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{"created":"2022-01-31T13:12:01.312475+00:00","id":"lit4481","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Meumann, Ernst","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 152-214","fulltext":[{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\nVon\nE. Meumann.\n(Z\u00fcrich.)\nDie Entwicklung der ersten Wortbedeutungen bei dem sprechenlernenden Kinde ist das schwierigste Problem der kindlichen Sprachentwicklung \u00fcberhaupt. Die Gr\u00fcnde f\u00fcr diese Behauptung lassen sich leicht angeben. Unser einziges Mittel, die Entwicklung der Kindersprache zu beobachten, ist \u00e4u\u00dfere Wahrnehmung und Beobachtung. Nun ist bei allen andern Fragen der Entwicklung der kindlichen Sprache die \u00e4u\u00dfere Beobachtung als das ganz oder zum Theil ad\u00e4quate Forschungsmittel zu betrachten, denn wir haben es dabei entweder zu thun mit der lautlichen Seite der Sprache, welche ganz der \u00e4u\u00dferen Beobachtung zug\u00e4nglich ist, oder mit der grammatischen Entwicklung \u2014 auch diese ist zum gr\u00f6\u00dften Theil Gegenstand der \u00e4u\u00dferen Beobachtung \u2014, oder wenn wir die Wortbedeutungen des Kindes in sp\u00e4teren Stadien seiner Entwicklung zu verfolgen haben, so ist immerhin ein gewisser sprachlicher Austausch mit dem Kinde m\u00f6glich; wir k\u00f6nnen einigerma\u00dfen durch Fragen und Antworten feststellen, was es mit seinen Worten meint, und das ganze geistige Leben des Kindes ist in dieser Zeit schon nicht mehr so verschieden von dem des Erwachsenen, dass wir nicht einigerma\u00dfen im Stande w\u00e4ren, den Sinn seiner Worte nach Analogie der eigenen Wortbedeutung zu erfassen. Dagegen sind wir in jener Periode, in der das Kind seine ersten Wortbedeutungen gewinnt (sei es, dass man damit die ersten Anf\u00e4nge des Sprachverst\u00e4ndnisses oder des spontanen Sprechens meint), auf eine sachlich ungen\u00fcgende Forschungsmethode beschr\u00e4nkt. Wir m\u00fcssen aus Aeu\u00dferungen des Kindes \u2014 Aeu\u00dferungen","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n153\njm weitesten Sinne des Wortes \u2014 R\u00fcckschl\u00fcsse machen auf den geistigen Inhalt, den es \u00e4u\u00dfern will, und wir k\u00f6nnen f\u00fcr unsere Deutung dieser Aeu\u00dferungen h\u00f6chstens eine gewisse objective Verification erlangen durch die Art und Weise, wie das Kind seine Worte und bezeichnenden Geb\u00e4rden verwendet, um uns von Will-kiirlichkeiten in der Interpretation seiner Sprachanf\u00e4nge frei zu machen. Es kommt hinzu, dass die allgemeine geistig-k\u00f6rperliche Unreife des Kindes in dieser Periode (es handelt sich im Durchschnitt um die Wende des ersten Lebensjahres und das zweite Jahr) die Deutung seines geistig-k\u00f6rperlichen Lehens erschwert. Es ist daher kein Wunder, dass gerade an diesem Punkt der Erforschung der Kindersprache die Meinungen der Beobachter am weitesten auseinandergehen und dass die verschiedenen philosophischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkte hier einen gewissen Einfluss auf die Deutung der Kindersprache und ihrer Entwicklung gewinnen.\nSo k\u00fcmmerlich auch die Erforschung der Kindersprache im ganzen noch ist, so k\u00f6nnen wir doch schon behaupten, dass die L\u00f6sung des Problems, wie die ersten Wortbedeutungen des Bandes entstehen, eine Geschichte hat. Die ersten deutschen Erforscher der Kindersprache, insbesondere Sigismund, Lindner und Preyer glaubten aus der Art und Weise, wie das Kind seine ersten Worte verwendet, schlie\u00dfen zu m\u00fcssen, dass sie wesentlich den Charakter von Begriffen tragen, die durch eine hohe, ja unter Umst\u00e4nden wahrhaft k\u00fchne Abstraction auf Grund eines leichten Herausfindens der Aehnlichkeit von Wahrnehmungs-Umst\u00e4nden gewonnen seien, und mit weitestem Umfang verwendet w\u00fcrden. Das Kind sollte nach dieser Auffassung im Besitz aller logischen Functionen sein, l\u00e4ngst ehe die Sprache beginnt. Eine \u00e4hnliche Ansicht vertraten die ersten franz\u00f6sischen Forscher, insbesondere Perez, Oompayr\u00e9 und Taine. Der sehr unkritische und in Deutschland \u00fcbersch\u00e4tzte Compayr\u00e9 argumentirt einfach so: \u00bbIn der Entwicklung des Urtheilens und Schlie\u00dfens gibt es zwei deutlich unterscheidbare Perioden\u00ab, n\u00e4m\u00fcch eine vorsprachliche und eine, die sich unter dem Einfluss der Sprache gestaltet1) u- s. w. Compayr\u00e9 setzt also einfach voraus, dass vor dem Beginn des Sprechens Urtheile gef\u00e4llt und Schl\u00fcsse gezogen werden. Die\n1) Compayr\u00e9 S. 25. \u2014 Alle Titel der von mir benutzten Werke sind am Schl\u00fcsse aufgef\u00fchrt.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nE. Meumann.\nersten Wortbedeutungen des Kindes k\u00f6nnen daher auch logischen Charakter tragen, indem sie durch logische Synthesen von Theilvor-stellungen (Begriffen) zu Stande kommen.\nDie englischen Kinder-Psychologen waren meistens etwas vorsichtiger. Unter dem Einfluss der englischen Associations-Psychologie sind Darwin und Sully etwas behutsamer in der Annahme logischer Processe bei dem sprachlemenden Kinde, w\u00e4hrend Ko man es wiederum durch allgemeine evolutionistische Ideen zu einer mehr construc-tiven als beobachtenden Behandlung der Kindersprache gef\u00fchrt wird. Die \u00e4ltere Auffassung, die ich vorl\u00e4ufig als die logisch-begriffliche Interpretation der ersten Wortbedeutungen des Kindes bezeichnen will, ist in letzter Zeit verdr\u00e4ngt worden durch die Statistik der kindlichen Vocabularien, mit der amerikanische Psychologen und Linguisten vorangingen (Tracy, Holden, Kirkpatrick, Humphrey, John Dewey, Harlow Hale und Misses Hale), anderseits durch die Kritik deutscher Psychologen, die fast s\u00e4mmtlich direct oder indirect von Wundt angeregt wurden. Dahin rechne ich Eber, ferner Wundt\u2019s Ausf\u00fchrungen \u00fcber die kindliche Sprache im ersten Theil der V\u00f6lkerpsychologie, ebenso den auf der Psychologie von K\u00fclpe fu\u00dfenden W. Ament, der aber in seiner Kritik der \u00e4lteren Auffassung durch die schematische Gegen\u00fcberstellung der Wortvorstellungen und Sachvorstellungen und durch seine wenig gl\u00fcckliche Terminologie, nach welcher jede Wortbedeutung als Begriff zu bezeichnen ist, auf halbem Wege stehen bleibt. In mancher Beziehung stehen die Untersuchungen Ament\u2019s sogar den \u00e4lteren Arbeiten an methodischer Exactheit nach, indem der Verfasser sich durch entwicklungsgeschichtliche und sprachwissenschaftliche Deduc-tionen wiederholt zu einer etwas kritiklosen Verwendung der Beobachtungen verleiten l\u00e4sst (vgl. meine Ausf\u00fchrungen \u00fcber Worterfindung und kleinstes Kraftma\u00df). Auch die Ausf\u00fchrungen von Benno Erdmann \u00fcber die kindliche Sprache bedeuten gegen\u00fcber der fr\u00fcheren Behandlung des Problems einen gewissen Fortschritt. Doch ist die ganze Art der Behandlung bei Erdmann eine mehr schematische und constructive, w\u00e4hrend uns auf diesem Gebiete ausschlie\u00dflich die rein empirische Deutung des gesammten Thatsachen-materials weiterf\u00fchren kann. Die folgenden Untersuchungen werden zeigen, dass schon die Problemstellung bei Erdmann eine unzu-","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n155\ntreffende ist, indem es sich hei ihm einfach darum handelt, wie sich beim Kinde Sachvorstellungen mit Wortvorstellungen associiren, w\u00e4hrend von Sachvorstellungen in dem intellectualistischen Sinne Erdmann\u2019s heim Kinde lange Zeit nicht die Rede sein kann. Ebenso wird sich ergeben, dass der Gang der E\u00fbtwicklung der Wortbedeutung ein v\u00f6llig anderer ist, als Erdmann\u2019s schematische Betrachtungsweise angibt. Dieser Gang der Entwicklung ist in so hohem Ma\u00dfe paradox, dass mit der allgemeinen Ueberlegung, wie wir uns diese Entwicklung denken k\u00f6nnen, gar nichts zu machen ist.\nDie Absicht meiner folgenden Ausf\u00fchrungen ist nun nicht die, eine besonders gro\u00dfe F\u00fclle neuer eigener Beobachtungen zu erbringen; ich habe nur in so weit eigene Beobachtungen angestellt, als es mir n\u00f6thig schien, um bestimmte Probleme durch Versuche an Kindern klar zu stellen, und um die Objectivit\u00e4t der herrschenden Auffassungen von der Entwicklung der Kindersprache nach eigener Anschauung beurtheilen zu k\u00f6nnen. Es liegt mir aber einerseits daran, durch die rein empirische, d. h. von aller Deduction aus entwicklungsgeschichtlichen, sprachwissenschaftlichen und allgemeinen psychologischen Erkenntnissen freie Deutung der Thatsachen eine m\u00f6glichst objective Auffassung von dem wahren Gange der ersten Processe der kindlichen Sprachentwicklung zu gewinnen, anderseits m\u00f6chte ich einer Anzahl herrschender Irrth\u00fcmer an Hand des Thatsachenmaterials entgegentreten; endlich liegt es mir daran, eine Methode der Interpretation der Kindersprache zur Geltung zu bringen, die ich f\u00fcr die einzig berechtigte halte. Diese Methode besteht in der Durchf\u00fchrung folgender drei Grunds\u00e4tze:\n1)\tWo nicht besondere Gr\u00fcnde entgegenstehen, haben wir uns die Wortbedeutungen, und die psychophysischen Processe, die bei ihrer Gewinnung und Verwendung in Action treten, so einfach wie m\u00f6glich zu denken.\n2)\tWo die Wortbedeutungen des Kindes nicht vollkommen eindeutig sind, muss die allgemeine k\u00f6rperlich-geistige Entwicklung (richtiger \u00bbEntwickeltheit\u00ab) des Kindes die ma\u00dfgebenden Gesichtspunkte f\u00fcr die Interpretation ahgeben.\n3)\tWenn irgend m\u00f6glich, muss die Deutung der kindlichen Worte, ihrer Gewinnung und Verwendung aus sp\u00e4teren Entwicklungsstadien geschehen, die der Beobachtung besser zug\u00e4nglich sind. Ins-","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nB. Meumann.\nbesondere m\u00fcssen wir jedesmal, wenn ein bedeutungbildender Process \u2014 nehmen wir als Beispiel die Abstraction \u2014 als sp\u00e4ter eintretend oder in sp\u00e4teren Jahren noch nicht vorhanden erwiesen werden kann, diesen von den fr\u00fcheren Entwickelungsstadien absolut ausschlie\u00dfen. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass dieser Grundsatz nur Bestimmungen negativer Art ergeben kann, er kann nur zur Ausscheidung von Erkl\u00e4rungsmitteln verwendet werden. In diesem letzteren Punkte begehen fast alle bisherigen Erforscher der Kindersprache den Fehler, sich zu exclusiv mit dem Kinde der ersten zwei bis drei Lebensjahre zu besch\u00e4ftigen. Ich versuche dem gegen\u00fcber die Beobachtungen an dem f\u00fcnf- und sechsj\u00e4hrigen Kinde, sowie die umfangreichen Materialien, die uns die geistige Entwicklung des Schulkindes erschlie\u00dfen, zu einer retrospectiven Deutung des unentwickelten Kindes zu verwenden.\nDie Auffassung von den Processen, durch die das Kind seine ersten Wortbedeutungen gewinnt und die ich f\u00fcr die allein mit den Thatsachen \u00fcbereinstimmende halte, m\u00f6ge hier gleich zu Anfang mit einigen Worten dargelegt werden. Die ersten Wortbedeutungen des Kindes sind ausschlie\u00dflich emotioneller oder volitionaler Natur. Seine ersten Worte sind Wunschworte und Gef\u00fchlsw\u00f6rter. Sie bezeichnen daher entweder gar keine Objecte oder Vorg\u00e4nge, sondern nur Ger f\u00fchle und Begehrungen, oder wenn sie zugleich Objectbezeichnungen sind, so ist diese Bedeutung eine mehr nebens\u00e4chliche und sie sollen in Wahrheit die emotionellen oder volitionalen Beziehungen der Gegenst\u00e4nde zu dem Kinde bezeichnen. Erst durch einen Process, den ich kurz als Intellectualisirung der ersten Worte bezeichnen will, werden die Wortbedeutungen gegenst\u00e4ndlicher Natur (Bezeichnungen von Wahrnehmungsinhalten, Dingen oder Vorg\u00e4ngen), ohne dass deren emotionelle Seite ganz zur\u00fccktritt. Diese Intellectualisirung der ersten Wortbedeutungen ist der erste Schritt zu einer zweiten Sprachstufe, die ich die associativ-reproductive nenne (mit R\u00fccksicht auf gewisse besondere Verwendungen dieser kindlichen Worte k\u00f6nnte man sie auch die associativ-suggestive nennen). Erst an diese schlie\u00dft sich in sehr langsamer Vervollkommnung der Process der logischen Umbildung der associativen Wortbedeutungen zu begrifflichen Wortbedeutungen an. Der letztgenannte ist der noch am wenigsten aufgekl\u00e4rte Process der kindlichen Wortentwicklung. Diese","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstellung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n157\nEntwicklung kommt auch in der \u00bb\u00e4u\u00dferen Sprachform\u00ab, sogar in der Grammatik des Kindes und in seinem Vocabularium deutlich zum Ausdruck, indem die ersten Worte des Kindes s\u00e4mmtlich Satz-worte sind, \u2014 denn ein Wunsch- oder Begehrungswort ist noth-wendig auch ein Satzwort1). Ich behaupte daher, dass nicht nur, wie zuerst Romanes und Waitz festgestellt haben, die S\u00e4tze des Kindes mit sogenannten Satzworten beginnen, sondern die ersten Worte des Kindes sind \u00fcberhaupt Satzworte. Die Wortfunction des Wortes entwickelt sich erst aus seiner Satzfunction durch einen einschr\u00e4nkenden Process. Der nat\u00fcrliche Gang der Sprachentwicklung ist in diesem Punkt v\u00f6llig paradox. Niemand w\u00fcrde aus Ueberlegungen a priori die Satzbedeutungen vor die Wortbedeutungen stellen. Die erste grammatische Stufe des Kindes, die den Wunschworten entspricht, tr\u00e4gt einen verbal-interjectionalen Charakter (John Dewey).\nIch werde in den folgenden Ausf\u00fchrungen die Entwicklung der \u00bbinnern Sprachform\u00ab (Steinthal) von der der \u00bb\u00e4u\u00dfern\u00ab getrennt behandeln. Hierbei begeht man nat\u00fcrlich eine Abstraction, da in Wirklichkeit sich innere und \u00e4u\u00dfere Sprachform, Wortbedeutungen und lautlicher Charakter der Worte und ihrer Zusammensetzung zu Wortcomplexen best\u00e4ndig beeinflussen. Um die aus dieser Abstraction hervorgehenden Fehler zu vermeiden, erg\u00e4nze ich meine Darstellung durch die Hinweise darauf, wie sich die Hauptpunkte der inneren Entwicklung der Sprache in der \u00e4u\u00dferen Sprachform ank\u00fcndigen und wie diese wiederum auf jene zur\u00fcckwirkt. Ich verstehe dabei unter der inneren Sprachform die Wortbedeutung und werde nur anhangsweise einen Blick auf die Entwicklung derjenigen geistigen Inhalte werfen, die das Kind mit seinen ersten S\u00e4tzen bezeichnet.\n1. Vorbedingungen und Vorstufen der kindlichen Sprachentwicklung.\nDie ersten Spuren eines Sprechens sinnvoller Worte treten im Durchschnitt bei normal entwickelten Kindern um die Wende des\n1) Der naheliegende Einwand, dass Wunschw\u00f6rter auch Urtheile enthalten, also nicht zur rein associativen Sprachstufe geh\u00f6ren, besteht f\u00fcr mich nicht; die kindlichen \u00bbW\u00fcnsche\u00ab sind in dieser Zeit nichts als Gef\u00fchle und Begehrungen, die von einem Wahmehmungscomplex ausgel\u00f6st werden.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nE. Meumann.\nersten Lebensjahres, bisweilen auch etwas sp\u00e4ter, hervor. Die Angaben der Spraehstatistiker weichen zwar in der Bestimmung der Zeit und der Zahl der ersten Worte sehr von einander ab. W\u00e4hrend die amerikanischen Statistiker am Ende des zw\u00f6lften Monates vielfach schon den Besitz von acht, zehn und mehr Worten verzeichnen (Tracy), sind im Durchschnitt die deutschen Kinder, denen gegen\u00fcber die amerikanischen \u00fcberhaupt als etwas fr\u00fchreif erscheinen, in dieser Zeit nur im Besitz ganz vereinzelter wort\u00e4hnlicher Aeu\u00dferungen. Jedenfalls aber beginnt die Sprache in einer Zeit, in der das Kind k\u00f6rperlich und geistig noch in hohem Ma\u00dfe unentwickelt ist. Die Entwicklung, die es bis dahin durchlaufen hat, kommt nat\u00fcrlich f\u00fcr die richtige Deutung seiner ersten sprachlichen Aeu\u00dferungen sehr wesentlich in Betracht. Aber auch sie wird sehr verschieden aufgefasst.\nIch \u00fcberblicke diese Entwicklung nur soweit sie f\u00fcr die Behandlung meines Problems in Betracht kommt. Wir werden dabei vor allen Dingen die Vorbedingungen und die Vorstufen der kindlichen Sprachentwicklung zu trennen haben. Vorbedingungen der Sprachentwicklung sind alle diejenigen, welche das Kind erf\u00fcllen muss, um die schwierige Leistung der ersten Anf\u00e4nge des sinnvollen Sprechens vollbringen zu k\u00f6nnen. Diese besteht darin, dass articulirte Laute und Lautcomplexe dem Kinde Zeichen f\u00fcr einen geistigen Inhalt werden (Sprachverst\u00e4ndniss) und von ihm verwendet werden, um diesen geistigen Inhalt auszudr\u00fccken, mitzutheilen und zu bezeichnen. Ich deute in diesem Satze an, dass die Function der Sprache eine dreifache ist. Sie ist Ausdruck, Mittheilung und Bezeichnung. F\u00fcr den Erwachsenen m\u00f6gen sich in der Kegel Ausdruck, Mittheilung und Bezeichnung decken, beim Kinde ist das anfangs nicht der Fall, es trennen sich bei ihm die drei Functionen der Sprache. Sie kann z. B. blo\u00df Ausdruck eines Gem\u00fcthserlebnisses sein, ohne dass der Mittheilungstrieb sich damit verbindet. Und sie kann Bezeichnung sein, ohne dass eine eigentliche Mittheilung erstrebt wird. Jede dieser drei Functionen der Sprache muss das Kind erst erlernen: es muss lernen, was Ausdruck, Mittheilung und Bezeichnung ist. Welche Vorbedingungen muss der kindliche Geist und der kindliche Organismus erf\u00fcllen, wenn es mit den einfachsten lautlichen Mitteln in diesem Sinne Sprache verstehen und verwenden soll? Es muss, kurz gesagt, eine vierfache Entwicklung durchlaufen","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n159\nhaben : eine motorisch-kin\u00e4sthetische, eine acustisch-optisclie, eine ideomotorische, die sich auf den unmittelbaren Erwerb der Sprache selbst beziehen \u2014 und eine allgemeine geistig-k\u00f6rperliche Entwicklung, die nur mittelbar f\u00fcr den normalen Erwerb der Sprache in Betracht kommt. Die erste schlie\u00dft in sich ein, dass eine gewisse Beherrschung der Sprachmuskulatur und eine Contr\u00f4le der Sprach-bewegungen durch die kin\u00e4sthetischen Empfindungen eingetreten und in solchem Ma\u00dfe gesteigert worden ist, dass dem Kinde die Ausl\u00f6sung jener ersten eigenth\u00fcmlichen Lallworte oder Nachahmungsworte gelingt, mit denen die Kindersprache zu beginnen pflegt. Die zweite Bedingung schlie\u00dft eine Differenzirung der Geh\u00f6rswahmelimungen ein, welche ausreicht, damit das Kind die eigenen Laute mit den Ohren controlirt und die lautlichen Aeu\u00dferungen der sprechenden Personen seiner Umgebung einigerma\u00dfen richtig h\u00f6rt. Die optische Entwicklung, die unmittelbar f\u00fcr die Sprache in Betracht kommt, verlangt, dass das Kind Gesichtswahrnehmungen, insbesondere die sichtbaren Sprachbewegungen, aber auch die Geb\u00e4rden der erwachsenen Personen richtig erfasst1). Etwas schwieriger ist die ideomotorische Seite der sprachlichen Entwicklung zu beschreiben. Zu dieser geh\u00f6rt in der Hauptsache, dass das Kind Laute, die bisher (in der Periode des spontanen Lallens), nur zuf\u00e4llig oder factisch, d. h. dem Erfolge nach gelangen, willk\u00fcrlich hervorbringen kann. Eine n\u00e4here Analyse dieses Processes geh\u00f6rt nicht hierher. (Ich verweise hierf\u00fcr auf meine gr\u00f6\u00dfere Schrift \u00fcber die Kindersprache.)\nMindestens ebenso wichtig wie diese Seite der kindlichen Entwicklung, die wir als eine unmittelbare und specielle Vorbereitung des Sprechens auf fassen k\u00f6nnen, ist seine allgemeine geistigk\u00f6rperliche Entwicklung (Entwickeltheit) gegen das Ende des ersten Lebensjahres. Wenn die Sprachentwicklung normal verlaufen soll, so setzt sie voraus, dass die allgemeine geistig-k\u00f6rperliche Entwicklung in keinem Punkte einen Defect oder eine Versp\u00e4tung zeigt. Die Aufmerksamkeit des Kindes, seine Concentrationsf\u00e4higkeit, sein\n1) Blinde Kinder lernen sp\u00e4ter sprechen. Vielleicht verr\u00e4th sich auch der Einfluss des Sehens auf die kindliche Sprache in dem anf\u00e4nglichen Dominiren der Lippenlaute (andere Ursachen daf\u00fcr gibt Rzesnizek an).","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nE Meumann.