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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griechischen Skepticismus

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{"created":"2022-01-31T14:27:01.908063+00:00","id":"lit4484","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Richter, Raoul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 246-299","fulltext":[{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griechischen\nSkepticismus.\nVon\nBaoul Richter.\nLeipzig.\nDie philosophische Zweifelslehre kann in doppelter Beziehung zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht werden: als rein begriffliches System (soweit der Ausdruck System hier gestattet ist), unbek\u00fcmmert um die geschichtlich aufgetretenen Gestaltungen desselben und deren individuelle Eigenth\u00fcmlichkeiten, oder aber in ihrer historischen Bestimmtheit und mit ihren thats\u00e4chlich in der Geschichte dagewesenen Formen. Wenn die vorliegende Studie den zweiten Gesichtspunkt erw\u00e4hlt, so leitet sie dabei nicht ein rein historisches Interesse, sondern die Ueherzeugung, dass der Philosoph in der Geschichte seiner Wissenschaft eines der wichtigsten H\u00fclfsmittel zum Yerst\u00e4ndniss der philosophischen Probleme besitzt1). Aber nicht der ganzen Geschichte der skeptischen Philosophie, nur einem kleinen Ausschnitt derselben gilt an dieser Stelle unsere Theilnahme. Der antike Skepticismus eines Pyrrho, Aenesidem, Sextus will f\u00fcr einige Augenblicke die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Wer\n1) Wundt, Ueber naiven und kritischen Realismus I. (Philos. Stud. XII, S. 317): \u00bbDer richtige Weg (zur Auffindung der Erkenntnissprincipien) ist daher nicht der, dass sich der Philosoph auf sein eigenes Bewusstsein zur\u00fcckzieht, sondern der, dass er die Arbeit menschlichen Denkens, die ihm die Wissenschaft zur Verf\u00fcgung stellt, zur Grundlage seiner Selbstbesinnung nimmt. Wenn es nun einmal nicht anders geht, als dass man die meisten Dinge nur von einer gewissen Feme aus in Augenschein nehmen kann, so soll wenigstens der gew\u00e4hlte Standpunkt lieber die Vogel- als die Maulwurfsperspective sein.\u00ab","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 247\nsich mit dem Skepticismus in der Philosophie geschichtlich besch\u00e4ftigt, wird von dessen griechischer Urform immer aufs Neue gefesselt. Hier steht die Wiege manches erkenntnisstheoretischen Satzes bis auf Hume herab; hier spielen sich warme Gem\u00fcthsbed\u00fcrfnisse und k\u00e4lteste Dialektik in einziger Weise in die H\u00e4nde; hier sind vor allen Dingen von einem philosophischen Grundstandpunkt die Folgerungen so geradlinig und r\u00fccksichtslos zu Ende gedacht, weisen alle Vermittelungsversuche, welche ein reicheres Erfahrungswissen sp\u00e4teren Zeiten auf-n\u00f6thigte, so weit von sich, dass die reizvolle Frische und Unmittelbarkeit, welche der ganzen griechischen Philosophie eigen, allerdings auch nur auf einer niederen Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung m\u00f6glich ist, ihren Zauber auf uns nicht verfehlen kann. Mit Hecht hat man behauptet, dass die pyrrhonische Skepsis \u00bbeinen H\u00f6hepunkt in der Entwicklung dieser Denkweise bezeichnet, der sp\u00e4terhin selten mehr erreicht worden ist\u00ab1 2); dass \u00bbprincipiell die neuere Zeit den\nArgumenten der alten Skeptiker kaum etwas wesentlich Neues beizuf\u00fcgen vermochte\u00ab3); dass \u00bbder Scharfsinn, mit dem die alten Skeptiker ihre Zweifel zur Geltung brachten, nicht nur an sich zu den bewundernswerthesten Leistungen des menschlichen Denkens geh\u00f6rt, sondern dass er au\u00dferdem durch die R\u00fcckwirkungen, welche die Skepsis auf die andern Richtungen aus\u00fcbte, eines der m\u00e4chtigsten F\u00f6rderungsmittel' der philosophischen Erkenntnis^ \u00fcberhaupt gewesen ist\u00ab3). So hat denn auch der griechische Skepticismus in unserer Zeit nicht nur meisterhafte Gesammtdarstellungen erfahren4), sondern man hat auch einzelne seiner Lehren zum Gegenstand besonderer Er\u00f6rterungen gemacht (Natorp, Hirzel u. a.). Dabei war, soweit man sich nicht in philologische oder historische Detailuntersuchungen verlor, immer das Hauptinteresse auf die Darstellung oder Kritik der skeptischen Lehre, ihrer Ergebnisse und ihrer Begr\u00fcndungen gerichtet. Dagegen lie\u00df man die Voraussetzungen, von denen die antike Skepsis mit H\u00fclfe ihrer Argumentationen zu den Endresultaten gelangte, au\u00dfer Acht. Und doch ist gerade dies Verh\u00e4ltnis von\n1)\tWundt, Einleitung in die Philosophie, S. 338.\n2)\tEbenda, S. 338/39.\n3)\tEbenda, S. 335/36.\n4)\tNeben die Behandlung in Zeller\u2019s Gesch. d. gr. Philos. tntt vor allem das Werk Brochard\u2019s: Les sceptiques grecs (Paris 1887).","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nRaoul Richter.\nVoraussetzung und Inhalt der skeptischen Philosophie deshalb so au\u00dferordentlich lehrreich, weil es ein sonderbares \u2014 Missverh\u00e4ltnis ist. Diese skeptische Philosophie ist ihrem Inhalt nach das Aeu\u00dferste an erkenntnisstheoretischer Kritik, was das Alterthum geleistet hat; in ihren Voraussetzungen aber bleibt sie auf einer Stufe der Naivit\u00e4t stehen, welche schon zu Pyrrho\u2019s Zeiten von dem wissenschaftlichen Bewusstsein zum Theil \u00fcberschritten war. Dieser befremdenden Eigent\u00fcmlichkeit wegen d\u00fcrfte es vielleicht angebracht sein, dieerkennt-nisstheoretischen Voraussetzungen der antiken Skepsis etwas n\u00e4her zu pr\u00fcfen.\nI.\nIn zwei gro\u00dfen Str\u00f6mungen tritt der Skepticismus in Griechenland auf; die eine leitet sich von Pyrrho ab, verschwindet etwa nach drei Generationen, belebt sich aber nach einer Pause von ungef\u00e4hr hundert Jahren wieder um den Anfang der christlichen Zeit-rechnung1) und reicht bis ins dritte Jahrhundert nach Christus herab. Die andere skeptische Str\u00f6mung entspringt innerhalb der Academie und ihre Bl\u00fcthe schiebt sich in die gro\u00dfe Pause nach dem \u00e4lteren Pyrrhonismus ein; dann erlischt sie und gibt die Herrschaft an den j\u00fcngeren Pyrrhonismus ab. Wir wollen nun, um unser Thema dem verf\u00fcgbaren Baum gem\u00e4\u00df zu beschr\u00e4nken, unsere Aufmerksamkeit nur den erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des Pyrrhonismus zuwenden.\nDie Lehren der einzelnen Skeptiker dieser Bichtung, eines Pyrrho, Timon, Aenesidem, Menodotos, Sextus, rein aus den Zuthaten der Berichterstatter herauszusch\u00e4len, ist nicht mehr m\u00f6glich.\nNur so viel l\u00e4sst sich mit einiger Sicherheit behaupten: Pyrrho hat die monumentalen Grundz\u00fcge der griechischen Skepsis selbst entworfen, Timon sie formulirt und fixirt2); dieselben heften sich an die drei gro\u00dfen Fragen: wie sind die Dinge3) beschaffen; wie m\u00fcssen\n1)\tDie Zeitbestimmungen sind hier trotz der Bem\u00fchungen der Philologen und Historiker immer noch nicht gekl\u00e4rt.\n2)\tAristokles bei Buseb. pr. ev. XIV, 18, 2: \u00f4 8\u00e8 [/.afbjriji atixo\u00fc Tlpunv tfirjoi 8e\u00efv xov pi\u00e9XXovxa s\u00fcSatp-ovifjaeiv el; xp\u00eea xa\u00fcxa pX\u00e9irsiv \u2022 irpmxo'J pt\u00e8'J, \u00d4Jto\u00efa it\u00e9cpuxe x\u00e0 7ipdY|Ji.axa \u2022 8e\u00fbxspov 8\u00e8, x\u00eeva vp'f) xp\u00f4xrov \u00efjp\u00e2\u00e7 npo\u00e7 \u00ab6x\u00e0 \u00f4iaxe\u00efa&cn' xeXsuxa\u00efov S\u00e8, xt Txeptloxat xo\u00ee\u00ee oEixo\u00ef\u00ee l'/ouai.\n3)\tDinge hier in der weitesten Bedeutung des Wortes zu nehmen.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 249\nwir uns zu denselben verhalten; was erw\u00e4chst f\u00fcr uns aus diesem Verhalten? Ueber die Beschaffenheit der Dinge \u2014 so wird die erste Frage beantwortet \u2014 k\u00f6nnen wir schlechterdings nichts wissen1); denn die sinnliche und die Vernunfterkenntniss sind gleicherma\u00dfen tr\u00fcgerisch2). Jeder These \u00fcber die Beschaffenheit der Dinge l\u00e4sst sich eine gleich starke Antithese gegen\u00fcberstellen3). Daraus folgt die L\u00f6sung des zweiten Problems, dass wir \u00fcber die Beschaffenheit der Dinge kein bestimmtes Urtheil abgeben d\u00fcrfen, uns vielmehr des Urtheils hier \u00fcberall enthalten m\u00fcssen. Die Epoche und die Aphasie sind die Consequenz unsres Nichtwissens um die Beschaffenheit der Dinge4); aus der Epoche und Aphasie heraus aber erw\u00e4chst \u2014 und das ist die Beantwortung der dritten Frage \u2014 die Unersch\u00fctter-lichkeit und unbewegte Leidlosigkeit, die Ataraxie und die Apathie. Denn nur wer auf jede Stellungnahme zu den R\u00e4thseln des Lebens verzichtet, ist gl\u00fccklich5). K\u00f6nnte es nach alledem den Anschein haben, als ob diese ersten Skeptiker alles Wissen, Urtheilen und Handeln h\u00e4tten aufheben wollen, so belehren uns hier die ausdr\u00fccklichen Bemerkungen Pyrrho\u2019s und Timon\u2019s eines Besseren: denn dass wir subjective Bewusstseinszust\u00e4nde haben, leugnen auch diese M\u00e4nner nicht, d. h. dass uns die Dinge so oder so erscheinen6). Ueber die Erscheinungen der Ding\u00e8 darf also auch geurtheilt und\n1)\tDiog. IX, 61 wird als Ausspruch Pyjrrho\u2019s bezeichnet o\u00f9 y\u201cP pw\u00e4XXov x<58e -?j x<58e e\u00eevai Ixaoxov; \u00e4hnlich Eus. a. a. O. XIV, 18, 3.\n2)\tAm drastischsten durch Timons Vers illustriert, welchen er denen entgegenhielt, welche mit der Vernunft an den sinnlichen Aussagen Correcturen vornehmen wollten: cuvijX\u00f4ev \u00e0.rror(\u00e2i xe xal vouu-fjvio? (Diog. IX, 114).\n3)\tSo fasse ich mit Zeller (a. a. 0. 3. Aufl. III1 S. 485) die Stelle bei Diog. IX, 106: o\u00f9S\u00e9M cprjoiM \u00f4pt\u00c7etM tom Ilti\u00df\u00dfcoMa 8oyp^tix&\u00e7 8t\u00e0 tt,v \u00f6mt 1X071017.\n4)\tDiog. IX, 107: x\u00e9Xo\u00ee 8\u00e8 ol oxetttixo! <paai tXjm \u00a3-oyrtM, 7) oxt\u00e2\u00ee xp\u00f9noM \u00e8xa-xoXouite\u00ef dxapaixa, &i <paaiM ol xe rcepi tom TlpuoMa xal AiveolS'qpi.ov. Vgl. auch ebenda 61.\n5)\tSextus, Math. XI, 1: o\u00f6toj y\u00abP 2xasxos Y)u.ff>M tt]m xeXe\u00eeav \u00abai axejtxixfiM aitoXa\u00dfdjM oid\u00fckaio xaxa x\u00f6m Tlpuova \u00dfi(6oexai\n\u00dfjjaxa p.e9\u2019 X]auyb)C\naiel dtppoMxioxaj\u00ab xal dxim^tid\u00ee xax\u00e0 xa\u00f9xoi,\n(jl-X) 7rpoa\u00e9y\u0153M 81moi\u00ab\taotpb)?.\n6)\tDiog. EX, 105 wird schon als ein Satz Timon\u2019s erw\u00e4hnt: xo piXi (so wird mit Pabricius u. a. f\u00fcr pi\u00e8v zu lesen sein) 8x1 \u00e8axl -jhx/.b o\u00f9 x\u00fchjpu, xo 8\u00e8 8xt tpafvexai 8110X07\u00ae.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nRaoul Richter.\nnach den Erscheinungen gehandelt werden1), ^cnesidem \u00fcbernahm innerhalb des Rahmens dieser pyrrhonischen Grundanschauungen die Ausf\u00fchrung und Begr\u00fcndung einzelner Theile des skeptischen Weltbildes. In den zehn Tropen2) legte er des N\u00e4heren die Unm\u00f6glichkeit dar, vermittelst der Sinne die Beschaffenheit der Dinge zu erkennen; aus dem Gebiet der Yernunfterkenntniss unterwarf er vor allem den Causalit\u00e4tsbegriff3) einer kritischen Analyse. Die enge F\u00fchlung, in welche dann die pyrrhonische Skepsis mit den empirischen und methodischen Aerzteschulen trat, gab Anlass zu jener positiven Kr\u00f6nung, jener Theorie der ts^vyj als Beobachtung, Beschreibung und praktische Yerwerthung der Erfahrungsthatsachen in ihren gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen Verbindungen, welche sich \u00fcber dem negativkritischen Untergrund erhebt und in mehr als einem Zuge an den modernen Positivismus gemahnt. Auf welche Mitglieder der Schule diese positive Wendung zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, ob auf Menodot oder andere, l\u00e4sst sich nicht ausmachen4), und eben so wenig, von wem die Erfindung der logischen Tropen in der Agrippa\u2019schen Formu-lirung, von wem die zahllosen dialectischen Argumentationen, f\u00fcr den Kampf mit feindlichen Richtungen, vor allem der Stoa, geschliffen, von wem endlich die Aufnahme mancher Elemente aus der akademischen Skepsis (wie die Zersetzung der Religionsphilosophie) im Einzelnen herr\u00fchren.\n1)\tBeides liegt in dem Pyrrho zugeschriebenen: dxoXoo\u00fceiv xol\u00ab cpaivopi-vot? (Diog. IX, 106). Dass sich thats\u00e4chlich das Handeln und Urtheilen nach den Erscheinungen richten sollte, beweist der von Diog. a. a. 0. angezogene Vers des Timon: dXX\u00e0 to <p<xiv\u00f6p.\u00a3vo^ iraoxl aH\u00e9'vei ooitep A eX\u00dc^. Ihn interpretirt Diog. als auf\u2019s Urtheilen gehend; denn er belegt mit ihm, dass Pyrrho (den ich mit Zeller hier als Subject fasse) p/i] \u00e4z\u00dfe\u00dfrjxl-jai xrjv ourljSfeiaM, wobei unter auv^Eia nach dem Zusammenhang nur das Gegentheil von paradoxen Urtheilen verstanden werden kann. Sextus (Math. VII, 30) erkl\u00e4rt den gleichen Vers ausdr\u00fccklich dahin, dass die Erscheinung das Kriterium des praktischen Handelns sei. Beide treffen gewiss das Richtige. Vgl. auch Diog. IX, 62: Aiveai5x]p.os 6\u00e9 <pi)oi cpiXo-ootpeiv piv wjtov (sc. xi>\\> n\u00fb^\u0153va) xax\u00e0 x\u00e0v xfj\u00ee \u00e8ixoxrj\u00e7 X\u00f4fOM, fG) pi-noi f\u00e8 cmpoopa-X(o\u00e7 fxaaxa Trp\u00e4xxetv.\n2)\tDass Aenesidem die 10 Tropen wenn nicht erfunden, so doch zuerst systematisch formulirt hat, dar\u00fcber sind die neueren Forscher fast alle einig.\n3)\tMath. IX, 218 ff.\n4)\tNatorp glaubt schon bei Aenesidem eine positivistische Erfahrungslehre annehmen zu d\u00fcrfen (Zur Geschichte des Erkenntnissproblems im Alterthum. Berlin 1884 S. 127 ff.), Brochard (a. a. 0. S. 269) h\u00e4lt sie erst bei Sextus f\u00fcr nachweisbar, aber von Menodot herr\u00fchrend.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 251\nWollten wir daher die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des pyrrhonischen Skepticismus an den Lehren seiner einzelnen Ver-treter pr\u00fcfen, so w\u00fcrde sich die Untersuchung ersichtlich auf sehr unsicherem Boden bewegen. Philologische, nicht philosophische Gesichtspunkte m\u00fcssten dieselbe beherrschen. Philosophisch fruchtbarer ist es jedenfalls, sich an die pyrrhonische Skepsis als Ganzes, wie sie uns in den Schriften des Sextus \u00fcberliefert ist, bei der Be-urtheilung der gesuchten Voraussetzungen zu halten. Denn als ein Ganzes dem Geiste nach und nicht nur als eine mechanische Sammlung einzelner Lehren zeigen die \u00bbHypotyposen\u00ab den pyrrhonischen Skepticismus. Nat\u00fcrlich soll damit eine Entwicklung dieser Lehre durch sechs Jahrhunderte hindurch nicht geleugnet werden. Aber was sich ver\u00e4nderte, waren mehr die Begr\u00fcndungen, nicht so sehr die erkenntnisstheoretischen Endergebnisse noch die Grundvoraussetzungen. Die letzteren zumal bleiben durch die Schriften des Sextus hindurch, mag er die Ansichten Timon\u2019s oder Aenesidem\u2019s oder seine eigenen wiedergeben, im Ganzen die gleichen. Sie gehen augenscheinlich auf die Stifter der Schule zur\u00fcck1), wenn auch die sch\u00e4rfere Abgrenzung und begriffliche Bestimmtheit derselben erst aus den Ausf\u00fchrungen der sp\u00e4teren Skeptiker erhellen kann2).\nWenn man nun den antiken Skepticismus als Ganzes \u00fcberschaut, so scheint es keine vorsichtigere, voraussetzungslosere, vorurtheils-freiere, undogmatischere und kritischere Philosophie gegeben zu haben, als eben ihn. Ueberall will er sich nur suchend, sp\u00e4hend, zur\u00fcckhaltend, zweifelnd verhalten3), auf keinem Punkte pflichtet er den Lehransichten der dogmatischen Philosophen bei4); seine eigene Meinung geht dahin, dass man \u00bbnichts bestimmen\u00ab d\u00fcrfe, dass Alles \u00bbunbestimmt\u00ab sei und \u00bbunauffassbar\u00ab, dass man \u00bban sich halten\u00ab m\u00fcsse, dass die Dinge \u00bbnicht mehr so als so\u00ab beschaffen seien, dass\n1)\tVgl. die Originalthesen der \u00e4ltesten Skeptiker, oben S. 248 ff.\n2)\tWo aber eine Abweichung von den Voraussetzungen, die wir an den Schriften des Sextus entwickeln wollen, bei einem Mitglied der Schule nachweisbar stattgefunden haben k\u00f6nnte, wird eine solche ausdr\u00fccklich besprochen werden m\u00fcssen (vgl. S. 295 *).\n3)\tP. I, 7. Diog. IX, 76 (P. = Ilo^\u00e0veioi T-ot'J-oi'\u00eesi\u00e7).\n4)\tP. I, 13. Diog. IX, 74.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nRaoul Richter.