderen geredet werden kann. Sie sind ferner hinreichend, weil au\u00dfer dem Ma\u00dfe und der Form des Erfassens nichts weiter in dem Akte des erfassenden Denkens, der den Bewusstseinsinhalt darhietet, seine Ausgestaltung finden kann.\nDies hat zur Folge, dass jedes Urtheil, welches eine Aussage \u00fcber die Existenz oder die Beziehungen eines Bewusstseinsinhaltes enth\u00e4lt, entweder auf die Intensit\u00e4t oder auf die Qualit\u00e4t oder auf beide Bestimmungen zugleich sich gr\u00fcnden muss. Wenn also zwei Bewusstseinsinhalte A und B hinsichtlich der Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t vollkommen \u00fchereinstimmen, so gilt jedes Urtheil \u00fcber A zugleich von B und in dem so bestimmten Sinne ist A gleich B. Eine Verschiedenheit muss hingegen anerkannt werden, falls nicht sowohl die Intensit\u00e4ten als auch die Qualit\u00e4ten identisch sind. A und B sind alsdann entweder intensiv verschieden und qualitativ gleich oder intensiv gleich und qualitativ verschieden oder sowohl intensiv als auch qualitativ verschieden.\nEs fragt sich nun, in wiefern A zusammengesetzt und B ein Bestandteil von A sein kann.\nBeachtet man blo\u00df die Intensit\u00e4ten unter Absehen von den Qualit\u00e4ten, so ist klar, dass jede kleinere Intensit\u00e4t als Bestandtheil einer gr\u00f6\u00dferen sich auffassen l\u00e4sst, da die st\u00e4rkere Bet\u00e4tigung des Erfassens die schw\u00e4chere ohne weiteres in sich schlie\u00dft. Es kann daher, soweit die Intensit\u00e4ten in R\u00fccksicht kommen, B ein Bestandtheil von A sein, wenn die Intensit\u00e4t von B schw\u00e4cher ist als diejenige von A. Bez\u00fcglich der Qualit\u00e4ten l\u00e4sst sich jedoch keine solche allgemeing\u00fcltige Bedingung angeben. Denn die Weise des Erfassens kann nicht als solche, sondern nur durch den Hinweis auf die Qualit\u00e4t, in der sie zu Tage tritt, charakterisirt werden. Darum ist es nicht m\u00f6glich, von vorn herein anzugeben, oh und in wie weit eine bestimmte Weise des Erfassens eine andere in sich bergen k\u00f6nne. Hier\u00fcber entscheidet lediglich die Erfahrung. Auf Grund der Erfahrung","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nG-ottl. Friedr. Lipps.\nmuss aber anerkannt werden, dass in der That in der gegebenen Qualit\u00e4t von A diejenige von B zugleich vorliegen und somit die durch B bedingte und bestimmte Weise des Erfassens in derjenigen von A enthalten sein kann. Das Gleiche gilt von den Qualit\u00e4ten der Bewusstseinsinhalte C, D . . . mit Bezug auf A. Trifft dies zu, so k\u00f6nnen \u00fcberdies, wie gleichfalls die Erfahrung lehrt, die Qualit\u00e4ten von B, C, D . . . unabh\u00e4ngig von einander in der Qualit\u00e4t von A vorhanden sein und in ihrer Vereinigung die Qualit\u00e4t von A vollst\u00e4ndig bestimmen. Alsdann zerf\u00e4llt nicht etwa die letztere, sie ist vielmehr der einheitlich d. h. in einem Akte des Erfassens vorliegende Verein der Qualit\u00e4ten von B, C, D . . . Dem entsprechend ist auch die Erfassungsweise von A nicht zerspalten, wohl aber aus den Erfassungsweisen von B, C, D . . . bestehend zu denken.