\nGed\u00e4chtniss, vor allen auch das Gem\u00fcthsleben, ja selbst specielle Triebe, wie der Nachahmungstrieb, m\u00fcssen durchaus intact sein und dem Durchschnittsma\u00df des in dieser Periode erreichbaren entsprechen. Wenn auch nur eine dieser allgemeinen psychologischen Vorbedingungen f\u00fcr die Entwicklung der Sprache nicht oder nicht gen\u00fcgend erf\u00fcllt ist, so bleibt die Sprache ganz aus oder sie verz\u00f6gert sich in abnormer Weise. Die Aufmerksamkeit des Bandes muss dasjenige Ma\u00df von Ooncentrationsf\u00e4higkeit erreicht haben, das zu einer Beobachtung der Laute und lauterzeugenden Bewegungen und des Geb\u00e4rdenspieles der erwachsenen Personen n\u00f6thig ist, ebenso aber die Energie zur Ueberwachung der eigenen Sprachversuche. Das Ged\u00e4chtniss muss lautliche, optische und motorische Eindr\u00fccke bestimmter Art festhalten k\u00f6nnen. Sie m\u00fcssen wiedererkannt oder durch Uebung befestigt werden k\u00f6nnen. Wie wichtig der Antheil des Ged\u00e4chtnisses an der Sprachentwicklung ist, mag man daraus entnehmen, dass Treitel dazu neigt, als die eigentliche Ursache der partiellen H\u00f6rstummheit Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses anzusehen (Treitel, A. i. K., Seite 654). Ich selbst m\u00f6chte die meisten der von Treitel angef\u00fchrten F\u00e4lle vielmehr so deuten, dass Gem\u00fcths-anomalien es sind, welche die Kinder am Sprechen verhindern, da fast bei allen H\u00f6rstummen die abnorme Beschaffenheit des Gem\u00fcths-und Willenslebens besonders hervorgehoben wird. Wenn Treitel selbst dies als Wirkung der H\u00f6rstummheit ansieht nach Analogie mit dem b\u00f6sartigen Charakter vieler Taubstummen, so d\u00fcrfte dem entgegenstehen, dass nach allgemeinen psychologischen Erfahrungen Ged\u00e4chtnisschw\u00e4che durch einen Defect in den Functionen der Aufmerksamkeit und des Gem\u00fcthslebens ganz besonders h\u00e4ufig bedingt wird (vergl. die S. 634 angef\u00fchrten F\u00e4lle von angeborner H\u00f6rstummheit Treitel a. a. O.). Auch das Ausbleiben des Nachahmungstriebes kann f\u00fcr sich gen\u00fcgen, um H\u00f6rstummheit zu erzeugen. Ebenso scheint jede Art von Kr\u00e4nklichkeit oder Verz\u00f6gerung der allgemeinen physischen Entwicklung eine Versp\u00e4tung der Sprache zu bedingen.\nDiese Andeutungen \u00fcber die Wichtigkeit der allgemeinen Vorbedingungen der Sprachentwicklung m\u00f6gen gen\u00fcgen. Die Sprache, welche das Kind, gegen das Ende des ersten Lebensjahres oder in der ersten H\u00e4lfte des. zweiten Jahres auszu\u00fcben pflegt, erfordert","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t161\njedenfalls nur die oben beschriebenen speciellen und allgemein psychologischen Vorbedingungen. Denn sie arbeitet mit dem denkbar geringsten Wortschatz, mit verst\u00fcmmelten Nachahmungen der Laut-complexe erwachsener Personen, und mit sehr unbestimmten Bezeichnungen \u00e4u\u00dferst unvollkommen erfasster Wahrnehmungsinhalte. Dagegen braucht keine jener h\u00f6heren geistigen Functionen in Kraft zu treten, die wir als die Tr\u00e4ger der logischen Processe, der Begriffsbildung, des Urtheilens und Schlie\u00dfens ansehen. Der Beweis daf\u00fcr, dass die ersten Worte des Kindes in der That keine dieser h\u00f6heren Functionen in Anspruch nehmen, wird im Folgenden ausf\u00fchrlich gegeben werden.\nN\u00e4chst diesen Vorbedingungen der Entstehung der kindlichen Sprache m\u00f6gen die Vorstufen derselben kurz angedeutet werden. Unter \u00bbVorstufen\u00ab hat man dabei nicht sowohl zeitlich auf einander folgende, streng gegen einander abgegrenzte Entwicklungsphasen, sondern mehr einzelne Processe zu verstehen, die zeitlich zum Theil zusammenfallen k\u00f6nnen, oder bei welchen doch nur sehr allm\u00e4hlich der h\u00f6here Process den niederen verdr\u00e4ngt. Man bezeichnet diese Vor A stufen des eigentlichen Sprechens wiederum am besten nach beiden Seiten der Sprachentwicklung, der \u00e4u\u00dferen, lautlichen und der inneren, welche die Ann\u00e4herung an die Gewinnung der ersten Wortbedeutungen und an das spontane Sprechen in sich schlie\u00dft. Mit gro\u00dfer Ueber-einstimmung werden diese Vorstufen von den einzelnen Beobachtern folgenderma\u00dfen angegeben: Die lautlichen Aeu\u00dferungen des Kindes beginnen mit dem unarticulirten Schrei, der wahrscheinlich anfangs durch Reflexbewegungen zu Stande kommt, bald aber dem Schmerz, dem Unbehagen oder irgend welchen physischen Bed\u00fcrfnissen Ausdruck verleiht. Der Schrei differenzirt sich allm\u00e4hlich zu einem sehr mannigfaltigen Schreien, sodass die Personen der Umgebung die Aeu\u00dferungen gewisser Nuancen der Gef\u00fchle und der Bed\u00fcrfnisse des Kindes unterscheiden lernen. (Taine nennt dieses differenzirte Schreien von der 7. Woche an: \u00bbintellectuelle Laute\u00ab, S. 296). Diese Laute tragen anfangs den Charakter schwebender Vocale.\nHierauf beginnt vollkommen spontan, ohne dass die Wahrscheinlichkeit einer Einwirkung der erwachsenen Personen best\u00fcnde, die Verdr\u00e4ngung der unarticulirten Laute durch articulirte. Es werden einzelne immer mit Vocalen verbundene Consonanten hervorgesto\u00dfen,\nWundt, Philos. Studien. XX.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nE. Meumann.\ndie sich au\u00dferordentlich schnell vermehren und in manchen F\u00e4llen mit ungeheurer Mannigfaltigkeit von dem Kinde producirt werden. Es entwickelt sich die wichtige \u00bbStufe des spontanen Lailens\u00ab. Sie beginnt etwa im Durchschnitt mit dem Ablauf des ersten halben Jahres, sie dauert bei manchen Kindern sehr lange und ist von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr die Vorbereitung des sp\u00e4teren Sprechens. Sie besteht darin, dass das Kind massenhaft articulirte Laute und Lautcomplexe, die wiederum in den einzelnen Monaten verschiedenen Charakter tragen, spontan hervorbringt, Laute, die keinesfalls der Mittheilung oder Bezeichnung, selten der Aeu\u00dferung innerer Zust\u00e4nde dienen, sondern einfach ein Spielen mit den eigenen Sprechwerkzeugen (analog dem Spielen mit Armen und Beinen) darstellen. \u00bbDas Kind erg\u00f6tzt sich stundenlang an seinem eigenen Articulations-Conzert\u00ab (Rzesniczek). Die verschiedenen Beobachter bezeichnen dieses Lallen verschieden, bald als Pappeln, bald als Zwitschern (Taine), bald als Lallen u. s. w.\nDie Bedeutung dieser Vorstufe des Lailens besteht darin, dass das Kind in den Besitz au\u00dferordentlich zahlreicher Articulations-bewegungen gelangt (es erwirbt das Rohmaterial der Sprache, Taine), d. h. es erlangt ebensowohl eine relativ gro\u00dfe Herrschaft \u00fcber seine Sprechmusculatur als auch eine gewisse Verfeinerung in der Auffassung der von ihm selbst hervorgebrachten Laute, so dass es vor dem Beginn des eigentlichen Sprechens in der Regel die v\u00f6llige Herrschaft \u00fcber alle Articulationen, welche die erwachsenen Personen seiner Umgehung ausf\u00fchren, und einen gro\u00dfen Besitz von solchen Articulationen, welche die Personen der Umgebung nicht sprechen und nicht sprechen k\u00f6nnen, gewonnen hat. Innerhalb des spontanen Lallens ist wiederum eine deutliche Entwicklung zu beobachten. Es beginnt mit Vocalen, insbesondere mit a und \u00e4 und einer Anzahl schwebender Vocale, die sich sprachlich schwer bezeichnen lassen. Dann treten Consonanten in Verbindung mit Vocalen auf, wie es scheint in den meisten F\u00e4llen zun\u00e4chst Lippen- und Zungenlaute, aber auch sehr oft phonetisch besonders schwierige Gutturallaute (krmu u. s. w.), die hinten im Schlund mit tiefem Kehllaut ausgesprochen werden1).\n1) Die Beobachtungen von Pr. Schultze, Die Sprache des Kindes S. 20ff-, sind in diesem Punkte unzureichend.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n163\nSehr bald stellen sich Reduplicationen ein und die f\u00fcr die Kindersprache typischen Lallworte Papa, Mama, baba, wawa, tata, nana, dada. Auf die Frage, ob und warum bestimmte Laute besonders bevorzugt werden, gehe ich nicht ein. Bemerkenswerth ist aber, dass hier ein spontanes Element der l\u00e4ndlichen Sprachentwicklung hervortritt. Denn die Lalllaute des Kindes verdanken ihre Entstehung nicht dem Einfluss der Sprache der Erwachsenen. Das geht einerseits daraus hervor, dass der Lautreichthum der Stufe des spontanen Lallens bei manchen Individuen weitaus gr\u00f6\u00dfer ist als der in irgend einer sp\u00e4teren Periode, ferner daraus, dass eine gro\u00dfe Anzahl Laute vom Kinde hervorgebracht werden, welche die Erwachsenen, die best\u00e4ndig mit dem Kinde verkehren, weder sprechen noch sprechen k\u00f6nnen, wie z. B. Schnalzlaute, schwierige Combinationen von Gutturallauten mit r und n, schwebende Vocale und dergleichen mehr; es m\u00fcssen sich dabei also vererbte Dispositionen spontan beth\u00e4tigen. Die Stufe des spontanen Lallens wird langsam verdr\u00e4ngt durch die Stufe der Nachahmung vorgesprochener Laute. Diese That-sache schlie\u00dft mehrere Probleme in sich. |Man k\u00f6nnte vielleicht erwarten, dass das Nachahmen gegebener Laute dem spontanen Sprechen vorangehen m\u00fcsse \u2014 die Thatsachen zeigen unzweifelhaft das Gegentheil. Ein weiteres Problem liegt darin, dass nach \u00fcbereinstimmenden Beobachtungen aller Kinderpsychologen jedes Kind anfangs gewisse Lautcombinationen nicht nachsprechen kann, wenn die Erwachsenen sie ihm vorsprechen, die es schob l\u00e4ngst spontan hervorbringt1). Preyer\u2019s Knabe sprach l\u00e4ngere Zeit spontan das Lallwort ada, ohne es nachsprechen zu k\u00f6nnen (im elften Monat), und es kam, als es ihm vorgesprochen wurde, erst nach einigen effectlosen Lippenbewegungen heraus. Aehnliches berichten fast alle anderen Kinderpsychologen, ich selbst habe diese Erscheinung wiederholt constat\u00e2t. Es ist viel \u00fcber die Ursachen dieser beiden Erscheinungen gestritten worden. Ich deute hier nur an, dass dabei wohl eine ganze Anzahl Ursachen Zusammenwirken. F\u00fcr manche F\u00e4lle wird in Betracht kommen, dass der akustische Reiz, d. h. die Stimme des Erwachsenen, beim Vorsprechen ein anderer ist als die Laute, die\n1) Soviel mir bekannt ist, hat Vier or dt zuerst diese Erscheinung genauer\nuntersucht. Deutsche Revue III. 2.\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nE. Meumann.\ndas Kind selbst hervorbringt. Es vermag in Folge dessen die Laute nicht wieder zu erkennen. Au\u00dferdem aber enth\u00e4lt der qualitativ andere akustische Reiz auch einen Antrieb zu anderen als den gewohnten Articulationsbewegungen. Diese Erkl\u00e4rung wird nicht widerlegt durch Lindner\u2019s Versuch, die kindliche Sprache nachzuahmen welcher sein Kind nicht zum Sprechen veranlasste, weil in diesem Falle andere Umst\u00e4nde st\u00f6rend gewirkt haben k\u00f6nnen. Eine weitere Ursache liegt in dem Unverm\u00f6gen des Kindes, seine Aufmerksamkeit auf das Vorgesprochene zu concentriren. Die wichtigste Ursache aber sehe ich darin, dass die suggestive Einwirkung des Erwachsenen beim Vorsprechen das Kind anfangs in Verwirrung bringt. Die Reizbarkeit und Ablenkbarkeit seiner Aufmerksamkeit ist so gro\u00df, der Umfang des Bewusstseins ist so gering, dass die geringste Ungunst der \u00e4u\u00dferen und inneren Bedingungen f\u00fcr die Hervorbringung bestimmter Laute seinen Sprechapparat versagen l\u00e4sst. Das Vorsprechen des Erwachsenen absorbirt die Aufmerksamkeit des Kindes so sehr, dass die Antriebe zum Nachsprechen gar nicht eintreten. Endlich sind es nat\u00fcrlich zwei ganz verschiedene Leistungen, wenn das Kind einen Laut spontan hervorbringt oder wenn es einen Laut nachahmen soll. Im ersten Falle gelingt ihm der Laut rein zuf\u00e4llig und thats\u00e4chlich; er kann das Ergebniss einer zuf\u00e4lligen g\u00fcnstigen Coordination seiner Sprechmusculatur sein; beim Nachsprechen hingegen m\u00fcssen die Laute, welche gesprochen werden sollen, von ihm m gewissem Sinne gewollt werden. W\u00e4hrend beim spontanen Lallen eine Succession von lauterzeugenden Bewegungen und Lauten vorliegt, muss beim Nachsprechen gegebener Worte an deren Stelle treten die Succession. Lautwahrnehmungen, Reproduction von Bewegungsempfindungen, Bewegungen, Laute. Das Nachahmen vorgesprochener Worte ist daher in verschiedener Hinsicht eine h\u00f6here Stufe in der Entwicklung der \u00e4u\u00dferen Sprachform als das spontane Lallen. Es ist nicht mehr blo\u00df ein Spielen mit den Sprechwerkzeugen, sondern ein willk\u00fcrliches Arbeiten mit denselben im Dienst der Lauterzeugung nach dem Muster der Erwachsenen. Ich theile hier eine Beobachtung von Herrn Prof. Schmiedel in Z\u00fcrich mit, nach welcher mehrere von ihm beobachtete Kinder, bevor sie von der Stufe des spontanen Lallens zu dem Nachsprechen \u00fcbergingen, eine Zeit lang vollkommen stumm waren. Sie verhielten sich ausschlie\u00dflich zuh\u00f6rend. In solchen F\u00e4llen","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n165\ntrennen sich also auch \u00e4u\u00dferlich die beiden bisher behandelten Perioden scharf von einander ah.\nEine dritte Vorstufe (genauer w\u00fcrde man von einem. dritten vorbereitendem Process reden) der kindlichen Sprachentwicklung, die der Zeit nach schon w\u00e4hrend der letztem an einzelnen Punkten anhebt, ist das blo\u00dfe Verstehen vorgespro chener Worte, w\u00e4hrend das Kind noch nichts spontan spricht. Es ist die Periode der \u00bbnormalen H\u00f6rstummheit\u00ab1) oder des blo\u00dfen Sprachverst\u00e4ndnisses der Kinder. / Die Kinder verstehen sehr vieles, oft (hei versp\u00e4teter Entwicklung der Sprache) nahezu alles, was die Erwachsenen in dem engen Bereich ihrer Interessen zu ihnen reden, sie sprechen aber seihst nicht/. Auf dieser zweifachen Basis: auf dem Sprach-verst\u00e4ndniss ohne Sprechen und dem blo\u00df lautlichen Nachahmen vorgesprochener Worte erhebt sich meist am Anfang des 2. Lebensjahres die eigentliche Sprache. Damit beginnt die Periode, die den Gegenstand dieser besondern Abhandlung bildet: die Periode der Gewinnung der ersten gesprochenen sinnvollen Worte. Bevor ich aber zu dieser \u00fcbergehen kann, muss jene zuletzt erw\u00e4hnte Vorstufe der eigentlichen Sprache, die Stufe des blo\u00dfen Sprachverst\u00e4ndnisses, genauer ins Auge gefasst werden; denn die Art des Sprachverst\u00e4ndnisses, die sich unmittelbar vor und w\u00e4hrend des Beginns des selbstth\u00e4tigen Sprechens beim Kinde vorfindet, ist nat\u00fcrlich von entscheidender Bedeutung f\u00fcr den Charakter der ersten Wortbedeutungen, die das Kind selbst spricht. Ich kann mich nicht entschlie\u00dfen, mit Erdmann die Entwicklung des Sprachverst\u00e4ndnisses zur Entwicklung der Sprache zu rechnen und als erste Stufe der Sprachentwicklung \u00fcberhaupt zu bezeichnen. Es ist doch unm\u00f6glich, von einer Stufe der Sprachentwicklung zu reden, wo noch keine Sprache da ist! Unzweifelhaft geh\u00f6rt sie sachlich und logisch zu den Vorstufen der Sprachentwicklung2).\n1)\tDie Ausdr\u00fccke \u00bbH\u00f6rstummheit\u00ab und \u00bbh\u00f6rstumm\u00ab (von Co\u00ebn eingef\u00fchrt,\nvgl. dessen Schrift: Die H\u00f6rstummheit und ihre Behandlung, 1888) sind grammatisch sehr schlechte Bildungen; richtiger w\u00e4re \u00bbh\u00f6rendstumm\u00ab und \u00bbH\u00f6rendstummsein\u00ab.\t/'t-\n2)\tY gl. Erdmann, a. a. O. S. 383 ff. Niemand spricht von der \u00bbSprache\u00ab eines Taub- oder H\u00f6rstummen, obwohl beide Spr\u00e4fchverst\u00e4ndniss besitzen.\nZ","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166\nE. Meumann.\n2. Die Entwicklung des Sprachverst\u00e4ndnisses heim Kinde.\nKeiner der bisherigen Beobachter und Interpreten der kindlichen Sprachentwicklung hat die Entwicklung des Sprachverst\u00e4ndnisses beim Kinde auch nur einigerma\u00dfen gen\u00fcgend bearbeitet. Gegen\u00fcber der altern Auffassung (Preyer und Lindner), welche ihr zu viel Bedeutung f\u00fcr die allgemeine Entwicklung des kindlichen Intellectes beimessen, ist die Erforschung des reinen Sprachverst\u00e4ndnisses in der Periode der \u00bbH\u00f6rstummheit\u00ab gegenw\u00e4rtig vielfach zu sehr untersch\u00e4tzt worden. Nach dem Schema Erdmann\u2019s w\u00fcrde es sich einfach darum handeln, wie \u00bbdie associative Verkn\u00fcpfung zwischen den Wort-und Bedeutungsvorstellungen\u00ab zu Stande kommt. Der Erwachsene hat ja Wort- und Sachvorstellungen ; associiren sich nun Sachvor-stellungen mit Wortvorstellungen, so sind sie Bedeutungsvorstellungen. Das Kind h\u00f6rt anfangs Worte, die f\u00fcr dasselbe blo\u00dfe Worte (Laut-complexe) ohne Bedeutung sind; anderseits besitzt das Kind bereits vor dem Beginn der Sprachentwicklung eine F\u00fclle von Sachvorstellungen, und die Frage ist nun, wie sich diese letztem mit jenen erstem verkn\u00fcpfen? \u2014 In dieser Weise wird vielleicht jeder das Problem formuliren, der es a priori construirt und nicht im Anschluss an die Thatsachen die Frage behandelt. Die wirkliche Entwicklung, die ich sogleich ausschlie\u00dflich an der Hand der Beobachtungen darlegen werde, zeigt, dass bei der Auffassung Erdmann\u2019s ein logisches Schema, das auf den erwachsenen Menschen passt, in das kindliche Seelenleben hineingetragen wird, von dem sich in der Wirklichkeit nichts vorfindet. Da die Ausf\u00fchrungen Erdmann\u2019s als typisch betrachtet werden k\u00f6nnen f\u00fcr das Hineinconstruiren von Problemen in das kindliche Seelenleben, die rein nach Analogie mit dem Erwachsenen gebildet sind, so versuche ich den wahren Sachverhalt im Gegens\u00e4tze zu Erdmann\u2019s Auffassung zu entwickeln. (Man vergleiche zum Folgenden : Erdmann, Die psychologischen Grundlagen der Beziehungen zwischen Sprechen und Denken, Archiv f\u00fcr systematische Philosophie H, 3, 1896, ff.) \u2014 Nach der Auffassung von Erdmann erwirbt das Kind vor dem Beginn der Sprachentwicklung eine F\u00fclle von \u00bb Sackvorstellungen \u00ab. Sie sind im wesentlichen \u00bbWahrnehmungsgeflechte sinnlicher Gegenst\u00e4nde\u00ab ; deren Nachwirkungen","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t167\nwerden im Ged\u00e4chtniss aufgespeichert, \u00bbschon jetzt gelegentlich reproduced\u00ab (woher wei\u00df Erdmann das?) oder auch unselbst\u00e4ndig appercipirt, durch neue Wahrnehmungen angeregt. \u00bbDas Kind com-binirt Elemente der Erinnerungen zu neuen Gegenstandsvorstellungen. Es bildet abstracte Vorstellungen der constanten Merkmale einzelner, der gemeinsamen Merkmale verschiedener Gegenst\u00e4nde nach Ma\u00dfgabe der Erfahrungen, die selbst\u00e4ndig reproducirt werden oder apperceptiv mit neuen Wahrnehmungen verschmelzen k\u00f6nnen\u00ab.\nSchon diese allgemeine Schilderung der Vorentwicklung des kindlichen intellectuellen Seelenlebens ist vollkommen willk\u00fcrlich. Oh das Kind Erinnerungen oder abstracte Vorstellungen von Merkmalen selbst\u00e4ndig reproducirt, l\u00e4sst sich auf keine Weise feststellen. Alle Beobachtungen weisen vielmehr darauf hin, dass vor dem spontanen Sprechen ein freies Reproduciren von Vorstellungen nicht vorkommt. Nur bei abnorm sp\u00e4t sprechenden Kindern scheinen sich Spuren davon zu finden. Ferner ist der Ausdruck \u00bbMerkmale\u00ab hierbei so unpassend als m\u00f6glich gew\u00e4hlt, da wir unter Merkmalen logisch bearbeitete Elemente von Begriffen verstehen. Die Bestandtheile der kindlichen Vorstellungen um den 12. Lebensmonat sind aber von solchen Merkmalen toto genere verschieden. Der einzige Anhaltspunkt daf\u00fcr, ob das Kind selbst\u00e4ndige Reproductionen um die Wende des ersten Lebensjahres besitzt, liegt vielleicht in seinen Tr\u00e4umen; soviel mir bekannt ist, sind aber Tr\u00e4ume, die von selbst\u00e4ndiger Reproduction sicheres Zeugniss ablegen, erst aus betr\u00e4chtlich sp\u00e4tem Perioden berichtet worden. (Einen Traum, der selbst\u00e4ndige Reproduction vorauszusetzen scheint, theilt Wilhelm Ament mit; er wird datirt am 743. Lehenstage, f\u00e4llt also schon ins 3. Lebensjahr. Ament, Seite 85). Wichtiger ist noch dies, dass die Abstraction constanter \u00bbMerkmale\u00ab einzelner oder gemeinsamer \u00bbMerkmale\u00ab verschiedener Gegenst\u00e4nde durch nichts erwiesen werden kann. Alle ersten Versuche des Kindes, seine Worte selbst\u00e4ndig zu ver-werthen, lassen sich, wie ich sp\u00e4ter ausf\u00fchrlich zeigen werde, auf ganz andere Weise deuten. Bezeichnend f\u00fcr die Erdmann\u2019sche Auffassung, die sicher nicht auf eigener Beobachtung beruht, ist ferner die einseitige Ber\u00fccksichtigung der intellectuellen Elemente der Sprachentwicklung. Ich werde in den folgenden Ausf\u00fchrungen zeigen, dass die Thatsachen gerade das absolute Vorwiegen nicht-","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nE. Meumann.