\nman darum die \u00bbAussagelosigkeit\u00ab zu pflegen habe1). Aber selbst diese Ansichten tragen die Pyrrhoniker nur in der Form des \u00bbvielleicht\u00ab, \u00bbes ist m\u00f6glich\u00ab, \u00bbes kann sein\u00ab vor2), ohne feste Versicherung; zudem wollen die skeptischen \u00bbRedensarten\u00ab nicht allgemeing\u00fcltige Wahrheiten, sondern nur den augenblicklichen subjectiven Zustand des Nichtbestimmen-, Auffassen-, Aussagen-K\u00f6nnens im ur-theilenden Subject anzeigen3). Um aber der Vorsicht und Vorurtheils-losigkeit die Krone aufzusetzen, so weisen die Pyrrhoniker auch das Urtheil von der Wahrheit der Urteilslosigkeit zur\u00fcck, indem sie die skeptischen Redensarten gegen sich seihst kehren und so einigerma\u00dfen der Schlange gleichen, welche sich mit dem eigenen Zahn verwundet. Oder, um den weit treffenderen Vergleich, den die Skeptiker selbst ersannen, heranzuziehen: die skeptischen Redensarten heben sich selber auf \u00bbgleichwie die Purgative nicht nur die Fl\u00fcssigkeiten aus dem K\u00f6rper forttreiben, sondern auch sich selbst und die Fl\u00fcssigkeiten zugleich herausf\u00fchren\u00ab4). So kehrt sich das ooosv paXXov gegen sich seihst und ist \u00bbum nichts mehr\u00ab wahr als falsch; so steht dem uavt! \u00c0ri-pp \u00efoo; \u00c0dyo\u00e7 \u00e0vcixelxai durch seine eigene Kraft die Antithese gegen\u00fcber und der Satz verschlingt sich selbst5). Daher wollten die Pyrrhoniker strenger Observanz ihre Philosophie nicht als System (aipsaic), sondern als eine Richtung (\u00e0ym-f-vj) bezeichnet wissen6). Zeigt so der Pyrrhonismus von au\u00dfen gesehen eine fast \u00fcbertrieben vorsichtige und voraussetzungslose Gestalt, so scheint er f\u00fcr den n\u00e4mlichen Oberfl\u00e4chenstandpunkt das Aeu\u00dferste an philosophischer Kritik zu leisten. Diese Gabe der Kritik wird geradezu als das skeptische Verm\u00f6gen, die oxsTmxT] S\u00fbvapi\u00e7 seihst bezeichnet. Es besteht darin, die Aussagen der Sinne und der Vernunft in jeder erdenklichen Weise einander gegen\u00fcber zu stellen7).\n1)\tP. I, 197\u2014201, 196, 188\u2014191, 192/93. Diog. IX, 74\u201476.\n2)\tP. I, 194/95.\n3)\tWie in der Commentirung, welche die oxeuTixal cpmvcd durch Sextus an den obigen Stellen erfahren, wiederholt versichert wird. Diog. IX, 74, 104. An letzterer Stelle werden die skeptischen Aussagen treffend \u00bbBekenntnisse\u00ab (\u00e8\u00a3op.o-Xoyfiaen) genannt.\n4)\tP. I, 206. Diog. IX, 76.\n5)\tP. I, 14/15. Diog. IX, 75/76.\n6)\tP. I, 16/17.\n7)\tP. I, 8\u201410.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 253\nWenn im gew\u00f6hnlichen Leben die kritische Ader in der Weise sich zu regen beginnt, dass man auch die \u00bbandere Seite\u00ab der Dinge in Betracht zieht, dass man immer mehr von der Ueberzeugung sich durchdringen l\u00e4sst, dass jedes Ding \u00bbseine zwei Seiten\u00ab habe, so erscheint in der griechischen Skepsis diese Art der Kritik auf ihrem H\u00f6hepunkt; denn das skeptische Verm\u00f6gen, so erfahren wir, besteht im Oonfrontiren von Allem, was da ist; in einer Gegen\u00fcberstellung von gleich starken Behauptungen, die sich die Wage halten; eins widerlegt das andere, und wird seinerseits durch das andere widerlegt. Es ist, als oh die ganze Welt nur eine gro\u00dfe Processverhand-lung w\u00e4re, die aus lauter sich widersprechenden Zeugenaussagen best\u00fcnde; der Skeptiker aber ist Weltrichter und spricht \u00fcber Alles sein non liquet. Der Skeptiker macht Ernst mit jenem Sprichworte, dass jedes Ding jseine zwei Seiten habe. W\u00e4hrend wir im gew\u00f6hnlichen Leben damit nur so obenhin verallgemeinern und nur aus-dr\u00fccken wollen, ein jedes Ding lie\u00dfe sich von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten (mit dem Begriff des Dinges nicht bis zu den elementaren sinnlichen Gegenst\u00e4nden und dem Begriff des Gesichtspunkts nicht zu den Empfindungsqualit\u00e4ten herabsteigend), so will nun der Skeptiker buchst\u00e4blich, dass jedes Ding seine zwei Seiten haben soll. Er ist gewillt, Sinnliches gegen Gedachtes, Gedachtes gegen Sinnliches, Sinnliches gegen Sinnliches und Gedachtes gegen Gedachtes auszuspielen1). Aber es gen\u00fcgt nicht, dass Alles in jeder erdenklichen Weise einander entgegengesetzt wird; es muss diese Entgegensetzung eine vollst\u00e4ndige sein und darf nicht halb bleiben. Das ist nicht so zu verstehen, als m\u00fcsse die eine Seite das contra-dictorische Gegentheil der andern sein2), aber die Behauptungen \u00fcber die Beschaffenheiten der Dinge m\u00fcssen sich wie These und Antithese insofern verhalten, als sich beide an Ueberzeugungskraft, an Glaubw\u00fcrdigkeit und Unglaubw\u00fcrdigkeit nichts vergeben d\u00fcrfen, dass die Gleichkr\u00e4ftigkeit, die Isosthenie, erreicht wird3); jedes Ding muss\n1)\tP. I, 31\u201434.\n2)\tP. I, 10 wird diese Auffassung ausdr\u00fccklich abgelehnt. Die einander entgegenstehenden Behauptungen brauchen sich nicht wie ja und nein (y.ocracpaat\u00e7 \u2014 \u00dcTt\u00e9cpaai\u00e7) zu einander zu verhalten, es gen\u00fcgt, wenn sie miteinander streiten (fj-oc'/Eaikit).\n3)\tEbenda.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nRaoul Richter.\nwirklich zwei Seiten haben, die sich die Wage halten. Man muss gestehen: einschneidendere Kritik zu \u00fcben, scheint unm\u00f6glich. In der That ist es n\u00f6thig, in tiefere Schichten des pyrrhonischen Skepti-cismus hinab zu steigen, wenn man die unkritischen Voraussetzungen dieser Philosophie aufdecken will. Wie n\u00e4mlich in der Isosthenie der eigentliche Grund f\u00fcr die oben erw\u00e4hnte Epoche, Aphasie, Aporie u. s. w. zu suchen ist1), so f\u00fchrt nun die Begr\u00fcndung dieses Princips noch einen Schritt weiter in die inneren Motive des Pyrrhonismus. Denn das Princip der Isosthenie ist hier sowohl Methode, Ver-fahrungsweise, als Ergehniss gewonnener Einsicht; Methode, insofern die Skeptiker ihre wissenschaftliche Beth\u00e4tigung auf die Widerlegung der Dogmatiker beschr\u00e4nken und sich hier des antithetischen Verfahrens bedienen wollten 2); Ergehniss, insofern die M\u00f6glichkeit einer allgemeinen Ausdehnung der Isosthenie auf anderweitig festgelegtem Grunde ruht. Das isosthenische Princip als Methode erh\u00e4lt erst von dem gleichen Princip als Ergehniss seine innere Berechtigung. Das antithetische Verfahren der Skeptiker w\u00e4re blo\u00dfe Spielerei und eine Art, \u00fcberm\u00fcthiger Disputirkunst gewesen, \u00e4hnlich derjenigen der Sophisten, welche ja auch eine Behauptung heute und morgen deren Gegentheil zu beweisen liebten2 3), wenn nicht die Lehre von der Isosthenie bei den Skeptikern auf grunds\u00e4tzlichen und wohlbegr\u00fcndeten Einsichten beruht h\u00e4tte.\n2) P. I 18 (vgl. auch 1, 204/205 wo unter den skeptischen Redensarten das Tta-Jti U-m ?<jov Myo-i \u00abWeTa\u00fcat nach Ansicht Einiger als Aufforderung erkl\u00e4rt wird hei der nur statt des Imperativs der Infinitiv gesetzt sei, \u00bbdamit der Skeptiker nicht irgendwie von den Dogmatikern betrogen, der Untersuchung entsage\u00ab). ^ ^ dem der praktiscllen Handhabung dienenden Princip der Isosthenie bei den j\u00fcngeren Sophisten das gleiche Princip bei Protagoras (welcher als Erster die Ansicht von den \u00bbentgegenstehenden Reden\u00ab verk\u00fcndete, Diog. , o . Aristoteles Metaph. IV, 5) durch Ernst und Gewicht abzur\u00fccken sei, hangt davon ab, welche Erkenntnisstheorie man dem Protagoras zuweist Das Ver-h\u00e4ltniss des Princips der Isosthenie bei der Skepsis als Methode und Ergebniss erhellt auch daraus, dass das Princip als Methode erst von den j\u00fcngeren Skeptikern auf den Schild erhoben, als Ergebniss aber schon von Pyrrho der dem antithetischen Verfahren nichts weniger als hold war (Diog. IX, 69), ausgesprochen wurde. Auch Zeller a. a. 0. in. 2 S. 58 nennt das Princip der Isosthenie\ndas \u00bballgemeine Ergebniss des Skepticismus\u00ab.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"254\nRaoul Richter.\nwirklich zwei Seiten haben, die sich die Wage halten. Man muss gestehen: einschneidendere Kritik zu \u00fcben, scheint unm\u00f6glich. In der That ist es n\u00f6thig, in tiefere Schichten des pyrrhonischen Skepti-cismus hinab zu steigen, wenn man die unkritischen Voraussetzungen dieser Philosophie aufdecken will. Wie n\u00e4mlich in der Isosthenie der eigentliche Grund f\u00fcr die oben erw\u00e4hnte Epoche, Aphasie, Aporie u. s. w. zu suchen ist1), so f\u00fchrt nun die Begr\u00fcndung dieses Princips noch einen Schritt weiter in die inneren Motive des Pyrrhonismus. Denn das Princip der Isosthenie ist hier sowohl Methode, Ver-fahrungsweise, als Ergehniss gewonnener Einsicht; Methode, insofern die Skeptiker ihre wissenschaftliche Beth\u00e4tigung auf die Widerlegung der Dogmatiker beschr\u00e4nken und sich hier des antithetischen Verfahrens bedienen wollten2); Ergebniss, insofern die M\u00f6glichkeit einer allgemeinen Ausdehnung der Isosthenie auf anderweitig festgelegtem Grunde ruht. Das isosthenische Princip als Methode erh\u00e4lt erst von dem gleichen Princip als Ergebniss seine innere Berechtigung. Das antithetische Verfahren der Skeptiker w\u00e4re blo\u00dfe Spielerei und eine Art \u00fcberm\u00fcthiger Disputirkunst gewesen, \u00e4hnlich derjenigen der Sophisten, welche ja auch eine Behauptung heute und morgen deren Gegentheil zu beweisen liebten3), wenn nicht die Lehre von der Isosthenie hei den Skeptikern auf grunds\u00e4tzlichen und wohlbegr\u00fcndeten Einsichten beruht h\u00e4tte.\n1)\tP. I, 12, 31.\n2)\tP. I, 18 {vgl. auch I, 204/205 wo unter den skeptischen Redensarten das ramiXo-pj) \u00efoov U-{0'i d-mxeioikt nach Ansicht Einiger als Aufforderung erkl\u00e4rt wird, hei der nur statt des Imperativs der Infinitiv gesetzt sei, \u00bbdamit der Skeptiker nicht irgendwie von den Dogmatikern betrogen, der Untersuchung entsage\u00ab).\n3)\tOb von dem der praktischen Handhabung dienenden Princip der Isosthenie bei den j\u00fcngeren Sophisten das gleiche Princip bei Protagoras (welcher als Erster die Ansicht von den \u00bbentgegenstehenden Reden\u00ab verk\u00fcndete, Diog. IX, 51. Aristoteles Metaph. IV, 5) durch Ernst und Gewicht abzur\u00fccken sei, h\u00e4ngt davon ah, welche Erkenntnisstheorie man dem Protagoras zuweist. Das Verh\u00e4ltnis des Princips der Isosthenie hei der Skepsis als Methode und Ergebniss erhellt auch daraus, dass das Princip als Methode erst von den j\u00fcngeren Skeptikern auf den Schild erhoben, als Ergehniss aber schon von Pyrrho, der dem antithetischen Verfahren nichts weniger als hold war (Diog. IX, 69), ausgesprochen wurde. Auch Zeller a. a. O. III. 2 S. 58 nennt das Princip der Isosthenie das \u00bballgemeine Ergehniss des Skepticismus\u00ab.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nRaoul Richter.\nsich ist die erste naiv-realistische1) Voraussetzung der skeptischen Erkenntnisstheorie; naiv-realistisch, weil die Realit\u00e4t von Dingen an sich als etwas ganz Selbstverst\u00e4ndliches, als etwas, was gar nicht anders sein k\u00f6nne, in den sonst so hyperkritischen Schriften des Sextus auftritt. \u00bbWenn wir bezweifeln, oh das Unterliegende so ist, wie es erscheint, so geben wir zu, dass es erscheint\u00ab2). Aber nicht nur das Dasein von an sich und unabh\u00e4ngig vom vorstellenden Subject vorhandenen Dingen, sondern auch die allgemeinen Beziehungen zwischen Ding und Vorstellung geh\u00f6ren zu den unbewiesenen und aus den Anschauungen der Zeit kritiklos heriiberge-\n1)\tHier eine kurze Bemerkung zur Terminologie: ich folge in der Bezeichnung naiver, kritischer Realismus im Ganzen dem Gebrauch dieser Worte bei Wundt \u00bbUeber naiven und kritischen Realismus\u00ab. Nicht metaphysische, sondern erkenntnisstheoretische Richtungen werden damit bezeichnet, und zwar soll unter dem naiven oder extremen Realismus die Anschauung verstanden werden, welche unabh\u00e4ngig vom wahrnehmenden Subject befindliche Dinge annimmt, begabt mit Eigenschaften, welche den in den Vorstellungen der Dinge wahrgenommenen Eigenschaften wesensgleich sind. Die Vorstellung wird auf dieser Stufe als das Abbild des urbildlichen Dinges gefasst. Streng genommen m\u00fcsste nach der Wundt\u2019sehen Terminologie (a. a. 0.) diese Auffassung bereits als reflectirender Realismus bezeichnet werden; denn die Ansicht von der Vorstellung als einer Nachbildung des Gegenstandes \u00bberscheint nur auf dem Standpunkt des naiven Realismus als m\u00f6glich, oder vielmehr, da bei diesem selbst noch Bild und Wirklichkeit in ein Object zusammenfallen, sie entspricht jener beginnenden Reflexion, die in der Vorstellung ein Ebenbild des Gegenstandes sieht.\u00ab (Wundt, a. a. 0. L S. 333). Von dieser allerersten Stufe des psychologischen Befundes glaubten wir aber hier absehen zu d\u00fcrfen, da sie als philosophische Erkenntniss wohl niemals aufgetreten ist; daher wurde, weil, an dem philosophischen Bewusstsein der Skeptiker gemessen, ihr erkenntnisstheoretischer Standpunkt wirklich ein naiver ist, und auch der K\u00fcrze des Wortes halber, die Bezeichnung \u00bbnaiver Realismus\u00ab in etwas weiterer Bedeutung genommen. Der kritische oder gem\u00e4\u00dfigte Realismus h\u00e4lt an der Realit\u00e4t der Dinge fest, spricht ihnen aber auf Grund kritischer Erw\u00e4gungen nur die physikalisch - mathematischen Eigenschaften zu, indem er die sinnlichen Qualit\u00e4ten ins Subject zur\u00fccknimmt. Der extreme Idealismus leugnet die Realit\u00e4t unabh\u00e4ngig vom Subject bestehender Dinge und erkennt nur Bewusstseinszust\u00e4nde und deren Tr\u00e4ger an; der kritische Idealismus bezeichnet den Kant\u2019schen Standpunkt in der L\u00f6sung des erkenntnisstheoretischen Grundproblems.\n2)\tP. I, 19. Das Dasein der Dinge an sich wird hier ausdr\u00fccklich zugegeben; es ist dies die einzige mir bekannte Stelle, wo das in der Weise geschieht; h\u00e4tten die Skeptiker sich dar\u00fcber \u00f6fter ge\u00e4u\u00dfert, so w\u00e4ren sie sich dieser These als einer Voraussetzung bewusst geworden und h\u00e4tten dieselbe kritisch gest\u00fctzt oder \u00fcberwunden.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 257\nnommenen Yoraussetzungen des Pyrrhonismus. Die skeptischen Ansichten, wie sie Sextus vortr\u00e4gt, sind gewisserma\u00dfen eingespannt in den Rahmen einer ganz bestimmten Annahme \u00fcber das Yerh\u00e4ltniss der Dinge an sich zu ihren Erscheinungen. Die allgemeinste Quelle daf\u00fcr liefert die skeptische Terminologie. Die Dinge in der weitesten Bedeutung *) k\u00f6nnen in doppelter Hinsicht betrachtet werden \u2014 einmal an sich selbst und dann als Vorstellungen im menschlichen Bewusstsein. In der letzteren Bedeutung hei\u00dfen sie (paivdjrsva und werden als. ein selbstverst\u00e4ndlicher Begriff, dessen Aufstellung weiter keiner Rechtfertigung bedarf, von Sextus eingef\u00fchrt1 2) und beibehalten. Und doch schlie\u00dft, wie auch Kant bemerkte, der Ausdruck Erscheinung die Annahme in sich, dass es etwas gibt, was erscheint (Kr. d. r. V., Rosenkranz, S. 208).\n1)\tIn dieser hei\u00dfen sie bei Sextus meistens Tipdy para, Erscheinungen wie Dinge an sich gleichm\u00e4\u00dfig befassend (P. I, 12). Wegen dieser seiner Allgemeinheit kann der Ausdruck sowohl f\u00fcr Erscheinungen allein, als auch f\u00fcr Dinge an sich gebraucht werden (beides z. B. P. I, 13).\n2)\tP. I, 17. Die Terminologie des Sextus auf diesem Punkt ist keine eindeutige. a) einmal steht die Erscheinung to cpaiv\u00f4ptevov als der subjective Bewusstseinszustand dem diesen Zustand veranlassenden Ding (an sich) gegen\u00fcber (so P. I, 19, 20. 23 u. a.); b) sodann aber gebraucht Sextus auch cpaivdfxeMo. identisch mit sinnlich Wahrgenommenem (aisUxjxd), und stellt in dieser Bedeutung die Ph\u00e4nomene den Vernunft- und Verstandesbegriffen als den Noumenen (vooipieva, vot)tGt) gegen\u00fcber (P. I, 8\u20149, 31, 33). Oaiv\u00f6pLEva 8\u00e8 Xapi\u00dfcivoptev v\u00fcv toi aiallirjT\u00dc, Siozep \u00fcvxi8iaot\u00e9XXofj.ev otixo\u00ee\u00e7 r\u00e0 voTjtbt (P. I. 9. Nach Math. VIII, 216 stammt diese Terminologie von Aenesidem). Beide Bedeutungen gelangen hier keineswegs zur Deckung. Die Erscheinungen der Dinge n\u00e4mlich fallen f\u00fcr Sextus nicht etwa wie f\u00fcr die moderne Ph\u00fcosophie mit den sinnlichen Anschauungen zusammen, sondern der Kreis der Erscheinungen ist ein viel weiterer; er umfasst vor allem auch das Gebiet der moralischen, religi\u00f6sen und \u00e4sthetischen Werthe; auch was mir gut, sch\u00f6n, fromm \u00bberscheint\u00ab, ist ein cpaiv<$pie-w, das auf zu Grunde liegende \u00bbDinge\u00ab hinweist (P. I, 23). c) \u00d6fters steht endlich an dem tpaw\u00f6pievov weniger die Beziehung auf ein erscheinendes Object, als das ganz innerliche Merkmal der Klarheit und Deutlichkeit im Vordergrund. Dann ist das cpaivop\u00e6vov gleichbedeutend mit itp68r]Xov und wird in diesem Sinne sowohl von dem, was den Sinnen, wie der Vernunft unmittelbar einleuchtet, gebraucht: t<\u00fcv zpaYpuxxcuv 8ixxf| xis faxt xaxol t8 dv\u0153xocxcn 8iacpopd, x\u00e0ff\u2019 rj'i xd pi\u00e9v \u00e8axi zp\u00f4S\u00efjXa, xd 8\u00e8 d8i]Xa' -/.ai zpdSirjXa p.