\nHiernach ist von den Bewusstseinsinhalten B, C, D . . . jeder einzelne, f\u00fcr sich genommen, als ein Bestandtheil von A anzusehen, wenn seine Intensit\u00e4t kleiner als diejenige von A ist und wenn seine Qualit\u00e4t nach Ausweis der Erfahrung in derjenigen von A vorliegt. Dies gilt unabh\u00e4ngig davon, ob von diesen Bestandtheilen der eine ohne den anderen, oder ob der eine v\u00f6llig oder theilweise im anderen sich darbietet. Sind insbesondere B, C, D . . . unabh\u00e4ngig von einander, und ist das Zusammen ihrer Intensit\u00e4ten gleich der Intensit\u00e4t von A und das Zusammen ihrer Qualit\u00e4ten gleich der Qualit\u00e4t von A, so stellt sich A als die Combination von B, C, D . . . dar. In diesem besonderen Falle kann\nA = [B, C, D . . .]\ngesetzt werden.\nDem ist hinzuzuf\u00fcgen, dass jeder Bestandtheil von A sowohl qualitativ als auch intensiv von A verschieden anzunehmen ist. Denn es l\u00e4sst sich zwar von je zwei qualitativ gleichen Bewusstseinsinhalten der schw\u00e4chere als ein Bestandtheil des st\u00e4rkeren bezeichnen, weil die kleinere Intensit\u00e4t in der gr\u00f6\u00dferen enthalten ist. Es macht sich dies jedoch, eben wegen des Mangels an qualitativer Verschiedenheit, in der Auffassung der Bewusstseinsinhalte nicht geltend, so dass der schw\u00e4chere nicht als ein Bestandtheil des st\u00e4rkeren einer gesonderten Beurtheilung f\u00e4hig ist. W\u00fcrde ferner der Bestandtheil intensiv gleich A und nur hinsichtlich der Qualit\u00e4t von A verschieden vorausgesetzt,","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 143\nso m\u00fcsste er die in A sich verwirklichende Th\u00e4tigkeit des Erfassens vollkommen in Anspruch nehmen, ohne dieselbe ihrer Form nach zum Ausdruck zu bringen. Ein solcher Bestandteil w\u00e4re aber undenkbar.\nSo ergibt sich denn die Einsicht, dass sowohl die einfachen als auch die zusammengesetzten Bewusstseinsinhalte durch ihre Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t vollst\u00e4ndig bestimmt werden. Ein Unterschied besteht nur darin, dass in der Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t eines zusammengesetzten Bewusstseinsinhaltes zugleich die Intensit\u00e4t und Qualit\u00e4t von mindestens einem anderen Bewusstseinsinhalte wahrnehmbar ist, w\u00e4hrend dies \u2014 soweit die Erfahrung lehrt \u2014 f\u00fcr einen einfachen Bewusstseinsinhalt nicht zutrifft.\n11.\nPasst man nunmehr die Beziehungen ins Auge, welche erfahrungsgem\u00e4\u00df zwischen den Bewusstseinsinhalten bestehen und auf der intensiven und qualitativen Beschaffenheit derselben beruhen, so tritt der angegebene Unterschied in bemerkenswerther Weise zu Tage.\nSind n\u00e4mlich die aufeinander bezogenen Bewusstseinsinhalte zusammengesetzt, so ist es m\u00f6glich, die Beziehungen gegebenen Falls durch den Hinweis auf ihre Bestandtheile verst\u00e4ndlich zu machen. F\u00fcr die einfacheren Bewusstseinsinhalte hingegen, die gleichfalls zu einander in mannigfach abgestufte Beziehungen der Aehnlichkeit und der Yerwandtschaft, der Benachbarung und des Gegensatzes treten, ist diese M\u00f6glichkeit nicht vorhanden.\nEine in der angedeuteten Weise erkl\u00e4rbare Beziehung zwischen zusammengesetzten Bewusstseinsinhalten besteht indessen unabh\u00e4ngig von ihrer Erkl\u00e4rung. Denn sie gr\u00fcndet sich auf die unmittelbar erfasste Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte, an der die Wahrnehmung von Bestandtheilen nichts \u00e4ndert. Sie ist somit vorhanden, auch wenn die letzteren noch nicht f\u00fcr sich allein erlebt worden sind und darum nicht nachgewiesen werden k\u00f6nnen. Die Beziehung ist alsdann eine unerkl\u00e4rte Thatsache. Da sie aber ihre Erkl\u00e4rung findet, sobald die Bestandtheile wahrgenommen werden, so ist sie auch schon vorher durch die Annahme von Bestandtheilen erkl\u00e4rbar, falls hierf\u00fcr blo\u00df das Vorhandensein oder Fehlen derselben, nicht aber ihre qualitative Eigenart, die erlebt werden muss und nur als Erlebniss gegeben sein kann, in Betracht kommt.