\nintellectueller Elemente f\u00fcr die Entwicklung des ersten Sprachverst\u00e4ndnisses ergeben.\nH\u00f6ren wir weiter, wie die Entwicklung des kindlichen Sprachverst\u00e4ndnisses von Erdmann aufgefasst wird! Das Kind erwirbt f\u00fcr einzelne, praktisch besonders bedeutsame unter den ihm bekannten \u00bbGegenst\u00e4nden\u00ab zun\u00e4chst Wortvorstellungen rein akustischer Art indem es Benennungen von solchen Gegenst\u00e4nden h\u00f6rt; allm\u00e4hlich kommen dazu zuf\u00e4llige Associationen von Gegenst\u00e4nden seines Gesichtskreises und den Bezeichnungen daf\u00fcr, welche die Personen seiner Umgebung gebrauchen. Aus der Geh\u00f6rswahrnehmung des Kindes scheidet sich dadurch \u00bbeine Gruppe, die Lautworte der Personen seiner Umgebung\u00ab aus den \u00fcbrigen Geh\u00f6rswahmehmungen aus, und es lernt sie \u00bbauf bestimmte Gegenst\u00e4nde anderer Wahrnehmungsgruppen, anfangs namentlich optischer zu beziehen\u00ab u. s. w.\nUm es mit einem Satze zu bezeichnen : Das Kind lernt allm\u00e4hlich gewisse sachliche Lautvorstellungen aus den \u00fcbrigen Sachvorstellungen abzusondern und diese auf alle Sachvorstellungen als Wortvorstellungen oder Bezeichnungen beziehen; nun k\u00f6nnen sich Wort- oder Bezeichnungsvorstellungen mit allm\u00e4hlich immer complicirter werdenden Sachvorstellungen associiren. Ist das geschehen, so kann der bekannte Reproductionsapparat functioniren: das H\u00f6ren der Worte reproducirt Bedeutungsvorstellungen, die Wahrnehmungen der Dinge, f\u00fcr welche Bezeichnungen erlernt worden sind, reproduciren die Worte.\nSo wird, wie ich schon bemerkte, jeder die Sache darstellen, der vorzugsweise durch theoretische Ueberlegungen seine Auffassung von der Entwicklung der Kindersprache gewinnt. Der Erwachsene hat Sachvorstellungen und Wortvorstellungen; das Kind muss also erstens Wortvorstellungen, zweitens die Association zwischen Wortvorstellungen und Sachvorstellungen erwerben. Also postulirt man einfach zuerst das eine, dann das andere. Wir m\u00fcssen hinzuf\u00fcgen, dass nach Erdmann\u2019s Meinung schon auf dieser Stufe akustisch aufgefasste \u00bbWortgruppen\u00ab Dinge, Eigenschaften, Vorg\u00e4nge und Beziehungen, kurz: Bedeutungen jeder Art bezeichnen k\u00f6nnen. Gleichzeitig entstehen beim Kinde (wohlgemerkt, auf der Stufe des blo\u00dfen Sprachverst\u00e4ndnisses!) ab-stracte akustische Vorstellungen von allgemeinem Inhalt.\nEs ist schade, dass Erdmann nicht versucht hat, seine Behauptungen durch die Analyse wirklicher Beobachtungen zu beweisen.","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n169\nEs ist n\u00e4mlich unm\u00f6glich, aus dem wirklich der Beobachtung zug\u00e4nglichen Sprachverst\u00e4ndniss des Kindes abzuleiten, dass es abstracte akustische Wortvorstellungen von typisch allgemeinem Inhalt hat. Ebenso ist es unm\u00f6glich, zu zeigen, dass das Kind Vorstellungen von Eigenschaften oder Beziehungen besitzt, bevor die Sprache beginnt. Es l\u00e4sst sich aber weiter aus der allgemeinen geistigen Entwicklung des Kindes um die Wende des ersten Lebensjahres beweisen, dass das Kind solche Vorstellungen gar nicht besitzen kann, dass sich vielmehr abstracte Bedeutungsvorstellungen beim Kinde erst durch das eigene Sprechen und erst sehr viel sp\u00e4ter einstellen. An der Hand der Thatsachen kann man sich nun keine andere Vorstellung von der Entwicklung des Sprachverst\u00e4ndnisses machen als die folgende.\nHalten wir zun\u00e4chst fest, dass wir f\u00fcr die Deutung des kindlichen Sprachverst\u00e4ndnisses in der Periode, in welcher es noch nicht spricht, ganz und gar angewiesen sind auf die Deutung seines \u00e4u\u00dfern Verhaltens. Dieses ist aber vieldeutig, denn ein und dieselbe \u00e4u\u00dfere Leistung \u2014 nehmen wir als Beispiel etwa die Hinwendung des Kopfes zur sprechenden Person \u2014 kann durch die allerverschiedensten psychophysischen Vorg\u00e4nge zu Stande kommen, sowohl durch sehr einfache wie etwa durch blo\u00dfe reflectorische Ausl\u00f6sung einer Kopfdrehung auf Grund des \u00e4u\u00dfern Beizes als auch durch blo\u00dfe Association einer akustischen Empfindung mit jenen suchenden und locali-sirenden Bewegungen, f\u00fcr welche wahrscheinlich anatomisch nachweisbare Bahnen und vererbte Dispositionen vorliegen1). Aber dasselbe kann durch eine sehr viel h\u00f6here Leistung zu Stande gebracht werden, n\u00e4mlich durch ein Verst\u00e4ndniss f\u00fcr das, was die anrufende Person meint, ein Interesse f\u00fcr die Person selbst und durch die willk\u00fcrliche Drehung des Kopfes nach der Schallrichtung. Wir bed\u00fcrfen also hier wie \u00fcberall bei der kindlichen Entwicklung eines bestimmten objectiven Anhaltspunktes, um uns vor der Eintragung zu hoch entwickelter psychophysischer Leistungen in die kindliche Sprachentwicklung zu sch\u00fctzen. Ich habe schon fr\u00fcher dargethan, dass wir zwei solcher objectiver Anhaltspunkte besitzen, die f\u00fcr die\n1) F\u00fcr die Wahrscheinlichkeit solcher Bahnen verweise ich auf die Untersuchungen von Held \u00fcber den centralen Verlauf des N. acusticus. Archiv f\u00fcr Anatomie, 1893.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nE. Meumann.\nDeutung der kindlichen Sprache verwendet werden k\u00f6nnen, n\u00e4mlich einerseits die allgemeine psychophysische Entwicklung des Kindes, anderseits die best\u00e4ndige Vergleichung sp\u00e4terer Leistungen des Kindes, die einer unzweideutigen Beurtheilung zug\u00e4nglich sind, mit den fr\u00fchem ; wenn sich also z. B. zeigt, dass das sprechende Band erst m\u00fchsam gewisse geistige Verrichtungen erwerben muss, so d\u00fcrfen wir diese bei dem noch nicht sprechenden Kinde auf keinen Fall voraussetzen. Nach dem ersteren Ma\u00dfstah gemessen k\u00f6nnen wir uns nun die ersten Aeu\u00dferungen des kindlichen Sprachverst\u00e4ndnisses gar nicht primitiv genug vorstellen, wir haben sie jedenfalls als Associationen elementarster Art zu denken, hei denen auch nicht ein Schatten logischer Th\u00e4tigkeit, von Abstraction oder Determination, von Auswahl zusammenh\u00e4ngender \u00bbMerkmale\u00ab u. dgl. mehr vorhanden ist. Da wir ferner aus allgemein psychologischen Ueber-legungen wissen, dass das Wiedererkennen au\u00dferordentlich viel leichter ist als die selbst\u00e4ndige Reproduction, so m\u00fcssen wir auch beim Kinde, solange es irgend m\u00f6glich ist, sein Sprachverst\u00e4ndniss mittelst blo\u00dfen Wiedererkennens ohne selbst\u00e4ndige Reproduction zu deuten versuchen. Ich werde sp\u00e4ter zeigen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach das erste Sprachverst\u00e4ndniss des Kindes ganz und gar ohne selbst\u00e4ndige Reproduction stattfindet.\nWie zeigen sich nun die ersten Spuren des kindlichen Sprachverst\u00e4ndnisses? Der Schein eines gewissen Verst\u00e4ndnisses f\u00fcr die Sprache der Personen der Umgebung tritt au\u00dferordentlich fr\u00fch auf. Schon in den ersten Monaten, manchmal schon am Ende des zweiten Monats k\u00f6nnen Personen der Umgehung durch Zureden und Anreden auf die Gef\u00fchle des Kindes einwirken; die Stimme der Mutter, der Kinderw\u00e4rterin wirkt beruhigend auf das Kind, die des Vaters oder anderer Personen noch nicht. Hierin liegt eine erste Spur von Einwirkung der Sprache der Erwachsenen auf das Seelenleben des Kindes. Dies ist aber sicherlich keine Spur von Sprachverst\u00e4ndniss, sondern wohl nur eine diiferenzirte Suggestion. Vielleicht verbindet sich mit der Stimme der Mutter, ebenso mit ihrer ganzen Art das Kind zu behandeln, eine elementare psychophysische Nachwirkung der Erfahrung von der Stillung der kindlichen Bed\u00fcrfnisse. Diese Nachwirkungen leben wieder auf, wenn die bekannten Stimmen akustisch auf das Kind einwirken; sie treten nicht in Kraft, wenn","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstellung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n171\nandere Stimmen auf sein Geh\u00f6r eindringen. Es associiren sich hier also mit Stimmen von bestimmter Klangfarbe gewisse beruhigende Effecte.\nEine wirkliche Ann\u00e4herung an das Sprachverst\u00e4ndniss tritt in der Form auf, dass Kinder hei der Benennung von Dingen, Vorg\u00e4ngen, Personen diese mit Kopfbewegungen, mit dem Blick oder mit Handbewegungen aufsuchen und durch Lachen oder sonstige Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen verrathen, dass sich mit jenen aufsuchenden Bewegungen emotionelle und intellectuelle Nachwirkungen verbinden, die das Object als ein dem Kinde bekanntes erscheinen lassen. Hierbei ist vielleicht ein primitives Wiedererkennen im Spiel. Eine solche erste Spur von Wortverst\u00e4ndniss liegt in F\u00e4llen vor wie in den folgenden: Lindner machte mit seinem Sohn in der zwanzigsten Woche ein Sprechexperiment. Der Knabe wurde wiederholt an die tickende Wanduhr gebracht und ihm die Worte \u00bb tick-tack \u00ab vorgesprochen. Nach einigen Tagen wird dem ruhig daliegenden Kinde \u00bb tick-tack \u00ab zugerufen; darauf blickt es nach der Uhr. Diese Leistung muss nat\u00fcrlich hei dem noch nicht ein Halbjahr alten Kinde so einfach wie m\u00f6glich gedacht werden. Sie ist jedenfalls mehr als eine localisirende Bewegung, denn das Kind dreht den Kopf nicht nach dem sprechenden Vater hin, sondern nach der Uhr; es muss also der Ort der Uhr wenigstens objectiv bei der Ausl\u00f6sung der Kopfbewegung mitgewirkt haben. Trotzdem bleibt es zweifelhaft, ob eine Vorstellung der Uhr, beziehungsweise ihres charakteristischen Ger\u00e4usches oder auch eine Vorstellung des Ortes, an dem sie sich befand, bei dem Worte \u00bbtick-tack\u00ab aufgetaucht ist. Der Vorgang muss bei einem so unentwickelten Kinde jedenfalls einfacher auf gefasst werden. Das gesprochene Wort \u00bbtick-tack\u00ab hat sich associirt mit dem Schall der Uhr durch die vorausgehenden Versuche des Vaters; wenn nun der Vater sein Wort wiederholt, w\u00e4hrend das Kind die Uhr nicht sieht, so k\u00f6nnen mit dem gesprochenen \u00bbtick-tack\u00ab dieselben suchenden und localisirenden Bewegungen ausgel\u00f6st werden, die sich fr\u00fcher mit dem Uhrger\u00e4usch verbanden. Eine vollkommen eindeutige Interpretation solcher Versuche w\u00fcrde freilich eine etwas genauere Mittheilung der Versuchsumst\u00e4nde voraussetzen. Wenn n\u00e4mlich in dem obigen Falle die Uhr w\u00e4hrend des Versuches tickte, so kann der Vorgang sogar noch einfacher verlaufen sein; die","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nE. Meumann.\nvorherige Association zwischen dem Worte des Yaters und dem Ger\u00e4usch lenkt die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Ger\u00e4usch und infolgedessen l\u00f6st nun das objectiv vorhandene Ger\u00e4usch eine locali-sirende Bewegung aus. Vielleicht ist auch eine sehr primitive Ortsvorstellung oder Richtungsvorstellung mit dem Uhrger\u00e4usch verbunden worden; n\u00f6thig ist diese Annahme aber nicht. Man m\u00fcsste in allen solchen F\u00e4llen zu einer eindeutigen Erkl\u00e4rung der Erscheinung erst mittels einer Variation des Experimentes zu gelangen suchen. Ich will hier bemerken, dass nach meinen eigenen Beobachtungen eine R\u00e4umliche Orientirung des Kindes \u00fcberhaupt sehr fr\u00fch eintritt.\nDeutlichere Spuren von Sprachverst\u00e4ndniss treten erst gegen das Ende des ersten Lebensjahres auf. Mit zehn Monaten blickte das Kind Taine\u2019s auf die Frage: \u00bbWo ist der Gro\u00dfvater\u00ab nach dessen mit Bleistift gezeichnetem Portrait und lachte es an. Mit elf Monaten wendete es sich auf die Frage: \u00bbWo ist Mama?\u00ab gegen die Mutter. Hier muss nat\u00fcrlich ein Verst\u00e4ndniss der Worte vorliegen, denn das Verhalten des Kindes zeigt mehr als localisirende Bewegungen; es sucht auch den rein optischen Eindruck auf, es \u00e4u\u00dfert durch Freude sein Wiedererkennen; gem\u00fcthliche Erregungen, die mit der Wahrnehmung des Gro\u00dfvaters verbunden waren, leben wieder auf hei dem Anblick seines Bildes. Auch diese Vorg\u00e4nge haben wir uns aber so einfach wie m\u00f6glich zu denken! Es w\u00e4re ganz falsch, zu meinen, das Kind k\u00f6nne hierbei das Original mit dem vorgestellten Bilde vergleichen, wie Taine meint. Wir haben keinen Anlass, mehr in dem Vorgang zu sehen als die Wirkung einzelner Associationen: Mit dem Worte \u00bbMama\u00ab, \u00bbGro\u00dfmama\u00ab oder \u00bbPapa\u00ab haben sich erstens Gesichts-wahmehmungen dieser Personen, zweitens Gef\u00fchlswirkungen (richtiger vielleicht: Reflexe von Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen) associirt. Diese letzteren leben wieder auf, wenn die Worte zugerufen werden, auch in der Abwesenheit der Personen. Sie veranlassen die aufsuchenden Bewegungen und die Aeu\u00dferungen der Freude. Des weiteren verrathen diese Beobachtungen nur, dass die Wahrnehmungen des Kindes schon eine gewisse Genauigkeit besitzen oder dass seine Unterscheidungsf\u00e4higkeit in gewissem Ma\u00dfe entwickelt ist, denn das Original wird im Bilde wiedererkannt und Taine f\u00fcgt hinzu, dass das Bild der Gro\u00dfmutter, welches weniger gut getroffen ist, keine Zeichen des Wiedererkennens ausl\u00f6st. Wir d\u00fcrfen uns aber weder diese Wahr-","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t173\nnehmungen noch jene Vorg\u00e4nge des Wiedererkennens allzu hoch vorstellen! Wahrscheinlich sind hierbei keine Vorstellungen von den Personen th\u00e4tig; was wir nachweisen k\u00f6nnen, ist nur das Wiedererkennen der Bildnisse. Es k\u00f6nnen also durch den Anblick des Bildes und durch den gesprochenen Lautcomplex Nachwirkungen der Wahrnehmungen und der Gef\u00fchlserlebnisse ausgel\u00f6st worden sein, ohne dass ein wirkliches Vorstellen oder eine selbst\u00e4ndige Reproduction der Erinnerungen an jene Personen stattfand. Eine associativ vermittelte Anregung von Vorg\u00e4ngen des Wiedererkennens und eine ebenso vermittelte Anregung von Gem\u00fcthserregungen sammt den entsprechenden Ausdrucksbewegungen (den motorischen und vasomotorischen) und den auf suchenden Bewegungen \u2014 das ist es, was wir als \u00bbSprachverst\u00e4ndniss\u00ab aus diesen ersten Beobachtungen herauslesen k\u00f6nnen.\nAlle andern Beobachtungen aus der Zeit des ersten Sprachverst\u00e4ndnisses ergeben immer wieder die hier besprochenen Erscheinungen und verrathen in keiner Weise die Betheiligung h\u00f6herer psychischer Vorg\u00e4nge an der Auffassung der vom Kinde verstandenen Worte. Das gilt auch von der ber\u00fchmten Beobachtung Sigismund\u2019s. Der Vater zeigte dem noch nicht ein Jahr alten Kinde einen ausgestopften Auerhahn und sprach dabei das Wort \u00bbVogel\u00ab. Das Kind blickte darauf nach einer auf dem Ofen stehenden Eule. Preyer, Lindner und andere haben hier einen Beweis von Begriffsbildung oder zum mindesten einen Beweis f\u00fcr die Abstraction von \u00bbMerkmalen\u00ab gesehen. Andere Forscher sind vorsichtiger und finden darin nur ein Zeichen daf\u00fcr, dass das Kind schon die Aehnlichkeit der beiden V\u00f6gel herausfindet. Nach Preyer\u2019s Meinung soll das Kind die Zugeh\u00f6rigkeit beider Thiere zu der gleichen Art erkennen. Es subsumirt also beide Gegenst\u00e4nde unter den allgemeineren Begriff, vielleicht sogar unter den Begriff \u00bbVogel\u00ab, weil der Vater dabei das Wort \u00bbVogel\u00ab aussprach1). Diese Deutung des Vorganges verlangt dann nat\u00fcrlich, dass auch alle diejenigen Processe in Th\u00e4tigkeit sind, die wir als Vorbedingung aller Begriffsbildung ansehen: Die Vergleichung der beiden V\u00f6gel, die Analyse gewisser Merkmale, die Abstraction gemeinsamer Merkmale, ihre Zusammenfassung zu einem einheitlichen\n1) E\u00fcr Preyer scheinen \u00bbVorstellungen\u00ab und \u00bbBegriff\u00ab dasselbe zu sein.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nE. Meumann.\nGanzen, dem abstracten Inhalt des Wortes \u00bbVogel\u00ab. Prejer nimmt bekanntlich keinen Anstand, auch alle diese logischen Leistungen dem noch nicht sprechenden Kinde zuzuschreiben. Allein von alle dem kann keine Rede sein! Die beiden empirischen Anhaltspunkte zur Deutung solcher Leistungen des Kindes, die ich oben einf\u00fchrte, schlie\u00dfen alle logischen Processe von dem kindlichen Geiste in dieser Periode g\u00e4nzlich aus: Die sp\u00e4tem Leistungen des sprechenden Kindes und die allgemeine psychophysische Verfassung des noch nicht sprechenden. Die ersten sprachlichen Aeu\u00dferungen des Kindes verrathen keine Spur von logischer Zusammenfassung zusammengeh\u00f6riger \u00bbMerkmale\u00ab oder Subsumption \u00e4hnlicher Objecte unter einen Gattungsbegriff. Sie zeigen vielmehr nur das Spiel mechanisch wirkender Association, welche die heterogensten Bestandtheile der Wahrnehmungsobjecte durch Simultaneit\u00e4t oder associative Uebertragung mit einem Worte verbindet. Wenn nun das sprechende Kind so viel sp\u00e4ter noch seine Wortbedeutungen durch das blo\u00dfe Spiel der Associationsgesetze zu st\u00e4nde bringt und weder von einem Abstrahiren noch von logischer Synthese zusammengeh\u00f6riger Merkmale irgend nennenswerthe Spuren zeigt, wie soll das noch nicht einj\u00e4hrige Kind bei den ersten Anzeichen seines Sprachverst\u00e4ndnisses schon im Besitze sehr viel gr\u00f6\u00dferer logischer Leistungen sein? Noch entschiedener verbietet jene Auffassung die allgemeine geistige Entwicklung des Kindes vor Abschluss des ersten Lebensjahres. Das Kind hat ja noch gar nicht die psychischen Mittel, einen Allgemeinbegriff zu bilden! Seine \u00e4u\u00dferst labile Aufmerksamkeit vermag sich nur f\u00fcr wenige Secunden auf einen Gegenstand zu concentriren (daher scheitern anfangs alle Versuche des Erwachsenen, auf den kindlichen Geist in bestimmter Richtung einzuwirken. Vergleiche die Erfahrungen von Lindner und Baldwin1). Die Folge davon ist, dass, wenn \u00fcberhaupt eine Analyse des Wahrgenommenen in Theil-vorstellungen oder Eigenschaften stattfindet, diese jedenfalls nur \u00e4u\u00dferst primitiv ist. Wahrscheinlich aberfindet gar keine Analyse statt. Ich werde sp\u00e4ter zeigen, dass die Bekanntschaft mit Eigenschaften der Dinge immer schon eine h\u00f6here geistige Leistung ist als die mit den Dingen selbst. Idioten bleiben vielfach f\u00fcr ihr\n1) Lindner a. a. O. S. 18. Baldwin a. a. O. S. 80.","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t175\nganzes Leben auf der Stufe der Wahrnehmung stehen, die keinerlei Eigenschaften der Objecte analysirt, obgleich sie mit den Gesammt-dingen ihrer Umgebung sehr wohl bekannt sind1). In Folge der Schw\u00e4che der kindlichen Aufmerksamkeit und der mindestens ebenso gro\u00dfen Schw\u00e4che des Ged\u00e4chtnisses ist auch eine Abstraction, d. h. eine Abl\u00f6sung von \u00bbMerkmalen\u00ab, richtiger gesagt: von Theilwahr-nehmungen aus ihrem Wahrnehmungszusammenhang ganz unm\u00f6glich. Ich werde sp\u00e4ter zeigen, dass noch aus andern Gr\u00fcnden von einer Abstraction f\u00fcr den kindlichen Geist in der Zeit der ersten Sprach-anf\u00e4nge gar nicht die Rede sein kann. Der ganze Vorgang, den Sigismund beschreibt, ist daher wahrscheinlich so zu denken, dass die Wahrnehmung des ausgestopften Vogels, den der Vater dem Kind zeigt, weil sie objectiv und facti sch der des auf dem Ofen stehenden Vogels \u00e4hnlich ist (eine Aehnlichkeit, die aber nicht als solche aufgefasst zu werden braucht!), die mit diesem bekannten Anblick associirten aufsuchenden Bewegungen ausl\u00f6st, wobei die Wahrnehmung des bekannten Zimmers in secund\u00e4rer Weise zur Auffindung des richtigen Ortes mithelfen mag. Ob das Aussprechen des Wortes \u00bbVogel\u00ab \u00fcberhaupt f\u00fcr den Hergang etwas zu bedeuten hat, ist sehr zweifelhaft. H\u00f6chstens kann es in secund\u00e4rer Weise als ausl\u00f6sender akustischer Reiz in Betracht kommen, wenn das Kind dieses Wort etwa beim Anblick der Eule \u00f6fter vernommen hatte. F\u00fcr diese rein factische Wirkung der objectiv \u00fcbereinstimmenden Bestandtheile der Wahrnehmungsobjecte (Auerhahn und Eule) verweise ich auf die allgemein bekannte Thatsache, dass \u00e4hnliche Reize \u00e4hnliche reproducirende Wirkungen haben, auch wenn die Aehnlichkeit subjectiv nicht erkannt wird. Wenn zwei \u00e4hnliche Wahrneh-mungscomplexe (Reize) factisch theilweise \u00fcbereinstimmen, so m\u00fcssen, ganz unbek\u00fcmmert darum, ob diese Aehnlichkeit erkannt wird oder nicht, \u00e4hnliche psychophysische Wirkungen eintreten. Will man mit R\u00fccksicht auf das nachweislich sehr fr\u00fche Eintreten des Wieder-erkennens annehmen, dass der Anblick des Auerhahns Wiedererkennungsvorg\u00e4nge ausl\u00f6st, welche mit als Vermittler der auf suchenden Bewegungen ein wirken, so steht dem nichts im Wege, auf keinen\n1) Vgl. St\u00f6rring, Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie S. 380 ff. Auch die Kin\u00fcervocabularien der Amerikaner best\u00e4tigen diese Auffassung.