\u00e8v x\u00e0 aoT\u00d4&ev \u00fczozizxovxa xa\u00ee{ 8\u00e8 aiolWjaeoi xa\u00ef xjj Stavolq:, d\u00f4irjXa 8\u00e8 x\u00e0 per] aiix\u00f9io X\u00efjzTot (Math. VIII, 141. P. Il, 124). Darum ist zwar jede Erscheinung ein zp68i;Xoo, aber nicht jedes zp88r;Xov ein tpaiv<5p.eoov im Sinn einer auf Dinge an sich hinweisenden Erscheinung. So kommt es, dass Sextus, wo er zp\u00f6SxjXov und tponv8(iEvov gleichbedeutend gebraucht, das cpatvdpe'jov auch von Bewusstseins-\nWundt, Philos. Stadien. XX.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nRaoul Richter.\nDiese Annahme bleibt im Pyrrhonismus Voraussetzung. Das Gegenbild der Erscheinungen, die Dinge an sich, werden gleichfalls als bekannte und unanfechtbare Gr\u00f6\u00dfen eingef\u00fchrt, und mit nicht minder lehrreichen, der peripatetischen und stoischen Terminologie entnommenen \"Worten bezeichnet. Sie sind das Unterliegende r\u00e0 \u00f4\u00eftoxei'psva1), das der Natur nach cpoosi2) das wahrhaft Seiende ovtw\u00e7 ovra3), das der Wirklichkeit nach xa\u00fc1 umfotaaiv4), die Wirklichkeit selbst oirapEi?6); sie sind das an sich xa\u00fc s<xot<56), sind rein, unverf\u00e4lscht ^i\u00e0\u00fbj\u00e77), ixpivw\u00e78). Ganz besonders oft werden\nzust\u00e4nden aussagt, die auf keine Objecte, deren Erscheinungen sie sind, zur\u00fcckweisen. Dieser Sinn des tpawdp.e'jov tritt dann haupts\u00e4chlich in der Kritik der Vemunfterkenntnisse auf, bei denen von der Frage nach einem Gegenstand, dessen Abbild sie w\u00e4ren, nicht die Rede sein kann, dagegen das Merkmal des unmittelbar oder mittelbar Einleuchtenden eine gro\u00dfe Rolle spielt; so wird z. B. (P. II, 177) ein Beweis entweder \u00bberscheinend\u00ab oder \u00bbnicht offenbar\u00ab sein m\u00fcssen, d. h. unmittelbar oder mittelbar begriffen werden (vgl. P. II, 88\u201494,124\u2014129, III, 266). Die drei Bedeutungen des cpaw\u00f6pevov, welche bei Sextus oft st\u00f6rend durcheinanderlaufen und besonders dadurch Verwirrung anrichten, dass sie sich weder ganz zur Deckung bringen, noch ganz von einander trennen lassen, weil ihre Sph\u00e4ren sich an einigen Punkten schneiden, werden am besten durch ihre logischen Gegens\u00e4tze erl\u00e4utert: dem \u00e7aivofievov als erscheinendem Bewusstseinsbild eines Objects (auch eines ethischen, religi\u00f6sen) steht das Ding an sich t\u00f6 uitoxei-fievov und seine Synonyma, dem cpaw6p.evov als cdafbyrdv das vo\u2019jp.s'Jov oder vot)t<5v, und dem cpaw\u00f6pisvov als -po'WX'rv das \u00e2\u00f4\u00efjXov oder atpcw\u00e9\u00e7 gegen\u00fcber. Die von uns an erster Stelle besprochene Anwendung \u00fcbersieht Pappenheim (Erl\u00e4uterungen zu Sextus Empiricus, Skeptische Grundz\u00fcge, S. 4). Manchmal f\u00fchrt die zweideutige Terminologie, welche, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, sehr tiefe sachliche Gr\u00fcnde hat, zu einer directen Quatemio terminorum \u2014 so z. B. P. I, 60, wo die Unm\u00f6glichkeit des Beweises dadurch dargethan wird, dass der Beweis als yan\u00e4-jAe-io-, (= Ttprj\u00efrj/.o':) von der Unwahrheit aller cpaiv\u00f6p.eva (= cdsit\u00efjra) mitbetroffen wird. \u2014 Noch eine Bemerkung zum Sprachgebrauch in dieser Arbeit, wir nehmen den Ausdruck \u00bbDing an sich\u00ab im Sinne von Ding, Object als eine unabh\u00e4ngig vom Subject existirende Realit\u00e4t. Der moderne kritische Realist umgeht die Worte \u00bbDing an sich\u00ab, und sagt lieber schlechthin \u00bbDing\u00ab, um die Kant sehe F\u00e4rbung eines au\u00dfer Raum und Zeit gelagerten mystischen Etwas zu vermeiden. Wir m\u00fcssen aber, um uns im Rahmen der skeptischen Ausdrucksweise zu halten, den Terminus \u00bbDing an sich\u00ab f\u00fcr den hier umschriebenen Begriff verwenden.\n1)\tDer allgemeinste und verbreitetste Ausdruck f\u00fcr die Dinge an sich bei Sextus.\n2)\tAuch Tjj tp\u00f6cei, itpb\u00ee T-ip; <p\u00fbow, 8oov \u00e8iri xrj epuaetP. I, 78, 93, 27, 28, 30 u. a.\n3)\tDiog. IX, 103.\t4) Dio g. IX, 91.\n5) P. I, 21, 134.\t6) P. 1, 124 u. a.\n7)\tP. I, 144, gleichbedeutend mit duoX-Ai\u00bb; (135), dn\\S>t (104).\n8)\tP. I, 127.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 259\nsie auch in naiv-realistischer Weise unter Gleichsetzung des praeter nos mit dem extra nos xd \u00e8xx\u00e8\u00e7 \u00f6raxstjisva* * * 4), x\u00e0 Ixt<k2) genannt; seltener in ihrem Gegensatz zu den Erscheinungen xd pd] tpatvdpeva, xd \u00e0cpav\u00eej3). Allen diesen Ausdr\u00fccken liegt die gemeinsame Anschauungsweise zu Grunde, dass die Dinge an sich das eigentliche Substrat der Erscheinungen bilden, deren wahre Natur und eigentliches Wesen4) ausmachen, und dass, wie aus den zuletzt angezogenen Stellen hervorgeht, dieses Wesen in der Richtung einer materiellen Au\u00dfenwelt zu suchen ist. Aber noch weitere Bestimmungen \u00fcber das Yerh\u00e4ltniss der Dinge zu ihren Erscheinungen treten in den Schriften des Sextus als unbewiesene und kritiklos aus der zeitgen\u00f6ssischen, besonders der stoischen Erkenntnisslehre her\u00fcbergenommene Behauptungen uns entgegen. Durchgehends sto\u00dfen wir auf die Annahme, dass die Dinge an sich die Erscheinungen bewirken und zwar in der Weise, dass die vollst\u00e4ndige Passivit\u00e4t des Subjects, welches die Erscheinungen im Bewusstsein hat, dabei zum Ausdruck gelangt. Will sich der Skeptiker den Erscheinungen f\u00fcgen, so ist ihm das identisch mit Nachgeben an einen Zwang, dem er nicht widerstehen kann : \u00bbDen in Folge einer cpavxaoi'a abgen\u00f6thigten Zust\u00e4nden f\u00fcgt sich der Skeptiker\u00ab5); an einer andern Stelle werden die <paive5p.sva direct als \u00bbdas in Folge einer cpavxaota Erlittene, was uns willenlos zur Zustimmung zwingt\u00ab, definirt6), und bald darauf wird noch einmal betont, dass das \u00abpaivdpevov in einem d\u00dfooGjxov itd&o\u00e77) besteht. Yon den academischen Skeptikern trennten sich die Pyrrhoniker auch in der Bestimmung, dass, w\u00e4hrend jene \u00bbmit heftiger Zuneigung\u00ab glaubten, diese nur \u00bbgem\u00e4\u00df dem Nachgeben, schlechtweg ohne Theilnahme\u00ab glaubten8). Da sie aber nur den Erscheinungen glaubten, so ist die passive Seite an der Perception dieser damit gut beleuchtet.\nBei den sinnlichen Erscheinungen wird dieser Yorgang gelegentlich sogar recht materiell gedacht. Das stoische Vorbild ist hier unverkennbar. Der das Erscheinende aufnehmende Gesichtssinn\nI\n1)\tAn ungez\u00e4hlten Stellen; Lieblingsausdruck des Sextus f\u00fcr die Dinge an\nsich bei der Darstellung der Aenesidem\u2019schen Tropen.\n2)\tP. I, 99.\t3) P. I, 182.\n4) Bezeichnender Weise wird f\u00fcr das \u00bban sich\u00ab sowohl xpo; xf]v tpiistv als\n\u00fccjov \u00e8-i Tuj X\u00f6yti) (P. I, 20) gebraucht.\n6) P. I, 13.\t6) Ebenda 19.\t7) Ebenda 22.\t8) P. I, 230.\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nRaoul Richter.\nerh\u00e4lt den Abdruck (xoirtuot;)eines jeden Dinges; zur Illustration daf\u00fcr, dass die \u00bbau\u00dferhalb unterliegenden Dinge verschieden angeschaut werden nach dem verschiedenen Bau der die cpavxaoi'ct\u00e7 erduldenden Lebewesen\u00ab, wird eine F\u00fclle von Vergleichen aus der k\u00f6rperlichen Natur herangezogen, es wird auf die gleiche Speise, welche sich in Knochen, Ader, Sehne umsetzt, hingewiesen ; auf dasselbe Wasser, welches im Baum bald zur Rinde, bald zum Zweig, bald zur Frucht sich gestaltet ; auf den n\u00e4mlichen Hauch des Musikers, der in die Fl\u00f6te geblasen je nachdem einen hohen oder tiefen Ton erzeugt u. s. w.1 2). Aber solche ausdr\u00fccklichen Versicherungen \u00fcber die allgemeinen Beziehungen, in denen die Dinge zu ihren Vorstellungen oder Erscheinungen stehen, finden sich nur h\u00f6chst selten in des Sextus Schriften niedergelegt und ermangeln dann jeder Begr\u00fcndung; wogegen sie an ungez\u00e4hlten Stellen in der Entwicklung der skeptischen Theorie von der Unerkennbarkeit der Dinge, als zu Grunde liegende Annahmen an den Tag treten. Beides dient zum Beweise, dass wir es hier mit erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen zu thun haben. Aber diese Voraussetzungen gehen weiter. Nicht nur auf die Existenz' unabh\u00e4ngig vom Subject bestehender \u00e4u\u00dferer Gegenst\u00e4nde, nicht nur auf die allgemeinsten Relationen zwischen diesen Gegenst\u00e4nden und den sie erfassenden Suhjecten, auf die Activit\u00e4t der Objecte, die Passivit\u00e4t des Subjects sind sie gerichtet \u2014 sie erstrecken sich auch auf die Auffassung von der n\u00e4heren Beschaffenheit und der Natur der Dinge an sich. Bis jetzt hatten wir die Dinge an sich und ihre Erscheinungen noch in ihrer allgemeinsten Bedeutung genommen und alles \u00fcber sie Gesagte bezieht sich auf die ganze Sph\u00e4re dieser Begriffe. Nun aber, wo wir den Voraussetzungen \u00fcber die Natur dieser Dinge an sich nachsp\u00fcren wollen, werden wir gut thun, die beiden gro\u00dfen Abtheilungen von uitoxetfisva, die in den Schriften des Sextus sich vorfinden, gegen einander abzugrenzen und getrennt zu untersuchen. Der eine Kreis von Dingen an sich betrifft die den sinnlichen Wahrnehmungen, der andere Kreis die den sittlichen Werthen zu Grunde liegenden Dinge. Beide Gruppen\n1)\tP. I, 49. Die Zur\u00fcckweisung der materiellen Anschauung von der ximuat; findet sich freilich P. II, 70.\n2)\tP. I, 53, 54.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Die crkenntnisstheorctischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 261\nwerden von Sextus oft neben- und durcheinander erw\u00e4hnt1). Wir wollen sie aber der Reihe nach betrachten.\nin.\nDie Voraussetzungen \u00fcber die Natur der den Wahrnehmungen zu Grunde liegenden Dinge enth\u00fcllen sich nun am deutlichsten in der skeptischen Theorie der Sinneswahrnehmung, wie sieAenesidem in seinen ber\u00fchmten Tropen entworfen und Sextus als festen Bestand der Schule \u00fcbernommen hat2 3). Ich gehe die einzelnen Tropen auf ihre erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen \u00fcber die n\u00e4heren Beschaffenheiten der Dinge an sich in der von Sextus befolgten Rangordnung der Reihe nach durch. Dagegen soll auf die Annahme vom Dasein der Dinge an sich und der Passivit\u00e4t des Subjects als \u00fcberall diesen Tropen zu Grunde hegende Ansichten nicht n\u00e4her eingegangen werden. Der erste Tropus bietet f\u00fcr die gesuchten Eigenschaften noch keine Ausbeute; er l\u00e4sst nur ahnen, in welcher Richtung diese Eigenschaften zu suchen sind. Er schlie\u00dft von der verschiedenen Constitution des K\u00f6rperhaus, speciell der Sinnesorgane bei den einzelnen Lebewesen, dass die gleichen \u00bbAu\u00dfendinge\u00ab8) den einzelnen Individuen verschieden erscheinen werden; und, da es an einem Kriterium f\u00fcr die Entscheidung fehlt, die tpavtaotai welcher Lebewesen den Vorzug verdienen: \u00bbso werden wir zwar zu sagen verm\u00f6gen, wie von uns das Unterliegende angeschaut wird, wie es aber der Natur nach ist, dar\u00fcber werden wir an uns halten\u00ab4). Eher wird also aus der Divergenz in den sinnlichen Wahrnehmungen der einzelnen Organismen \u00fcber den gleichen Gegenstand die Unerkennbarkeit dieses Gegenstandes gefolgert. Dies w\u00e4re nun an sich noch ganz unverf\u00e4nglich, wenn nicht der begr\u00fcndende Zusatz, es sei unentscheidbar, welcher sinnlichen Wahrnehmung der Vorzug geb\u00fchre (irpoxpi'vsiv), die Ver-muthung nahe legte, dass eine dieser sinnlichen Wahrnehmungen im Rechte sein m\u00fcsse gegen\u00fcber den andern, und dass wir nur in Folge\n1)\tP. I, 17, 23/24 u. a.\n2)\tIch lege die Tropen in der Darstellung des Sextus zu Grunde; der Bericht des Diogenes wird daneben zu ber\u00fccksichtigen sein. Dagegen ist derjenige bei Eusebius (Praep. ev. XIV, 18) in seiner rhapsodischen Art f\u00fcr unsere Zwecke nicht verwerthbar.\n3)\tP. I, 45.\n4) Ebenda 59.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nRaoul Richter.\neines mangelnden Kriteriums dieses Recht nicht festzustellen ver-I m\u00f6chten. Das w\u00fcrde dann aber bedeuten, dass die Dinge, auch wie , sie unabh\u00e4ngig vom wahrnehmenden Subject Existenz h\u00e4tten, mit irgend j welchen sinnlichen Qualit\u00e4ten behaftet gedacht werden m\u00fcssten; mit welchen freilich, das sei unerkennbar. Aber noch mehr: nicht nur die sinnlichen Empfindungen, auch die Gef\u00fchle werden in die Divergenz der Wahrnehmungen im ersten Tropus mit aufgenommen, und auch die stillschweigende Uebertragung dieser Gebilde auf die Dinge an sich scheint damit angedeutet. Hier zeigt sich nun so recht der kunstvolle Aufbau des ersten Tropus: nachdem zun\u00e4chst (40\u201443) die allgemeinen Verschiedenheiten im Bau der Organismen als Grund f\u00fcr die Ungleichartigkeit der cpavraottti hingestellt worden, folgt (44\u201454) die Auseinandersetzung \u00fcber den verschiedenen Bau der einzelnen Sinnesorgane zum Beleg f\u00fcr die Unterschiedlichkeit der sinnlichen Empfindungen, welche das gleiche Ding in verschiedenen Lebewesen hervorruft, und dann endlich (55\u201458) der Excurs \u00fcber die Verschiedenheit der emotionalen Functionen, die das gleiche Ding in anders gearteten Organismen erzeugt. W\u00e4hrend die Unterschiedlichkeit der Sinnesempfindungen aber streng gesondert von derjenigen der emotionalen Gebilde behandelt wird, flie\u00dfen diese seihst in ihren getrennten Bestandtheilen (Gef\u00fchl und Wille) in einander und mit einem fremdartigen Element, das wir gleich kennen lernen werden, zusammen. Sch\u00e4lt man die einzelnen Gedankeng\u00e4nge hier heraus, so zeigt sich sogleich, dass die Verschiedenartigkeit in den Gef\u00fchlen der Lust und Unlust (welche das gleiche Object in verschiedenen Lebewesen erregt) f\u00fcr die Unerkennbarkeit dieser Objecte in Anspruch genommen wird: Myrrhe erscheint den Menschen sehr lustvoll (rjoiotov), den Bienen und K\u00e4fern unertr\u00e4glich (Suoavao^evov) ; Meerwasser erregt den Menschen Unlustgef\u00fchle (dcrjSe;), den Fischen ist es angenehm (rjSiotov); Schweinen muss \u00fcbelriechender Schmutz Lust bereiten, u. s. w. Auch aus den verschiedenen Em\u00e4hrungsarten der einzelnen Thiere wird auf die ganz andersartigen, ja entgegengesetzten Gef\u00fchle geschlossen, welche derselbe Stoff in verschiedenen Organismen bewirkt. Nicht anders steht es mit den Willensreactionen: vor dem Widder flieht der Elefant, vor dem Hahn der L\u00f6we, vor dem Paukenschall der Tiger, u. s. w. Wenn wir nun nicht wissen sollen, welcher Gef\u00fchls- oder Willensreaction der Vorzug","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 263\ngeb\u00fchre, so liegt der Verdacht nahe, die Skepsis habe sich die Dinge an sich auch mit Gef\u00fchls- und Willensqualit\u00e4ten ausger\u00fcstet gedacht. Dazu kommt noch ein drittes Moment, das Sextus mit der Besprechung der ebengenannten Eigenschaften stets vermengt \u2014 die N\u00fctzlichkeit oder Sch\u00e4dlichkeit, der Werth oder Unwerth eines Dinges, haupts\u00e4chlich in physiologischer Beziehung1). Dass dabei abenteuerliche Vorstellungen walten, ist selbstverst\u00e4ndlich. Beispiele daf\u00fcr bieten die angezogenen Paragraphen im ersten Tropus. Das Durcheinander gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfiger, willensm\u00e4\u00dfiger und werthm\u00e4\u00dfiger Eigenschaften erl\u00e4utert der Satz: was den Einen lustvoll, ist den Andern unlustvoll und fliehenswerth und t\u00f6dtlich (56)2). Von all\u2019 diesen Bestandtheilen wird nur auf die Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten im Verlauf des ersten Tropus noch einmal eingegangen. Allerdings in bemerkens-werther Weise; ihre Verschiedenheit soll n\u00e4mlich nicht unmittelbar, sondern erst mittelbar durch die Verschiedenheit der cptwaoi'ai die Unerkennbarkeit der Dinge an sich darthun: \u00bbwenn die gleichen Dinge den Einen unlustvoll, den Andern lustvoll sind, Lust und Unlust aber an der Vorstellung haften (sv \u00abpavraafy xelrai), so werden den Lebewesen die Vorstellungen von den unterliegenden Dingen verschieden gegeben\u00ab3). Hier scheint Lust und Unlust als blo\u00dfe Wirkungen der Empfindungen aufs Subject gefasst und nur auf qualitative Unterschiede in der Empfindung zur\u00fcckgef\u00fchrt zu sein. Dann freilich w\u00fcrde ihre Variabilit\u00e4t nur auf andersgeartete sinnliche Wahrnehmungen, und also nur indirect auf die Unerkennbarkeit der\n1)\tP. I, 55ff. Das Oel n\u00fctzt den Menschen \u2014 Wespen und Bienen t\u00f6dtet es. Holzmaden bewirken beim Menschen Uebelkeiten und Leibschneiden \u2014 der B\u00e4r aber st\u00e4rkt sich, indem er sie herunterleckt. Die Viper erstarrt bei Ber\u00fchrung eines Buchenzweiges, die Fledermaus bei Ber\u00fchrung eines Platanenblattes, u. s. w.