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nGotti. Friedr. Lipps.\nDas Beachten dieser M\u00f6glichkeit regt zu dem Versuche an, die Voraussetzung von empirisch nicht nachweisbaren Bestandtheilen zum Erkl\u00e4rungsgrund gegebener Beziehungen zu machen und in dieser Absicht auch die erfahrungsgem\u00e4\u00df einfachen Bewusstseinsinhalte als im allgemeinen zusammengesetzt anzunehmen.\nDiese Annahme steht mit der Erfahrung nicht in Widerspruch. Denn die Bewusstseinsinhalte sind, wie bereits bemerkt wurde, nicht an und f\u00fcr sich sondern lediglich im Vergleiche mit anderen, als Erlebnisse vorliegenden Bewusstseinsinhalten einfach oder zusammengesetzt. Eine zusammengesetzte Beschaffenheit muss daher auch da noch als denkbar gelten, wo sie nicht als Thatsache gegeben ist. Sie darf somit vorausgesetzt werden, falls dies den Interessen des Er-kennens dienlich ist.\nWird demgem\u00e4\u00df angenommen, dass an einem Bewusstseinsinhalte ein als solcher nicht empirisch wahrnehmbarer Bestandtheil vorhanden sei, so muss er, da er anders nicht denkbar ist, eine Intensit\u00e4t und eine Qualit\u00e4t besitzen. Auf Grund derselben gewinnt er f\u00fcr das Denken den Charakter eines Bewusstseinsinhaltes, ohne jedoch in Wirklichkeit einer zu sein, da er in keinem Akte des erfassenden Denkens gegeben ist. Er soll ein Element des Bewusstseinsinhalts oder ein Element schlechthin genannt werden. Die Intensit\u00e4t des Elementes unterliegt nur der Beschr\u00e4nkung, kleiner zu sein als die Intensit\u00e4t des Bewusstseinsinhaltes, dem das Element zugeh\u00f6rt; sie kann daher in jeder mit dieser Bedingung vertr\u00e4glichen St\u00e4rke vorausgesetzt werden. Bez\u00fcglich der Qualit\u00e4t hingegen l\u00e4sst sich blo\u00df behaupten, dass sie in der Qualit\u00e4t des Bewusstseinsinhaltes enthalten sei, w\u00e4hrend ihre Eigenart, eben weil sie nicht erlebt wird, durchaus unbekannt bleibt. Wird die Qualit\u00e4t des Elementes durch a, die Intensit\u00e4t durch den reellen, positiven Zahlenwerth x als Index von a angedeutet, so erh\u00e4lt das Element selbst in dem Symbole % eine zutreffende Darstellung; sie bringt zum Ausdruck, dass im allgemeinen die Qualit\u00e4t a in verschiedenen Bewusstseinsinhalten mit verschiedener, durch den variablen Index x markirter St\u00e4rke auftretend zu denken ist. Entsprechend sind andere Elemente durch by, e3, du . . . darzustellen, wo b, c, d . . . die Qualit\u00e4ten und die reellen, positiven Zahlen y,x,u... die variablen Intensit\u00e4ten bezeichnen.\nEs w\u00e4re denkbar, dass diese Elemente unter einander ebenso wie","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 145\ndie Bewusstseinsinhalte, deren Bestandteile sie sind, in gewissen Beziehungen stehen. Dann h\u00e4tte es jedoch keinen Zweck sie vorauszusetzen, da gerade die Beziehungen ihre Erkl\u00e4rung finden sollen. Auch ist nicht anzunehmen, dass die Qualit\u00e4t des einen Elementes diejenige eines anderen in sich schlie\u00dfe oder mit derselben etwas gemeinsam habe ; denn sie w\u00fcrde sich so ihrerseits als' zusammengesetzt erweisen. Die Elemente sind daher als schlechthin von einander verschieden und frei von allen Beziehungen in die Untersuchung einzuf\u00fchren, so dass sie nur combinirbar sind und in den verschiedenen Comhinationen mit wechselnder Intensit\u00e4t auftreten k\u00f6nnen.