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nE. Meumann.\nFall aber darf man in einem so unfertigen Seelenleben wie dem des etwa elfmonatigen Kindes ein freies Vorstellen gemeinsamer Merkmale annehmen, der Fall Sigismund\u2019s verr\u00e4th nichts davon.\nDie geistige Leistung, welche wir also annehmen m\u00fcssen, damit ein Sprachverst\u00e4ndniss zu Stande kommt, wie es sich bei der Beobachtung von Sigismund zeigt, ist h\u00f6chstens ein Unterscheiden und ein Wiedererkennen und die Association und Reproduction aufsuchender Bewegungen mit \u00e4hnlichen Objecten, jedenfalls aber keine freie Reproduction der wiedererkannten Objecte oder gar die Analyse des wahrgenommenen Eindrucks und die Abstraction von \u00bbMerkmalen\u00ab aus ihrem Wahrnehmungszusammenhang, beziehungsweise deren begriffliche Zusammenfassung.\nGegen das Ende des ersten Lebensjahres, oft aber erst betr\u00e4chtlich sp\u00e4ter bemerken wir eine zweite Art des Sprachverst\u00e4ndnisses, die wegen ihrer Wichtigkeit f\u00fcr die sp\u00e4tere Sprachentwicklung eine genauere Betrachtung verdient. Sie kommt zur Ausbildung auf Grund jener zahlreichen Spielereien, welche die Kind\u00ebrw\u00e2rterinnen, die M\u00fctter und Schwestern mit dem kleinen Kinde aus\u00fcben und die man vielleicht mit dem Namen einer Dressur oder Abrichtung zu bestimmten Bewegungen bezeichnen darf. Das Kind lernt auf die Aufforderung der Erwachsenen hin allerhand Bewegungen ausf\u00fchren, die den Charakter von bezeichnenden Bewegungen, symbolischen Geb\u00e4rden und dergl. mehr haben, wie: Das H\u00e4ndchen geben, das Bitte-bitte-machen, das Danke sagen, das \u00bbKuchen backen\u00ab (Lindner) u. s. w. Das Kind lernt ferner das Abbei\u00dfen lassen, Schmecken lassen (vom Brezel u. s. w.). Diesen Geb\u00e4rden verwandt, aber nicht ganz gleichartig mit ihnen sind gewisse Aufforderungen der Erwachsenen, die das Kind bald verstehen lernt, wie das \u00bbgib\u00ab, \u00bbkomm\u00ab, \u00bbzeig\u00ab, \u00bbsieh\u00ab, \u00bbsieh da\u00ab, \u00bbda\u00ab, u. s. w. Ferner lernt es sehr bald Fragen verstehen wie diese: \u00bbWo ist?\u00ab \u00bbWie schmeckt\u2019s?\u00ab \u00bbWie macht man das?\u00ab u. s. w. Oder es lernt auf die Frage: \u00bbWie gro\u00df ist das Kind?\u00ab die Hand bis an den Kopf zu erheben. Die Kinderw\u00e4rterin spricht dazu: \u00bbso gro\u00df\u00ab. Das Kind begleitet diese Worte vielfach durch Lalllaute oder Kr\u00e4hen und Jauchzen, wodurch es sein gro\u00dfes Interesse an solchen Versuchen bekundet (Lindner, Preyer, Taine, Tracy u. a.). Fast alle diese Dressurversuche sind dazu bestimmt, dem Kinde Geb\u00e4rden verschiedenen Charakters","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t177\nzu entlocken, die theils die Freude des Kindes ausdr\u00fccken sollen, tlieils Nachahmungen conventioneller Gesten der Erwachsenen sind, theils auch Hinweisungen, ein Zeigen und Bezeichnen von Dingen und Personen.\nWie sind diese Dressurversuche und jene Aufforderungen und Fragen, wie ich sie kurz bezeichnen will, zu deuten? Anfangs sind sie jedenfalls nichts anderes als Associationen zwischen den auf fordernden Worten der erwachsenen Personen und bestimmten Bewegungen, die dem Kinde sogar durch Vormachen, durch F\u00fchrung der Hand und des Armes einge\u00fcbt werden. Aber sie sind das nur eine Zeit lang. Sie nehmen bald einen etwas hohem Typus an: Das Kind lernt an ihnen au\u00dferordentlich vieles, das f\u00fcr sein geistiges Lehen im allgemeinen und f\u00fcr sein sp\u00e4teres Sprechen von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung ist. Jene Abrichtungen bleiben n\u00e4mlich nicht eine blo\u00dfe Dressur; sie nehmen an dem allgemeinen geistigen Fortschritt des Kindes sehr bald Antheil. Es lernt an ihnen zuerst Theil zu nehmen an dem Gem\u00fcths- und Willenslehen der Erwachsenen, es lernt unterscheiden, was Wunsch und Aufforderung des Erwachsenen ist, im Unterschiede von der blo\u00dfen Benennung. Der Erwachsene wirkt seinerseits best\u00e4ndig auf den Willen und die Gef\u00fchle des Kindes mit solchen spielenden Besch\u00e4ftigungen ein. Das Kind wird durch sie bald beruhigt, bald erz\u00fcrnt, es wird bald zu sympathischen Gef\u00fchlen und Handlungen veranlasst (das Schmeckenlassen), bald wird sein Eigensinn und sein Egoismus gereizt, mit einem Worte: es bildet sich durch jene Aufforderungen und Abrichtungen au\u00dfer dem associativ-intellectuellen auch ein emotionelles und volitionales Sprachverst\u00e4ndniss aus, und dieses letztere ist, wie wir sogleich sehen werden, dem kindlichen Geistesleben viel ad\u00e4quater als das associativ-intellectuelle. Das Kind fasst wahrscheinlich alle Worte der Erwachsenen zun\u00e4chst als Einwirkungen auf sein Gem\u00fcths- und Willenslehen auf; ihre intellectuelle Bedeutung bleibt ihm lange Zeit sehr verschlossen oder sie tritt wenigstens gegen die emotionelle ganz zur\u00fcck. Aber das ist nur die eine Seite der Versuche. Sie haben au\u00dferdem die wichtige Bedeutung, dem Kinde jene vorher erw\u00e4hnten Functionen der Sprache verst\u00e4ndlich zu machen, dass die Sprache der Aeu\u00dferung, der Mittheilung und der Bezeichnung dient. Unter diesen Functionen\nWundt, Philos. Studien. XX.\t12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nE. Meumann.\nder Sprache ist nun naturgem\u00e4\u00df die Function der Mittheilung und Bezeichnung und unter diesen wieder die Function der Bezeichnung die schwierigere. Viele unter jenen Geb\u00e4rden sind nun aber hinweisende, bezeichnende, mittheilende Geb\u00e4rden, und aus der hinweisenden Geb\u00e4rde lernt das Kind die f\u00fcr seinen Geist anfangs unendlich schwierige Bedeutung des Zeichens oder der Bezeichnung verstehen. Man muss sich ja vergegenw\u00e4rtigen, dass die Sprachlaute des Erwachsenen dem Kinde nicht nur akustische Wahrnehmungen sein sollen wie alle anderen, sondern dass sie den Charakter von Zeichen f\u00fcr alle \u00fcbrigen Wahrnehmungen tragen (ebenso f\u00fcr Vorstellungen, Gem\u00fcthshewegungen und Willensimpulse). Die Lautwahrnehmungen, als welche dem Kinde die Worte der Erwachsenen entgegentreten, sind ihm nun zun\u00e4chst nichts als akustische Eindr\u00fccke unter vielen andern. Das Kind muss nun zuerst die schwierige Erkenntniss erwerben, dass gewisse Lautwahrnehmungen nicht nur unter den \u00fcbrigen akustischen Eindr\u00fccken eine v\u00f6llige Sonderstellung haben, indem sie Worte sind, die nur zu den speciellen Zwecken der Mittheilung und Bezeichnung erzeugt werden, sondern dass sie unter allen Eindr\u00fccken \u00fcberhaupt jene besondere Bedeutung haben, Zeichen f\u00fcr alles \u00fcbrige zu werden, was ins Bewusstsein f\u00e4llt. Es w\u00e4re vollkommen unverst\u00e4ndlich, wie das Kind diese schwierige Leistung vollbringen kann, wenn ihm nicht die hinweisende Geb\u00e4rde schon lange Zeit vormachte, was Bezeichnung eines Wahrnehmungsinhalts durch einen anderen Wahrnehmungsinhalt ist. Wir sehen daher namentlich auch aus pathologischen F\u00e4llen der kindlichen Sprachentwicklung (aber ebenso aus der normalen), dass das Geb\u00e4rdenverst\u00e4ndniss beim Kinde mit dem Sprachverst\u00e4ndniss gleichen Schritt h\u00e4lt oder ihm vorauseilt und dass Personen, die mit dem Kinde verkehren, anfangs vorwiegend durch Geb\u00e4rdensprache mit ihm in Beziehung treten. Die bezeichnende Function der Geb\u00e4rde ist aber darum leichter verst\u00e4ndlich als die des Wortes, weil sie auf den bezeichnenden Gegenstand hineilt, mit ihm in Ber\u00fchrung im r\u00e4umlichen Nebeneinander tritt und weil bewegte Gesichtseindr\u00fccke bekanntlich als ein sehr energischer Fixationsreiz auf den Blick einwirken. Der ausdr\u00fcckenden Function der Geb\u00e4rde kommt ferner ein ererbter Apparat unterst\u00fctzend entgegen, der in dem Sinne wirkt, dass mit dem Anblick der","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 179\nentsprechenden Ausdrucksbewegungen an den erwachsenen Personen die entsprechenden Gem\u00fcthsbewegungen heim Kinde eintreten. (Es ist bekannt, dass Bander Geb\u00e4rden und Oontractionen der Gesichts-musculatur, die sie mit ihrem Bbck niemals controllirt haben, richtig nachmachen.) Man kann die Bedeutung jener Dressurversuche und Aufforderungen f\u00fcr das erwachende Sprachverst\u00e4ndniss des Kindes vielleicht folgenderma\u00dfen zusammenfassen : Sie vermitteln dem Kinde 1. an einem einfacheren Falle, als ihn die Lautsprache darstellt, das Yerst\u00e4ndniss f\u00fcr die Function der Bezeichnung, des Ausdrucks und der Mittheilung, welche sp\u00e4ter die Sprache zu \u00fcbernehmen hat. Sie erschlie\u00dfen 2. dem Kinde au\u00dfer der associativ intellectuellen auch die emotionelle und volitionale Seite der Sprache des Erwachsenen.\nEs bleibt die Frage zu beantworten, ob die intellectuelle Seite des Sprachverst\u00e4ndnisses, die sich bei diesen Versuchen und Aufforderungen der Erwachsenen entwickelt, sich \u00fcber den Charakter einer ganz primitiven associativ-suggestiven Stufe erhebt? Wir k\u00f6nnen den Beweis daf\u00fcr erbringen, dass sie das jedenfalls anfangs nicht thut. Jene Versuche verrathen vielmehr, dass es sich hierbei ebenfalls zun\u00e4chst um eine ganz mechanische Ein\u00fcbung gewisser Associationen von Lauten (dem Commando der Erwachsenen) und Bewegungen des Kindes handelt. Der Beweis liegt in solchen Versuchen, wie sie zuerst von Prey er veranstaltet worden sind, indem er statt der vollst\u00e4ndigen Aufforderung nur einen dominirenden Vocal dem Kinde zurief. So konnte Prey er statt der Aufforderung: \u00bbWie gro\u00df ist das Kind?\u00ab auch einfach rufen: \u00bbgro\u00df\u00ab oder blo\u00df \u00bboo\u00ab, dann folgte die Bewegung ebenso wie vorher. Dieser Versuch zeigt, wie wenig dabei von Sprachverst\u00e4ndniss die Rede sein kann. Ein Kind, das die Sprache des Erwachsenen versteht, w\u00fcrde durch eine solche Ver\u00e4nderung der Aufforderung gest\u00f6rt worden sein. Was sich hier abspielt, ist einfach die mechanische Ausl\u00f6sung einer einge\u00fcbten Bewegung durch den dominirenden Vocal der Aufforderung. Es handelt sich hier, also um eine rein associativ-suggestive Stufe des Sprachverst\u00e4ndnisses, soweit man seine intellectuelle Seite ins Auge fasst. Aehnlich diesem Versuche von Prey er sind Beobachtungen, die Lindner an seinem Knaben machte. Dem Knaben war die spielende\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nE. Meumann.\nBewegung des \u00bb Kuchenbackens \u00ab beigebracht worden. Anfangs wurde diese nur auf Befehl und \u00bbVormachen\u00ab hin ausgef\u00fchrt; in der 46. Woche trat die Bewegung auf die blo\u00dfe Aufforderung hjn ein, und zwar auch dann, wenn blo\u00df die Worte \u00bbhacke\u00ab oder \u00bbKuchen\u00ab dem Kinde zugerufen wurden. Noch wichtiger ist nun, dass diese Art mechanischer Ausl\u00f6sung von Bewegungen durch den blo\u00dfen Lautcharakter oder den Tonfall der Worte des Erwachsenen sehr lange Zeit andauert. Sie zeigte sich bei Lindner\u2019s Knaben noch im 16. Monat! Das Kind hatte gelernt, auf die Aufforderung: \u00bbHole Butter\u00ab die Butter herbeizubringen. Eines Tages sch\u00e4lte ihm der Vater eine Birne und sprach dazu: \u00bbDas ist eine Napoleonshutterbirne\u00ab. Sogleich lief das Kind fort, um die Butter zu holen (vergleiche den \u00e4hnlichen Fall mit Peitschenknallen Lindner Seite 32). Man sieht also, dass das 1 Jahr und 4 Monate alte Kind, das damals schon vereinzelte Anf\u00e4nge des spontanen Sprechens zeigte, immer noch der associativ-suggestiven Ausl\u00f6sung der Bewegungen durch Worte unterliegt. Noch lehrreicher ist ein Experiment, das mir Herr Professor Tappolet in Z\u00fcrich mittheilte. Im 6.\u20148. Monat beobachtete er bei einem seiner Kinder, dass es auf die Frage: \u00bbWo ist das Fenster?\u00ab unsichere aufsuchende Bewegungen nach dem Fenster machte. Als diese Versuche einigerma\u00dfen gelangen, ersetzte der Vater sie durch Aufforderung in franz\u00f6sischer Sprache, bei welchen nur ungef\u00e4hr der gleiche Tonfall eingehalten wurde wie bei den fr\u00fcheren deutschen Worten (\u00bbo\u00f9 est la fen\u00eatre?\u00ab). Nunmehr f\u00fchrte das Kind die wiedererkennenden Bewegungen ziemlich mit derselben Sicherheit aus wie vorher. In diesem Fall muss also immer der blo\u00dfe Tonfall ausl\u00f6send auf jene Bewegungen wirken und von einem Wortver-st\u00e4ndniss kann gar keine Rede sein. Man sieht zugleich aus solchen Beobachtungen, dass wir uns das Sprachverst\u00e4ndniss des Kindes gegen das Ende des ersten Lebensjahres fast nicht primitiv genug denken k\u00f6nnen. Immerhin bilden diese Reactionen des Kindes auf die Aufforderungen der Erwachsenen die Basis, auf der sich ein vollkommeneres Sprachverst\u00e4ndniss entwickelt. Solche Versuche nehmen, wie ich schon sagte, an der allgemeinen geistigen Entwicklung des Kindes theil. Allm\u00e4hlich scheinen Vorstellungen von den Geb\u00e4rden und ihrer Bedeutung, ebenso Vorstellungen von","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n181\nder Bedeutung solcher Aufforderungen und Fragen der erwachsenen Personen sich mit den lautlichen Aeu\u00dferungen der Erwachsenen zu verbinden. Wir m\u00fcssen jedoch nach allen jenen Proben, die beweisen, durch welche elementaren geistigen Vorg\u00e4nge der Schein eines h\u00f6heren Sprachverst\u00e4ndnisses zu Stande kommen kann, gerade den intellectuellen Theil der Wortbedeutungen und die Wahrnehmungen, aus denen er hervorgeht, uns so einfach wie m\u00f6glich denken. Vor allem ist es ein Irrthum, den man gar nicht genug bek\u00e4mpfen kann, dass das Kind seine Wahrnehmungen schon in dieser Zeit analysire und Merkmale abstrahire (Erdmann, Li'ndner u. a.). Dazu reicht die Energie seiner Beobachtungen absolut nicht aus. Die Wahrnehmung des Kindes betrifft nur die Gesammtobjecte, nicht die einzelnen Eigenschaften oder Theile. Was wir unter einer solchen G-esammtwahrnehmung zu denken haben, ist freilich f\u00fcr den Erwachsenen schwer vorstellbar. Ich verweise aber darauf, dass sich bei hochgradiger Idiotie eine Stufe des Intellects feststellen l\u00e4sst, die in jeder Beziehung der kindlichen Wahrnehmung im ersten Lebensjahr gleicht. Solche Idioten kennen alle Objecte ihrer Umgebung; sie sind aber nicht im Stande, deren Eigenschaften zu benennen oder zu vergleichen. Sie zeigen dabei ebenso wie die Kinder in der Zeit des ersten Sprachverst\u00e4ndnisses die typische Schw\u00e4che ihres Concentrationsverm\u00f6gens, das sich nur f\u00fcr Secunden auf einen geistigen Inhalt concentriren kann (vgl. St\u00f6rring a. a. O.). Einen weiteren Beweis f\u00fcr diese Auffassung des kindlichen Geisteslebens kann man aus den Vocabularien1) der Kinder entlehnen. Das kindliche Vocabularium umfasst anfangs fast nur Sub-stantiva und Verba; die Gebrauchsstatistik der kindlichen Worte zeigt ferner, dass in seinem Sprechen die Verba absolut dominiren (Gale). Die Bezeichnung von Eigenschaften dagegen tritt anfangs ganz zur\u00fcck. Die Adjectiva nehmen erst sehr viel sp\u00e4ter, im dritten und vierten Lebensjahr, einen h\u00f6heren Procentsatz der dem Kinde gel\u00e4ufigen Worte ein.\n1) Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass diese Vocabularien mit gro\u00dfer Vorsicht gebraucht werden m\u00fcssen, und weise deshalb auf das hin, was das Kind bezeichnet. Vgl. die berechtigte Kritik von Stumpf S. 29. Uebrigens haben Tracy, Dewey und Gale diese Schwierigkeit, dass das Kind Substantiva zur Bezeichnung von Vorg\u00e4ngen und Eigenschaften gebraucht, schon bemerkt.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nB. Meumann.\nIrgend welche Anzeichen von einem Sprachverst\u00e4ndniss h\u00f6herer Art haben wir vor dem Beginn des spontanen Sprechens der Kinder nicht. Wenn manche Beobachter aus der Zeit des zw\u00f6lften Monates von solchen Anzeichen berichten, so muss man bedenken, dass damit fast immer auch schon das active Sprechen des Kindes beginnt. Yon allen jenen Leistungen, die Erdmann auf der Stufe des blo\u00dfen Sprachverst\u00e4ndnisses annimmt: Abstraction der constanten, gleichen Merkmale oder das Verst\u00e4ndniss f\u00fcr Eigenschaften und Beziehungen der Dinge oder gar die Zusammenfassung von Eigenschaften durch logische Synthese des Zusammengeh\u00f6rigen, findet sich vor dem Eintritt der Sprache keine Spur.\n3. Die erste Stufe des activen Sprechens : Die emotionell-volitionale Sprachstufe oder Stufe der Wunschw\u00f6rter.\nWie weit das Kind davon entfernt ist, bei den ersten Anf\u00e4ngen des eignen Sprechens Wort- und Sachvorstellungen zu associiren, das zeigt jeder Blick auf die vorliegenden Beobachtungen, noch mehr jede Beobachtung des Kindes selbst. Um es kurz zu sagen: Sowohl die Art, wie das Kind sich anfangs in W\u00f6rtern ausdr\u00fcckt, als auch die Art der Verwendung seiner W\u00f6rter beweist, dass alle seine ersten W\u00f6rter Wunschw\u00f6rter sind. Sie bezeichnen W\u00fcnsche, Begehrungen, \u00bbetwas haben wollen\u00ab oder nicht wollen, Abneigungen oder Neigungen und gem\u00fcthliche Erregungen jeder Art. Sie steigern sich nicht selten zu einer wirklichen Affectsprache und sind dann in der Begel schon Bezeichnungen von einem etwas h\u00f6heren, grammatischen oder lautlichen Typus, das hei\u00dft: Im Affect spricht das Kind nicht selten besser als bei indifferenter Gfem\u00fcthslage. Damit ist aber ferner gesagt, dass die ersten W\u00f6rter des Kindes lange Zeit hindurch nicht eigentlich gegenst\u00e4ndliche Bezeichnungen sind; das Kind bezeichnet anfangs \u00fcberhaupt keine Gegenst\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge der Umgebung, sondern die emotionelle oder volitionale Seite dieser Gegenst\u00e4nde, ihre Beziehung zu seinem Begehren und W\u00fcnschen, seiner Lust und Unlust. Es erweckt dabei h\u00e4ufig den Schein, die Gegenst\u00e4nde selbst zu benennen, es spricht vielleicht \u00bbtul* (Stuhl), es will aber keine Benennung des Objects Stuhl ausf\u00fchren, sondern es will sagen : Ich will auf dem Stuhle sitzen, reich\u2019 mir den Stuhl u. s. w., oder","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 183\ndas vielgebrauchte Wort \u00bbhuta\u00ab (Hut) hei\u00dft: \u00bbIch will den Hut aufsetzen\u00ab; selbst die W\u00f6rter Papa und Mama sind anfangs, wenn sie \u00fcberhaupt auf die betreffenden Personen angewendet werden, ein Ausdruck der Preude \u00fcber den Anblick oder die Ann\u00e4herung der Personen bezw. ein Ausdruck des Bedauerns \u00fcber ihre Entfernung, nicht eine eigentliche Benennung derselben. Es entspricht dies durchaus dem Ueberwiegen des Gef\u00fchlslebens \u00fcber den Intellect und die intellectuelle Analyse der Wahmehmungsobjecte, die das gesammte Seelenleben des Kindes in der ersten Zeit auszeichnet. Diese That-sache ist nun f\u00fcr die Auffassung der ersten Worte des Kindes sehr wichtig, sie erm\u00f6glicht es, eine Menge falscher Vorstellungen von dem begrifflichen logischen Charakter der ersten gesprochenen Worte zu beseitigen und manches andere scheinbar sehr schwierige Problem der ersten kindlichen Sprache auf die einfachste Weise zu l\u00f6sen.