\n2)\tDas n\u00e4mliche Durcheinander auch bei Diog. IX, 79. Hier wird die \u00f4iacpop\u00e0 tr\u00e2v C\u00e9\u0153v \u00eftp\u00f4\u00ee 5ovv xai dXvr)Bo\\ia xal \u00dfXo\u00df'ri'J xal \u00e0tp\u00e9Xeiav sogar an die Spitze des ersten Tropus gesetzt und dann folgt erst die Differenz der Sinnesempfindungen. F\u00fcr diese Vermengung der Gesichtspunkte sind die Beispiele bei Diogenes am obigen Orte sehr lehrreich: so, wenn er in der Antithese essbar \u2014 nicht essbar unter diesen Ausdr\u00fccken sowohl den angenehmen und unangenehmen Geschmack (Gef\u00fchl) wie das Bittere und S\u00fc\u00dfe (Empfindung), das Bek\u00f6mmliche und Nichtbek\u00f6mmliche (objectiv-physiologische Folge) begreift. Die naive Gleichsetzung des objectiven und subjectiven Standpunkts liegt ja \u00fcberhaupt in der Eigenart der antiken Philosophie.\n3)\tP. I, 58.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nRaoul Richter,\nDinge schlie\u00dfen lassen. Dass auch die Uebertragung von Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten auf die Objecte zu den Voraussetzungen der skeptischen Erkenntnistheorie geh\u00f6re, lie\u00dfe sich daraus nicht erweisen. Aber der vage Ausdruck xi rfib xai \u00e0vjS\u00e8\u00e7 \u00e8v (pavTaalq. xsTxai1) l\u00e4sst es noch ganz offen, ob die Gef\u00fchle blo\u00df subjective Reactionen auf die Eigent\u00fcmlichkeit der Empfindungsqualit\u00e4ten, oder ob sie directe Bestandteile der von den Dingen an sich bewirkten Sinneswahmehmungen selber sind, zu den Dingen an sich also in indirecter oder directer Beziehung stehen2). Dass die letztere Annahme die wahrscheinlichere ist, lehrt uns der weitere Gang der skeptischen Tropen. Denn immer mehr offenbaren uns diese, dass nach skeptischen Voraussetzungen die Dinge an sich gewisserma\u00dfen mit Haut und Haaren, wie wir sie anschauen, \u00fcbergehen sollen in unsere Vorstellung, und, da dieses nat\u00fcrlich nicht m\u00f6glich ist, ihre Unerkennbarkeit von selber folgt. Der sich anschlie\u00dfende Excurs des Sextus \u00fcber die geistigen F\u00e4higkeiten der Thiere bietet keine Ausbeute f\u00fcr unsere Zwecke.\nDagegen erl\u00e4utert der zweite Tropus die an dem ersten entwickelten skeptischen Voraussetzungen des N\u00e4heren. Das Gesichtsfeld der Vergleichung verengernd, schlie\u00dft er aus der Verschiedenartigkeit der Erscheinungen hei den einzelnen Menschen auf die Unerkennbarkeit der Dinge. Auch dieser Tropus enth\u00fcllt die Beladung der Dinge an sich mit sinnlichen und andern Qualit\u00e4ten noch nicht deutlich ; er l\u00e4sst nur durch den Hinweis auf die Unm\u00f6glichkeit eines Kriteriums daf\u00fcr, oh den Vorstellungen des Plato, oder des Epicur u. s. w. Glauben zu schenken (moxsoeiv) sei, wieder hindurchblicken, dass irgend einer von diesen wohl im Rechte sein m\u00fcsse mit seinen Wahrnehmungen. Doch bringt dieser zweite Tropus f\u00fcr die skeptischen Voraussetzungen \u00fcber Gef\u00fchls-, Willens-,\n1)\tPappenheim \u00fcbersetzt \u00bbauf einem Erscheinungsbild beruht\u00ab, damit die indirecte Seite an der geschilderten Auffassung hervorkehrend.\n2)\tAllerdings k\u00f6nnte man fragen, warum dann \u00fcberhaupt die vorsichtige Zur\u00fcckf\u00fchrung der Gef\u00fchle auf die Empfindungen ? Der Grund liegt in der Absicht des Sextus (die Aenesidem vielleicht noch nicht hatte?) die Divergenz der Emotionen besonders auszunutzen und in dem vagen Gef\u00fchl von der Unm\u00f6glichkeit, diese mit den sinnlichen Empfindungen einfach als The\u00fc der Vorstellungen auf gleiche Stufe zu stellen. Diog. schlie\u00dft a. a. 0. ohne Umschweife direct aus der Statpop\u00e0 npot ijSoviiv xai \u00e0\u2019ki'ifiziav xai \u00dfX\u00e4pTjv xai db\u00e7\u00e9Xsiav darauf: to |J.-i] a\u00f9t\u00e0\u00ee \u00e0r.h t\u00fcW a\u00d9T\u00c2v irpositlitteiv tpavtaala?.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 265\nWerthqualit\u00e4ten und deren Verh\u00e4ltniss zur sinnlichen Empfindung weitere Aufschl\u00fcsse. Zun\u00e4chst herrscht in den Beispielen, welche die Verschiedenartigkeit der \u00abpavracn'at beweisen sollen, wieder das n\u00e4mliche Durcheinander von Empfindung1), Gef\u00fchl, Willensreaction2), physiologisch n\u00fctzlich-sch\u00e4dlichen Folgen3), wobei die letzteren drei Gruppen gegen\u00fcber der ersten gewaltig bevorzugt werden4). Ueber das Verh\u00e4ltnis von Empfindung, Gef\u00fchl, Wille erfahren wir folgendes: \u00bban Verschiedenem sich zu freuen, ist ein Anzeichen davon, dass man von den unterhegenden Dingen her unterschiedene Vorstellungen empf\u00e4ngt\u00ab5). Wie sich hier die Reduction der Gef\u00fchls- auf Empfindungsdifferenzen, so vollzieht sich nun I, 87 die Zur\u00fcckf\u00fchrung der Willensdifferenzen auf Gef\u00fchls- und damit indirect auf Empfindungsunterschiede : \u00bbda nun die Wahl und die Vermeidung in Lust und Unlust beschlossen ist, die Lust und Unlust aber auf Wahrnehmung und Vorstellung beruht, so ist, wenn die Einen dasselbe w\u00e4hlen, was die Anderen fliehen, folgerichtig f\u00fcr uns zu schlie\u00dfen, dass sie auch nicht auf gleiche Weise von den n\u00e4mlichen Dingen bewegt werden\u00ab6). / So wird hier wieder ebenso wie oben das Gef\u00fchl in unbestimmter Art und mit demselben Ausdruck von der Qualit\u00e4t der Empfindung abh\u00e4ngig gemacht, ohne doch ganz mit dieser zusammenzufallen (denn es ist keine cpavtaota, sondern beruht nur auf ihr), aber ohne auch v\u00f6llig in subjective Reaction auf die objectiven Empfindungselemente aufgel\u00f6st zu werden. Und ebenso unbestimmt, aber auch ebenso eng\n1)\tDemophon fror in der Sonne, erw\u00e4rmte sich im Schatten (82). Andron aus Argos wanderte ohne Durst durch die W\u00fcste (84). Kaiser Tiberius sah im Finstern (84). Aristoteles erw\u00e4hnt einen Menschen mit Hallucinationen (ebd.).\n2)\tBeides nicht zu trennen. Beispiele \u00fcber Gef\u00fchle P. I, 80, beides durch einander in den Citaten aus den Dichtem 86.\n3)\tZahlreiche Beispiele P. I, 81\u201484.\n4)\tDie n\u00e4mliche Vermengung auch bei Diog. IX, 80\u201481.\n5)\tP. I, 80: to 8\u00e8 Siacp\u00f4pots yoipecv xo\u00fb raipTjXXaYpiua? \u00e0r\u00e0 t<dv \u00eemoxeipiviuv <pav-Tciola\u00ab Xap.\u00df<xveiv \u00eaoT\u00ce p.7] vuriy.\u00f6v.\n6)\t\u00e8 it et ou 't \u2022f] a\u00efpeots xal \u2022?) cpuyi] \u00eav VjS o v-jj xal d\u00ef)8i5p.(p \u00e8oxN, -fj 8\u00e8 V}8ovT] xal 8 di]Si(jp.o\u00ee lu alo\u00fcf)asi xs\u00efxai xai <paVTaai<y, 8ton r\u00e0 a\u00f9z\u00e0 ol (x\u00e8v aip\u00f4mai, ot 8\u00e8 tpe\u00dbY\u0153stv, dx\u00f4Xou\u00fcov Y]p.\u00e2\u00ee \u00e9mXoY\u00ceCea\u00fcai, Su o\u00f9S\u00e8 \u00f4p-olrn\u00ee \u00f9r.o r\u00f4i'i a\u00d9T\u00f4iv xiuo\u00eewat. Diog. IX, 80/81 wei\u00df wieder von einer solchen Reduction von Gef\u00fchl auf Empfindung, von Wille auf Gef\u00fchl nichts, sondern folgert aus der Verschiedenheit in allen drei Gruppen immer direct die Unerkennbarkeit der Dinge.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nRaoul Richter.\nan einander gebunden, wie Empfindung und Gef\u00fchl, verhalten sich auch Gef\u00fchl und Wille zu einander. All das aber wird ohne Begr\u00fcndung und als selbstverst\u00e4ndliche Voraussetzung eingef\u00fchrt.\nDer dritte Tropus unterst\u00fctzt unsre Vermuthungen \u00fcber die naiv-realistischen Voraussetzungen der Skepsis bedeutend. Er schlie\u00dft von dem Widerspruch unter den Wahrnehmungen verschiedener Sinne auf die Unerkennbarkeit der Dinge. Weil nun aber ein solcher Widerspruch der Wahrnehmungen nur in Bezug auf die n\u00e4mliche Qualit\u00e4t eines Dinges m\u00f6glich ist, da ja die gelbe Farbe, die uns das Auge, der s\u00fc\u00dfe Geschmack, den uns die Zunge vermittelt, zwar verschiedene, aber nicht widersprechende, einander ausschlie\u00dfende Sinnesaussagen \u00fcber den Honig sind \u2014 denn in der Mehrheit von Eigenschaften, die wir einem Dinge zusprechen, liegt \u00bb kein Widersinn \u2014 so w\u00e4hlte die Skepsis sich geschickt den einzigen Fall heraus, in welchem \u00fcber die gleiche Eigenschaft zwei Wahrnehmungsorgane verschieden berichten: den Fall, in welchem Tast-und Gesichtssinn die r\u00e4umliche Beschaffenheit (Erh\u00f6hungen, Vertiefungen eines Gem\u00e4ldes) abweichend empfinden1). Im Uebrigen war sie ganz auf die contradictorische Verschiedenheit der Gef\u00fchle \u00fcber denselben Gegenstand oder auf die physiologisch entgegengesetzten Folgen desselben zur Illustration dieses Tropus, also auf den indirecten Weg angewiesen, die Sicupop\u00e0 t\u00f6W aio&fjaeujv darzuthun. So beruft man sich darauf, dass der Honig dem Geschmack Lust-, dem Gesicht Unlustgef\u00fchle errege2), dass die Myrrhe den Geruchssinn angenehm, den Geschmackssinn unangenehm ber\u00fchre. Aber von diesem Gegensatz wird nun nicht, wie man nach der vorsichtigen, in Tropus I und H entwickelten Belation des Gef\u00fchls zur Empfindung vielleicht vermuthen m\u00f6chte, auf die Verschiedenartigkeit der sinnlichen Empfindungen und aus diesen auf die Unerkennbarkeit der Dinge geschlossen. Das ging nicht an, weil man auf diesem Wege nur auf die Thatsache gesto\u00dfen w\u00e4re, dass Geschmack, Geruch, Gesicht in getrennten Empfindungen nicht die n\u00e4mlichen Eigenschaften eines Dinges wiedergeben, woraus sich die Unerkennbarkeit der\n1)\tP. \u00cf, 92.\n2)\tDas Tjo6 und drfik bedeutet n\u00e4mlich zweifellos, wie Stephanus, dem Pappenheim folgt, schon hervorhob, hier nicht s\u00fc\u00df \u2014 nichts\u00fc\u00df, sondern lust-\u2014 unlustvoll.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 267\nDinge nicht unmittelbar folgern lie\u00df. So gibt denn Sextus den Umweg \u00fcber die Empfindungen hier auf und schlie\u00dft direct aus den contradictorischen Gef\u00fchlst\u00f6nen, die ein Ding erregt, auf die Unerkennbarkeit des Dinges. Das kann er aber nur thun, wenn er voraussetzt, dass dem Ding als solchem irgend ein bestimmter Gef\u00fchlston der Lust und Unlust zukomme, der dann freilich wegen der entgegengesetzten Gef\u00fchlst\u00f6ne, die sich an die verschiedenen Empfindungen heften, nicht erkennbar ist. Und ganz naiv bricht sich denn allerdings auch diese Voraussetzung von den Dingen an sich zukommenden Gef\u00fchlen in den S\u00e4tzen Bahn: dass es vom Honig unm\u00f6glich sei zu sagen, ob er lust- oder unlustvoll sei (irdrepov yj\u00f6\u00f6 Iotiv eiAixpi-v\u00fbl\u00e7 Yj \u00e0\u00efjSs\u00e71)), und ebensowenig vom Euphorbionharz (totspov aXu7t(5v \u00e0oTiv eiXixpivw\u00e7 toi\u00e7 owpaoiv <Jaov \u00e8u\u00ee rfl satrro\u00fb ep\u00f4asi 7) Xox/jp\u00f6v1). Das letztere Beispiel nun, in welchem auf die objectiven Wirkungen des Euphorbions angespielt wird, leitet zu jenen andern \u00fcber, in denen die verschiedenen Gef\u00fchle, die das gleiche Ding in den Sinneswahmehmungen verschiedener Gebiete erregt, durcheinanderlaufen mit den getrennten physiologischen n\u00fctzlich-sch\u00e4dlichen Folgerungen, die dasselbe Ding, wiederum innerhalb der Bereiche der einzelnen Sinnesorgane nach sich zieht2). Und da aus ihnen allen noch einmal der gleiche Schluss auf die Unerkennbarkeit der Dinge gemacht wird, sch\u00f6pfen wir auf\u2019s Neue Verdacht, die Skepsis m\u00f6chte in ihren naiv-realistischen Voraussetzungen bisweilen so weit gegangen sein, auch die physiologischen, lebenerhaltenden oder -vernichtenden Wirkungen irgendwie schon als den Dingen an sich zukommend zu denken. Aber unmittelbar neben dieser naivsten Voraussetzung \u00fcber die Beschaffenheit der Dinge an sich steht zugleich die vertiefteste Reflexion, zu der es die Skepsis in dem n\u00e4mlichen Problem \u00fcberhaupt gebracht hat3). Sextus kommt n\u00e4mlich noch einmal auf die verschiedenen Sinnesqualit\u00e4ten zu sprechen, nun aber nicht mehr auf den Fall, in dem dieselben \u00fcber die n\u00e4mliche Eigenschaft des\n1)\tP. I, 92/93.\n2)\tDas Regenwasser ist den Augen n\u00fctzlich, Luftr\u00f6hre und Lunge macht es rauh, ebenso wie das Oel, das der Oberhaut wohlthut. Auch bewirkt der Zitterroche, an die Endglieder gelegt, Erstarrung, dem \u00fcbrigen K\u00f6rper bringt man ihn ohne Beschwerde nahe. (P. I, 93).\n3)\tP. I, 94\u201499.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nRaoul Richter.\nObjectes widersprechend berichten (siehe oben), sondern wo sie nur auf verschiedene Eigenschaften an den Dingen hinweisen. Dies w\u00e4re an sich, wie schon bemerkt, noch kein Widersinn; denn warum sollen den Dingen nicht verschiedene Eigenschaften zukommen? Aber die bisher befolgte Methode, aus dem Widerspruch in den Aussagen der Wahrnehmungen (bei den verschiedenen Lebewesen, den verschiedenen Menschen, den verschiedenen Sinnesgebieten desselben Menschen) \u00fcber die gleiche Eigenschaft auf die Unerkennbarkeit der Dinge zu schlie\u00dfen, wird verlassen, und auf das Verh\u00e4ltniss der Mannigfaltigkeit der subjectiv sinnlichen Empfindungen zur Mannigfaltigkeit der objectiven Qualit\u00e4ten reflectirt. Ist es auch kein Widerspruch, dass, wie unsre Empfindungen uns lehren, den Dingen viele Qualit\u00e4ten zukommen, so ist doch die M\u00f6glichkeit vorhanden, dass das Ding, z. B. der Apfel, nur eine Beschaffenheit, oder mehr Beschaffenheiten, als wir wahrnehmen, besitzt. K\u00f6nnte das einbeschaffene Ding sich nicht in unseren Sinnen verschieden spiegeln1), oder k\u00f6nnten wir nicht \u00fcber zu wenig Sinnesorgane verf\u00fcgen, um alle objectiven Qualit\u00e4ten in ihnen aufzunehmen? Hier nun scheint die skeptische Voraussetzung des naiven Realismus einigerma\u00dfen aufgehoben, der entsprechend ein unabh\u00e4ngig vom Subject existirendes, mit sinnlichen Qualit\u00e4ten begabtes Ding angenommen wird, in dessen ungetreuem Abbild unsre Vorstellung besteht. Man k\u00f6nnte vermuthen, das Ding an sich werde hier als etwas von den sinnlichen Empfindungen ganz verschiedenes, eigenartiges und andersartiges fingirt, das sich nur in den menschlichen Sinneswahmehmungen mit Farben, Geruch, Geschmack u. s. w, darstelle. Aber bei n\u00e4herem Hinsehen schwindet diese Ansicht, als sei der naive Realismus fallen gelassen und der kritische Realismus hier in den Gesichtskreis der Skepsis getreten. Denn zu deutlich erhellt aus den Ausf\u00fchrungen des Sextus, dass an dem Apfel, selbst wenn er povoeiSe; gedacht wird,\n1) Diog. IX, 81 hat diesen schlagendsten Vergleich, w\u00e4hrend Sextus die S. 260 angezogenen materialistischen Vergleiche zur Erl\u00e4uterung benutzt. Im Uebrigen ber\u00fccksichtigt dieser Tropus bei Diog. nur die Verschiedenheit der Sinnesempfindungen im gleichen Individuum, welchen vielleicht eine einheitliche Beschaffenheit des Objects zu Grunde liege. Weder kennt er die M\u00f6glichkeit von mehr Beschaffenheiten am Ding an sich, als die Empfindungen lehren, noch reflectirt er auf die qualitativ contradictorischen Empfindungen oder Gef\u00fchle.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 269\ndiese eine Eigenschaft als Sinnesqualit\u00e4t gefasst wird. Genau ebenso stellt er sich hei der Annahme eines Mehr von Objectseigenschaften als den wahrgenommenen auch dieses Plus in gleicher Weise vor1). Nur die M\u00f6glichkeit einer quantitativen Mehr- oder Minderheit von sinnlichen Eigenschaften, nicht auch die M\u00f6glichkeit einer g\u00e4nzlichen Heterogenit\u00e4t der Objectseigenschaften von den in den Empfindungen gegebenen wird in Betracht gezogen. Man wird also Pappenheim seihst in Hinblick auf solche Stellen nicht Recht geben d\u00fcrfen, wenn er (Erl\u00e4ut. S. 45) behauptet, dass die Skepsis die Objectivit\u00e4t der secund\u00e4ren, wie der prim\u00e4ren Eigenschaften bereits angezweifelt und sie nur deshalb den Dingen nicht geradezu ahgesprochen habe, um nicht dem negativen Dogmatismus zu verfallen. Vielmehr bildet auch hier noch ein positiver, naiv-realistischer Dogmatismus die Voraussetzung der skeptischen Ergebnisse. Immerhin hat sich die Skepsis in dieser Annahme einer quantitativen Differenz zwischen Objects- und Empfindungseigenschaften am weitesten von ihren eigentlichen robust-realistischen Voraussetzungen entfernt. Die Br\u00fccke zum kritischen Realismus h\u00e4tte sich von hier aus am leichtesten schlagen lassen2).