\nDemgem\u00e4\u00df sind die Bewusstseinsinhalte \u00fcberhaupt und die empirisch einfachen Bewusstseinsinhalte insbesondere als Comhinationen von intensiv abstufbaren und qualitativ schlechthin verschiedenen Elementen aufzufassen und es sind ihre Beziehungen aus den Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten, von welchen die Comhinationen beherrscht werden, abzuleiten.\nEs ist daher, wenn der Bewusstseinsinhalt A der Annahme nach aus den n Elementen ax, by, cz . . . besteht,\nA = [ax, by, cz . . .]\nzu setzen, wo n jeden positiven ganzzahligen Werth annehmen kann und die Anordnung der Elemente innerhalb der Klammem keine Bedeutung hat, da ax, by, cz . . . beziehungslos sind und lediglich ihr Zusammensein in Betracht kommt. Gibt es nun keine, aus den Elementen ax, by, cz . . . herstellbare Combination, die nicht alle % Elemente aufweist und dennoch ohne die \u00fcbrigen, f\u00fcr sich allein, als Bewusstseinsinhalt erlebt wird, so ist A ein einfacher Bewusstseinsinhalt, anderenfalls ist A zusammengesetzt. Da aber jede f\u00fcr sich erfassbare Combination von Elementen durch Klammern kenntlich gemacht werden kann, so l\u00e4sst sich der einfache Bewusstseinsinhalt vom zusammengesetzten auch in der Form der Darstellung unterscheiden.\nEs ist somit beispielsweise bei Beschr\u00e4nkung auf nur drei Elemente\nA = [ax, by, cj\nemfach, w\u00e4hrend die Bewusstseinsinhalte\n\\axi \\Py\\ > cz] ! [[\u00aeaxl) by, [cz] ] i [[%-, Cg], iyj\nWindt, Philos. Studien. XX.\tIQ","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nGotti. Friedr. Lipps.\nzusammengesetzt sind, da hier [by] oder [ax] und [cz] oder schlie\u00dflich [ax, cg] als empirisch gegebene Bestandtheile auftreten. Ist neben [dj] und [ej oder neben [ax, cz] zugleich [by] f\u00fcr sich allein erfassbar, so stellen die Bewusstseinsinhalte\n[[\u00aex] ) \\Pij\\ J [Cj]> [ \\\u00dfx )\t[by] |\neinheitlich und selbst\u00e4ndig erfasste Combinationen von Bewusstseinsinhalten dar.\nZur Charakterisirung dieser Darstellung der Bewusstseinsinhalte durch empirisch nicht aufzeigbare Elemente erscheint es zweckm\u00e4\u00dfig, auf die Zerlegung der Substanzen in der Chemie und auf die Zusammensetzung der Kr\u00e4fte in der Mechanik hinzuweisen.\nEine Substanz erweist sich dann und nur dann als ein chemisches Element, wenn es nicht m\u00f6glich ist, andere Substanzen als ihre Bestandtheile nachzuweisen. Man kann daher blo\u00df sagen, dass durch die in ihrer Wirkungsweise bekannten physikalischen und chemischen Kr\u00e4fte, deren Tr\u00e4ger die Substanzen sind, die Elemente nicht zerlegt werden k\u00f6nnen; man muss aber ihre Zerlegung nicht nur bei der Anwendung von neuen, bis jetzt unbekannten H\u00fclfsmitteln f\u00fcr that-s\u00e4chlich ausf\u00fchrbar, sondern auch dann noch f\u00fcr denkbar halten, wenn sie in Wirklichkeit niemals bewirkt werden kann. Die Erfahrung hindert demzufolge nicht, die theoretische Chemie auf die Annahme, dass die elementaren