\nDer Beweis daf\u00fcr, dass aller intellectuellen Verwendung der Worte diese emotionell-volitionale Sprachstufe vorausgeht, l\u00e4sst sich auf die mannigfaltigste Weise f\u00fchren. Ich erbringe ihn erstens aus der Analyse einzelner besonders charakteristischen Wortverwendungen des Kindes, zweitens aus der Beschaffenheit seines gesammten Vocabulariums, drittens aus dem grammatischen und lautlichen Charakter seiner ersten Wortverbindungen.\nNehmen wir zun\u00e4chst einzelne charakteristische Beispiele der ersten Wortverwendungen des Kindes! Sehr deutlich tritt der reine Wunschcharakter b\u00e7i den ersten Lallworten hervor. H. Gutzmann (Des Kindes Sprache und Sprachfehler S. 23) berichtet: \u00bbso gebraucht mein einj\u00e4hriges T\u00f6chterchen, das gern Gehversuche macht, das Wort hm? (= ja) in fragendem Tone, um vom Arme oder aus dem Kinderstuhle genommen zu werden, um an die Erde zu kommen. Dagegen lautet es sehr entschieden hea! auf die Frage, ob es Milch haben will. Aehnliche W\u00f6rter sind auf! run! (= runter) u. s. w. Das eine Wort *Puppa\u00ab kann bedeuten: Gebt mir die Puppe \u2014 wie sch\u00f6n ist die Puppe \u2014 sieh,. meine Puppe u. s. w. je nach dem Aus druck, der im Ton liegt und nach der begleitenden Geb\u00e4rde\u00ab. Alle diese W\u00f6rter sind Wunschw\u00f6rter, sie \u00bbbezeichnen\u00ab nicht \u00bbGegenst\u00e4nde\u00ab, sondern dienen dem Ausdruck der kindlichen W\u00fcnsche und Begehrungen. Ein Kind, das ich beobachtete (W. St.), sprach im zw\u00f6lften Monat nur wenige Lalllaute, darunter eine Lautcom-","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nE. Meumann.\nbination, die etwa mit h\u00e4r-\u00e4 (Ton auf dem zweiten \u00e4) wieder gegeben werden kann. Diese dr\u00fcckte alle Erregungen seines Gem\u00fcths und Willens aus, sowohl Begehren als Abweisung, Bejahung und Verneinung, Freude \u00fcber erf\u00fcllte und Aerger \u00fcber nicht erf\u00fcllte W\u00fcnsche. Solche Worte erwecken den Schein, eine F\u00fclle verschiedenartiger Gegenst\u00e4nde zu bezeichnen, sind aber weder \u00bbBezeichnungen\u00ab noch \u00bbgegenst\u00e4ndlich\u00ab, sondern Ausdruck der Gef\u00fchle und Begehrungen. Neben diesen reinen Wunschworten stehen solche, die ein Minimum von Gegenstandsbezeichnung enthalten, die aber im Sinne des Kindes nur die emotionelle Seite (sozusagen den affectionellen Werth des Gegenstandes) ausdr\u00fccken. Bei ihnen nimmt das Wort zugleich schon etwas vom bezeichnenden Charakter an. Ein Kind Eduard Schultes bezeichnete mit \u00bbAwfa\u00ab alle Kopfbedeckungen und alle Kannendeckel, aber mit huta wurde auch der Wunsch ausgedr\u00fcckt, Gegenst\u00e4nde, auf die das Kind hinzeigte, zu haben. \u00bbEs setzte und legte sich n\u00e4mlich gern allerlei Dinge, die ihm gefielen, als huta auf den Kopf. Aus dem huta = ich m\u00f6chte das als Hut haben wurde dann nach h\u00e4ufigen Wiederholungen \u00bbIch m\u00f6chte das haben\u00ab (Preyer 299). Preyer deutet diesen Fall so, dass hierbei eine Erweiterung eines anfangs engeren Begriffs stattfindet. An diesem Beispiel ist nun zweierlei sehr merkw\u00fcrdig: 1. dass das Kind scheinbar ganz verschiedenartige Dinge mit demselben Worte bezeichnet: die Kopfbedeckungen und Kannendeckel einerseits, aber auch den Wunsch \u00bbIch m\u00f6chte etwas haben\u00ab ; 2. dass sich dieser speciellere Wunsch (etwas als Hut zu besitzen) zu der allgemeinen Wunschbezeichnung erweitert. Allein diese beiden auffallenden Umst\u00e4nde und der ganze Schein einer Bezeichnung heterogener Dinge mit demselben Worte verschwindet, wenn man beachtet, dass huta nie etwas anderes gewesen ist als ein Wunschwort. Es bezeichnete urspr\u00fcnglich nicht das Object den Hut, sondern den Wunsch \u00bbIch m\u00f6chte den Hut haben\u00ab. Das Kind hat also wahrscheinlich niemals den Hut als Gegenstand bezeichnet, sondern immer nur seinen Wunsch nach dem Besitze desselben ausgedr\u00fcckt, es hat den ganz bestimmten, immer gleichen Wunsch ge\u00e4u\u00dfert, Dinge zu haben, die es als Hut auf den Kopf legen oder setzen kann. Bei dieser Auffassung verschwindet also jener r\u00e4thselhafte Bedeutungswandel vollkommen; denn es ist sehr leicht verst\u00e4ndlich, dass nun das specielle Wunsch-","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n185\nwort allm\u00e4hlich durch h\u00e4ufige Wiederholungen zum allgemeinen Ausdruck des Wunsches wird. Hierbei wirken zwei Umst\u00e4nde unterst\u00fctzend mit. Die Wortarmuth des Kindes bedingt, dass es immer dasselbe Wunschwort verwendet, also allm\u00e4hlich auch andere Gegenst\u00e4nde als Kopfbedeckungen und Deckel mit diesem Worte begehrt. Dadurch verblasst dann die Erinnerung an die specielleren Wunschobjecte, die anfangs mit huta bezeichnet wurden. Das Gemeinsame (der Aehnlichkeitscharakter) der einzelnen W\u00fcnsche zusammen mit der Wortarmuth bewirkt dann, dass das speciellere Wunschwort allm\u00e4hlich auf andre verwandte W\u00fcnsche associativ \u00fcbertragen wird, und so wird das speciellere Wunschwort zum allgemeinen. Andre Beispiele machen den Wunschcharakter der ersten Worte des Kindes noch deutlicher, insbesondere erl\u00e4utern sie recht drastisch, dass gerade durch die Nichtbeachtung dieses Wunschcharakters der Schein logischer Allgemeinheit der kindlichen Wortbedeutungen entstehen muss. Prey er berichtet von einem Kinde, das an seinem Geburtstage das verst\u00fcmmelte Wort \u00bbburtsa\u00ab erlernte; von da an wurde burtsa die allgemeine Bezeichnung f\u00fcr alles, was ihm Freude machte (Preyer S. 338). Scheinbar werden hier mit burtsa die allerverschiedensten Dinge bezeichnet. In Wahrheit gilt die Bezeichnung immer demselben inneren Erlehniss, der gleichen emotionellen Stellungnahme des Kindes zu den verschiedenen Gegenst\u00e4nden: dem Ausdruck der Freude \u00fcber irgend etwas, das seinen kindlichen Geist interessirt. Lindner\u2019s Knabe begann sein Sprechen unter anderem mit dem Lallworte \u00bbdada\u00ab (dat). Dada hie\u00df Tater, Mutter, Kinderw\u00e4rterin, Schwester, aber auch die Milchflasche, endlich jeder auffallende Gegenstand \u00fcberhaupt. Dem Anscheine nach liegt hier also ein Begriff von sehr gro\u00dfem Umfange oder ein Wort von gro\u00dfer Allgemeinheit vor. In Wahrheit ist dada nichts als ein lautlicher Ersatz f\u00fcr eine hinweisende Geb\u00e4rde. Er dr\u00fcckt das Erlehniss aus : Dieses oder jenes interessirt mich, das macht mir Freude, das fesselt meine Aufmerksamkeit. Lindner\u2019s M\u00e4dchen erhielt ein St\u00fcck Apfel und erlernte dabei das Wort \u00bbappn\u00ab. Ton nun an wurde das Wort \u00bbappn* spontan gebraucht zur Begehrung jedes essbaren Gegenstandes, endlich zur Bezeichnung des Appetits oder Hungers \u00fcberhaupt. Dem Anscheine nach liegt hier wiederum eine \u00bbWortverallgemeinerung\u00ab vor (Ament), eine Verwendung des gleichen Wortes","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nB. Meumann.\nzur Bezeichnung eines sehr weiten Umkreises von \u00bbGegenst\u00e4nden\u00ab, und so wird jeder urtheilen, der das Schema von Wortvorstellungen und Gegenstandsvorstellungen in das kindliche Seelenleben hineindeutet. In Wahrheit liegt nichts vor als der Ausdruck eines Begehrens, richtiger vielleicht eines empfundenen physischen Bed\u00fcrfnisses und des dadurch erweckten Begehrens. Das appn bedeutet also einfach: Ich habe Hunger und m\u00f6chte das essen.\nUeberall wo \u00fcber die ersten kindlichen Worte und Yocabularien Protocoll gef\u00fchrt wurde, tritt dieser Wunschcharakter der ersten Worte hervor. Die meisten Worte, die Ament von seiner Nichte Louise aufzeichnete, sind ganz offenbar Wunsch- und Begehrungsworte, man kann fast beliebige Beispiele herausgreifen (Ament, S. 63 u. f.). Das Lallwort \u00bbmammam\u00ab bezeichnet am 354. Tage Brot und Brezelst\u00fcckchen und wird einmal der Schwester entgegengerufen, die dem Kinde solche schenkte, dann bezeichnet es bald all\u00e9 Speisen und Getr\u00e4nke. Das Kind verlangt damit sein Abendessen und es dr\u00fcckt seinen Unwillen dar\u00fcber aus, dass die Schwester sein Spielzeug anfasste. Ist dies nun eine \u00bbWortverallgemeinerung\u00ab ? Es ist so deutlich als m\u00f6glich, dass mammam der Ausdruck f\u00fcr das Begehren und Interesse des Kindes sein muss. Von einer Allgemeinheit im Sinne eines weiten Umfanges solcher Lallworte kann nicht die Bede sein., Ebenso war bei demselben Kinde das Wort \u00bbPapap\u00ab der Ausdruck freudiger Erregungen, der durch den Anblick der Mutter, der Kinderfrau, des Yaters, des Beobachters Ament selbst ausgel\u00f6st wurde. Es \u00bbbezeichnet\u00ab aber ferner ein Bild, dann alle gro\u00dfen m\u00e4nnlichen und weiblichen Bildnisse an der Wand, die fr\u00fcher mit dem Worte Medi bezeichnet worden waren u. s. w. Papap ist offenbar ein Ausdruck der Freude \u00fcber das Wiedererkennen menschlicher Gestalten, die aber damit keineswegs bezeichnet werden. Die Lallworte, welche das Kind von 0. Stumpf zuerst selbst\u00e4ndig verwendete, sind fast s\u00e4mmtlich Wunsch-, Begehrungs- und Affectworte (Stumpf, S. 9 ff.). Es ist bemerkenswerth, dass ein gro\u00dfer Theil der ersten Lallworte des Bandes nur scheinbar den Charakter von Benennungen oder Bezeichnungen tr\u00e4gt, indem der Anblick von Gegenst\u00e4nden das Kind vielfach zu ganz beliebigen Wortreproductionen veranlasst, welche in keiner Weise den Charakter der Bezeichnungen tragen. Von Benennungen kann daher nicht die Rede sein, wenn das lallende Kind","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 187\n*\nim Garten beim Anblick beliebiger Blumen oder sonstiger Objecte beliebige Lallworte hervorst\u00f6\u00dft, die in keiner Weise zu constanten Bezeichnungen erhoben werden (Ament), der Anblick der Objecte und die Anregung zu Benennungen durch den Erwachsenen werden dem Bande Veranlassung, in vollkommen willk\u00fcrlicher Weise seinen Sprechapparat functioniren zu lassen. F\u00fcr den erwachsenen Menschen dient die Benennung der Objecte zur Fixirung f\u00fcr das Ged\u00e4chtniss, zum Wiedererkennen und Identificiren, von alledem ist offenbar noch nichts vorhanden, wenn das in den ersten Sprachanf\u00e4ngen stehende Kind beliebige Lautcombinationen ausst\u00f6\u00dft, w\u00e4hrend ihm Objecte gezeigt werden (gegen Ament,. Seite 77). Als Bezeichnungen oder Benennungen k\u00f6nnen vielmehr nur diejenigen Lallworte oder verst\u00fcmmelten Nachahmungen der Worte Erwachsener angesehen werden, die einigerma\u00dfen constant verwendet und eine Zeit lang beibehalten werden. Grade diese in den dauernden Besitz des Kindes \u00fcbergehenden Worte zeigen nun anfangs stets den Charakter von Wunsch- oder Begehrungsworten.\nSehr 'treffendes Material f\u00fcr meine Auffassung der ersten kindlichen Bezeichnungen steckt in Taine\u2019s Beispielen der ersten Worte seiner Kinder (S. 290 u. 299 u. f.). Taine selbst deutet freilich zufolge seiner logischen Auffassung der kindlichen Sprache dasselbe Material intellectualistisch. Eines der fr\u00fchesten Worte seines Knaben war \u00bbeofo\u00ab f\u00fcr Chocolade. Chocolade war eine der ersten N\u00e4schereien, \u25a0die das Kind kennen lernte. Es zog sie bald allen anderen vor. Das Wort cola wurde nun auf s\u00e4mmtliche N\u00e4schereien angewendet, auf Zucker, Kuchen, Weintrauben, Pfirsiche, Feigen u. s. w. Nach der Meinung von Taine ist das \u00bbbegriffliche Verallgemeinerung\u00ab und ganz naiv f\u00fcgt der Autor selbst hinzu, dass alle diese verschiedenartigen Dinge darin \u00fcbereinstimmten, dass sie alle angenehm sind und alle dasselbe Verlangen hervorrufen, n\u00e4mlich die angenehme Empfindung noch einmal durchzumachen.\u00ab \u00bbNun gipfelt ein Verlangen, ein Trieb von solcher Bestimmtheit leicht in einer Miene, einer Handbewegung, einem Ausdruck, folglich einem Namen\u00ab (Seite 290). Ich frage, was bezeichnet das Kind anderes mit cola als diesen Trieb, dieses Verlangen? Soll man ihm die ungeheure psychische Leistung zumuthen, das Gemeinsame so verschiedenartiger Dinge, wie des Zuckers und der Pfirsiche, durch Abstraction herauszufinden oder","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nB. Meumann.\n#\ndie einfache Leistung, dass es ein Wunschwort f\u00fcr ein bestimmtes Begehren jedesmal \u00e4u\u00dfert, wenn dieses Begehren durch den Anblick jener Objecte geweckt wird? Bei demselben Kinde war \u00bbham* das allgemeine Wunschwort f\u00fcr etwas essen und trinken wollen (S. 291), ferner \u00bbma, ona\u00ab der Ausdruck daf\u00fcr, dass etwas Essbares seine Begierde reizte u. s. w. Genau dasselbe tritt hervor hei den ersten Worten, die Taine\u2019s M\u00e4dchen sprach. Es begann seine Sprache mit den Lallworten \u00bbpapa* und \u00bbfm\u00ab, papa wurde zuerst spielend hervorgebracht, entwickelte sich dann aber allm\u00e4hlich zur Bezeichnung der Erwartung und des Suchens nach dem Vater. Wahrscheinlich bezeichnet es nur dieses Begehren und Erwarten, w\u00e4hrend Taine ihm die gegenst\u00e4ndliche Bezeichnung einfach unterschiebt (S. 287). In \u00e4hnlicher Weise war das Wort ten ein sympathischer hinweisender Laut zur Bezeichnung: Sieh\u2019 da, gib acht, der in Folge dessen scheinbar zur Benennung aller m\u00f6glichen Objecte dienen konnte, hzw. dem Anschein nach eine associative Beziehung zu sehr verschiedenartigen Dingen eingeht.\nMan muss noch hinzuf\u00fcgen, dass lange Zeit in der sp\u00e4teren Sprachentwicklung des Kindes dieses starke Ueberwiegen der Gem\u00fcths- und Willensseite hei der Bezeichnung der Dinge sich erh\u00e4lt. Die lehrreichen Vocabularien und Kindesgespr\u00e4che, welche Gale mittheilt, gehen eine F\u00fclle der besten Belege hierf\u00fcr. Auch die ersten Fragen, welche Kinder zu \u00e4u\u00dfern pflegen, sind fast immer Begehrungs- oder Wunschfragen. (Gale, vgl. insbes. S. 116.)\nEinen weiteren Beweis f\u00fcr den Wunschcharakter der ersten Worte des Kindes ergehen die Vocabularien und die Anf\u00e4nge der kindlichen Grammatik. John Dewey hat mit Kecht darauf aufmerksam gemacht, dass in dieser Hinsicht die sonst sehr werthvollen Vocabularien der amerikanischen Psychologen eine Erg\u00e4nzung verdienen (was \u00fcbrigens auch Tracy nicht entgangen ist). Was uns bei dem Kinde als ein Substantiv oder Adjectiv erscheint, ist seiner Verwendung nach oft die Bezeichnung eines Vorganges oder gar eine blo\u00dfe Interjection, die ausschlie\u00dflich Gem\u00fcthsbewegungen, insbesondere Erstaunen ausdr\u00fcckt. Damit h\u00e4ngt es ferner zusammen, dass die Suhstantiva anfangs vorwiegend Vorg\u00e4nge bezeichnen und nicht ruhende Dinge, und zwar speciell Vorg\u00e4nge, die zum Begehren des Kindes in Beziehung stehen. Au\u00dferordentlich lehrreich sind die Zusammen-","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n189\n*\nStellungen, die Dewey nach eigner Beobachtung von zwei Kindern machte. Bei dem einen dieser Kinder, das mit zw\u00f6lf Monaten \u00fcber siebzehn W\u00f6rter verf\u00fcgte, bedeutet door, das immer von Bewegungen des Greifens oder Langens nach etwas begleitet wird(!) : \u00bbMache die Th\u00fcr auf\u00ab; bottle, Flasche, hei\u00dft \u00bbIch will trinken\u00ab. Ein solches Wort ist ein \u00bbnominal-adjectiv-verbaler Complex\u00ab von \u00fcberwiegendem V erbalcharakter.\nSchon Dewey hat daher, allerdings in speciellerem grammatischen Interesse, hervorgehoben, dass -der eigentliche Sinn der ersten Worte des Kindes nicht der gegenst\u00e4ndliche, sondern der verbale oder active sei: Ich will etwas haben oder etwas gebrauchen. Diese Beziehung zu seiner Th\u00e4tigkeit macht f\u00fcr das Kind die Bedeutung des Wortes aus. Ein Wort wie Ball wird angewendet auf den Mond, eine Orange, endlich \u00fcberhaupt auf jedes runde Ding, das den Wunsch in ihm erweckt, damit zu spielen. Nach Dewey ist die erste Sprachstufe des Kindes grammatisch zu bezeichnen als die verbal-interjectionale Sprachstufe.\nDieser Charakter der \u00e4u\u00dferen Sprachform ist nach meiner Ansicht eine Wirkung der von mir soeben beschriebenen Art der inneren Sprachform, die anfangs bei dem Kinde vorherrscht: der emotionell-volitionalen. Die gleiche Thatsache wird auch noch durch das ungeheure Ueberwiegen der Verba in dem Sprechen des Kindes erl\u00e4utert (vgl. die Gebrauchsstatistik der kindlichen Worte von Gale, S. 101 u. f.).\nWas endlich die allgemeine geistige Entwicklung des Kindes betrifft, so f\u00e4llt allen Kinderbeobachtern das Ueberwiegen der W\u00fcnsche und Begehrungen des Kindes dieser Entwicklungsperiode \u00fcber alle \u00fcbrigen Functionen auf. Die Welt seiner W\u00fcnsche und Begehrungen, seiner Gef\u00fchle und Affecte ist anfangs seine Welt und nicht die gegenst\u00e4ndliche dem Intellect zug\u00e4ngliche Au\u00dfenwelt. Wie sehr sich das in der Sprache des Kindes \u00e4u\u00dfert, tritt namentlich hervor in den kindlichen Gespr\u00e4chen, welche Gale nachgeschriehen hat. Sie erg\u00e4nzen die Statistik der beim Kinde vorhandenen Worte durch eine Gebrauchsstatistik. In diesen Gespr\u00e4chen dominiren nun die \u00bbEgoismusworte\u00ab ganz ungeheuer. Den Eigennamen Sammy sprach das eine Kind Gale\u2019s an einem Tage 1057 Mal. Die \u00bbaggressiven W\u00f6rter\u00ab i, me, my sprach dasselbe Kind an einem Tage 970 Mal u. s. w.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nB. Meumann.\n9\nMan sieht hieraus, dass die allgemeine geistige Entwicklung des Kindes um die Wende des ersten Lebensjahres uns von vornherein vermuthen l\u00e4sst, dass Wunsch- und Begehrungsworte anfangs \u00fcber die gegenst\u00e4ndlichen Bezeichnungen absolut \u00fcberwiegen m\u00fcssen.\nIch habe auf diesen Nachweis des emotionell-volitionalen Charakters der ersten kindlichen Wortbedeutungen so gro\u00dfen Werth gelegt, weil er das beste Mittel ist, um eine Menge falscher Vorstellungen abzuweisen. Vor allem verschwindet die immer wieder behauptete logisch-begriffliche \u00bbAllgemeinheit\u00ab der ersten Worte des Kindes. Es ist blo\u00dfer Schein, dass die kindlichen Worte von \u00bbunbestimmter Allgemeinheit\u00ab oder gro\u00dfer \u00bbAllgemeinheit des Umfangs sind\u00ab (Preyer, Lindner, Compayr\u00e9, Taine u. a.), dass sie auf k\u00fchnen Abstrac-tionen constanter oder gleicher Merkmale beruhen (Erdmann), ebenso aber, dass sie \u00bbunberechtigte Wortverallgemeinerungen\u00ab sind (Ament). Der Erwachsene, der nicht wei\u00df, was das Kind eigentlich bezeichnet, der seine Namengebung f\u00e4lschlich auf die differenten Dinge bezieht, statt auf den gleichen Wunsch oder Affect, muss durch diesen Schein get\u00e4uscht werden.\nMan muss sich nun vor allem die Folgerungen klar machen, die unsre ver\u00e4nderte Auffassung der ersten Anf\u00e4nge der Kindersprache mit sich bringt. Es fallen damit nicht nur die logischen und psychologischen Leistungen hinweg, die als Tr\u00e4ger der Begriffsbildung dienen, sondern man kann auch einige gewagte Analogien zwischen der Kindersprache und der allgemeinen Sprachentwicklung der Menschheit abweisen.