\nDer vierte Tropus, welcher aus den Widerspr\u00fcchen unter den Aussagen des gleichen Sinnesorgans, welches zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umst\u00e4nden ungleichartig reagirt, auf die Unerkennbarkeit der Dinge schlie\u00dft, bietet in keiner seiner Ueber-lieferungen3) f\u00fcr unsere Zwecke neue Ausbeute. Denn dass die\n1)\tP. I, 94: fxaoTov t&v cpaivopivaw f)|uv alaihrjT\u00f4to \u00eetotxiXov iraorawretv toxe\u00ef, olov to p\u00e2jXov Xe\u00efov, e\u00f9rn\u00f4s\u00e7, -fXux'j, \u00c7avfhiv. \u00c6StjXov ouv tc 6 t e p 6 v tote t a 6 t a ? \\x6-va\u00e7 ovtiu\u00ee iyei t\u00f9? noi\u00d6TirjTa? y) p.ov<5ito iov pt.\u00a3v \u00eaott (man beachte die Wahl des gleichen Stammes f\u00fcr die vielen sinnlichen Qualit\u00e4ten und die eine ihnen zu Grunde liegende) nap\u00e0 hi ttjN Suxtfopov xaTaaxeutjv t\u00abW aisShj-njpirav Sidtpopov tpa\u00eeverat, t) v.al nXelovac (nur mehr, nicht andre!) pi\u00e8v t&v \u00e7aivopivtnv t/v. Tcot\u00f6tTjTa;. Vgl. auch P. I, 97.\n2)\tZu diesen vorgeschrittenen Aper\u00e7us geh\u00f6rt auch die Bemerkung Aene-sidem\u2019s (P. I, 182), dass der Schluss von der Erscheinung auf das Ding an sich als voreiliger zu vermeiden sei, mit der Begr\u00fcndung: idya pii-v \u00f4|j.o!a>\u00e7 toi? tpai-jo-jj.\u00a3moi\u00ab Ttbv \u00e0tpavr\u00f4v \u00e8mTeXoupiv\u0153v, ndyo. h'o\u00f9y \u00f4(j.o\u00a3t\u00bb\u00e7, \u00e0XX\u2019 iSta\u00c7\u00f4vT\u0153\u00ab; und besonders auch die Partien (P. II, 72\u201476), wo die Aehnlichkeit zwischen den Empfindungen und den Dingen als fraglich und unentscheidbar hingestellt wird. Vgl. auch S. 2971).\nB) P. I, 100-117. Diog. IX, 82.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nRaoul Richter.\nRelativit\u00e4t der Willensregungen, der Gef\u00fchle und der Empfindungen gleichm\u00e4\u00dfig f\u00fcr die Unerkennbarkeit der Dinge ausgenutzt wird1), ist uns eben so wenig mehr wie die alleinige Abh\u00e4ngigkeit der Gef\u00fchle und Willensregungen von den Qualit\u00e4ten der Empfindungen etwas Neues (vgl. oben S. 263/64, 265). H\u00f6chstens verdient es noch Erw\u00e4hnung, dass auch die \u00e4sthetischen Werthsch\u00e4tzungen in die realistischen Voraussetzungen mit hereingezogen werden, dass auch die Variabilit\u00e4t in unserm \u00e4sthetischen F\u00fchlen, welches das h\u00e4ssliche Liebchen f\u00fcr bl\u00fchend ausgibt2), die Unerkennbarkeit der Dinge beweisen soll. Nat\u00fcrlich ist aber dieser \u00e4sthetisch-naive Realismus nur ein Specialfall der auf die Objecte irgendwie \u00fcbertragenen Realit\u00e4t von Gef\u00fchls- und Willensqualit\u00e4ten.\nUnd das Gleiche gilt vom f\u00fcnften Tropus. So interessant dieser wegen des Problems der Sinnest\u00e4uschungen, das er behandelt (im ' Wasser gebrochenes Ruder u. s. w.), in anderer Beziehung ist, neue Voraussetzungen oder wesentliche Bekr\u00e4ftigung alter bietet er nicht. Denn der Schluss von den Sinnest\u00e4uschungen darauf, dass die Dinge durch die Sinne nicht erkannt werden k\u00f6nnen, sagt in Betreff der skeptischen Voraussetzungen \u00fcber die Beschaffenheit dieser Dinge nichts aus. Besonders deutlich kommt hier nur zum Ausdruck, dass die schon von Demokrit und Plato streng gegen einander abgegrenzten r\u00e4umlichen und rein sinnlichen Qualit\u00e4ten von der Skepsis, was Realit\u00e4ts- und Erkenntnisswerth angeht, ganz auf einer Linie behandelt werden. Die T\u00e4uschungen \u00fcber Raumverh\u00e4ltnisse und \u00fcber Farben sind ihr gleichwerthig.\nDie sechste Weise zeigt die realistischen Voraussetzungen in stoisch-materialistischer F\u00e4rbung. Die sinnlich gedachten Eigenschaften der Dinge an sich (wie Farbe, Ton, Geruch) werden von uns nur vermischt mit dem Stoff des Mediums, das sie zwischen Object und Subject zu passiren haben, und mit den Stoffen unsrer Sinnesorgane aufgefasst: \u00bbUnsere eigene Farbe wird anders in hei\u00dfer\n1)\tP. I, 106: \u00bbF\u00fcr Kinder sind B\u00e4lle und Spielr\u00e4der eine ernste Sache; die Vollkr\u00e4ftigen aber w\u00e4hlen sich anderes und anderes die Greise. Woraus sich ergiebt, dass von denselben unterliegenden Dingen die Vorstellungen (fvnasiat) verschieden sich gestalten auch je nach den verschiedenen Lebensaltern\u00ab.\n2)\tP. 1,108, ebenda 109: \u00e4uep ovte\u00ee alayp\u00e0 eLai 8oxo\u00fcji.ev, Tct\u00fcxa jislWousiv o6x atayp\u00e0 epafoexai.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 271\nLuft gesehen, anders aber in der kalten, und wir verm\u00f6chten nicht zu sagen, wie unsere Farbe an sich (tg <pu3st) beschaffen ist, sondern wie sie zusammen mit jeder von beiden geschaut wird\u00ab 1 2 3 4). Daraus erhellt, dass die Skepsis Farbe \u00bban sich\u00ab voraussetzt, und sich dieselbe an dieser Stelle nach Art der Luft in k\u00f6rperlicher Weise gedacht hat2). Einzig diese materialistische Nuancirung rechtfertigt auch die Aufstellung dieses besonderen Tropus; denn ohne dieselbe w\u00fcrde sich sein Inhalt ersichtlich mit dem des vorigen decken3).\nWenig Neues bringt auch der siebente Tropus f\u00fcr unsere Zwecke. Er schlie\u00dft von den verschiedenen Vorstellungen, welche die Dinge in ihren elementaren Bestandteilen (Rauhheit der Sandk\u00f6rner) und in Verbindungen (Weichheit des Sandhaufens) hervorrufen, auf die Unerkennbarkeit der Dinge. Besonders ausgibig werden dabei wieder die biologisch-physiologischen Folgen, welche je nach den quantitativen Verh\u00e4ltnissen, in denen ein Ding auf uns wirkt, verschieden sind, zum Beleg der Unerkennbarkeit herangezogen4) \u2014 eine neue Bekr\u00e4ftigung der Auffassung von den naiv-realistischen Voraussetzungen dieser Philosophie.\nEben so wenig gibt uns der achte Tropus von der Relativit\u00e4t der sinnlichen Wahrnehmungen als eine Zusammenfassung aller \u00fcbrigen5) neue Aufschl\u00fcsse oder wesentliche Belehrung in der gesuchten Richtung.\n1)\tP. 1,125.\n2)\tDeutlich auch hei Diog. IX, 84, wo die Objecte wegen der Vermischung mit K\u00e4lte und W\u00e4rme des Mediums nicht unverf\u00e4lscht erscheinen. Vgl. auch das materialistische Bild (85), dass wir die Eigenschaften der Objecte deshalb so wenig in ihrer Eigenart aus der Mischung loszul\u00f6sen verm\u00f6chten, wie \u00bbdas Oel aus der Salbe\u00ab.\n3)\tAm Schluss des Tropus wird sogar die Vermuthung aufgestellt, ob nicht vielleicht der Denkstoff durch seine Zus\u00e4tze schon jede 'sinnliche Wahrnehmung tr\u00fcbe; \u00bbKant\u2019s Gedanke des Aprioristischen materialistisch begr\u00fcndet\u00ab, wie Pappenheim mit Recht bemerkt (Erl\u00e4ut. S. 55).\n4)\tP. 1,131\u2014133. Der Wein, je nach der Quantit\u00e4t, in der er genossen wird, st\u00e4rkt oder entkr\u00e4ftet; ebenso die Nahrung und die Medicin. W\u00e4hrend aber bei Sextus diesen physiologischen Wirkungen die aus der quantitativen Zusammensetzung folgende Anomahe in den Sinnesempfindungen ebenb\u00fcrtig zur Seite tritt (die verschiedene Farbe der Ziegenhomelemente und des Horns als Ganzes u.s.w.), stehen bei Diog. IX, 86 ausschlie\u00dflich die von der Variet\u00e4t der objectivenFolgen hergenommenen Beispiele.\n5)\tAm knappsten in der Formulirung bei Diog. IX, 88: \u00e4-j'iw a za o5v t\u00bb Ttpit xi ibc -/.a\u00f4\u2019 \u00e9aux\u00e0.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nRaoul Richter.\nDagegen kommt der neunte Tropus f\u00fcr uns insofern in Betracht, als er ausschlie\u00dflich aus der Divergenz gewisser Gef\u00fchle, welche in dem h\u00e4ufigen oder seltenen Vorkommen der Dinge wurzelt, auf die Unerkennbarkeit der Objecte zur\u00fcckschlie\u00dft. Hier bricht die realistische Voraussetzung am krassesten hindurch, nach der nicht nur die Empfindungs-, sondern auch die Gef\u00fchls-, ja die Willens-und Werthqualit\u00e4ten als den Dingen an sich zukommend angenommen werden. Denn weder f\u00fchrt dieser Tropus irgend welche Empfindungsunterschiede ein, auf welche die Gef\u00fchle und Werthsch\u00e4tzungen (als an ihnen in der Form subjectiver Reactionen haftend) sich zur\u00fcckf\u00fchren lie\u00dfen, noch wird dieser Beziehung der Gef\u00fchls- auf die Empfindungsdifferenzen und damit der Berechtigung, Gef\u00fchle zu den Dingen \u00fcberhaupt in Relation zu setzen (etwa wie oben S. 263 ff), mit einem Wort Erw\u00e4hnung gethan. Sondern lediglich aus der Erfahrung, dass der Anblick des Meeres in dem Neuling das Gef\u00fchl der Ueberraschung hervorruft, in dem K\u00fcstenbewohner aber nicht, oder daraus, dass Gold wegen seiner Seltenheit uns werthvoll, Wasser wegen seines h\u00e4ufigen Vorkommens uns werthlos erscheint, wird gefolgert: \u00bbdass wir, wie beschaffen von diesen Dingen jedes erscheint, in Verbindung mit seinem dauernden oder seltenen Vorkommen, vielleicht werden sagen k\u00f6nnen; wie aber jedes von den au\u00dferhalb unterliegenden Dingen rein an sich (<j/da>;) beschaffen ist, nicht zu behaupten im st\u00e4nde sind\u00ab1). Geht daraus nicht klar hervor, dass es eine Lieblingsvoraussetzung der Skepsis ist, sich die Dinge an sich mit Gef\u00fchlen und Werthen behaftet vorzustellen, und dem Meer die Eigenschaften des Erstaunlichen oder Gleichg\u00fcltigen, dem Golde die des Werthvollen oder Werthlosen zuzusprechen, und nur die Erkennbarkeit dieser Eigenschaften f\u00fcr uns zu bezweifeln? War sie bis jetzt an den Stellen, wo sie die Gef\u00fchle und Werthe auf qualitative Empfindungsdifferenzen bezog, mit dieser Voraussetzung nur zaghaft hervorgetreten, indem ihre vage Ausdrucksweise es dabei offen lie\u00df, ob die Gef\u00fchle als Eigenschaften der Dinge uns durch die Empfindungen vermittelt w\u00fcrden, ober ob sie blo\u00df subjective Reactionen auf qualitative Unterschiede in den letzteren seien, so schlie\u00dft der neunte Tropus, indem er die Sinneswahmehmungen v\u00f6llig aus dem\n1) P. I, 144.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 273\nSpiel l\u00e4sst, die zweite M\u00f6glichkeit aus. Fragen wir aber nach dem Grunde, warum gerade hier jede Beziehung auf die Empfindungen fortf\u00e4llt und der sonst \u00fcbliche Umweg nicht gew\u00e4hlt wird, so liegt er wohl darin, dass es f\u00fcr die Differenz sinnlicher Empfindungen, welche durch die H\u00e4ufigkeit oder Seltenheit der die Empfindungen erregenden Objecte zu erkl\u00e4ren sei, der Skepsis an Erfahrungen mangelte. Sowohl die Erm\u00fcdungs- wie die Anpassungserscheinungen im Reich der sinnlichen Wahrnehmungen waren ihr nat\u00fcrlich eine terra incognita. \u2014\nWir wenden uns nunmehr den erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen zu, welche der skeptischen Ethik latent zu Grunde liegen.\nIV.\nAus diesem ethischen Skepticismus scheiden nun von vornherein eine Reihe von Untersuchungen aus, die, so bedeutsam sie in anderer Beziehung sein m\u00f6gen, f\u00fcr die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen dieser Schule doch ohne Belang sind. Auf zwei Wegen n\u00e4mlich suchte der Pyrrhonismus die Unerkennbarkeit der sittlichen Werthe darzuthun: einmal direct aus der Natur dieser Werthe und der Natur unserer Erkenntnisse, und dann indirect durch die zersetzende Kritik der bisher mit dogmatischen Anspr\u00fcchen aufgetretenen moralphilosophischen Grundanschauungen. So einschneidend und gl\u00e4nzend diese Kritik der antiken Skeptiker auch gewesen ist, so enth\u00fcllen doch ihre Ausf\u00fchrungen in dieser Hinsicht uns nichts von Voraussetzungen, die den eigenen ethischen Ansichten der Skepsis zu Grunde l\u00e4gen. Dagegen ergibt sich f\u00fcr die letzteren Material aus der Art, wie diese M\u00e4nner in der directen Analyse der Erkennbarkeit der Werthe vorgegangen sind. Es sind vor allem zwei Gedankeng\u00e4nge, aus denen wir hier lernen k\u00f6nnen. Der eine, den negativen Pol der ethischen Skepsis zum Ausdruck bringend, besch\u00e4ftigt sich mit dem Nachweis: die ethischen Werthe an sich sind unerkennbar. Der andere, als die positive Kehrseite, gibt zu: die Erscheinungen der ethischen Werthe sind erkennbar1). Schon diese Ausdrucksweise zeigt an,\n1) Die Lehre von der drapcttfa als dem GU\u00fcckseligkeitsideal, das durch die \u00e8ito^ erreicht wird, welche man auch als positiven Theil der skeptischen Ethik Wundt, Philos. Stadien. XX.\t18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nRaoul Richter.\ndass die Pyrrhoniker auch auf ethischem Gebiet Erscheinungen und Dinge an sich getrennt haben* l). Es wurde bereits (oben, S. 261) bemerkt, dass innerhalb des Rahmens Ding an sich \u2014 Erscheinung Ethisches und sinnlich Gegenst\u00e4ndliches bunt durch einander erw\u00e4hnt werden. Aber es bleibt nicht nur bei einer gelegentlichen naivrealistischen Ausdrucksweise. Gehen wir die oben erw\u00e4hnten Gedankeng\u00e4nge nach einander durch, so werden wir den naiven Realismus auf ethischem Gebiete zwar dem Gegenstand entsprechend bedeutend ver\u00e4ndert, aber doch \u00e4hnlich wie in der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung best\u00e4tigt finden.\nWir beginnen zu diesem Zweck mit der Analyse der negirenden Behauptungen in der skeptischen Moralphilosophie. Diese lauten in ihrer allgemeinsten Passung: Die Erkennbarkeit der sittlichen Werthe an sich wird bezweifelt. \u00bbEs h\u00e4lt also der Skeptiker, da er die so gro\u00dfe Ungleichm\u00e4\u00dfigkeit in den Dingen sieht (\u00e0vmpaXfa t\u00fb>v upayH-atiov), dar\u00fcber, was von Natur (tpoost) gut oder schlecht, oder \u00fcberhaupt zu thun oder zu lassen sei, an sich, indem er auch hier der dogmatischen Yorschnellheit fern bleibt\u00ab2). Dieser Satz stellt allerdings den vorsichtigsten Ausdruck dar, welcher mir \u00fcber die Erkennbarkeit ethischer Werthe aus der antiken Skepsis bekannt geworden ist; denn er l\u00e4sst ganz offen, ob es etwas an sich Gutes oder Schlechtes gibt und worin solches, falls es etwa existiren sollte, besteht. Er leugnet nur die Erkennbarkeit der sittlichen Werthe an sich; und er leugnet dieselbe, wie aus den unmittelbar dem angezogenen Satz vorauslaufenden Bestimmungen erhellt, auf Grund der Widerspr\u00fcche in den Ansichten \u00fcber diese Werthe. Wenn wir die Auffassungsweise der Skepsis \u00fcber das Verh\u00e4ltniss von Realit\u00e4t und Erkennbarkeit im Bereich des Sittlichen, dessen Durchleuchtung allein \u00fcber die Voraussetzungen dieser Lehre hier aufzukl\u00e4ren geeignet ist, nur aus der-\nbezeichnet hat und bezeichnen kann, hat nat\u00fcrlich hier mit den in erkenntniss-theoretischer Bedeutung stehenden Ausdr\u00fccken positiv negativ nichts zu thun.\n1)\tEs handelt sich hier immer um die tpcuv6fj.EW im Gegensatz zu den uiroxel-(xeva und nicht zu den \u00e0TorjXa; aus letzterer Bedeutung, die nat\u00fcrlich auf die sittlichen Werthe auch angewandt wird, ist f\u00fcr die Voraussetzungen des Skepticis-mus nichts zu lernen; wenn auch, wie wir sehen werden, gerade in der Ethik beide Bedeutungen einander in die H\u00e4nde arbeiten. Vgl. S. 288.\n2)\tP. m, 236.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 275\nartigen Aeu\u00dferungen kennen w\u00fcrden, so w\u00e4ren drei zul\u00e4ssige M\u00f6glichkeiten der Deutung vorhanden:\n1)\tDie Skepsis nahm die Existenz f\u00fcr sich bestehender, objectiver Werthe an, behauptete1) aber die Unerkennbarkeit der Beschaffenheiten solcher Werthe.\n2)\tDie Skepsis hielt die Existenz absoluter objectiver Werthe f\u00fcr zweifelhaft und die Erkennbarkeit f\u00fcr ausgeschlossen.\n3)\tDie Skepsis hielt die Nichtexistenz absoluter Werthe f\u00fcr erwiesen, darum selbstverst\u00e4ndlich die Erkennbarkeit solcher Werthe f\u00fcr ausgeschlossen.\nIch glaube nun nachweisen zu k\u00f6nnen, dass sich alle drei Stadien in der skeptischen Ethik auffinden lassen, dass dadurch bedeutende Schwankungen und Unklarheiten entstehen, und dass die mittlere Ansicht hei Sextus die herrschende ist, der gegen\u00fcber die erste und zweite mehr zur\u00fccktreten. Keiner dieser Standpunkte aber ist in deutlichen und klaren Thesen von der Skepsis ausgesprochen worden, auch nicht einmal vor\u00fcbergehend, wie das z. B. mit der Kealit\u00e4t der den Sinneswahmehmungen zu Grunde liegenden Dingen an sich der Pall gewesen war \u2014 ein Hinweis mehr, dass wir es hier mit naiv gehegten, im Hintergrund des philosophischen Bewusstseins hausenden Vorstellungen zu thun haben.