Stoffe irgendwie zusammengesetzt seien, zu gr\u00fcnden, falls die empirisch constatirten Beziehungen aus den Wirkungen von Bestandtheilen, die in der Erfahrung nicht isolirbar sind, abgeleitet werden k\u00f6nnen. Und eine mit solchem Erfolge auftretende Theorie f\u00e4nde ebenso wie die analoge Erforschung der Bewusstseinsinhalte ihre Rechtfertigung durch die Deduction von Erfahrungstatsachen aus einer empirisch zul\u00e4ssigen Annahme. Es darf indessen der principielle Unterschied zwischen den elementaren Substanzen und den einfachen Bewusstseinsinhalten nicht unbeachtet bleiben. Da n\u00e4mlich die Substanzen als Tr\u00e4ger von Kr\u00e4ften sich gegenseitig beeinflussen und in wechselnden Zust\u00e4nden beharren, so k\u00f6nnen wohl auch die elementaren Substanzen \u00e4hnlich und verwandt sich zeigen, ohne dass eine Begr\u00fcndung der Aehnlichkeit und Verwandtschaft durch die Annahme von Bestandtheilen unmittelbar geboten w\u00e4re. Die Bewusstseinsinhalte hingegen, die nicht aufem-","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 147\nander wirken und in verschiedenen Zust\u00e4nden sich darbieten, m\u00fcssen s0 wie sie im erfassenden Denken vorliegen, den Grund f\u00fcr den Mangel wie f\u00fcr das Vorhandensein von Beziehungen in sich tragen. Kann dies f\u00fcr zusammengesetzte Bewusstseinsinhalte durch den Hinweis auf das Fehlen oder das Dasein von Bestandtheilen, die in der Erfahrung gegeben sind, verst\u00e4ndlich gemacht werden, so scheint es mir f\u00fcr einfache Bewusstseinsinhalte nur dann begreiflich, wenn auch das empirisch Einfache als zusammengesetzt aufgefasst wird.\nHiernach besteht eine Analogie zwischen den Bewusstseinsinhalten und den Substanzen nur insofern, als lediglich die Erfahrung die Quelle ist, aus der die Kenntniss der zusammengesetzten Beschaffenheit gesch\u00f6pft werden kann, so dass es dem Denken nicht verwehrt wird, Bestandtheile anzunehmen, wo die Erfahrung keine kennen lehrt. Die auf diese Voraussetzung zu gr\u00fcndende Untersuchungsweise ist aber im Gebiete der Bewusstseinsinhalte von ganz andrer Art als im Gebiete der Substanzen. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass der f\u00fcr die Chemie so bedeutungsvollen Hypothese von den Molek\u00fclen und Atomen der Substanzen in der Lehre von den Bewusstseinsinhalten nichts Entsprechendes zur Seite gestellt werden kann.\nZutreffender erscheint es mir darum, die in der theoretischen Mechanik angewandte Methode der Zerlegung von Kr\u00e4ften mit der Zerlegung von Bewusstseinsinhalten in Parallele zu stellen. Da erfahrungsgem\u00e4\u00df die, in der Bewegung massebegabter Objecte hervortretenden Kr\u00e4fte in ihrer Vereinigung wie eine einzige Kraft wirken und eine resultirende Bewegung erzeugen, so kann auch eine Kraft, die der Erfahrung zufolge nicht zusammengesetzt ist, in Componenten zerlegt gedacht werden, so dass sie als ein Zusammenwirken vereinter Kr\u00e4fte sich darbietet. Es entsprechen alsdann den Componenten von empirisch einfachen Kr\u00e4ften die als Elemente bezeichneten Bestandtheile der einfachen Bewusstseinsinhalte: die Componenten sind ebenso wie die Elemente blo\u00df der Annahme nach, nicht in der Wirklichkeit vorhanden. Und wie im Zusammenwirken der Componenten die in der Bewegung sich \u00e4u\u00dfernde Kraft als Thatsache vorliegt, so wird der Verein der Elemente im Bewusstseinsinhalte als Bealit\u00e4t erfasst.