\nEs kommt nicht selten vor, dass Kinder auf der ersten Sprach-stufe (aber auch noch bedeutend sp\u00e4ter, wenn sie schon im Besitz eines ansehnlichen Wortmaterials sind), Dinge oder Eigenschaften oder Vorg\u00e4nge oder Beziehungen mit demselben Worte bezeichnen, die f\u00fcr den Erwachsenen Gegens\u00e4tze oder gro\u00dfe qualitative Unterschiede darstellen. Namentlich logische Correlate, aber auch qualitative Gegens\u00e4tze der Empfindungen (wie warm und kalt) werden scheinbar mit demselben Worte bezeichnet, wobei das Kind sicherlich die Verschiedenheit der beiden Wortbedeutungen erkennt. Tracy (S. 117) berichtet von einem Kinde, das das Wort ot (verst\u00fcmmelt aus hot, hei\u00df) f\u00fcr zu hei\u00dfes Wasser kennen gelernt hatte; von da an be-zeichnete es auch das zu kalte Wasser mit *ot*. Tracy nimmt in","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n191\ndiesem Falle \u00bbAssociation durch Contrast\u00ab an. Ich gehe nicht zu, dass es eine besondere Keproduction durch Contrast gibt, und glaube, dass hier einfach die in beiden F\u00e4llen gleiche Wirkung auf das Gef\u00fchl (oder genauer das Unangenehme der extremen Temperatur) bezeichnet wird, wobei speciell der Afiect (Gef\u00fchl) das Bezeichnung-Weckende ist. Prey er ist nun der Ansicht, dass in solchen F\u00e4llen eine Analogie zu jenem Gesetz der Sprachentwicklung beim Kinde hervortritt, das Carl Abel (1876) als das \u00bbGesetz des Gegensinns der Urworte\u00ab bezeichnet hat. Nach diesem \u00bbGesetz\u00ab sollen in den primitiven Sprachen die Urworte meist \u00bbGegens\u00e4tze\u00ab bezeichnen. Preyer und ebenso Lindner nehmen dementsprechend an, das Kind \u00bbhabe schon eine Ahnung davon, dass Gegens\u00e4tze nur die Endglieder ein und derselben Begriffsreihe sind\u00ab. Ich selbst finde darin weder den \u00bbGegensinn der Urworte\u00ab, noch die Ahnung eines begrifflichen Verh\u00e4ltnisses, sondern eine Bezeichnung gewisser Gegens\u00e4tze und qualitativer Unterschiede nach ihrer gleichen Beziehung zum Gem\u00fcths-und Willensleben des Kindes.\nDie weiteren Beispiele m\u00f6gen das zeigen. Lindner\u2019s Knabe erlernte im 10. Monat das Wort \u00bbauf\u00ab und bezeichnete damit sowohl, auf als ab. So bedeutet z. B. \u00bbHut auf\u00ab sowohl die Aufforderung zum Absetzen wie zum Aufsetzen des Hutes. In diesem Falle bezeichnet das Wort \u00bbauf\u00ab augenscheinlich wieder das Begehren, n\u00e4mlich das Begehren nach einer Th\u00e4tigkeit mit dem Hute, bei welcher die beiden Seiten dieser Th\u00e4tigkeit dem Kinde gleich interessant sind. Derselbe Knabe gebraucht das Wort \u00bbwarm\u00ab auch f\u00fcr \u00bbkalt\u00ab. Dieser Fall d\u00fcrfte ebenso zu erkl\u00e4ren sein wie Tracy\u2019s \u00bbhot\u00ab. Preyer\u2019s Knabe gebraucht das Wort \u00bbzuviel\u00ab, auch wenn er sagen will \u00bbzu wenig\u00ab. Ein anderes Kind, das Preyer erw\u00e4hnt, gebraucht \u00bbnein\u00ab auch f\u00fcr \u00bbja\u00ab1).\nMan muss hierbei beachten, dass das \u00bbzuviel\u00ab dem Kinde ebenso unangenehm ist wie das \u00bbzuwenig\u00ab, das zu \u00bbwann\u00ab ebenso unangenehm wie das zu \u00bbkalt\u00ab.\n1) Bei solchen Aequivocationen, wie der letztgenannten, mag auch vielfach eine ungenaue Beobachtung vorliegen, indem die Kinder oft bei ihrer Wortarmuth nur durch Tonfall oder Accentuirung die Bezeichnung verschieden machen. Ygl. Grutzmann: Das Kind ist im Stande, dasselbe Wort f\u00fcr mehrere verschiedenartige Gredanken zu verwenden, indem es sie mit verschiedenartiger Betonung ausspricht (Grutzmann a. a. 0. S. 23).","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nE. Meumann.\n4. Die Intellectualisirung der emotionellen Sprache.\nIch bezeichnete bisher die erste Sprachstufe des spontan sprechenden Kindes als die emotionell-volitionale Sprache: Das Kind bezeichnet nicht Gegenst\u00e4nde, Vorg\u00e4nge, Personen, Eigenschaften, Beziehungen, sondern ausschlie\u00dflich oder vorwiegend deren Beziehungen zu seinem Gef\u00fchls- und Willenslehen.\nDer n\u00e4chste Fortschritt besteht nun darin, dass der Gef\u00fchlscharakter der ersten Worte sich allm\u00e4hlich verliert. Er tritt zur\u00fcck gegen die mehr gegenst\u00e4ndliche Bezeichnung dessen, was wahrgenommen wird. Damit -wird die Sprache einem Intellectualisirungs-process unterworfen: An Stelle des emotionellen und activen Sinnes der Worte tritt eine mehr gegenst\u00e4ndliche und intellectuelle Bedeutung. Anfangs hei\u00dft z. B. \u00bbtuhl\u00ab ich m\u00f6chte auf dem Stuhl sitzen, \u00bb doors ich will die Th\u00fcr aufmach en oder zumachen, sp\u00e4ter wird es zur Bezeichnung der Gegenst\u00e4nde Stuhl und Th\u00fcr-.\nMit dieser Intellectualisirung der Sprache wird dann erst eine Vorbedingung zur logischen Verarbeitung der Wortbedeutung geschaffen, die aber, wie wir sogleich sehen werden, noch l\u00e4ngere Zeit durch eine niedrigere Stufe der intellectuellen Wortbedeutung aufgehalten wird. Erst nachdem diese Intellectualisirung und Ver-gegenst\u00e4ndlichung der Wortbedeutungen eingetreten ist, beginnt auch die Wahrnehmung des Kindes sich genauer mit den Gegenst\u00e4nden als solchen zu besch\u00e4ftigen. Es ist nat\u00fcrlich anfangs ein Hindemiss f\u00fcr die genauere Analyse der Dinge und Vorg\u00e4nge der Umgebung, wenn sie blo\u00df nach ihrer Gef\u00fchlsseite beachtet und benannt werden, erst in dem Ma\u00dfe, als diese Art der Reaction auf den Anblick der Dinge und Personen zur\u00fccktritt, wird das Ding selbst mit seinen rein den Intellect ansprechenden Eigenschaften Gegenstand der Aufmerksamkeit. Man muss ausdr\u00fccklich bemerken, dass die Processe der Sprachbildung sich bei keinem Kinde so bestimmt von einander trennen, dass nicht auch schon von Anfang an einzelne Worte als wirkliche Benennungen der Gegenst\u00e4nde oder Personen vorhanden w\u00e4ren. Dies ist schon einfach dadurch bedingt, dass der Erwachsene in gewissem Ma\u00dfe dem Kinde seine eigenen Wortbed\u00e9utungen auf-n\u00f6thigt. Der unmittelbare Erfolg dieser Intellectualisirung der Wortbedeutung ist aber keineswegs ein gro\u00dfer. Alle ersten Wortbedeutungen","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n193\ndes Kindes, welche wirklich Gegenst\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge oder, was viel seltner ist, Eigenschaften bezeichnen, sind noch Wortbedeutungen der allerprimitivsten Art. Sie tragen nichts von einem begrifflich logischen Charakter an sich. Sie sind rein associative Bildungen und machen eine Sprachstufe aus, welche die kindlichen Wortbedeutungen v\u00f6llig unter der Herrschaft der Associationsgesetze zeigt. Ich nenne diese die associativ-reproductive Stufe der kindlichen Wortbedeutung und trenne sie scharf ah von der logisch begrifflichen, in welcher die associativ gebildeten Wortbedeutungen allm\u00e4hlich zu Begriffen umgestaltet werden. Was die Ursachen der Intellectualisirung der Sprache betrifft, so reichen dje bisherigen Beobachtungen nicht aus, um dar\u00fcber bestimmtere Angaben zu machen.\n5. Die associativ-reproductive Sprachstufe des Kindes.\nEs liegt mir viel daran, das Wesen dieser Sprachstufe an der Hand der Beobachtungen in einer Weise klar zu machen, die m\u00f6glichst unabh\u00e4ngig ist von der schwankenden logischen Terminologie. Es kommt mir darauf an, zu beweisen, dass die ersten Wortbedeutungen des Kindes, welche gegenst\u00e4ndlichen Charakter tragen, toto genere verschieden sind von jenen Wortbedeutungen, die der Erwachsene bildet und die wir als Producte einer logischen Th\u00e4tigkeit bezeichnen k\u00f6nnen. Ob man nun mit Erdmann unter Begriffen die wissenschaftlich festgestellten Wortbedeutungen versteht oder oh man mit Ament alle Wortbedeutungen Begriffe nennt (eine Terminologie, die ich f\u00fcr irref\u00fchrend halte), das ist f\u00fcr unsere Frage irrelevant. Entscheidend ist, dass den ersten Wortbedeutungen des Kindes der Charakter jener Th\u00e4tigkeit fehlt, die mehr ist als ein blo\u00df mechanisches Spiel associativer Processe, und die au\u00dfer dem, was die Associationsgesetze durch blo\u00dfe Simultaneit\u00e4t und Contiguit\u00e4t oder durch associative Uebertragung mit dem Worte verkn\u00fcpfen noch eine Th\u00e4tigkeit der Zusammenfassung des Zusammengeh\u00f6rigen und der Ausscheidung dessen, was nicht in den Wortzusammenhang passt, verrathen.\nDer Beweis f\u00fcr den associativen Charakter der ersten Wortbedeutungen, welche gegenst\u00e4ndlicher Art sind, muss nat\u00fcrlich in der Hauptsache aus der Art der Verwendung der Worte hergenommen\nWundt, Philos. Studien. XX.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nB. Meumann.\nwerden. Die Deutung dieser Verwendung ist aber ein ganz besonders schwieriger Punkt. Auf die Auffassung, welche Preyer, Lindner, Compayr\u00e9, Taine, Perez, Oltuszewsky u. a. ge\u00e4u\u00dfert haben, gehe ich nicht n\u00e4her ein, weil sie wiederum einfach die kindlichen Worte als Begriffe auffassen, die durch logische Abstraction zu Stande kommen. Diese Frage ebenso wie das bekannte auf dem Psychologencongress zu M\u00fcnchen verhandelte Problem, ob die kindlichen Begriffe anfangs Individualbegriffe oder Allgemeinbegriffe sind, wird sich mit den folgenden Ausf\u00fchrungen von selbst erledigen.\nNeuerdings aber hat sich eine andere Auffassung geltend gemacht, welche die ersten Worte des Kindes als \u00bbVorbegriffe\u00ab (Romanes) oder \u00bbUrbegriffe\u00ab (Ament) bezeichnet. Damit soll gesagt sein, dass diese \u00bbVorbegriffe\u00ab und \u00bbUrbegriffe\u00ab in logischer Hinsicht eine v\u00f6llige Sonderstellung haben. Sie sind gewisserma\u00dfen weder Allgemein-begriffe noch Individualbegriffe, sondern werden in einer Weise verwendet, die beim Erwachsenen nicht mehr vorkommt. Nach Ament sollen die Urbegriffe Bezeichnungen \u00bbundifferenzirter Sachvorstel-lungen\u00ab sein. Eben wegen der mangelhaften Differenzirung des Inhalts der Worte k\u00f6nnen nun die Worte in sehr allgemeiner Weise verwendet werden und die Art ihrer Verwendung nennt Ament \u00bbWortverallgemeinerung\u00ab. Etwas anderes wollte Romanes mit seinen Vorbegriffen bezeichnen; die Vorbegriffe sollen eine Zwischenstufe der kindlichen Erkenntniss bedeuten, auf welcher sich der kindliche Intellect \u00fcber die Stufe der allgemeinen thierischen Erkenntniss erhebt, die aber noch nicht irgend etwas von specifisch-menschlicher Erkenntniss an sich tr\u00e4gt (Romanes, S. 186ff., S. 193). Diesen beiden Auffassungen ist vielleicht das gemeinsam, dass es sich hier um eine vorlogische Stufe der kindlichen Wortbedeutung handelt, nur dass Ament durch seine irref\u00fchrende Terminologie und den unklaren Aufedruck \u00bbWortverallgemeinerung\u00ab diese richtige Erkenntniss wieder verdeckt. Diese Auffassungen kommen daher mit der \u00e4lteren haupts\u00e4chlich durch Preyer vertretenen darin \u00fcberein, dass die ersten gegenst\u00e4ndlichen Wortbedeutungen des Kindes Namen von gro\u00dfer Allgemeinheit des Umfangs sind und dass die Processe, durch welche die Bedeutungen der Worte erworben werden, als Verallgemeinerungen zu deuten sind. Ob man nun die Art der Verwendung der kindlichen Wort\u00e8, welche thats\u00e4chlich zur Bezeichnung einer gro\u00dfen Anzahl","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. jgg\nsehr differenter Gegenst\u00e4nde gebraucht werden, als \u00bbWortverallgemei-nerungen\u00ab bezeichnet (Ament), oder als Begriffe von gro\u00dfer Allgemeinheit (Preyer), in beiden F\u00e4llen begeht man denselben Fehler, man vergegenw\u00e4rtigt sich 1. nicht, was das Kind eigentlich bezeichnet\u2019 2. verdeckt man mit dieser Terminologie den v\u00f6llig unbegrifflichen alogischen Charakter dieser ersten Bedeutungsbildungen, in Folge dessen wird dann 3. in der Regel das ganz besonders wichtige Problem in der kindlichen Sprachbildung \u00fcbersehen, wie aus diesen anfangs alogischen associativ gebildeten Wortbedeutungen die eigentlichen Begriffe entstehen.\nIch versuche nun aus Beispielen klar zu machen, wie die associate11 Wortbedeutungen des Kindes in Wahrheit zu denken sind. Nehmen wir einen von Romanes mitgetheilten Fall onomatopoetischer Benennung (Preyer S. 299). \u00bbEin Kind, welches zu sprechen anfing, sah und h\u00f6rte eine Ente auf dem Wasser und sagte *kuak\u00ab. Darauf nannte es einerseits alle V\u00f6gel und Insecten, anderseits alle Fl\u00fcssigkeiten kuak. Endlich nannte es auch alle M\u00fcnzen kuak, nachdem es einen Adler auf einem Geldst\u00fcck gesehen hatte\u00ab i). Es be-zeichnete also schlie\u00dflich mit demselben Worte so verschiedenartige Gegenst\u00e4nde wie die M\u00fcnze, die Fliege und den Wein. Preyer deutet das nat\u00fcrlich als allm\u00e4hliche Verallgemeinerung eines Begriffs. Dies ist ebenso falsch, wie wenn Rzesnizek in dem Uebertragen des Wortes kuak auf die M\u00fcnze ein blo\u00dfes Verblassen der urspr\u00fcnglichen Bedeutung sieht (Rzesnizek S. 18). Wir m\u00fcssen hierbei zwei Stadien der Wortbildung von einander trennen, die Ausdehnung des oinma.1 gewonnenen Wortes kuak von den V\u00f6geln auf die M\u00fcnze; diese ist nichts anderes als associative Uebertragung durch Simultaneit\u00e4t und zeigt die reine Wirksamkeit der Association. Sie folgt dem Schema, was bei Gelegenheit des Aktes der Benennung gleichzeitig in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit f\u00e4llt, das associirt sich mit der Be-hennung und wird in die Wortbedeutung aufgenommen. Hier haben wir zugleich ein besonders deutliches Beispiel von dem v\u00f6llig alogischen, rein associativen Charakter der kindlichen Bedeutungsbildung, denn die M\u00fcnze wird wirklich als neuer Wortinhalt aufgenommen, aber die Verschiedenartigkeit der bezeichneten Gegenst\u00e4nde (M\u00fcnze\n1) N\u00e4mlich auf einem Sous.\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nE. Meutnann.\nund Yogel) l\u00e4sst keinen Zweifel dar\u00fcber aufkommen, dass das Kind sie in keiner Weise als eine gemeinsame Klasse von Dingen auffasst. Der Wortinhalt wird daher einfach in so naiver Weise bereichert, weil dem Kinde das Bewusstsein noch v\u00f6llig fehlt, dass ein Wortinhalt eine logische Einheit zusammengeh\u00f6riger Merkmale sein soll, welche durch logische Synthese und nicht durch das Spiel der Association zu Stande kommen muss. Es ist in Folge dessen ganz unm\u00f6glich, diesen Process als \u00bbVerallgemeinerung \u00ab eines Begriffes oder Wortes zu bezeichnen; jedes Wort ist hierbei unzutreffend. Es handelt sich weder um Verallgemeinerung noch um einen Begriff, und ebenso nicht um Wortverallgemeinerung. Es ist associative Ueber-tragung eines Wortes auf einen ganz neuen Inhalt, die mit dem, was man gew\u00f6hnlich unter Verallgemeinerung versteht, nichts gemein hat.\nDer Anschein der Verallgemeinerung besteht nur f\u00fcr den Erwachsenen, der die in Wahrheit wirksamen Processe nicht kennt.\nEtwas anders steht die Sache bei den zuerst genannten Objecten, den Insecten und den Fl\u00fcssigkeiten. Der Process ist hier dieser, dass das Kind sein Wort Jcuak erworben hat bei einer bestimmten Wahrnehmung, als es diese bestimmte Ente auf dem Wasser sah.\nBezeichnung ist also jedenfalls zun\u00e4chst Individualbezeichnung (die Wahl des onomatopo\u00ebtischen Wortes kuak k\u00f6nnen wir als f\u00fcr unseren gegenw\u00e4rtigen Zweck belanglos betrachten). Wbnn \u00fcberhaupt eine Analyse dieses Gesammteindruckes \u00bbEnte auf dem Wasser\u00ab stattgefunden hat, so enth\u00e4lt sie nur diese beiden \u00bbMerkmale\u00ab fliegendes oder gefl\u00fcgeltes Thier und Fl\u00fcssigkeit. Diese sind ferner offenbar gar keine eigentlichen \u00bbMerkmale\u00ab. Das Kind verr\u00e4th vielmehr durch die unbek\u00fcmmerte Art und Weise, wie das Wort verwendet wird, \u00fcberall wo etwas der Ente und dem Wasser nur entfernt \u00e4hnliches wiederkehrt, dass sie nichts von dem Charakter jenei bestimmt begrenzten Merkmale der Begriffe des erwachsenen Menschen an sich tragen. Sie sind als die beiden Seiten der Gesammtwahr-nehmung aufzufassen, welche dem Kinde besonders aufgefallen sind und welche sich mit den Kamen associirt haben. Ueberall nun, wo diese beiden Bestandtheile eines Wahrnehmungsobjectes wiederkehren, wirken sie reproducirend auf die associirte Benennung. Es beth\u00e4tigt sich hierbei jenes Gesetz der Aehnlichkeitsassociation, nach welchem auf Grund der Association eines Eindrucks A mit einer Vorstellung B","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen heim Kinde.\t197\nauch jeder dem A \u00e4hnliche Eindruck die Vorstellung B reprodu-ciren kann. Die Unbestimmtheit der Wahrnehmung des Kindes muss hierbei die Wirksamkeit jenes Aehnlichkeitsgesetzes noch wesentlich erleichtern1). Dasjenige, was hierbei benannt wird, sind also gar nicht die verschiedenartigen Dinge (etwa die s\u00e4mmtlichen Insecten oder Wein, Wasser, Teich und Bach), sondern nur jene Merkmale, richtiger jene Seiten oder Bestandtlieile der Gresammtwahrnehmung, mit welchen der Name kuak associirt ist. Dass wirklich nicht diese heterogenen Dinge benannt werden, sondern nur jene von dem Kinde entdeckten Seiten der Dinge, geht auch daraus hervor, dass das Kind die Objecte noch gar nicht in der F\u00fclle ihrer differenten Eigenschaften kennt, und wenn es einige von diesen kennt, so kann es diese Mannigfaltigkeit des Wahrnehmungseindrucks gar nicht beachten. Der Umfang seiner Aufmerksamkeit ist im zweiten Lebensjahre noch ein \u00e4u\u00dferst geringer. Ferner wird seine Aufmerksamkeit durch das wenige, was es an Dingen bemerkt, v\u00f6llig gefesselt und absorhirt, es kann daher gar nicht jene verschiedenartigen Dinge benennen, sondern nur jene Seiten derselben, f\u00fcr welche urspr\u00fcnglich die Bezeichnung gewonnen wurde. Man sieht nun leicht, wodurch der Schein jener Allgemeinheit des Wortes entsteht. Er entsteht dadurch, dass der Erwachsene nicht wei\u00df, was von dem Kinde eigentlich benannt wird. Das Kind benennt die immer gleichen oder ann\u00e4hernd gleichen Bestandtheile des Eindrucks, welche die Wortreproduction veranlassen. Der Erwachsene schiebt ihm unter, dass es die ihm bekannten Dinge mit der F\u00fclle ihrer verschiedenen Eigenschaften benennt. Der Akt, der Benennung selbst kann hierbei den Charakter einer mechanischen Ausl\u00f6sung der Reproduction, durch den wiedererkannten Wahrnehmungsinhalt tragen. Man sieht zugleich, dass der wahre Wortinhalt durchaus concreter Natur ist2): Einige sinnf\u00e4llige Seiten oder Theile der Objecte werden wiedererkannt und vielleicht auch appercipirend vorgestellt, dagegen braucht der Wortinhalt in keiner AVeise abstract oder allgemein zu sein. Was hierbei stattfindet, ist h\u00f6chstens eine primitive Vorstufe der niederen \u00bbpsychologischen\u00ab\n1)\tVgl. K\u00fclpe, Grundriss der Psych. S. 197. 206 u. f. S.\n2)\tMan vergleiche die Ausf\u00fchrungen \u00fcber concrete und abstracte Wortbedeutungen in meiner gr\u00f6\u00dferen Abhandlung \u00fcber die Kindersprache. Leipzig, Engel -mann, 1902.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nE. Meumann.\nAbstraction des Erwachsenen. Ich verstehe unter dieser das Hervortreten einzelner Eigenschaften (Theilwahmehmungen) in einem Wahrnehmungscomplex, wobei von den \u00fcbrigen appercipirbaren Eigenschaften (Theilwahmehmungen) abgesehen wird. Die primitive Vorstufe dieses Processes beim Kinde ist nun in den beiden Punkten von der \u00bbpsychologischen\u00ab Abstraction des Erwachsenen verschieden zu denken, dass es 1) die F\u00fclle der verschiedenen Eigenschaften der Gegenst\u00e4nde nicht appercipirt und wegen seines \u00e4u\u00dferst geringen Wissens nicht appercipiren kann, und dass 2) eben deswegen das deutlichere Hervortreten derjenigen Eigenschaften, welche benannt und appercipirt werden, durch eine sehr viel geringere psychische Leistung zu Stande kommt. F\u00fcr den Erwachsenen w\u00e4re es schon eine besondere Leistung, aus so verschiedenen Objecten, wie den V\u00f6geln und Insecten, das Gemeinsame herauszufinden, f\u00fcr das Kind ist diese Leistung eine au\u00dferordentlich einfache und elementare, denn f\u00fcr die kindliche Aufmerksamkeit sind bei weitem die gr\u00f6\u00dfere Anzahl jener Verschiedenheiten der Dinge, aus denen die Aehnliclikeit herausgefunden werden soll, noch nicht da.\nDaraus erkl\u00e4rt sich auch eine allgemeine Eigenth\u00fcmlichkeit aller ersten Benennungen des Kindes: Das Kind findet mit erstaunlicher Sicherheit die Aehnlichkeiten verschiedenartiger Dinge heraus; selbst da, wo das dem Erwachsenen oft gro\u00dfe Schwierigkeiten macht. Die Arbeit seiner Apperception ist hierbei die denkbar einfachste: Wir bemerken nur, was wir wissen. Das Kind wird daher von den Verschiedenheiten der Dinge nicht gest\u00f6rt.