\n1) Von den genannten drei Auffassungen liefe ersichtlich die erste den naiv-realistischen Voraussetzungen, welche der Theorie der sinnlichen Wahrnehmungen zu Grunde lagen, v\u00f6llig parallel. Es wird in ihr eine unabh\u00e4ngig vom menschlichen Subject bestehende Realit\u00e4t vorausgesetzt und deren Erkennbarkeit dann auf Grund der verschiedenen Vorstellungen \u00fcber die Sache bezweifelt. Es wird uns also nicht Wunder nehmen, wenn diese eben beschriebene Auffassung von der Natur und der Erkennbarkeit der sittlichen Werthe dort zu Tage tritt, wo es im besondern Interesse der Skepsis lag, Werth-gegenstand und Wahrnehmungsgegenstand auf derselben Linie zu behandeln. Dieses Interesse war ersichtlich da vorhanden, wo\n1) Dass die Ausdr\u00fccke \u00bbdie Skepsis behauptete, hielt f\u00fcr ausgeschlossen\u00ab, u. s.w. im skeptischen Sinne die Correctur durch einen, den Dogmatismus mildernden Zusatz (oben S. 252) erfahren m\u00fcssten, ist ebenso selbstverst\u00e4ndlich, wie eine f\u00fcr unsere Zwecke \u00fcberfl\u00fcssige Umst\u00e4ndlichkeit.\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nRaoul Richter.\nein Tropus den neun Tropen, die von der sinnlichen Wahrnehmung handelten, zugeordnet wurde; dessen Inhalt sich mit der Tendenz der \u00fcbrigen nicht unmittelbar ber\u00fchrte, der aber der Vollst\u00e4ndigkeit wegen in der Reihe der \u00bbskeptischen Weisen\u00ab seinen Platz finden sollte. In der That treffen alle diese Bedingungen zu bei dem von Sextus an zehnter Stelle aufgef\u00fchrten Tpdrcos \u00eax zr^ Suxipuma\u00e7. Dass dieser sich von dem Thema der \u00fcbrigen Tropen durch seinen Inhalt, die Unerkennbarkeit der Dinge aus der Verschiedenheit \u00bbder F\u00fchrungsweisen, der Sitten, Gesetze, mythischen Glaubenss\u00e4tze und dogmatischen Annahmen\u00ab darzuthun, vollst\u00e4ndig entfernt, ist oft hervorgehoben worden. Trotzdem er mit den Verschiedenheiten der Sinneswahrnehmungen nichts zu thun hat, schlie\u00dft er aus den Differenzen der ethischen Werthsch\u00e4tzungen, welche f\u00fcr die Skepsis gleichm\u00e4\u00dfig in den Sitten, Gesetzen und Gewohnheiten zu Tage treten1), nicht etwa einfach auf die Unentscheidharkeit dar\u00fcber, welche Sitte, welches Gesetz vern\u00fcnftiger oder sittlicher sei, sondern direct auf die Unerkennbarkeit der den Sitten, Gewohnheiten, Gesetzen zu Grunde liegenden \u00d6Ttoxst'[xeva. Ja mit vollst\u00e4ndiger Gleichordnung der ethischen und sinnlichen Erscheinungen werden auch die ersteren als Spiegelbild eines ixt\u00f6; 6itoxsi'p,svov gefasst, dessen Beschaffenheit in den verschiedenen Sitten und F\u00fchrungsweisen verschieden erscheint2). So wird also von Sextus das Verh\u00e4ltniss von Werthgegenstand und Wertherkennt-niss vollst\u00e4ndig unter der Optik von Ding an sich und Erscheinung gesehen. Ob allerdings dieser Standpunkt der urspr\u00fcngliche gewesen ist, ob nicht vielmehr der zehnte Tropus weiter nichts besagen sollte als: der Widerspruch in den Ansichten \u00fcber ethische, religi\u00f6se und alle Probleme \u00fcberhaupt l\u00e4sst die Erkenntniss der Wahrheit als eine Unm\u00f6glichkeit erscheinen; und ob nicht erst Sextus oder sonst ein j\u00fcngerer Skeptiker den Parallelismus mit den \u00fcbrigen Tropen durch die forcirte Einspannung auch des zehnten Tropus in den Begriffsgegensatz: Erscheinung \u2014 Ding an sich vollzogen hat, m\u00f6chte ich\n1)\tP. I, 145: osxoiTCi \u00e8oii xpouo;, 8s xai paltara ouv\u00e9^et up\u00e0; x\u00e0 \u00efj\u00f4ix\u00e0, \u00e0 uap\u00e0 x\u00e0s djm-f\u00e0\u00e7 xat x\u00e0 f&\u00efj xat xo\u00f9s v\u00e0poos . . .\n2)\tP. I, 163: uX\u00e0jv xoact\u00fbxTjS \u00e0vinpaXi\u00ab; upayp\u00e0xaiv xal 8l\u00e0 xo\u00fbxou xo\u00fc xp\u00f4itou 8sixvup.\u00e9ri)s \u00e9uo\u00eeov piv \u00e8axi xo EmoxdpeNOv xax\u00e0 x\u00e0)v cp6atv o\u00f9yr g\u00c7opev X\u00e9ysiv, \u00e0iro\u00eeov 8\u00e8 ipaivexat irp\u00e0s X'/jvSe xf|V df(ayfjV rj up\u00e8s x<W8e x\u00e0v v\u00e8pov rj up\u00e8s x\u00f4\u00e0e x\u00e0 ISo\u00e7 -/.ai x\u00fc>v \u00e0XX\u0153v \u00eaxaaxov. xo\u00e0 8i\u00e0 xo\u00fbxov ouv uep\u00ee xfj; cp\u00f9aemi x\u00e4v \u00e8xx\u00e8s \u00e0uoxetp\u00e9vcav rcpaypaxiuv \u00e8it\u00e9%eiv \u00e0jp\u00e2s \u00e0v\u00e0yxx).","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 277\ndahingestellt lassen1). Diogenes, bei dem ja \u00fcberhaupt das Ver-h\u00e4ltniss von Erscheinung und Ding an sich mehr in den Hintergrund tritt, macht auch bei der Wiedergabe dieses Tropus (es ist bei ihm Tr. V). von der naiv-realistischen Voraussetzung keinen Gebrauch, sondern schlie\u00dft nach der Exposition der erw\u00e4hnten Verschiedenheiten: o\u00f6cv Tcspl r\u2019\u00e0\u00c0Tj\u00fco\u00fb\u00e7 7j \u00e8noyji2). Im Einklang damit trennte Agrippa den fraglichen Tropus von den \u00fcbrigen neun ab (die er in den einen einzigen Tropus ixpd\u00e7xi zusammenschmolz) und nahm, wenn wir uns an die Darstellung bei Sextus halten, das Verh\u00e4ltniss von Ding an sich und Erscheinung nicht in ihn auf. Sondern der Tropus iy. T\u0178j\u00e7 8ia<puma\u00e7 wird wieder, was er wohl urspr\u00fcnglich gewesen sein mag, zu der einfachen, von allen naiv-realistischen Voraussetzungen noch freien Behauptung, \u00bbdass wir \u00fcber ein vorliegendes Problem stets einen unentscheidbaren Zwist sowohl im Leben, als auch bei den Philosophen vorfinden, auf Grund dessen wir ... bei der Zur\u00fcckhaltung anlangen m\u00fcssen\u00ab3). Dagegen wird bei der Erkl\u00e4rung desjenigen Tropus, welcher die neun von der sinnlichen Wahrnehmung handelnden zusammenfasst, durchaus von den naivrealistischen Voraussetzungen Gebrauch gemacht. Der Tropus upci; xi wird dahin erl\u00e4utert, dass nach ihm das uitoxetpsvov in dem cpaiv\u00f6-p-svov stets getr\u00fcbt erscheine und somit nicht Ttpo\u00e7 djv cpooiv erkannt werden k\u00f6nne*). Die Motive aber, welche der Einordnung des Inhalts des zehnten Tropus in die Beziehungen zwischen Ding und Erscheinung zu Grunde lagen, sind ersichtlich; einmal der Wunsch, diesen Tropus nicht ganz aus der Argumentationsweise der \u00fcbrigen herausfallen zu lassen, also ein gewisser architektonischer Trieb; dann aber das Bewusstsein, durch diese Anschauungsweise auch die Erkennbarkeit der ethischen Werthe nach gleicher Methode wie diejenige der sinnlichen Objecte vernichten zu k\u00f6nnen.\nW\u00e4hrend die soeben besprochenen Voraussetzungen \u00fcber die Realit\u00e4t sittlicher Werthe naturgem\u00e4\u00df in der N\u00e4he der skeptischen Wahr-\n1)\tDass Sextus mit dem Text der urspr\u00fcnglichen Tropen Ver\u00e4nderungen vorgenommen hat, zeigen besonders die logisch-dialectischen Einschiebsel, in denen er von den neuen Tropen des Aggrippa zur Erl\u00e4uterung der Aenesidem\u2019sehen Tropen Gebrauch macht (vgl. Pappenheim, Erl\u00e4ut. S. 44/45).\n2)\tDiog. IX, 84. Allerdings zieht auch Diog. IX, 79 die Summe des Inhalts der 10 Tropen in dem Satze: xd imoxelpeva ixapaXXdxxovxa \u00e8tpaivexo.\n3)\tP. I, 165.\t4) P. I, 167.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nRaoul Richter.\nnehmungstheorie zu finden waren, so herrschen die beiden andern Auffassungen, welche die Existenz von Werthen an sich entweder zweifelhaft lassen oder geradezu leugnen, in den eigentlich ethischen Partien1} der Werke des Sextus durchaus vor. Wir wollen auch hier die Wandlung von der milderen Form zu der radicaleren kurz verfolgen. Dabei l\u00e4sst sich eine Trennung der Belegstellen nur ann\u00e4herungsweise durchf\u00fchren; denn ein gro\u00dfer Teil derselben schillert naeh beiden Seiten und best\u00e4tigt damit nur, dass in die skeptischen Aeu\u00dferungen hier unbewusste Voraussetzungen hineinspielen, die auf dem Gebiet der Ethik aber nicht nur psychologisch unter der Schwelle des Bewusstseins, sondern auch logisch vor der Schwelle der Eindeutigkeit gehlieben sind.\n2)\tDie weniger realistische Form in den Voraussetzungen \u00fcber das Dasein absoluter sittlicher Werthe l\u00e4sst sich in ihrer Besonderheit gegen\u00fcber dem n\u00e4chstniederen Grad an realistischen Voraussetzungen vielleicht am treffendsten so formuliren: es wird behauptet, nicht, dass es Gutes und Schlechtes an sich nicht gibt (das bleibt vielmehr offen), sondern dass es Nichts gibt (soweit wir erkennen), das an sich gut oder schlecht w\u00e4re. Dass dieser Unterschied, auf den ersten Blick gek\u00fcnstelt und sophistisch scheinend, in Wahrheit ein sehr tiefgehender f\u00fcr die Beurtheilung sittlicher Verh\u00e4ltnisse ist, indem sich auf der einen wie der anderen Basis ganz andere Gedankeng\u00e4nge zu entwickeln pflegen, wei\u00df jeder Kundige. Die gesuchte Auffassung kommt nun am deutlichsten da zum Ausdruck, wo das reale Vorhandensein, die unap^i? sittlicher Werthe, als das eigentliche Problem der skeptischen Ethik in Frage steht2). Nachdem die Begriffe des Guten, Schlechten, Unterschiedslosen in stoischem Sinn definirt sind, wird das oben angeschlagene Problem von der \u00bbExistenz dieser vielleicht nicht bestehenden Dinge\u00ab (ta/a avtmforaTa itpaypwxTot) wieder aufgenommen3) ; die L\u00f6sung bewegt sich\n1) P. HI, 168\u2014279. Math. XL\t2) P. HI, 168.\n3)\tP. III, 178. Dieser Ausdruck ist allerdings mehrdeutig. Das raya ist eine auch als stehender Zusatz gebrauchte Redensart der Skepsis (P. 1,194/196), k\u00f6nnte also auch bedeuten, dass die Ansicht von der Nichtexistenz der sittlichen Werthe ihres dogmatischen Charakters zu entkleiden sei, und nicht, dass die Ansicht von dem problematischen Charakter dieser Existenz hier vorgetragen werde (ein zwar \u00fcberfeiner, aber f\u00fcr die Beurthe\u00fcung antik-skeptischer S\u00e4tze tiefgreifender Unterschied).","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 279\nin der Sichtung der Beweise \u00bbEiniger\u00ab, dass nichts an sich gut, schlecht oder gleichg\u00fcltig sei1). Es wird also offen gelassen, ob die Skepsis sich r\u00fcckhaltslos diesen Beweisen anschlie\u00dft, und ebenso besagt der zweideutige Ausdruck, \u00bbdass Nichts an sich gut ist\u00ab, wie schon oben bemerkt wurde, noch nicht, dass es auch nichts an sich Gutes g\u00e4be. Ganz im Einklang damit lautet das Thema der folgenden Paragraphen in indirecter Fragestellung si sott u \u00abpiSost \u00e0ya&\u00f4v xal xax\u00e0v xal aStdcpopov, wobei das im weiteren Verlaufe stets beibehaltene xi besonders deutlich die M\u00f6glichkeit zweierlei Auffassungen von der Existenz der Werthe an sich an die Hand gibt2). Nun wird die angebliche Nichtexistenz absoluter sittlicher Werthe aus dem Widerspruch in der Werthsch\u00e4tzung der \u00bbsogenannten G\u00fcter\u00ab (Ae-fop-eva \u00e0pa&a) erschlossen und also nur der Kreis dieser \u00bbsogenannten\u00ab G\u00fcter aus der Sph\u00e4re der absoluten Werthe ausgeschieden. Dieser Standpunkt wird vorl\u00e4ufig gewahrt und die vorsichtige Zur\u00fcckhaltung \u00fcber die Existenz der Werthe an sich auch am Schluss des Beweisgangs nicht verlassen, wo es hei\u00dft: dass wir nicht fest zu versichern verm\u00f6gen \u00bbwas das der Natur nach Gute ist\u00ab3). Und in gleichem Geiste f\u00e4llt auch die Zusammenfassung der ethischen Untersuchungen in dem Satz aus, \u00bbdass die Existenz (\u00f4rofoxaoi\u00e7) der guten, schlechten und unterschiedslosen Dinge nicht allgemein zugestanden wird (6jio-\n1)\tEbenda.\n2)\tDenn mit dem tt l\u00e4set sich die Frage sowohl \u00fcbersetzen: ob es etwas an sich Gutes u. s. w. gibt, als auch: ob etwas an sich gut u. s. w. ist. Ohne den Zusatz des xt, den die griechische Sprache auszulassen erlaubt, (der aber bei Sextus, soweit ich sehe, nur ein einziges Mal P. IH, 179 fehlt, bei Diog. IX, 101 fehlt das xt in gleichen Zusammenhang zweimal), w\u00e4re f\u00fcr die negativ-dogmatische Auffassung von der Existenz der fraglichen Werthe entschieden. Allerdings kommt es auf die Stellung des xt zu dem Isxi einigerma\u00dfen an; steht das faxt vor dem xt, so bedeutet es: ob es etwas an sich gutes g\u00e4be, steht es dahinter, so neigt der Ausdruck dem Geist der griechischen Sprache gem\u00e4\u00df mehr dem Sinne zu: ob etwas an sich gut sei. Beide Stellungen finden sich bei Sextus \u00fcbrigens gelegentlich dicht aufeinander (z. B. P. HI, 190). Die n\u00e4mliche Doppelbedeutung (nur noch unentscheidbarer) trifft den Ausdruck: otiS\u00e9v \u00e9oxi <p6oet dpz&\u00f6v, gleichfalls eine in den Schriften des Sextus stets wiederkehrende Redewendung. Accentuelle Verschiedenheiten, die sonst ausschlaggebend w\u00e4ren, k\u00f6nnen wegen der Unzuverl\u00e4ssigkeit der Handschriften auf diesem Gebiete nicht zum Kriterium benutzt werden. Den Inhalt dieser philologischen Bemerkungen verdanke ich der g\u00fctigen Auskunft von Herrn Geheimrath Gurt Wachsmuth.\n3)\tP. m, 182.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nRaoul Richter.\nXoys\u00cfTai) Das n\u00e4mliche Bild bieten uns f\u00fcr die Schwankungen in der Annahme von absoluten Werthen die ethischen Partien in den gegen die Dogmatiker gerichteten B\u00fcchern. Math. XI, 18/19' wird von vornherein der Sinn festgelegt, in welchem die Skepsis von dem Dasein (elvai) der sittlichen Werthe redet; n\u00e4mlich nicht als von einem realen Vorhandensein (\u00f4it\u00e0p^siv), sondern nur als von einem Erscheinen1 2): denn \u00fcber die absolute Natur der sittlichen Werthe (TOpt TTji Trpo\u00e7 ttjv cpooiv \u00f6nooTaaew\u00ab) herrsche viel Streit mit den Dogmatikern. Die Existenzfrage wird hier also mit einem Fragezeichen versehen. Die n\u00e4mliche Auffassung waltet auch in dem langen Beweis daf\u00fcr ob3), dass nichts an sich gut sei (zu erg\u00e4nzen: von den Dingen, die wir daf\u00fcr halten). Denn der Gedankengang l\u00e4sst nur auf die Unerkennbarkeit der Werthe an sich, nicht auf die Negation derselben schlie\u00dfen. Drei Nerven laufen in dieser Beweisf\u00fchrung zusammen: a) was an sich gut ist, muss f\u00fcr Alle ein Gut sein; nun gibt es nichts, was Allen als ein Gut erschiene; also ist nichts (zu erg\u00e4nzen: von dem, was den Menschen als ein Gut erscheint) an sich gut4), b) Alles, was als Gut angesehen wird, als Gut an sich anzusprechen, ist, wegen der contradictorischen Eigenschaften, die man dann auf das Absolut-Gute h\u00e4ufen w\u00fcrde, unm\u00f6glich5). c) Wollte man aber die Werthung eines Einzelnen dem Guten an sich gleichsetzen, so besitzt man kein Kriterium, zu entscheiden, wessen Werthung sich mit dem absoluten Werth deckt. Denn durch Evidenz (welche nicht besteht) kann hier nicht entschieden werden; durch logische Erw\u00e4gungen aber auch nicht (wegen der bekannten skeptischen Einw\u00e4nde gegen das logische Kriterium)6). Es erhellt, dass der Sinn aller Argumentationen immer nur gegen die Erkenntniss, nicht gegen das Dasein absoluter Werthe gerichtet ist; allenfalls d\u00fcrfte man bei dem ersten apagogischen Gedankengang\n1)\tP. m, 278.\n2)\tcpa\u00ee'/ea\u00f4cti hier im Sinne eines unmittelbaren sich Aufdr\u00e4ngens, ohne R\u00fccksicht auf etwaige Dinge an sieh gebraucht; vgl. P. I, 135, 198.\n3)\tMath. XI, 69\u201478.'\n4)\tEbenda 69\u201471. Man bemerke das stets beibehaltene tt.\n5)\tEbenda 72\u201474.\n6)\tEbenda 75\u201477; der Schluss des Beweises ist bei Sextus etwas verst\u00fcmmelt, weil der unter c) angef\u00fchrte Gedankengang, nicht ohne Gewaltsamkeit, auch auf a) zur\u00fcckgef\u00fchrt werden soll (78).","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 281\n\u00fcber die Tendenz im Zweifel sein; aber die specielle Illustration desselben an einer andern Stelle kl\u00e4rt dar\u00fcber auf, dass auch er nicht negativ dogmatisch gefasst sein will: Math. XI, 91\u201495 wird die absolute Geltung eines bestimmten, sittlich differenten Werthes, n\u00e4mlich der Thorheit als eines Uebels, bestritten auf Grund der Erw\u00e4gung, dass die Thorheit nicht f\u00fcr Alle ein Uehel ist; und dann hei\u00dft es: et 8e [rij TaorrjV o\u00f98\u2019 \u00e0XXo tt t<\u00fcv XsYOjj-svtuv xaxtuv. So wird auch hier die Belativit\u00e4t nur auf die von den Menschen angeblich erkannten Werthe eingeschr\u00e4nkt. \u2014 In gleicher Weise l\u00e4uft die skeptische Auffassung neben der negativ-dogmatischen von dem Dasein der absoluten Werthe in denjenigen Partien einher, in welchen der eudaimonistische Standpunkt und das gl\u00fcckf\u00f6rdernde Moment, das im ethischen Skepticismus liegen soll, hervorgekehrt wird; wie mir scheinen will, ausgesprochener in Math. XI als im III. Buch der Hypotyposen. So verfolgt diejenigen, \u00bbdie ein an sich Gutes und Schlechtes voraussetzen\u00ab, die Kakodaimonie; denen aber, \u00bbdie hier\u00fcber nichts bestimmen und sich enthalten, flie\u00dft das Leben leicht dahin\u00ab *). Und an einer andern Stelle hei\u00dft es: wer sagt, dass etwas \u00bban sich um nichts mehr zu erstreben als zu fliehen und um nichts mehr zu fliehen als zu erstreben\u00ab sei, der wird ein gl\u00fcckliches Leben f\u00fchren1 2), und XI, 147 tritt das o\u00f9 |a5XXov noch einmal in seiner Anwendung auf die sittlichen Werthe hervor. Wer aber den skeptischen Gebrauch des o\u00f9 p.SXXov kennt, wei\u00df, dass mit demselben immer nur die Erkenntnissunm\u00f6glichkeit, niemals das Nichtvorhandensein einer Beschaffenheit bezeichnet werden soll3).