\nEs ist nur zu beachten, dass die Bewusstseinsinhalte keine Kr\u00e4fte sind und dass somit auch die Elemente der Bewusstseinsinhalte nicht\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nGotti. Friedr. Lipps.\nwie die Componenten der Kr\u00e4fte zu einer Gesammtkraft sich vereinigen, sondern blo\u00df combinirbar sind. Dem Parallelogramm der Kr\u00e4fte und Bewegungen, das der theoretischen Mechanik zu Grunde hegt, stellt sich darum das reine, von Hemmungen und Compen-sationen freie Zusammen der Elemente zur Seite, dem f\u00fcr die theoretische Untersuchung der Bewusstseinsinhalte die entsprechende grundlegende Bedeutung zukommt.\n12.\nUm aber mittelst der Methode, die Bewusstseinsinhalte als Com-binationen von Elementen darzustellen, zu einer Theorie der Mannigfaltigkeiten von Bewusstseinsinhalten zu gelangen, bedarf es noch der Angabe der Bedingungen, unter denen die Combinational gegebener Elemente eine zusammenh\u00e4ngende Mannigfaltigkeit bilden. Hierbei sind folgende grunds\u00e4tzliche Bestimmungen zu beachten.\nDer Intensit\u00e4tsgrad eines Elementes soll von der unteren Grenze Null bis zu einer bestimmten oberen Grenze, die f\u00fcr verschiedene Bewusstseinsinhalte verschieden gro\u00df sein kann, stetig ver\u00e4nderlich gedacht werden. Sinkt er auf den Nullwerth, so bedeutet dies das Verschwinden des Elementes. Ein nicht vorhandenes Element l\u00e4sst sich daher als ein mit der Intensit\u00e4t Null behaftetes auffassen. Mit R\u00fccksicht hierauf kann jede als Bewusstseinsinhalt erfassbare Combination der n Elemente aX) by, ez \u2022 \u2022 \u2022 in der gemeinsamen Form [ax, by, cz \u25a0 \u25a0 \u2022] dargestellt und die Mannigfaltigkeit aller in dieser Form sich darbietenden Bewusstseinsinhalte durch\nMiax, by, c2 \u2022 \u2022 \u2022]\nangedeutet werden. Dann muss aber auch das Fehlen aller Elemente oder das Sinken aller Intensit\u00e4ten auf den Nullwerth der Form nach als ein dieser Mannigfaltigkeit zugeh\u00f6render, durch [a0, b0, \u20ac(,\u2022\u2022\u25a0] markirter Bewusstseinsinhalt anerkannt werden. In gleicher Weise ist die aus den Combinationen der m Elemente Pu> (lv> rw ' \u2019 \u2018 resultirende Mannigfaltigkeit von Bewusstseinsinhalten durch\n^ W * ']\nzu bezeichnen. Zu ihr geh\u00f6rt ebenfalls der formale Bewusstseinsinhalt [po, q0l r0 \u2022 \u2022 \u25a0]. Sind nun die Bewusstseinsinhalte der einen","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 149\nMannigfaltigkeit mit denjenigen der anderen Mannigfaltigkeit unbedingt combinirbar, so enth\u00e4lt die aus den Combinationen entstehende Mannigfaltigkeit\nM\\ojx, by, cz \u2022 \u2022 \u2022 pU) qv, rw \u25a0 \u2022 \u2022]\njede der beiden urspr\u00fcnglichen Mannigfaltigkeiten, da jedes [ax, by, cg---] neben |qa, r0 \u25a0 \u25a0 \u2022] und jedes [pu, qv, rw \u2022 \u2022 \u2022] neben K> bo> co \u2022 \u2019 '] Auftritt. Die Mannigfaltigkeiten M[ax, by, c, \u2022 \u2022 \u2022] und M[pu, qv, rw \u25a0 - \u25a0] bleiben daher in der combinirten Mannigfaltigkeit erhalten. Sie sind wegen der Verschiedenheit ihrer Elemente durch keine Beziehungen aneinander gekn\u00fcpft und wegen der unbedingten Combinirbarkeit ihrer Glieder unabh\u00e4ngig von einander. Darum erweist sich jeder Bewusstseinsinhalt der combinirten Mannigfaltigkeit entweder als unmittelbar einer der beiden Mannigfaltigkeiten zugeh\u00f6rig oder als die Combination eines Gliedes der einen Mannigfaltigkeit mit einem Gliede der anderen Mannigfaltigkeit. Dies wird durch die Gleichungen\n[axi\tK\tCz - \u25a0\t' ' Pm Qvi vw '\t\u2022 \u2022] \u2014 \\.