\nWas ich bisher an einem Beispiele ausgef\u00fchrt habe, l\u00e4sst sich durch zahlreiche weitere Beispiele beglaubigen. Eduard Schulte theilt folgende Beobachtungen mit (Preyer S. 293): \u00bbEin Knabe von l3/4 Jahren wandte den oft geh\u00f6rten, also nachgeahmten Freudenruf \u00bbe\u00a3\u00ab, indem er ihn zuerst in \u00bbeix\u00ab, in \u00bba^e\u00ab und dann in ass verwandelte, auf seinen h\u00f6lzernen, auf R\u00e4dern stehenden, mit einem rauhen Fell bekleideten Ziegenbock an. \u00bbef&\u00ab wurde dann ausschlie\u00dflich Freudenruf, \u00bbass\u00ab wurde der Karne f\u00fcr alles, was sich fortbewegte, f\u00fcr Thiere, f\u00fcr die eigene Schwester und f\u00fcr Wagen, f\u00fcr alles, was sich \u00fcberhaupt bewegte, endlich f\u00fcr alles, was eine rauhe Oberfl\u00e4che hatte\u00ab. Man sieht hieraus wieder deutlich, dass, was das Kind an dem Ziegenbock benennt, nur zwei Bestandtheile der Wahr-","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t199\nnehmung sind, die ihm besonders auffallen m\u00fcssen: die Beweglichkeit und das rauhe Fell. \u00bbBeweglich\u00ab und \u00bbmit rauher Oberfl\u00e4che\u00ab sind also die Inhalte des Wortes \u00bbass\u00ab und nun wird das Wort \u00fcberall da reproducirt, wo diese Eindr\u00fccke oder einer derselben wiederkehren. Da nun einerseits beweglich und rauh zwei nur \u00e4u\u00dferlich associativ verbundene Eigenschaften sind, die an ganz heterogenen Gegenst\u00e4nden wiederkehren und keine Classification im Sinne des Erwachsenen begr\u00fcnden, und da das Wort \u00bbass\u00ab nun \u00fcberall angewendet wird, wo diese Eigenschaften vorhanden sind, so entsteht der Schein einer fortschreitenden Verallgemeinerung des Begriffes oder des Wortes \u00bb<m\u00ab; es entsteht ferner der Schein, dass das Kind die \u00bbAehnlichkeit\u00ab ganz verschiedenartiger Dinge, wie des Ziegenhocks und der eigenen Schwester, in Bezug auf diese Eigenschaft der Beweglichkeit herausfindet, dass es \u00bbMerkmale\u00ab abstrahire oder herausl\u00f6se aus einem Wahrnehmungsinhalt, der au\u00dfer ihm noch viele andere f\u00fcr das Kind ebenfalls appercipirhare enth\u00e4lt. Das alles ist blo\u00dfer Schein, der durch die Art der Verwendung des Wortes erweckt wird. Was das Kind in Wirklichkeit bezeichnet, sind nur diese beiden ihm interessanten Seiten an seinem Wahrnehmungsinhalt: Das Bewegliche und das Rauhe. Der Inhalt des Wortes ist also ein sehr \u00e4rmlicher, aber ganz concreter. Zur vollst\u00e4ndigen Erkl\u00e4rung dieser Art dei Wortverwendung des Kindes muss man noch eine allgemeine Eigenschaft des kindlichen Geistes hinzunehmen. Es \u00fcberwiegen beim Kinde in der Wahrnehmung die wenigen Apperceptionsmassen, \u00fcber die es verf\u00fcgt, in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe \u00fcber die Perception oder die Hingabe an den ohjectiven Eindruck als beim Erwachsenen. Man bemerkt noch bei dem sechs- und siebenj\u00e4hrigen Kinde, dass es beim Lesen den ohjectiven Eindruck in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe durch seine Erwartungsvorstellungen f\u00e4lscht als der Erwachsene1). Ferner zeigt das psychologische Experiment, dass zum ohjectiven Beobachten ein viel gr\u00f6\u00dferer Energieaufwand der Aufmerksamkeit geh\u00f6rt als zur apperceptiven Deutung des Wahrgenommenen. Dementsprechend muss auch das Benennen und Bezeichnen des Kindes gedeutet werden. Die Differenzen der Wahrnehmungsinhalte werden viel weniger\n1) Dies fanden wir speciell bei tachystoskopischen Versuchen \u00fcber das Lesen an sieben- und achtj\u00e4hrigen Kindern im Z\u00fcricher psychologischen Institut.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nB. Meumann.\nobjectiv aufgenommen, so dass gewisserma\u00dfen bei der Wahrnehmung und Benennung eine Mittelstufe zwischen der normalen Assimilation des Erwachsenen und der Illusion des Geisteskranken stattfindet.\nDie Beispiele f\u00fcr diese Art der Benennung des Kindes lassen sich noch betr\u00e4chtlich vermehren. Sie zeigen immer wieder denselben Charakter, dass eine gro\u00dfe F\u00fclle verschiedenartiger Dinge scheinbar auf Grund einer entfernten Aehnlichkeit mit dem gleichen Worte benannt werden, w\u00e4hrend in Wahrheit die Dinge des Erwachsenen gar nicht der Gegenstand der Bezeichnung sind. Lindner\u2019s Knabe bezeichnete anfangs mit \u00bbpapp\u00ab alles Essbare, mit \u00bbmamm\u00ab alles Trinkbare, mit \u00bbga\u00ab die Uhr und alles, was ihr \u00e4hnlich sah, z. B. einen Kompass. Egger (S. 59) erz\u00e4hlt von einem Kinde, das mit \u00bbta\u00ab (table) alles bezeichnete, was auf dem Tisch ist, \u00bbati\u00ab (assis) bezeichnet den Stuhl, das Tabouret, eine Bank, aber auch den Akt des Sichsetzens und \u00bbSitzens\u00ab, \u00bbpappa\u00ab bezeichnet alles, was dem Vater geh\u00f6rt. Tracy (S. 119) erw\u00e4hnt, dass ein Kind in der Zeit zwischen dem 18. und 24. Monat das Wort \u00bbpoor\u00ab kennen lernte. Dieses war urspr\u00fcnglich ein Ausdruck des Mitleids und wurde dann auf jede Art von Verlust oder Schaden angewendet, ebenso aber auf eine verbogene Nadel. Bei einem anderen Kinde bedeutete \u00bbdam\u00ab (verst\u00fcmmelt aus Gum) alle zerbrochenen oder besch\u00e4digten Sachen, und als das Kind das Wort \u00bbs\u2019had\u00ab erlernt hatte (verst\u00fcmmelt aus thread), wurden alle zerbrochenen Dinge in zwei Classen getheilt: Solche, die mit \u00bbdam\u00ab, und solche, die mit \u00bbs\u2019had\u00ab wiederhergestellt waren. Es ist v\u00f6llig unm\u00f6glich hierbei anzunehmen, dass die \u00bbDinge\u00ab so bezeichnet werden. (Andere \u00e4hnliche F\u00e4lle bei Tracy, S. 119.) Ein Kind Mauthner\u2019s kannte als einziges Thier einen Hund, der \u00bbWauwau\u00ab genannt wurde. Als es zum ersten Male H\u00fchner sah, nannte es diese ebenfalls \u00bbwauwau\u00ab. Auch hier liegt nat\u00fcrlich keine Begriffserweiterung vor\u2019, sondern es ist dieselbe Wahrnehmung, die den gleichen Namen erh\u00e4lt, die Wahrnehmung der selbst\u00e4ndig sich bewegenden Thiere. Diese Bewegungsvorg\u00e4nge fesseln die kindliche Aufmerksamkeit, und ihnen gilt die Benennung. Nach dieser Analogie d\u00fcrften nun alle die Beobachtungen zu erkl\u00e4ren sein, welche die erste Wortverwendung des Kindes betreffen: Kinder benennen den Mond als Lampe; die Worte Papa und Mama werden auf alle weiblichen und m\u00e4nnlichen Personen angewandt, \u00bbba\u00ab (bath","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n201\noder auch Bad) wird auch auf das ger\u00f6stete Brod angewandt, wenn dieses in den Thee gestippt wird (Tracy, St\u00f6rring).\nWenn man diesen Sinn der ersten kindlichen Worte beachtet und die Art ihrer Verwendung im Sinne des Kindes, so l\u00e4sst sich nicht nur der Schein der fortschreitenden Verallgemeinerung ahweisen, sondern auch manche andere falsche Deutung, welche die Kindersprache erfahren hat. Mauthner hat die wunderliche Behauptung aufgestellt, die ersten Worte des Kindes seien Metaphern; wenn Gegenst\u00e4nde mit demselben Worte bezeichnet werden, welche nur in einer ganz bestimmten Beziehung eine Aehnlichkeit besitzen hei \u00fcbrigens gro\u00dfer Verschiedenheit, so sei die kindliche Sprache hierin der dichterischen gleich. Die Bezeichnungen des Kindes sind nach Mauthner sinnbildlich zu verstehen. Ein von ihm beobachtetes Kind nannte seine Tochter \u00bbdeta\u00ab. Dieser Name, der anfangs Eigenname war, wurde sp\u00e4ter auf alles \u00fcbertragen, was zur Familie geh\u00f6rte. \u00bbDas Kind sprach falsch vom Standpunkt des Schulmeisters, aber es vollzog sich in ihm einfach der regelm\u00e4\u00dfige Uebergang vom Eigennamen zum Gattungsnamen. Derselbe Vorgang f\u00fchrt zum falschen Sprechen, wenn das Kind jeden b\u00e4rtigen Menschen auf der Stra\u00dfe mit Papa anruft. Unaufmerksame M\u00fctter meinen dann, es verwechsele den fremden Herrn mit seinem Papa (?). Das Kind aber dichtete blo\u00df. Es erfand sich -eine Metapher; ebenso nennt man es falsch, wenn das Kind das Wort \u00bbHut\u00ab gelernt hat, und nun die Haube der Gro\u00dfmutter einen Hut nennt. Ein Schriftsteller oder das Volk, wenn es die Wolke auf einem Berggipfel seine Kappe nennt, wird gelobt. Die Metapher ist da und dort die gleiche\u00ab (Mauthner II, S. 280). Eine falschere Erkl\u00e4rung der ersten Wortbedeutung des Kindes als diese ist wohl kaum m\u00f6glich! Was zun\u00e4chst die kindliche Sprechweise total von der poetischen und metaphorischen verschieden macht, ist dies, dass die letztere die Kenntniss der Verschiedenheit von eigentlicher und bildlicher Bezeichnung eines Objectes voraussetzt, welche dem Kinde g\u00e4nzlich fehlt. Sodann verbieten die Thatsachen diese Auffassung. Thatsache ist, dass alle Kinder erst sehr sp\u00e4t zug\u00e4nglich werden f\u00fcr metaphorische und bildliche Ausdrucksweise. Alle Kinder nehmen anfangs die Metaphern w\u00f6rtlich, selbst die allereinfachsten, und es geh\u00f6rt schon eine gewisse geistige Reife dazu, damit sie \u00fcberhaupt begreifen, was bildliche Ausdr\u00fccke sind und sein sollen.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nE. Meumann.\nLindner\u2019s Knabe verstand erst im 34. Monat eine Metapher, nachdem er sie fr\u00fcher fast immer missverstanden d. h. w\u00f6rtlich genommen hatte. Im 31. Monat sprach er selbst zum ersten Male in metaphorischer Form (vergl. Lindner, S. 78, 90 und 103). Es ist ferner jedem, der einmal Kinder beobachtet hat, bekannt, dass in der Kinderstube nicht selten die wunderlichsten Missverst\u00e4ndnisse entstehen, weil Kinder metaphorische Ausdr\u00fccke w\u00f6rtlich nehmen, und die Kindersprache selbst die Dinge so unbildlich als m\u00f6glich bezeichnet. Selbst gegen\u00fcber dem 6- und 7 j\u00e4hrigen Schulkinde gilt noch immer die Kegel, dass nichts gef\u00e4hrlicher ist als zu ihm in Metaphern zu sprechen, und dass seine eigne Sprache abgesehen von seltnen Ausnahmen ganz frei von symbolischer Bezeichnung ist. Und dabei sollte das 2- bis 3j\u00e4hrige Kind gewisserma\u00dfen normaler Weise sich symbolisch und metaphorisch ausdr\u00fccken! Ich w\u00fcrde diese g\u00e4nzlich verfehlte Hypothese Mauthner\u2019s \u00fcberhaupt nicht erw\u00e4hnt haben, wenn sein Werk \u00fcber die Sprache nicht in so hohem Ma\u00dfe \u00fcbersch\u00e4tzt w\u00fcrde.\nAls mitwirkende Umst\u00e4nde f\u00fcr die Art der Wortverwendung beim Kinde sind endlich noch anzusehen sein mangelhaftes Wissen und der Trieb des Kindes, mit seinen Benennungen Recht zu haben. Dieser letztere Trieb zeigt sich bei allen Kindern ohne Ausnahme. Das Kind h\u00e4lt seine einmal gewonnenen Bezeichnungen mit Hartn\u00e4ckigkeit gegen\u00fcber allen Correcturen des Erwachsenen aufrecht. Aus dem Mangel an Wissen erkl\u00e4ren sich Beobachtungen, wie die von Ament, dass ein Kind die Kirschkerne als Bohnen bezeichnte (Ament H, S. 18). Die Wahrnehmung des Kindes ist hier nicht so unvollkommen, wie es scheint, wohl aber fehlt ihm die Kenntniss von dem, was die Kirschkerne und die Bohnen f\u00fcr den Erwachsenen wegen ihrer Herkunft \u2014 zu ganz verschiedenen Objecten macht.\nEin weiterer Beweis f\u00fcr den rein associativen Charakter dieser Sprachstufe liegt in der Beobachtung, dass die \u00bbzuf\u00e4lligsten Begleiterscheinungen\u00ab dem Kinde zu Hauptmerkmalen der Begriffe werden (Ament, S. 140). Gro\u00dfmutter ist f\u00fcr das Kind alles, was sich eine Haube aufsetzt. Dem associativen Charakter der ersten Wortbedeutungen entspricht ferner der rein reproductive Charakter des ersten Sprechens. Jeder beliebige Reiz, der seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermag, zwingt das Kind reflexartig zum Sprechen. Wie die Bilder","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n203\nim Kaleidoskop, so wechseln in planloser Aneinanderreihung die benannten Gegenst\u00e4nde (Treitel a. i. K. S. 633). Ein vortreffliches Bild dieser Sprechweise des Kindes zeigen die Proben von Gale in den Tagesaufzeichnungen ganzer Gespr\u00e4che seiner Kinder (Gale, S. 101 ff. \u00bbwords used on one day\u00ab).\nIch fasse das Ergebniss der vorigen Ueberlegungen in folgenden S\u00e4tzen zusammen. Nachdem die Wortbedeutungen des Kindes ihren Wunschcharakter verloren haben und gegenst\u00e4ndlicher Natur geworden sind, zeigen sie folgende Eigenth\u00fcmlichkeiten: 1. Sie entstehen auf Grund sehr unvollst\u00e4ndiger, nur wenig analysirter Wahrnehmungen, bei welchen nur die eine oder andere Seite des Wahrnehmungsobjectes appercipirt wird, die nicht den Charakter von analysirten oder abstrahirten Merkmalen tr\u00e4gt. Diese fesseln seine Aufmerksamkeit so vollst\u00e4ndig und der Umfang seines Bewusstseins ist so beschr\u00e4nkt, dass alles andere \u00fcbersehen wird. Sie machen daher ausschlie\u00dflich die Wortbedeutung aus. 2. Die Wortbedeutung ist daher concret, eine Abstraction von \u00bbMerkmalen\u00ab tritt nur in jenem S. 197 angegebenen primitiven Grade ein. 3. Das, was das Kind bezeichnet, sind nur diese Theile oder Seiten der Wahrnehmungsobjecte, nicht die Objecte seihst, an welchen diese wiederkehren.\n4.\tDadurch entsteht der Schein einer fortschreitenden Verallgemeinerung des Wortes oder Wortinhaltes, w\u00e4hrend in Wahrheit die Allgemeinheit des Wortes \u00fcberhaupt zweifelhaft ist. Die Bildung der Bedeutungen folgt der Kegel, dass alles, was mit dem Worte durch Contiguit\u00e4t associirt werden kann, auch in den Wortinhalt aufge-nommen wird. Das Kind wei\u00df noch nicht, dass die Bestandteile einer Wortbedeutung eine logische Einheit bilden sollen, dass es ausscheiden muss, was nicht in den logischen Zusammenhang passt.\n5.\tDer Wortinhalt selbst tr\u00e4gt einen v\u00f6llig alogischen Charakter und ist das Product eines blo\u00dfen Spiels der Associationsgesetze, insbesondere der associativen Uehertragung. 6. Da die Worte immer hei einer bestimmten Gelegenheit erworben und zun\u00e4chst nur auf das zuerst benannte Individuum angewandt werden, so sind sie ihrem begrifflichen Charakter nach Individualbegriffe, richtiger Individualbenennungen, sie werden von da aus zu Benennungen aller \u00e4hnlichen oder gleichen Seiten oder Theile der Wahrnehmungsobjecte, weil sie bei jeder Wiederkehr der gleichen oder \u00e4hnlichen Wahrnehmungs-","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nE. Meumann.\ntheile reproducirt werden. Sie sind aber auch als Individualworte primitiver als die des Erwachsenen, indem sie nicht als solche aufgefasst werden k\u00f6nnen. 7. Die Anwendung der Worte erfolgt einfach im Sinne einer mechanisch-ausgel\u00f6sten Reproduction : Diese bestimmten Seiten des Wahrnehmungsobjectes sind mit bestimmten Worten associirt, wenn sie wiederkehren, wird das Wort durch sie reproducirt, ganz unbek\u00fcmmert darum, ob andere \u00bbMerkmale\u00ab, Eigenschaften oder Theile da sind, welche die Anwendung des Wortes im Sinne des Erwachsenen verbieten und als fehlerhaft erscheinen lassen. 8. Die Leistung des Kindes ist daher eine scheinbar gro\u00dfe (Herausfinden von Aehnlichkeiten aus sehr verschiedenen Dingen), in Wahrheit eine sehr einfache (primitive Vorstufe der Abstraction).\nEine indirecte Best\u00e4tigung meiner Auffassung finde ich auch hier wieder darin, dass die sp\u00e4tere Entwicklung der kindlichen Wortbedeutung noch lange Zeit ihren concreten und zum Theil auch ihren alogischen Charakter zeigt. Ich verweise in dieser Hinsicht zun\u00e4chst auf den sogenannten Concretismus des Kindes. Tracy berichtet von einem Kinde, das eine kleine M\u00fcnze bezeichnete als \u25a0\u00bbbaby dollar\u00ab. \u00bbKo mane s\u2019 Tochter bezeichnete mit 18 Monaten das Schaf mit \u00bbMama-B\u00e4h\u00ab, das Lamm mit \u00bbllda-B\u00e4h\u00ab, nachdem sie f\u00fcr ihren j\u00fcngeren Bruder Emst die Bezeichnung \u00bbllda\u00ab erfunden hatte\u00ab. (Rzesnizek, S. 24). Ein von Mauthner beobachtetes Kind bezeichnete, nachdem es das Wort deta zum Familiennamen erhoben hatte, auch die Zugeh\u00f6rigkeit zu dieser Familie mit deta. So hie\u00df z. B. der Hund des Hausvaters deta wamvau (H, S. 279). Eine Erg\u00e4nzung erhalten diese Beobachtungen durch die Reproduc-tionsversuche, welche Ziehen an 8\u201412j\u00e4hrigen Schulkindern anstellte. Es zeigte sich bei diesen Versuchen, dass die Kinder fast ausnahmslos in Individualvorstellungen denken, die als solche nat\u00fcrlich concret sind. Gerade bei den intelligenten Sch\u00fclern \u00fcberwiegen die Individualvorstellungen in besonders hohem Ma\u00dfe \u00fcber die ab-stracten Vorstellungen, w\u00e4hrend die geistig zur\u00fcckgebliebenen hierin eine vorzeitige Ann\u00e4herung an den Typus des Erwachsenen zeigen.\nEin ganz besonders wichtiger Beweis f\u00fcr meine Auffassung der in Rede stehenden Sprachstufe des Kindes als einer alogischen, insbesondere aber daf\u00fcr, dass es unm\u00f6glich ist, dem einj\u00e4hrigen Kinde ein h\u00f6heres Ma\u00df von Analyse und Vergleichung zuzuschreiben, liegt","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\t205\ndarin, dass, wenn das Kind einmal wirklich Aehnlichkeiten durch Beobachtung erkennen soll, oder wenn es Vergleiche anstellen soll, zu welchen mehr als ein blo\u00dfes Wiedererkennen geh\u00f6rt, es dazu seihst in einem sp\u00e4teren Alter nicht f\u00e4hig ist. Ta ine\u2019s Knabe erlernte das Wort fleurs f\u00fcr Blumen ziemlich sp\u00e4t mit einer gewissen M\u00fche, \u00bbeine Aehnlichkeit zwischen so verschiedenen Formen und Farben herauszufinden\u00ab. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass die Aehnlichkeit der Blumen leichter zu erkennen ist, als die zwischen einem Teiche und dem Wein im Wasserglase (S. 299). Eine \u00e4hnliche Beobachtung machte Ament (S. 23). Die Aehnlichkeit der Bl\u00e4tter der \u00fcbrigen Pflanzen mit denen des Grases wurde nicht erkannt, ebenso nicht die Aehnlichkeit der Fr\u00fcchte untereinander. Es ist sehr bezeichnend, dass diese von Ament gepr\u00fcften Kinder schon etwas \u00e4lter waren als alle jene, deren Wortbedeutung wir vorhin analysirt haben. Die \u00e4lteren Kinder erkennen jene Aehnlichkeiten nicht, weil ihre Wahrnehmung in h\u00f6herem Ma\u00dfe die Verschiedenheit der Dinge erfasst (vergleiche auch die Beobachtung von Egger, dass Kinder, die anfangen zu lesen, die fr\u00fcher erlernten Buchstaben oft nicht wiedererkennen, wenn sie in einer ungew\u00f6hnlichen Schriftart gedruckt sind).\nWas die Unbestimmtheit der Wahrnehmungen betrifft, die ich im Vorigen vorausgesetzt habe, so erh\u00e4lt diese eine indirecte Best\u00e4tigung durch die statistischen Untersuchungen \u00fcber den Vorstellungskreis der neu eintretenden Schulkinder, welche von Bartholom\u00e4i, Hartmann, Bergmann, Seyfert und anderen veranstaltet worden sind. Die Ungenauigkeit, mit der die sechsj\u00e4hrigen Kinder die Gegenst\u00e4nde ihrer Umgehung beobachten, zwingt uns nat\u00fcrlich, den zwei- und dreij\u00e4hrigen das denkbar geringste Ma\u00df von Analyse der Wahrnehmungsobjecte zuzuschreiben.\nEin weiterer indirecter Beweis f\u00fcr die Richtigkeit meiner Auffassung liegt darin, dass alle diejenigen physischen Leistungen, welche einen h\u00f6heren Grad von Abstraction beim Kinde voraussetzen, erst sp\u00e4t eintreten; dahin geh\u00f6rt die Bildung der Zahlbegriffe, die Classification und die Subsumption (vgl. die Beobachtungen von Ament H, 23 ff.).","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nE. Meumann.\n6. Einige besonders schwierige F\u00e4lle erster Wortbedeutungen\ndes Kindes.\nMan beobachtet nicht selten, dass Kinder in den ersten Anf\u00e4ngen ihrer Sprachentwicklung Wortbedeutungen bilden, die scheinbar sehr abstracten Charakter tragen und bei denen Objecte oder namentlich Vorg\u00e4nge nach solchen gemeinsamen Merkmalen unter einem Worte zusammengefasst erscheinen, welche selbst f\u00fcr den Erwachsenen schwierig zu beobachten sind.