\n3) Wendet man sich nunmehr denjenigen Aufstellungen zu, welche die negativ-dogmatische L\u00f6sung des Problems von dem Dasein absoluter Werthe nahelegen, d. h. diese Existenz v\u00f6llig leugnen, so darf man nicht vergessen, dass skeptische Aeu\u00dferungen niemals in dem Sinne beim Worte zu nehmen sind, wie die Ausspr\u00fcche anderer Denker. Denn es ist eine oft ge\u00fcbte Methode der antiken Skepsis, erst das F\u00fcr und dann das Wider ausf\u00fchrlich zu entwickeln, um aus der Gleichkr\u00e4ftigkeit der Gr\u00fcnde auf beiden Seiten die\n1)\tMath. XI, 111. Vgl. auch 141.\n2)\tEbenda 118.\n3)\tP. I, 188\u2014191. Vgl. auch I, 28.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nRaoul Richter.\nUnl\u00f6sbarkeit eines Problems darzuthun. Es w\u00e4re also unvorsichtig und vielleicht tr\u00fcgerisch, negirende Aeu\u00dferungen der Skepsis \u00fcber die Existenz absoluter Werthe, aus dem Zusammenhang herausgenommen, f\u00fcr die Leugnung dieser Werthe in Anspruch zu nehmen. Mag nun in der That aus diesem Grunde eine im Stillen vollzogene Abschw\u00e4chung der skeptischen Behauptungen hier am Platze sein, so darf doch nicht vergessen werden, dass Sextus in den ethischen Partien die Existenz der sittlichen Werthe nirgends in dieser antithetischen Weise behandelt und erst das F\u00fcr, dann das Wider entfaltet, um aus der Isosthenie dann die Epoche zu folgern. W\u00e4re es seine Absicht gewesen, die negirenden Stellen als \u00bbGegeninstanzen\u00ab zu behandeln, so h\u00e4tte er uns nicht dar\u00fcber im Zweifel gelassen, so wenig wie er uns in der Frage nach dem Dasein der Causalit\u00e4t oder der G\u00f6tter in Zweifel dar\u00fcber gelassen hat1). Diesen negativ-dogmatischen Behauptungen \u00fcber die absoluten Werthe w\u00e4ren etwa Aeu\u00dferungen zuzurechnen wie: \u00bbdie Nichtexistenz des Guten und Schlechten haben wir vorher (sc. durch den Widerspruch in den ethischen Werthbestimmungen) bewiesen\u00ab2). Eben dahin w\u00fcrden auch alle diejenigen Stellen geh\u00f6ren, an denen durch die Vorausstellung des sou, dem Geist der griechischen Sprache gem\u00e4\u00df, die oft wiederkehrende Wendung oik lau u cpoosi aya\u00fcdv nicht durch: \u00bbnichts ist gut an sich\u00ab sondern durch: \u00bbes gibt nichts Gutes an sich\u00ab wiedergegeben werden m\u00fcsste; vor allem dort, wo dieser Sinn noch durch ein zu dem sott hinzutretendes oXw\u00e7 bekr\u00e4ftigt wird3 4). Deutlicher aber erhellt die gesuchte Auffassung da, wo nicht Behauptungen, sondern Gr\u00fcnde die Existenz von Werthen \u00bban sich\u00ab auszuschlie\u00dfen zwingen. Die bemerkens-werthesten Passagen in dieser Beziehung bringt die Analyse des Begriffes eines um seiner selbst willen, d. h. an sich Erstrebenswerthen1). Hier erreicht die antike Skepsis in der Ethik ihre weiteste .Entfernung von den naiv-realistischen Voraussetzungen, \u00e4hnlich wie dies in der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung in dem Aper\u00e7u der Fall gewesen war, dass durch eine einzige Qualit\u00e4t des Objects die Mannig-\n1)\tMath. IX, 60 ff., 195 ff.\n2)\tMath. XI. 185: Ta 5\u00e8 \u00e0ya&\u00e0 xai xax\u00e0 np\u00f4tspov \u00e8teUap.^ dv\u00e0rapxTtx.\n3)\tP. IB, 190.\n4)\tP. PU, 184 ff. Math. XI, 78\u201489.","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 283\nfaltigkeit der Empfindungen vielleicht ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnte1). Der Gedankengang, um den es sich handelt, ist kurz folgender: Zur Kritik steht die Gleichung \u00bbt6 a\u00eepsi\u00e9v = t\u00f4 aya\u00dfdv \u00ab ; in Bezug auf dieses Yerh\u00e4ltniss hei\u00dft es: >aber auch das Erstrehenswerthe ist nicht das Gute, denn dies ist entweder au\u00dfer uns oder in uns; aber wenn au\u00dfer uns, so bewirkt es entweder in uns eine artige Bewegung und pin annehmliches Verhalten und einen sch\u00e4tzbaren Zustand: oder es wirkt gar nicht auf uns ein. Und wenn es nun nicht f\u00fcr uns sch\u00e4tzbar ist (\u00e0yaotdv), so wird es weder ein Gut sein, noch....Wenn\naber in uns von dem au\u00dferhalb Seienden (owti tou \u00e8xtd\u00e7) irgend ein freundliches Verhalten und ein willkommener Zustand entsteht, so wird das au\u00dferhalb Seiende mit nichten um seiner selbst willen erstrebenswerth sein, sondern wegen der in uns bei ihm entstehenden,Stimmung; so dass das um seiner selbst willen Erstrehenswerthe nicht au\u00dferhalb sein kann2).\u00ab Aber , auch nicM in uns; weder \u2014 so der Kern der weiteren Gedanken \u2014 kann es in unserm K\u00f6rper vorhanden sein (denn physische Zust\u00e4nde erfassen wir niemals, sondern nur psychische3), noch in der Seele (denn diese existirt vielleicht nicht3) oder ist ein Atomcomplex, in dem man sich das Gute nicht vorhanden denken kann)4); oder aber entscheidender und weniger sophistisch \u2014: was von der einzelnen Seele als gut empfunden wird, ist immer individuell bestimmt und kann uns daher das an sich Erstrehenswerthe nicht enth\u00fcllen5). Es leuchtet ein, dass die Skepsis an dieser Stelle, wo sie das \u00e0yc/J)6v dem ayoundv gleichsetzt6), wo sie ausdr\u00fccklich die M\u00f6glichkeit eines unabh\u00e4ngig von uns bestehenden \u00e4u\u00dferen Guten leugnet, wo sie die sittlichen Werthe nur als auf den Willen des menschlichen Subjects bezogen f\u00fcr sinnvoll erkl\u00e4rt, dass sie sich hier am weitesten von jenem naiven Realismus entfernt zeigt, welcher im zehnten Tropus auch die sittlichen Werthe in die begriffliche Antithese der \u00e8xtd\u00e7 \u00d6Tcoxeijisva und deren inad\u00e4quater cpaviaofoti eingespannt hatte7). Wie es innerhalb der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung verh\u00e4ltniss- \u00bb\n1)\tSiehe oben S. 268 f.\n2)\tP. III, 184 (Uebersetzung nach Pappenheim) vgl. Math. XI, 83\u201486.\n3)\tEbenda 185, Math. XI, 87.\n4)\tP. in, 186/87.\t6) Math. XI, 89.\n7) Vgl. oben S. 276 f.\n6) Math. XI, 85.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nRaoul Richter.\nm\u00e4\u00dfig leicht gewesen w\u00e4re, von dem oben angef\u00fchrten Gedanken aus zum kritischen Realismus sich hindurchzuringen und auf diese Weise den Skepticismus zu \u00fcberwinden, so h\u00e4tte in der Ethik die Analyse des \u00bbErstrebenswerthen\u00ab, in ihre Consequenzep weiter verfolgt, die kritisch-realistische Auffassungsweise zeitigen k\u00f6nnen: absolute sittliche Werthe k\u00f6nnen etwas Reales sein, ohne darum starre, vom Menschen unabh\u00e4ngige Objecte sein zu brauchen; sie sind Willensziele, welche, von principiell einheitlicher Natur, sich in den individuellen Aeu\u00dferungen sehr verschieden gestaltet darstellen. Denn die Relativit\u00e4t der sittlichen Werthe im Einzelnen f\u00fchrt zum moralischen Skepticismus nur nothwendig unter der starr-realistischen Annahme, die Werthe seien Objecte, die sich in der Auffassung der Subjecte eben richtig oder falsch spiegeln m\u00fcssten; das Einzige hier f\u00fcr die Entscheidung zur Verf\u00fcgung stehende Kriterium, n\u00e4mlich die Allgemeing\u00fcltigkeit, l\u00e4sst uns im Stich. Nimmt man aber an, dass die Werthe in einem subjectiv-geistigen, formalen Princip wurzeln, so sprechen die relativ-g\u00fcltigen Werthsetzungen im Einzelnen weder gegen dessen Existenz, noch gegen dessen Erkennbarkeit; denn sie sind im st\u00e4nde, den absoluten Werth in sich aufzunehmen, und es besteht erkenntniss-theoretisch kein grunds\u00e4tzliches Hindemiss mehr, das absolut Werthvolle in ihnen zu entdecken.\nAber die Skepsis ist weit davon entfernt, sich selbst aufzuheben und den Schritt zu einer rein idealistischen (subjectivistischen) oder gar kritisch-realistischen Moralphilosophie hin zu thun. Denn wie auch ihre Voraussetzungen \u00fcber das Dasein absoluter sittlicher Werthe gewesen sein m\u00f6gen, wie auch dieselben (in ihren einzelnen Vertretern?) zwischen Annahme, Zweifel und Leugnen einer solchen Existenz geschwankt haben m\u00f6gen, die Hauptthese der skeptischen Moralphilosophie, welche niemals geschwankt hat und welche sich tait allen diesen Voraussetzungen vertr\u00e4gt: die grunds\u00e4tzliche [Unerkennbarkeit der Werthe1), fu\u00dft v\u00f6llig auf naiv-realistischen\n1) Das gleiche Schwanken in der Annahme der Existenz absoluter Werthe theilt die kurze Darstellung bei Diogenes ebenso mit derjenigen des Sextus, wie die Behauptung der Unerkennbarkeit der Werthe an sich; letztere belegt XI, 101 :","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 285\nGedankenreihen. Ein bestimmtes Etwas, das ist hier der Sinn aller Ausf\u00fchrungen, kann als an sich gut oder schlecht nur dann festgestellt werden, wenn es Allen in gleicher Weise gut oder schlecht erscheint. Nun erf\u00fcllt keiner der geltenden Werthe diese Bedingung der allgemeinen G\u00fcltigkeit. Also kann nichts als an sich gut oder schlecht erkannt werden. Und in entscheidender Weise den naiven Bealismus der Voraussetzungen enth\u00fcllend, bringt die Illustration der Pr\u00e4misse einen h\u00f6chst lehrreichen Vergleich; dieser findet sich in beiden Werken des Sextus im Centrum der moralphilosophischen Partien, wo die eigene Meinung der Skeptiker zu der moralphilosophischen Grundfrage dargestellt wird* 1): \u00bbWie n\u00e4mlich das Feuer an sich (<p\u00f6oei) eine w\u00e4rmende Kraft besitzt und Alle w\u00e4rmt und nicht Diese w\u00e4rmt, Jene aber k\u00fchlt, und wie der Schnee kalt ist und nicht Einige k\u00fchlt, Andere w\u00e4rmt, sondern Alle gleicherma\u00dfen k\u00fchlt; so muss das an sich Gute f\u00fcr Alle gut sein und nicht f\u00fcr Diese gut, f\u00fcr Jene nicht * gut \u00ab2). Die Auffassung vom Wesen der Sittlichkeit, welche diesen Vergleichen zu Grunde liegt, ist ersichtlich die naiv-realistische: wenn es sittliche Werthe an sich gibt (die Frage nach ihrer Existenz geht uns hier nichts an), so sind dieselben zu denken naph Art von Objecten, die mit bestimmten Beschaffenheiten beg\u00e4bt dem menschlichen Subject gegen\u00fcberstehen und ihr Wesen wie ihre Eigenschaften dem subjectiven Bewusstsein gewisserma\u00dfen aufpr\u00e4gen. Zweierlei f\u00e4llt an dieser Auffassung auf: die Objectivirung, die Verdinglichung, fast m\u00f6chte man sagen Materialisirung der Werthe; und am Subject, das diese Werthe erkennen soll, die Begleiterscheinung jedes naiven Realismus, die\n\u00c6pioiorov o5v to tpdoei ct-foitMv ; die Existenz der absoluten Werthe wird geleugnet in S\u00e4tzen wie: o\u00f9x \u00e4pa faxt tp'jxet dyaftov r) xax<5v (ebenda); sie bleibt zweifelhaft: \u00e0v\u00efj'pouv to <p6oet Tt ei'itu dya&ov \u00ee; **x<5v (90); eine Stelle, an der sie ausdr\u00fccklich angenommen wird, ist mir bei Diogenes nicht bekannt.\n1)\tP. III, 179, Math. XI, 69 ff. (eingef\u00fchrt als Quintessenz der eigenen Meinung der Skeptiker. Vgl. 68 Schluss). Ebenso nimmt bei Diog. IX, 101 das Gleich-niss diese hervorragende Stelle ein.\n2)\tMath. IX, 69. Das Gleichniss hinkt \u00fcbrigens, wenn man sich auf den skeptischen Standpunkt stellt, bedeutend: denn dass das Feuer an sich hei\u00df, der Schnee an sich kalt ist, bezweifelt die Skepsis in ihrer Theorie der sinnlichen Wahrnehmung ebenso (und z. Th. auf Grund davon), wie dass es (er) Allen hei\u00df (kalt) erscheint. Das Beispiel ist aber auch platonischer Herkunft (Sext. Emp. Op. ed. Fabricius, S. 780 Anmerkg.).","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nRaoul Richter.\nPassivit\u00e4t. Das sittliche Ding und das sinnliche Ding werden in dieser Beziehung v\u00f6llig gleichwerthig behandelt. Dieser Standpunkt, die Werthe an sich \u00fcberhaupt zu leugnen oder sie nur als in der Welt der Objecte gelagerte Kealit\u00e4ten denken zu k\u00f6nnen, wurde der Grund daf\u00fcr, dass die Skepsis bei allen m\u00f6glichen und unm\u00f6glichen Dingen die Frage nach dem \u00bban sich* des sittlichen Werthes stellte. Ob Ohrringe zu tragen, sich zu t\u00e4ttowiren, dem Serapis ein Ferkel zu opfern u. s. w. an sich sittlich, gestattet, heilig w\u00e4re, wurde als Problem aufgeworfen1). Nur durch die obige Voraussetzung wird diese Ausdehnung der Frage nach dem cpoaei \u00e0'fa\u00f4dv, ffaiov u. s. w. auf die einzelnen und einzelsten Dinge verst\u00e4ndlich. Dass diese Passivit\u00e4tstheorie auch in vollem Umfang f\u00fcr das Verh\u00e4ltniss zwischen Werth und Werthvorstellung Geltung beh\u00e4lt, daf\u00fcr ist nun an schlagenden Belegstellen kein Mangel. Wiederholt wird gesagt, dass das an sich Gute oder Schlechte Alle in gleicher Weise bewegen2) m\u00fcsse, und wie man sich diese Bewegung dachte, dar\u00fcber gibt das obige Gleichniss den Aufschluss. Wollte man aber gerade auf das Gleichnissartige dieses Bildes hinweisen, um von der Skepsis wenigstens in der Ethik das Walten ganz bestimmter, auf dem Boden der Antike gewachsener Voraussetzungen abzulehnen, so kann man sich bei Sextus selber dar\u00fcber eines Besseren belehren. Dieser verschm\u00e4ht n\u00e4mlich nicht, unter ausdr\u00fccklichem Hinweis auf unser Gleichniss, die Nutzanwendung desselben auf das Verh\u00e4ltniss eines bestimmten Werthgegenstandes zu der entsprechenden Werthvorstellung zu machen. Die betreffenden Partien sind f\u00fcr die halb unbewussten Voraussetzungen dieser ethischen Skepsis zu bezeichnend, als dass wir die wichtigsten Stellen aus ihnen nicht w\u00f6rtlich hier aufnehmen sollten: \u00bbWenn die Thorheit an sich ein Uebel ist, so wird \u2014 wie das.Warme als an sich warm daran erkannt wird, dass die, welche ihm nahe kommen, erw\u00e4rmt werden, und das Kalte daran, dass sie kalt ber\u00fchrt werden \u2014 auch die Thorheit als ein Uebel an sich daran erkannt werden m\u00fcssen, dass man von ihr \u00fcbel ber\u00fchrt wird (\u00e0x to\u00fb xaxo\u00f4o&ai); entweder nun werden die sogenannten Thoren \u00fcbel ber\u00fchrt von der Thorheit, oder die Weisen. Aber die Weisen werden nicht \u00fcbel\n1)\tP. HI, 198 ff. Ygl. auch den Inhalt des X. Tropus I 145 ff.\n2)\tP. m, 179, 182, 190 u. a. m.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkeimtnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 287\nber\u00fchrt; denn sie sind au\u00dferhalb derThorheit (\u00e0xr\u00e8\u00e7 x\u00eej\u00e7 <x\u00e7poodvY)\u00e7); von dem Uebel, das ihnen nicht gegenw\u00e4rtig ist, sondern von ihnen abgesondert (xe^tuptojisvov), m\u00f6chten sie wohl nicht \u00fcbel ber\u00fchrt werden1).\u00ab Die Thoren aber werden \u2014 so f\u00fchrt der Gedankengang weiter2) \u2014 von der Thorheit nicht \u00fcbel ber\u00fchrt; denn da ihnen dazu die Thorheit als Uebel bekannt sein m\u00fcsste (ein Uebel, was uns nicht als Uebel erscheint, ber\u00fchrt uns auch nicht \u00fcbel), so w\u00fcrden sie die Thorheit fliehen. Da dies die Thoren nicht thun, so ist die Thorheit kein Uebel an sich. Aus solchen S\u00e4tzen erhellt in anschaulicher Weise die Verdinglichung der Werthe und die an den Sensualismus der Stoa erinnernde Passivit\u00e4t des Subjects, welches die Erkenntniss der Werthe nur als Abdruck derselben in seiner Seele empfangen k\u00f6nnte. Das cpoost xaxtfv wird als starres reales Object uns gegen\u00fcberstehend gedacht, als etwas au\u00dfer uns, von uns Abgesondertes, von dem wir nur durch das xaxooahou als durch ein r\u00e9ceptives Afficirtwerden Kenntniss erhalten k\u00f6nnten.\nDas Ergebniss, welches die Analyse des negirenden Theils der skeptischen Ethik zeitigte, wird nun voll best\u00e4tigt, wenn man noch die wenigen positiven Bestimmungen zu Rathe zieht, die hier in Betracht kommen k\u00f6nnen. Alle Verneinung in der pyrrhonischen Philosophie betrifft das an sich der Dinge; alle positiven Thesen die Anerkenntniss der Erscheinungen. Beides gilt auch f\u00fcr die ethischen Probleme. Auch hier wird die Erkenntniss der Werthe an sich bestritten, die Erkenntniss der sittlichen Erscheinungen behauptet. Steht nun, was die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen anlangt, die positive Kehrseite der skeptischen Ethik in Einklang mit djeren negativen Behauptungen? Ich glaube gewiss. Der These von der Unerkennbarkeit der Werthe an sich lagen \u00fcber die Existenz dieser Werthe drei verschiedene, in ihren Grenzen f\u00fcr das skeptische Bewusstsein oft ineinanderflie\u00dfende Voraussetzungen zu Grunde: die Annahme, das Bezweifeln, die Leugnung dieser Existenz. Gibt es aber Werthe an sich, so w\u00fcrden sie sich dem passiven Bewusstsein auf dr\u00e4ngen und so von diesem\n1) Math. XI, 91/92.\n2) Math. XI, 92-95.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nRaoul Richter.