[ax, by> cz '\t' ']> [jPu, Qv, rw '\t\u2022\u2022]]\n\\axi\tbyi\tcz- \u25a0\t\u25a0 Po, ?0>\t\u2022\t\u25a0 .] = \\ax, by, cz\t\t\nK,\tK >\tc\u00bb \u2022 \u2022\t1 ' Pu, Qv, ^ w\t\u2022 \u2022] = [pu, qv, rw \u2022\t\t\nzum Ausdruck gebracht. Demzufolge bietet sich M\\ax, by, cz \u2022 \u2022 \u25a0 pu, Qv, rw ' ' \u2019] nicht als eine besondere Mannigfaltigkeit dar; sie zerf\u00e4llt vielmehr in die beiden unabh\u00e4ngig und beziehungslos neben einander stehenden Mannigfaltigkeiten M [ax, by, cz \u2022 \u25a0 \u2022] und M[pu, qV) rw \u25a0 \u2022 \u2022]. In gleicher Weise zerf\u00e4llt jede Mannigfaltigkeit, die aus der bedingungslosen Combination von mehr als zwei von einander unabh\u00e4ngigen Mannigfaltigkeiten resultirt. Es hat sonach folgender Grundsatz allgemeine Geltung:\nSind die Bewusstseinsinhalte der Mannigfaltigkeiten M{, M\u201e M3 \u25a0 \u2022 -, von welchen keine mit einer der anderen ein Element gemeinsam hat, unbedingt combinirbar, so zerf\u00e4llt die combinirte Mannigfaltigkeit in die unabh\u00e4ngig und beziehungslos neben einander stehenden Mannigfaltigkeiten if,, Jf2, Jf3 \u25a0 \u2022 \u25a0\nHieraus ergeben sich die Bedingungen f\u00fcr die Zusammengeh\u00f6rigkeit der Bewusstseinsinhalte einer aus den n Elementen ax, by, cz \u25a0 \u2022 \u2022 gebildeten Mannigfaltigkeit M[ax, by, cz \u2022 \u25a0 \u2022] ohne werteres.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nGotti. Friedr. Lipps.\nDenkt man sich n\u00e4mlich unter den Mannigfaltigkeiten , M zun\u00e4chst die n, aus je einem der Elemente a_, b\u201e, c \u25a0 .. gebildeten Reihen M[ax], M[by\\, M[cz\\ \u2022 \u2022 - , so zerf\u00e4llt bei unbedingter Combinirharkeit der Bewusstseinsinhalte [ax], [6y], [cz] ... die resul-tirende Mannigfaltigkeit\nM\\ax, by, cz \u2022 \u2022 \u2022]\nin die n Reihen\nM[ax), M\\by], M[cz] \u2022 \u25a0 \u2022\nund es ist zugleich\n\\.axi by, cz \u25a0 \u2022 \u2022] = {[ax], \\by\\, JcJ \u2022 \u2022 \u2022].\nDie unbedingte Combinirharkeit ist aber gleichbedeutend mit unbeschr\u00e4nkter Yer\u00e4nderlichkeit der Intensit\u00e4tsgrade x, y,x \u25a0 \u2022 \u2022 zwischen der unteren Grenze 0 und der jeder Variablen zugeh\u00f6renden oberen Grenze. Die Mannigfaltigkeit M[ax, by, cz \u25a0 \u2022 \u2022] zerf\u00e4llt daher hei unbeschr\u00e4nkter Ver\u00e4nderlichkeit der Intensit\u00e4tsgrade x, y, x \u2022 \u25a0 \u25a0 in die unabh\u00e4ngig und beziehungslos neben einander stehenden Reihen M[ax], M[by], M[cz] \u25a0 . .\nDemnach m\u00fcssen die Intensit\u00e4tsgrade der Elemente einer nicht zerfallenden Mannigfaltigkeit nothwendig in ihrer Ver\u00e4nderlichkeit Beschr\u00e4nkungen unterworfen sein. Durch solche Beschr\u00e4nkungen wird indessen nur das Zerfallen in einzelne Reihen nicht das Zerfallen \u00fcberhaupt unter allen Umst\u00e4nden verhindert.