\nDie Kinder scheinen manchmal sogar an sehr verschiedenartigen Vorg\u00e4ngen solche gemeinsamen Merkmale zu entdecken, die der Erwachsene erst durch Reflexion zu erwerben pflegt und die gar nicht der blo\u00dfen Wahrnehmung zug\u00e4nglich scheinen. Eine Folge dieser scheinbaren Entdeckung gemeinsamer Merkmale in heterogenen Vorg\u00e4ngen ist die, dass die Kinder manchmal Klassenbegriffe zu bilden scheinen, in welchen die Gegenst\u00e4nde oder Vorg\u00e4nge nach Gesichtspunkten zusammengefasst werden, die dem Erwachsenen ungew\u00f6hnlich sind. Preyer\u2019s Knabe bezeichnet z. B. mit atta (haatta), vom elften bis zum f\u00fcnfzehnten Monat einschlie\u00dflich, das Weggehen einer Person, das Verdunkeln der Flamme durch einen Lampenschirm, das Auf-und Zumachen der Th\u00fcre, das Herabfallen eines Gegenstandes vom Tisch und das Verschwinden eines Gegenstandes \u00fcberhaupt. Prey er h\u00e4lt es f\u00fcr unzweifelhaft, dass das Kind die Aehnlichkeit in so verschiedenen Vorg\u00e4ngen erkennt. Es habe durch Abstraction des gemeinsamen Merkmals dieser Vorg\u00e4nge einen Begriff gebildet. \u00bbEs vereinigt Merkmale zu Begriffen\u00ab und \u00bbdie Begriffsbildung ist nicht allein l\u00e4ngst da, sondern auch die Bezeichnung des Begriffs mit Silben\u00ab (S. 323). Eine ganz \u00e4hnliche Beobachtung theilte mir Herr Professor Bovet in Z\u00fcrich mit. Sein Knabe benannte ungef\u00e4hr in demselben Alter wie derjenige Preyer\u2019s alle Vorg\u00e4nge des Auf- und Zudeckens, des Wegnehmens und Verschwindens u. s. w. mit dem Lallworte m\u00fc. Eine \u00e4hnliche Beobachtung machte Tracy. Sein Kind erlernte das Wort do (door). Es wandte dasselbe an \u00bbto every thing that stopped up an opening or prevented an exit including the cork of a bottle and the little table that fastened him in his high chair\u00ab. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit dem Beispiel, welches Taine (S. 300) mittheilt. Sein Kind bezeichnete mit b\u00e9dames (belles dames)","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. 207\nalle abgebildeten menschlichen Figuren, die es unter sehr auffallenden Umst\u00e4nden wieder erkannte. An diesen Wortbildungen ist Verschiedenes auffallend. 1. Dass das Kind \u00fcberhaupt solche Vorg\u00e4nge mit demselben Worte benennt, die wie das Verdunkeln des Lichtes mit dem Lampenschirm und das Weggehen einer Person f\u00fcr den Erwachsenen kaum irgend etwas gemeinsam haben. Es wird uns schwer, das Gemeinsame in solchen Vorg\u00e4ngen \u00fcberhaupt richtig zu bezeichnen. Man muss sich schon \u00fcberlegen, dass das Verschwinden eines Gesichtseindrucks vielleicht das Gemeinsame aller dieser Vorg\u00e4nge ist. Wenn nun wirklich das Kind das Gemeinsame aus so gro\u00dfen Verschiedenheiten durch Analyse und vergleichende Vorg\u00e4nge herausf\u00e4nde, so w\u00e4re das eine unbegreiflich gro\u00dfe Leistung seiner Intelligenz, die ihm allerdings von Preyer und anderen zugemuthet wird. Man muss nun bei diesen Beobachtungen zweierlei scheiden. So lange die beobachteten Vorg\u00e4nge nur so weit verschieden sind, dass in ihnen noch gemeinsame Theilvorg\u00e4nge f\u00fcr die Wahrnehmung vorhanden sind (wie bei dem Weggehen und Kommen einer Person), ist die wirkliche Leistung des Kindes eine sehr einfache. Gerade weil solche Vorg\u00e4nge in gewissen Punkten so au\u00dferordentlich verschieden sind, kann das Kind diese Verschiedenheiten gar nicht bemerken, es braucht nicht mit frappirender Energie der Vergleichung aus gro\u00dfen Verschiedenheiten gemeinsame Merkmale herauszul\u00f6sen, seine Aufmerksamkeit wird ausschlie\u00dflich gefesselt von gewissen diesen Vorg\u00e4ngen gemeinsamen Seiten oder Theilvorg\u00e4ngen, und diese fesseln seine Aufmerksamkeit, weil Bewegungen, Ver\u00e4nderungen und Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt dem Kinde interessanter sind als ruhende Objecte und ihre Eigenschaften. Wenn aber die beobachteten Vorg\u00e4nge so verschieden sind, dass die Wahrnehmung keine gemeinsamen Theilvorg\u00e4nge mehr an ihnen finden kann (wie beim Verdunkeln der Lampe durch den Schirm und beim Oeffnen der Th\u00fcr), so kann man nicht mehr annehmen, dass hierbei die Differenz der Vorg\u00e4nge nicht wahrgenommen w\u00fcrde, in diesem Falle tritt als Reiz f\u00fcr die gleiche Benennung ein emotioneller Effect ein, der sich mit dem verbunden hat, was den Vorg\u00e4ngen objectiv gemeinsam ist. F\u00fcr beide Vorg\u00e4nge, das Verdunkeln einer Lampe und das Weggehen einer Person, sind Kinder au\u00dferordentlich stark interessirt, sie erregen lebhaft ihr Gef\u00fchl. An dieses Gemeinsame des Erlebnisses kn\u00fcpft sich der gleiche Wunsch","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nE. Meumann.\nbezw. das gleiche Bedauern beim Kinde an, und unter dieser Constellation wird die gleiche Benennung reproducirt. Ueberall aber, wo das Gemeinsame dieser Wahrnehmungen die Reproduction (nach meinen obigen Ausf\u00fchrungen) bestimmt, gen\u00fcgt als Reiz f\u00fcr die gleiche Benennung, dass das objectiv Gemeinsame der Vorg\u00e4nge im Kinde reproducirend wirksam wird. Der Erwachsene hat hier wohl zu scheiden zwischen dem Gemeinsamen des Erlebnisses und dem Erkennen des Gemeinsamen durch Analyse, Vergleichung und Reflexion. F\u00fcr das Erleben des Kindes kann die Gleichheit der Vorg\u00e4nge (es geht etwas weg, das vorher da war, und umgekehrt) zur Anregung der gleichen Reproduction des Namens gen\u00fcgen, obgleich es f\u00fcr die vergleichende Analyse sich nur in einem abstracten Urtheil aussprechen l\u00e4sst.\nF\u00fcr diese Gemeinsamkeit des Erlebnisses bzw. f\u00fcr die reprodu-cirende \"Wirkung des objectiv Gemeinsamen der Ereignisse kommt dann das schon erw\u00e4hnte Aehnlichkeitsgesetz in Betracht.\n7. Die logisch begriffliche Stufe der kindlichen Wortbedeutung.\nEs ist leicht Schemata zu construiren, nach welchen die weitere Entwicklung der kindlichen Wortbedeutung vor sich gehen muss. Man kann ja ohne weiteres sagen, dass, wenn die Wortbedeutungen anfangs zu allgemein und \u00bbdem Umfang nach zu weit\u00ab waren, sie eine Beschr\u00e4nkung erfahren m\u00fcssen, oder dass unberechtigte Erweiterungen durch Determination des Inhaltes corrigirt werden m\u00fcssen. Umgekehrt wenn die Worte des Kindes anfangs zu viel determinirende Merkmale enthielten im Sinne des Erwachsenen, so m\u00fcssen sie erweitert werden (Ament). Aber mit dieser schematischen Darstellung ist nicht viel gewonnen, sie sagt uns nur, was man durch Ueberlegung a priori schon l\u00e4ngst wusste. Was dabei vollst\u00e4ndig fehlt, ist der Nachweis, durch was f\u00fcr eine Art von Processen die Wortbedeutungen zu Stande kommen, vor allem, ob das Spiel der Associationsgesetze zur Bildung derselben ausreicht, ob die Wortverengerungen auf einer Zunahme der bewussten Analyse beruhen oder auf zuf\u00e4lligen Entdeckungen, ob und wann das Bewusstsein von der Zusammengeh\u00f6rigkeit der mit dem Worte associirten Theilvorstellungen bezw. ihrer Zugeh\u00f6rigkeit zu einer Klasse von Objecten vorhanden ist, ob die","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten \"Wortbedeutungen beim Kinde.\t209\nAusscheidung von Theilvorstellungen aus der Wortbedeutung durch associative Verdr\u00e4ngung zu Stande kommt oder auf Grund der Erkenntnis, dass sie einer anderen Klasse von Gegenst\u00e4nden zugeh\u00f6ren.\nAm leichtesten nachzuweisen sind die treibenden Motive, welche das Kind veranlassen, \u00fcber die erste Bedeutungsstufe hinaus zu gehen. Sie machen es zugleich au\u00dferordentlich wahrscheinlich, dass die Ann\u00e4herung der kindlichen Wortbedeutung an den Bedeutungstypus der Erwachsenen lange Zeit ganz ohne jede begriff-bildende Th\u00e4tigkeit vor sich geht, und obgleich sich die Bedeutungen im Sinne des Erwachsenen umbilden, bleibt der Umbildungsprocess doch noch lange ein rein associativer. Die Associationsprocesse verrichten dabei aber eine Vorarbeit f\u00fcr die sp\u00e4tere Begriffsbildung, die erst sehr viel sp\u00e4ter theils unter dem Einfluss der zunehmenden Intelligenz, theils auf Grund des Unterrichtes zu Stande kommt.\nEs scheinen hierbei haupts\u00e4chlich vier Motive wirksam zu sein.\n1)\tDem Kinde treten die Wortbedeutungen des Erwachsenen best\u00e4ndig als eine feste Norm gegen\u00fcber, an welcher ihm zuerst das Verst\u00e4ndnis daf\u00fcr aufgeht, dass nicht alles Beliebige unter einem Worte zusammengefasst werden darf. Der Erwachsene bemerkt die in seinem Sinne falsche Wortverwendung des Kindes und greift corri-girend ein (Beispiele f\u00fcr diese, wie f\u00fcr die folgenden Ursachen der Bedeutungsentwicklung enth\u00e4lt die Literatur der Kindersprache in gro\u00dfer Menge, vergleiche f\u00fcr den vorigen Fall Taine, S. 290, die Ver\u00e4nderung des Wortes b\u00e9b\u00e9).\n2)\tDer Zwang des Lebens, d. h. der Verkehr mit den Erwachsenen ohne deren pers\u00f6nliche Einwirkung und der Conflict mit den unpers\u00f6nlichen Lebensumst\u00e4nden verrichtet dem Kinde einen ganz analogen Dienst. Es bemerkt, dass es sich vor Verwechselungen, vor Irrth\u00fcmern, vor unrichtiger Erf\u00fcllung seiner W\u00fcnsche nur dann sch\u00fctzen kann, wenn es seine anf\u00e4nglichen Wortbedeutungen einer bestimmten Beschr\u00e4nkung unterzieht. Hierbei findet gradezu eine Art von Auslese (Selection) unter seinen Worten statt. Fortw\u00e4hrend werden, wie uns die ersten Vocabularien zeigen, versuchsweise Worte gebildet und wieder fallen gelassen. Diese Auslese beth\u00e4tigt sich ganz besonders in der Hinsicht, dass manche Worte auf einen Theil der fr\u00fcher be-zeichneten Gegenst\u00e4nde beschr\u00e4nkt werden. F\u00fcr den Rest werden neue Bezeichnungen eingef\u00fchrt. Mit Pfennig bezeichnet ein Kind\nWundt, Philos. Studien. XX.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nE. Meumann.\nanfangs alle M\u00fcnzen, dann, als es die Silber- und Nickelm\u00fcnzen unterscheiden gelernt hat, wird das Wort auf die Kupferm\u00fcnzen beschr\u00e4nkt und f\u00fcr die \u00fcbrigen der Name \u00bbwei\u00dfer Pfennig\u00ab eingef\u00fchrt (Ament). Da dies einer der allergew\u00f6hnlichsten Processe der Kindersprache ist, kann ich daf\u00fcr auf die Literatur verweisen.\n3)\tEin weiteres Motiv liegt in den fortschreitenden Kenntnissen und Erkenntnissen des Kindes selbst, vor allem in der genaueren Wahrnehmung derselben. Analyse und Vergleichung vermehren seinen Voirath an selbst\u00e4ndig reproducirbaren Theilvorstellungen. Die zunehmende Genauigkeit der Wahrnehmung, die wachsende Concentration der Aufmerksamkeit, die zunehmende Kraft des Ged\u00e4chtnisses regen die Analyse und Vergleichung an und damit die ersten Anf\u00e4nge des Abstractionsprocesses. Es ist bekannt, dass diese Bereicherung der kindlichen Wortbedeutung auch in der \u00e4u\u00dferen Sprachform zum Ausdruck kommt. Dem Kinde sind seine Namenerwerbungen so wichtig, dass es sie auch durch eigenartige sprachliche Bildungen bekundet (Beispiele daf\u00fcr zusammengestellt bei Bzesnizek).\n4)\tDie Associationsprocesse selbst bereiten, wie ich schon erw\u00e4hnte, die sp\u00e4tere Begriffsbildung in gewissem Ma\u00dfe vor. Zusammengeh\u00f6rige Eigenschaften (Empfindungsgruppen) werden auch in \u00f6fterer Wiederholung zusammen beobachtet, gesehen, betastet, geh\u00f6rt und associiren sich. Es bilden sich durch den Associationsprocess einerseits Gruppen zusammenh\u00e4ngender Theilvorstellungen, die den Classificationen des Erwachsenen entsprechen, anderseits durch die associative Verdr\u00e4ngung gewinnen diese st\u00e4rker und \u00f6fter mit dem Worte verkn\u00fcpften Vorstellungen die Oberhand \u00fcber die seltener darunter gefassten und \u00fcber solche, die sich zugleich an andere Worte angliedem. Es braucht dabei das Bewusstsein von der logischen Bedeutung dieser Vorarbeit der Associationsprocesse nicht vorhanden zu sein. So lange dieses aber nicht bei der Wortbildung mitwirkt, fehlt der Bedeutungsbildung der Charakter logischer Synthese.\nMan sieht nun leicht, dass alle diese Motive zu correcterer Bildung der Wortbedeutungen keine logischen Motive sind. Allen diesen Zwecken kann auch die Arbeit der associativen Erweiterung und associativen Verdr\u00e4ngung gerecht werden, ohne dass ein Bewusstsein von der Kichtigkeit oder G\u00fcltigkeit der Bildungen da ist.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n211\nDen speciellen Nachweis, wann das logische Bewusstsein anf\u00e4ngt in die Bildungen der Wortbedeutung einzugreifen (der \u00fcbrigens bei dem bisherigen Stande der Beobachtung sehr schwierig ist), suche ich in meiner gr\u00f6\u00dferen Schrift \u00fcber die kindliche Sprache zu erbringen.\n8. Die Th\u00e4tigkeit des Schlielsens beim Kinde.\nWenn die oben durchgef\u00fchrte Auffassung richtig ist, dass die logischen Th\u00e4tigkeiten des Kindes sehr viel sp\u00e4ter auftreten als alle bisherigen Beobachter annahmen, so muss sich das auch darin zeigen, dass die Th\u00e4tigkeit des Schlie\u00dfens, insbesondere der syllogistische Schluss sich erst sehr sp\u00e4t beim Kinde nachweisen l\u00e4sst. Thatsache ist, dass die einfachsten Formen der Induction, insbesondere die inductive Verallgemeinerung fr\u00fcher spontan vom Kinde beth\u00e4tigt werden und seinem Verst\u00e4ndniss weniger Schwierigkeit bereiten als der Schluss vom Allgemeinen aufs Besondere. Im Gegensatz zu dieser Auffassung stehen nicht nur Beobachtungen, wie die von Preyer und Lindner, sondern auch die Angaben neuerer Forscher, die im allgemeinen zur\u00fcckhaltender mit der Annahme logischer Th\u00e4tigkeit beim Kinde sind (Tracy, Ament). Mit welcher Kritiklosigkeit diese Beobachter Schl\u00fcsse beim Kinde annehmen, m\u00f6ge an einigen Beispielen von Ament gezeigt werden. Folgende Beobachtungen bezeichnet er als verallgemeinernde Schl\u00fcsse. \u00bbIch legte ihr (der Louise) eine mit Messingn\u00e4geln beschlagene Kugel, ein Ei und eine cylinderf\u00f6rmige B\u00fcchse . .. vor, um sie zu Benennungen zu veranlassen. Nur das Ei erkannte sie sofort als Ei. . . Nach langem Betrachten sagte sie kugi, dann babedt und einmal der Mama (Dativ), die beide abwesend waren, (mit babedt ist die Kinderfrau gemeint). Das letztere nennt nun Ament einen verallgemeinernden Schluss. Es bedarf kaum der Bemerkung, dass hier nichts vorliegt, als Association durch Simultaneit\u00e4t: \u00bbMama und ihr Besitz, die Kugel\u00ab und eine Reproduction des Namens der Mama auf Grund des Anblicks der Kugel. Ein anderer Fall: \u00bbSie war in meinem Zimmer, als es drau\u00dfen klingelte, sie sagte papa, weil sie wei\u00df, dass der Vater schellt, wenn er kommt, und deshalb schlie\u00dft, wenn es schellt, muss er kommen\u00ab (S. 79), Auch hier ist keine Spur von einem Schluss vorhanden. Das Klingeln und die Erinnerung an den Vater bezw. der Name des Vaters haben sich associirt und der\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nE. Meumann.\nSchall der Klingel reproducirt die Erinnerung und den Namen. Die \u00fcbrigen Schl\u00fcsse Ament\u2019s stehen auf gleicher Stufe wie die bisher erw\u00e4hnten. Noch weniger kritisch ist Lindner, der Schlussfolgerungen findet, wo nicht ein Schatten davon vorhanden ist. Als typisches Beispiel m\u00f6ge das folgende dienen (S. 19): In der 42. Woche (noch vor Beginn der Sprache) erwartete das Kind sein Essen. Als die Mutter noch einmal aus dem Zimmer ging, fing es an zu weinen, beruhigte sich aber, als sie wiederkam. \u00bbOffenbar lag seinem Weinen keinerlei physische Veranlassung zu Grunde, sondern die Schlussfolgerung: W^enn die Mama hinausgeht, musst du auf dein Essen warten u. s. w. \u00ab Offenbar liegt hier sehr wohl eine physische Veranlassung f\u00fcr das Weinen vor, n\u00e4mlich der Hunger des Kindes, dazu kommt als psychische Veranlassung, dass sich mit dem Anblick des Essens und der Mutter die Erwartung der Hungerstillung asso-cfirt hat. Indem das eine Glied der Association verschwindet, wird die Erwartung entt\u00e4uscht. Eben so wenig ist in dem Beispiel S. 33 ein Causalschluss vorhanden. Vielfach erweckt auch die geschickte Verwerthung von Erfahrungen (genau wie bei Thieren) den Anschein einer Schlussfolgerung. Dahin geh\u00f6ren die Beispiele S. 35 und 54, ebenso die Beobachtungen von Egger (S. 41). Es ist bemerkens-werth, dass derselbe Lindner mittheilt, dass die Kinder erst sehr viel sp\u00e4ter eine dunkle Ahnung von dem bekommen, was Grund und Begr\u00fcndungen sind. Derselbe Knabe, der schon in der 42. Woche vor dem Eintritt der Sprache Schl\u00fcsse machen soll, soll erst im 26. Monat zum ersten Mal zur Bezeichnung eines Grundes im Stande sein. Die Mittheilung Sully\u2019s \u00fcber kindliche Schlussfolgerungen (Anmerkung S. 61 bei Lindner) kann man nur als Beispiel mangelhafter logischer Bildung eines englischen Philosophen bezeichnen.\nIch kann mich im Zusammenhang meiner Ausf\u00fchrung mit diesen negativen Argumenten begn\u00fcgen. Jeder Schullehrer wei\u00df, wie schwer sich die Kinder von acht Jahren und dar\u00fcber zu Schlussfolgerungen (nat\u00fcrlich zu enthymematischen) entschlie\u00dfen und wie unsicher sie in dem Verst\u00e4ndniss der einfachsten Schlussfolgerungen sind. Nach meiner Beobachtung entwickelt sich die Th\u00e4tigkeit des syllogistischen Schlie\u00dfens \u00fcberhaupt erst an der Hand bestimmter Unterrichtszweige, wie der reinen und angewandten Mathematik und gewisser h\u00f6heier Rechnungsarten. Das gilt speciell von der Deduction (w\u00e4hrend die","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\n213\nZug\u00e4nglichkeit f\u00fcr Inductionen und Inductionsschl\u00fcsse fr\u00fcher einzutreten scheint); sie von dem Kinde anzunehmen, das sich in den ersten Sprachanf\u00e4ngen befindet (Ament), oder gar von dem noch nicht sprechenden Kinde (Preyer, Lindner, Sully u. A.), ist absolut unm\u00f6glich.\nAnmerkung. Meine Abhandlung war urspr\u00fcnglich umfangreicher geplant, ich habe mit R\u00fccksicht auf den beschr\u00e4nkten Raum einer Festschrift drei weitere Abschnitte weggelassen, die sich mit der \u00bbWorterfindung\u00ab, dem Gesetz des kleinsten Kraftma\u00dfes und einigen verwandten Anschauungen \u00fcber die Kindessprache besch\u00e4ftigen sollten. Ich hoffe diese Abschnitte in Kurzem in einer gr\u00f6\u00dferen Schrift \u00fcber die kindliche Sprache zu ver\u00f6ffentlichen.\nLitteraturverzeichniss.\nWilhelm Ament, Die Entwickelung von Sprechen und Denken beim Kinde. Leipzig 1899.\nDers. Yerf. : Die Entwicklung der Pflanzenkenntniss beim Kinde und bei V\u00f6lkern. Berlin 1901 (citirt als \u00bbAment II\u00ab).\nBaldwin, Die Entwickelung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. Deutsch von Ort mann. Berlin 1898.\nCo\u00ebn, Pathologie und Therapie der Sprachanomalien. 1886.\nCompayr\u00e9, Die Entwickelung der Kindesseele. Deutsch von Ufer. Altenburg\n1900.\nDewey, The psychology of infant language. Psychol. Review. Vol. I. 1894. Eber, Zur Kritik der Kinderpsychologie u. s. w. Wundt, Philos. Studien. XII. 1896.\nEgger, De l\u2019intelligence et du langage chez les enfants. Paris 1887.\nGale, Psychological Studies. I. July 1900.\nGutzmann, Des Kindes Sprache und Sprachfehler. Leipzig 1894.\nHolden, On the Vocabularies of children under two years of age. Trans, of the Am. Philol. Ass. 1877.\nHumphrey, A contribution to infantile linguistics. Trans, of the Am. Philol. Ass. '1880.\nKirkpatrick, How children learn to talk. Science 1891. Sept.\nLindner, Aus dem Naturgarten der Kindersprache. Leipzig 1898.\nMauthner, Beitr\u00e4ge zu einer Kritik der Sprache. Stuttgart 1901. Oltuszewski, Die geistige und sprachliche Entwickelung des Kindes. Berlin\n1897.\n(Desselben Verfassers Philosophie der Sprache wird nicht citirt.) Perez, Les trois premi\u00e8res ann\u00e9es de l\u2019enfant. Paris 1892.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214 E. Meumann. Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.\nPrey er, Die Seele des Kindes. 2. Aufl. Leipzig 1895.\nRzesniczek, Zur Frage der psychischen Entwickelung der Kindersprache. Breslau 1899.\nRomanes, Die geistige Entwickelung beim Menschen. Deutsche Ausgabe Leipzig 1893.\nScheiblhuber, Der Sprachunterricht in der Volksschule. Leipzig 1893. Schultze, Die Sprache des Kindes. Leipzig 1878.\nSt\u00f6rring, Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. Leipzig 1899.\nStumpf, Eigenartige sprachliche Entwickelung eines Kindes Zeitschr. f\u00fcr p\u00e4d. Psychologie. III. 6.\nTracy, The language of childhood. Am. Journal of psychology. VI. 1893. Treitel, lieber Aphasie im Kindesalter. Leipzig 1893.\nWundt, V\u00f6lkerpsychologie I. Leipzig 1900.","page":214}],"identifier":"lit4481","issued":"1902","language":"de","pages":"152-214","startpages":"152","title":"Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:12:01.312481+00:00"}