\nUm dies klarzustellen m\u00f6gen die n Elemente ax, by, cz \u25a0 \u25a0 \u25a0 in Gruppen getheilt und die Intensit\u00e4tswerthe jeder Gruppe als bedingt ver\u00e4nderlich vorausgesetzt werden. Denkt man sich alsdann unter MK, Mit M3 \u25a0 \u2022 \u2022 die aus den einzelnen Gruppen mit R\u00fccksicht auf die vorausgesetzten Bedingungen gebildeten Mannigfaltigkeiten, und erweisen sich die Bewusstseinsinhalte dieser Mannigfaltigkeiten als unbedingt combinirbar, so zerf\u00e4llt nach dem obigen Grunds\u00e4tze die aus den Combinationen sich ergebende Mannigfaltigkeit\nM\\aX} by, cz \u2022 \u2022 \u2022]\nin die Mannigfaltigkeiten\nMt, Mt, M3....\nDie Bewusstseinsinhalte der Mannigfaltigkeiten M\u201e Mt, M3 \u25a0 \u2022 \u2022 sind jedoch nur dann unbedingt combinirbar, wenn jedes System von Intensit\u00e4tswerthen der einen Elementengruppe neben jedem Systeme","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Einleitung in die allgem. Theorie d. Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 151\nvon Intensit\u00e4tswerthen jeder anderen Elementengruppe auftritt und unter den m\u00f6glichen Systemen von Intensit\u00e4tswerthen jeder Gruppe auch das System der Nullwerthe sich befindet,- Die Intensit\u00e4tswerthe jeder einzelnen Gruppe variiren alsdann, unter Wahrung der f\u00fcr die Gruppe geltenden Bedingungen, unabh\u00e4ngig von den Intensit\u00e4tswerthen der anderen Gruppen. Die Mannigfaltigkeit M[ax, by, c\u201e- \u25a0 \u25a0] zerf\u00e4llt somit in die unabh\u00e4ngig und beziehungslos neben einander stehenden Mannigfaltigkeiten Mt, Mt, M3 \u25a0 \u25a0 \u2022, wenn die Intensit\u00e4tsgrade x, y, % \u25a0 \u25a0 \u25a0 nur gruppenweise in ihrer Ver\u00e4nderlichkeit beschr\u00e4nkt sind, so dass jedes Werthensystem der einen Gruppe neben jedem Werthensysteme jeder anderen Gruppe auftreten oder auch nicht auftreten kann.\nMan wird so zu folgender Erkenntniss gef\u00fchrt:\nSollen die als Combinationen der n Elemente nx, by, cz \u2022 \u2022 \u2022 sich darbietenden Bewusstseinsinhalte [cix, by, cz \u2022 \u2022 \u2022] zusammengeh\u00f6ren und eine nicht zerfallende Mannigfaltigkeit M[ax, by, cz \u2022 \u2022 \u2022] bilden, so d\u00fcrfen die Elemente weder einzeln noch gruppenweise von den \u00fcbrigen Elementen in der Ver\u00e4nderlichkeit ihrer Intensit\u00e4ten unabh\u00e4ngig sein; sie m\u00fcssen vielmehr Bedingungen gen\u00fcgen, die sich auf die Gesammtheit der variablen Intensit\u00e4tswerthe x, y, %\t\u2022\nbeziehen.\nDiese Bedingungen k\u00f6nnen ebensowohl durch Gleichungen wie durch Ungleichungen gegeben sein. Durch Gleichungen werden den willk\u00fcrlich vorauszusetzenden Werthen einer oder mehrerer Variablen bestimmte Einzelwerthe der \u00fcbrigen Variablen zugewiesen, so dass sich die letzteren als Functionen der unabh\u00e4ngig Variablen darbieten. Durch Ungleichungen werden hingegen den beliebig anzunehmenden Werthen einer oder mehrerer Variablen bestimmte Gebiete der \u00fcbrigen Variablen zugetheilt, so dass die Grenzen der Gebiete Functionen der unabh\u00e4ngig Variablen sind.\nDurch diese Erkenntniss wird der Zugang zu der allgemeinen Theorie der Mannigfaltigkeiten von Bewusstseinsinhalten in der That er\u00f6ffnet. Denn man kann nun durch die Wahl geeigneter Bedingungen zur Darstellung der empirisch vorliegenden Mannigfaltigkeiten gelangen.","page":151}],"identifier":"lit4480","issued":"1902","language":"de","pages":"116-151","startpages":"116","title":"Einleitung in die allgemeine Theorie der Mannigfaltigkeiten von Bewusstseinsinhalten","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:27:50.689042+00:00"}