\n(ad\u00e4quat oder inad\u00e4quat) erfasst werden. Alle diese Bestimmungen, die getrennten Voraussetzungen \u00fcber die Existenz und die Passivit\u00e4t im Verh\u00e4ltnis von Wertligegenstand und Werthvorstellung, lassen sich auch in der ethischen Erscheinungslehre nachweisen. Schon aus der Terminologie ist dies m\u00f6glich. Die sittlichen Erscheinungen hei\u00dfen cpatvdfisva. Nun bedeutet \u00e7pouvdjisvov bei Sextus einmal Erscheinung im Gegensatz zum Ding an sich, dem \u00f6ra>xsi'p.svov, was erscheint, dann aber auch den subjectiven Bewusstseinszustand, das, was mir scheint, sich mir deutlich und unwiderstehlich aufdr\u00e4ngt, ohne dass eine Beziehung auf ein 6iroxsi'p.svov gefordert w\u00fcrde; sein Gegensatz ist das aSTjXov, es selbst gleichbedeutend mit dem updSifjXov oder dem ivapy\u00e9\u00e71). Sollte nun aber auch die sittliche Erscheinung, das ethische Ph\u00e4nomen, an dieser zweideutigen Terminologie Antheil haben, so w\u00e4ren die damit durcheinanderlaufenden Voraussetzungen \u00fcber Existenz und Nichtexistenz der Werthe an sich auch aus dem positiven Theil der Lehre erwiesen. In der That wird diese Bedingung erf\u00fcllt. Die sittlichen Ph\u00e4nomene sind die Werthe, wie sie in den Sitten, den Gebr\u00e4uchen, den Gesetzen, den Vorschriften der Landesreligion, den E\u00fchrungsweisen der Menschen zur Erscheinung gelangen2). Und diese ihre Erscheinungsqualit\u00e4t wird bald als Spiegelung an sich bestehender Werthe, bald blo\u00df als unmittelbar sich aufdr\u00e4ngender Bewusstseinszustand gedeutet. Das Erstere ist ganz unzweifelhaft der Fall in S\u00e4tzen, welche, wie die folgenden, ausdr\u00fccklich das praktische3) Kriterium behandeln wollen: \u00bbUrtheilsmittel der skeptischen F\u00fchrungsweise also, sagen wir, sei das Erscheinende (cpatvrfpevov), . . . deshalb ist dar\u00fcber, ob das Unterliegende (\u00f6tcoxsipsvov) so oder so erscheint, vielleicht Niemand im Zweifel; dar\u00fcber aber, ob es ist, wie es erscheint, zweifelt man. Indem wir also an das Erscheinende uns halten, lehen wir gem\u00e4\u00df der Beobachtung des gew\u00f6hnlichen Lebens ansichtslos........\u00ab4). Und in diese Beobachtung\ndes Lebens werden dann in erster Linie die Ueberlieferung der Sitten, der Gesetze, der Religion mit hineingezogen5). Von einer andern Seite erhellt diese Auffassungsweise aus der ausdr\u00fccklichen\n1)\tVgl. oben S. 257 2).\n2)\tP. I, 17, 24.\t3) P. I. 21.\n5) P. I, 24.\n4) P. I, 22\u201423.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 289\nBetonung des Sextus, dass die Erscheinung als \u00e8vapys\u00e7, als Evidenz gefasst, daran zu erkennen sein, dass sie Allen gleich erscheine*); dieses Kriterium passt aber ersichtlich nicht auf die sittlichen Erscheinungen, deren Verschiedenheit hei V\u00f6lkern und Individuen dar-zuthun Sextus wiederholt bem\u00fcht gewesen ist. Und so w\u00e4re das ethische <pouv<J|isvov von hier aus betrachtet dann gleichfalls als Abspiegelung eines oiroxst'fievov anzusehen. Die andere M\u00f6glichkeit: die positive Erscheinungslehre der Skeptiker auf ethischem Gebiete so zu deuten, dass unter den sittlichen Erscheinungen nur einleuchtende Bewusstseinszust\u00e4nde ohne Relation auf objectiv-reale Werthe an sich zu verstehen seien (deren Existenz problematisch bleibt oder negirt wird), l\u00e4sst sich aber nicht minder leicht beweisen; am deutlichsten vielleicht durch die schon einmal angezogene Stelle P. III, 235. Endlich das letzte Kennzeichen an den Wertherscheinungen, welche der negative Theil hervortreten lie\u00df, und welche das Zustandekommen dieser Erscheinungen betrifft, die Passivit\u00e4t derselben, wird gleichfalls von der positiven Seite aus vollkommen best\u00e4tigt. Denn ausdr\u00fccklich wird das Erscheinende als praktisches Kriterium in einen \u00bbwillenlosen Zustand\u00ab gesetzt1 2). Und so kommt inan, mag die These von der Unerkennbarkeit der Werthe an sich oder von der Erkennbarkeit der Wertherscheinungen zum Ausgangspunkt genommen werden, \u00fcber die Voraussetzungen der skeptischen Elthik zu den ganz gleichen Ergebnissen.\t_________ V........\nDamit w\u00e4re die Analyse der pyrrhonischen Ethik f\u00fcr unsere Zwecke zu Ende gef\u00fchrt. Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen derselben k\u00f6nnen gleichfalls als naiv-realistische bezeichnet werden, wenn auch der zu Grunde liegende Realismus kein so uneingeschr\u00e4nkter ist, wie der in'der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung vorausgesetzte. Die \u2018Hauptverschiebung gegen den in den\n1)\tP. IH, 266 : \u00eavapye\u00eeij o\u00f9^ o\u00f9 ytywrai SiSaoxaX\u00eea, \u00d9Ttet x\u00fb>v Setx'rjplv\u0153v \u00e9ax'w i^dpyeia. to \u00f4\u00e8 \u00f4eixv\u00f9pewv ii\u00e2o\u00eev \u00e8oxt <p<m<\u00eepevov, x\u00e8 8\u00e8 <paiv<5pevoM, cpa\u00ee-\u25a0jExai, Tt\u00e2o\u00eev \u00e8axi X \u00ef; - T \u00f6 v ; vgl. auch DI, 254. Math. XI, 240.\n2)\tP. I, 21/22, wo es von dem cpaiv\u00f9pevov als dem xpixtjpiov, tp npoo\u00e9yovxes\nxax\u00e0 xov \u00dfiov x\u00e0 p\u00e8v 7ipdo<3opev, x\u00e0 5\u2019o\u00f9, hei\u00dft: xpixtjpiov xohuv cpap\u00c8M e\u00efvai tt^ sxenxi-xfj\u00e7\txo tpaw\u00f9pe'jov, Sovdcpet xtjv cpavxaolav a\u00f9xo\u00fc o\u00f9 toi xaXo\u00f9uxe\u00e7* \u00e8v Tteiaei y\u00e0p\nxai d\u00dfooXif]T(p itd\u00f6ei xetp\u00e9vx) dCt)xir)x\u00f4\u00ee \u00eaoxiv.\nWn n d t, Philos. Studien. XX.\n19","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nRaoul Richter.\nzehn Tropen eingenommenen Standpunkt zeigt sich bereits darin, dass es sich hei der Zergliederung der sinnlichen Erkenntniss stets um das Erkanntwerden oder Nichterkanntwerden sinnlicher Dinge, auf moralischem Gebiete aber stets um das Sein oder Nichtsein sittlicher \u201cWerthe (wenigstens dem Ausdruck nach) handelt; nicht darum, oh etwas gut oder schlecht (wie der Honig s\u00fc\u00df oder bitter), sondern ob \u00fcberhaupt Etwas gut oder schlecht hei\u00dfen d\u00fcrfe. Diese allgemeine Abschw\u00e4chung in den Voraussetzungen beruht auf leicht zu durchschauenden Gr\u00fcnden. Drei Gedankenreihen sind es wohl vorzugsweise, welche hier mitbestimmend gewirkt haben: einmal liegt in Bezug auf die Welt, welche die sinnliche Erkenntniss bearbeitet, die extrem realistische Voraussetzung dem menschlichen Geist unendlich viel n\u00e4her als f\u00fcr die sittliche Welt. Dass die Dinge, die wir im Baum sehen und tasten und an die sich alsbald die Qualit\u00e4ten der \u00fcbrigen Empfindungen heften, auch nach unserer Abwesenheit scheinbar unver\u00e4ndert und als dieselben wieder angetroffen werden, macht die Existenz von uns unabh\u00e4ngiger, mit bestimmten Eigenschaften begabter k\u00f6rperlicher Dinge, der Ixto\u00e7 \u00f6tco-\u2022xstixcva, f\u00fcr das in den Anfangsstadien der Beflexion befindliche Bewusstsein zu einer gel\u00e4ufigen und einleuchtenden Annahme. Ist diese Trennung in Object und Vorstellung, in Ding an sich und Erscheinung vollzogen, so liegt es nahe, hei der urspr\u00fcnglich angenommenen Aehnlichkeit beider und unter Ber\u00fccksichtigung der allt\u00e4glichen Erfahrung einer scheinbaren Wirkung der K\u00f6rperwelt auf unser Bewusstsein, die Vorstellungen und Erscheinungen aufzufassen als mehr oder minder getreue Spiegelbilder der Dinge, welche diese bewirken. Besinnt sich auf dieser Stufe der menschliche Geist und beginnt \u00fcber den Grad der Treue dieses Spiegelbilds zu reflectirep, ohne doch die genannten Voraussetzungen aufzugeben, so ger\u00e4th er noth-wendig auf den Standpunkt des pyrrhonischen, in den zehn Tropen niedergelegten Skepticismus. Auf sittlichem Gebiete dagegen liegen die Verh\u00e4ltnisse nicht genau entsprechend. Hier ist von vornherein das Beich der Werthe weit inniger mit dem menschlichen Geist verkn\u00fcpft und neue Motive zu einer Spaltung in Werthobject und Werthvorstellung, Werthding und Wertherscheinung, bieten sich nicht von selber dar; die erw\u00e4hnten aber, welche den entsprechenden Vorgang hei der Ausdeutung der sinnlichen Erkenntniss bewirkten, haben hier","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Dir erkenntnisstheoretischen Toraussetzungen des griech. Skepticismus. 291\nkeine Kraft. Wird somit schon aus den genannten, f\u00fcr das wissenschaftliche Bewusstsein einer bestimmten Stufe allgemein g\u00fcltigen Gr\u00fcnden verst\u00e4ndlich, warum der Parallelismus in der Auffassung der sinnlichen und sittlichen Welt kein vollst\u00e4ndiger sein konnte, so begreift sich dieser Umstand noch weit einleuchtender aus den speciellen Interessen und Tendenzen \u2014 theoretischen wie praktischen \u2014 der pyrrhonischen Philosophie. Theoretisch sieht der Pyrrhonismus seine Aufgabe in dem Nachweis von der vorl\u00e4ufigen Unm\u00f6glichkeit einer Erkenntniss der Wahrheit. F\u00fcr die sinnliche Erkenntniss st\u00f6rten nun die unkritisch realistischen Voraussetzungen diesen Nachweis nicht nur nicht, sondern erleichterten ihn geradezu. Denn fasste die Skepsis das Verh\u00e4ltniss von Ding und Vorstellung wie die Relation von objectivem Gegenstand zu subjectivem Spiegelbild, so brauchte sie nur von der physischen Seite auf den verschiedenen Bau der spiegelnden Organe, von der psychischen auf die verschiedenen Aussagen derselben, (ja desselben) \u00fcber das gleiche Object hinweisen, um aus der Unm\u00f6glichkeit eines Kriteriums, das hier \u00fcber ad\u00e4quate und inad\u00e4quate Wiedergabe entschiede, die Unerkennbarkeit der Dinge zu folgern. In der sittlichen Erkenntniss lag dies Vorgehen nicht so nah. Denji hier lie\u00dfen sich keine besonderen Werthorgane aufweisen, deren/Verschiedenheit im Bau sich die Skepsis h\u00e4tte zu Nutze machen, auf deren widerspruchsvolle Aussagen sie h\u00e4tte Gewicht leg\u00e9n k\u00f6nnen. Hier war sie nur auf den Widerspruch in den Behauptungen des moralischen Bewusstseins der verschiedenen Menschen angewiesen, dessen principielle Unaufl\u00f6sbarkeit ohne Zur\u00fcckf\u00fchrung auf nothwendig tr\u00fcbende Organe (wie die Sinneswerkzeuge) nicht ohne weiteres auf der Hand lag. So kam die Skepsis naturgem\u00e4\u00df dazu, die realistischen Voraussetzungen hier nicht ganz so robust zu fassen; denn f\u00fcr den Nachweis f\u00fcr die Unerkennbarkeit der Werthe leisteten sie ihr nicht den gleichen Dienst wie an anderer Stelle. Aber an dieser Unerkennbarkeit der Werthe lag der Skepsis sehr viel und eigentlich Alles. Das f\u00fchrt auf den dritten und letzten Grund, der mehr praktischer Natur ist und die Accentverlegung in den immerhin bestehenden realistischen Voraussetzungen im Gebiete der Moral erkl\u00e4rt. Lie\u00df sich n\u00e4mlich die Unerkennbarkeit der Werthe bei der starken Accentuirung des naiven Realismus nicht ganz \u00fcberzeugend darthun, so stand f\u00fcr denjenigen,\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nRaoul Sichter.\n.dem an dieser Ueberzeugung sehr viel gelegen war, ein Weg offen: die Unerkennbarkeit der Werthe sich zu sichern, indem mau die Existenz der Werthe bezweifelte oder leugnete. Freilich hob dieser Schritt, wenn er bis zur Festsetzung der letzteren M\u00f6glichkeit geschah, eigentlich die ethische Skepsis auf; denn ein Bezweifeln oder der Nachweis der Unerkennbarkeit von etwas als nicht seiend Anerkanntem ist, wenn man dabei stehen bleibt, absurd und f\u00fchrt im andern Falle \u00fcber sich selbst hinaus. So war der Schritt vom skeptischen Standpunkt gef\u00e4hrlich, und wenn er, wie wir sahen, auch nur unentschieden und zaghaft gethan und meist wieder zur\u00fcckgenommen wurde, so ist selbst dies bescheidene Vorgehen nur der Einwirkung ethischer Motive zu verdanken. Die Ataraxie und Apathie, f\u00fcr Cynismus, Stoa und Skepsis gleichm\u00e4\u00dfig Inhalt der Eudaimonie, dies ethische Ideal des Skeptikers und \u00fcberdies das treibende Motiv in seiner Lehre, es wird nur erreicht unter Verzicht auf die Erkenntniss der Lebenswerthe und Lebensg\u00fcter. Daher ist der theoretische Nachweis dieses Verzichtenm\u00fcssens ein so ungeheuer wichtiges St\u00fcck f\u00fcr den Skeptiker. Deshalb l\u00e4sst er hier nach von den starren realistischen Voraussetzungen, auf denen sich sonst sein ganzes Geb\u00e4ude erhebt; ja er geht bis zur gelegentlichen Durchbrechung derselben vor und. \u2014 leugnet die Existenz absoluter, realer, an sich bestehender Werthe. Ist doch die Erkenntniss, um die es sich hier handelt, f\u00fcr die Skepsis nicht nur richtig oder falsch, sondern auch gut oder schlecht: \u00bbwenn das, was das Schlechte bewirkt, schlecht ist und fliehenswerth, der Glaube aber, die einen Dinge seien von Natur gut, andere aber schlecht, Beirrungen verschafft, so ist es auch schlecht und fliehenswerth, vorauszusetzen und \u00fcberzeugt zu sein, es gebe etwas Schlechtes oder Gutes, was seine Natur anlangt\u00abJ). So erkl\u00e4rt sich von drei Seiten her die Abschw\u00e4chung und gelegentliche Durchbrechung der realistischen Voraussetzungen innerhalb der skeptischen Ethik, und man wird es eher wunderbar finden, dass diese Schwenkung nicht radicaler durchgef\u00fchrt wurde, als dass sie \u00fcberhaupt stattgefunden hat. Allerdings bleibt dabei zu bedenken, dass mit der v\u00f6lligen Aufhebung der naiv-realistischen Voraussetzungen auf ethischem Gebiet, wie auf rein erkenntnisstheoretischem, auch die Aufhebung\n1) P. HI, 238.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 293\nund Selbst\u00fcberwindung dieser eigent\u00fcmlichen Zweifelslehre gegeben w\u00e4re. \u2014\ny.\nWir kommen zum Schluss dieser Untersuchung, welcher unabh\u00e4ngig von allen Belegstellen, die in den Werken des Sextus den naiven Realismus verraten, aus weiterer Entfernung und freierer Umgebung auf die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen der pyr-rhonischen Philosophie zur\u00fcckblicken m\u00f6chte. Ueberschaut man n\u00e4mlich die skeptischen G-edankenreihen als Ganzes, so staunt man, dass diese scharfsinnigen M\u00e4nner in Erkenntnisstheorie und Ethik sich oft so nahe an der Grenze fruchtbarer Entdeckungen bewegen, ohne doch je den entscheidenden Schritt zur Er\u00f6ffnung neuer Bahnen getan zu haben. In der Theorie der sinnlichen Wahrnehmung weisen sie mit einer Ausf\u00fchrlichkeit auf den Anteil des Subjects an der Bildung der Vorstellungen hin, wie es im Altertum nie zuvor geschehen war; und doch streifen sie an keiner Stelle den Gedanken, dass die subjectiven Zutaten den Inhalt der Vorstellungen ersch\u00f6pfen k\u00f6nnten, und dass, wenn man die Existenz unabh\u00e4ngig vom Subject bestehender Dinge fallen lie\u00dfe, auch * alle Gr\u00fcnde des Zweifels an dieser Er-kenntnissart mit hinwegfielen (extremer Idealismus). Sie werfen die Frage auf, ob nicht weniger Eigenschaften, als wir an den Dingen wahrnehmen, und nur gewisse von den wahrgenommenen den Dingen selbst zukommen k\u00f6nnten; aber sie finden die Kraft nicht, die Eigenschaften daraufhin zu untersuchen und durch eine nach logischen Gesichtspunkten vollzogene Trennung derselben in objective und subjective einen zweiten Ausweg aus den skeptischen Folgerungen zu er\u00f6ffnen (kritischer Realismus). Dass dagegen die noch ausstehende dritte M\u00f6glichkeit, innerhalb der subjectiven Bewusstseinswelt allgemeing\u00fcltige und zuf\u00e4llige Elemente zu sondern und auf letztere als Bedingungen aller Erfahrung ihre G\u00fcltigkeit f\u00fcr Erfahrung und damit ihre \u00bbWahrheit\u00ab zu gr\u00fcnden, nicht von den Skeptikern entdeckt wurde, wird bei der Fremdheit, welche dieser Standpunkt f\u00fcr die gesammte Antike haben musste, Niemanden Wunder nehmen (kritischer Idealismus Kant\u2019s). Und \u00e4hnliches gilt f\u00fcr die Ethik. Hier bezweifeln die Skeptiker bereits die Existenz an sich und unabh\u00e4ngig vom wollenden Subject bestehender Werthe auf Grund der Relativit\u00e4t","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nRaoul Richter.\nin den Moralanschauungen, ja sie schreiten bis zur Leugnung dieser Existenz gelegentlich fort. Aber nun machen sie Halt. Und doch bieten sich drei Auffassungen von der Natur des Sittlichen, will man die unabh\u00e4ngige Existenz sittlicher Werthe leugnen, von selber dar: Entweder man h\u00e4lt gut und schlecht f\u00fcr willk\u00fcrliche Werthsetzungen des subjectiven, individuellen Beliebens, allenfalls einer Gemeinschaft von Subjecten, des Staats, der Gesellschaft; damit gibt man das Wesen der Sittlichkeit als etwas Eigenartiges, von pers\u00f6nlichen und gesetzlichen Bestimmungen verschiedenes auf. Oder aber man kann versuchen, die Eigenart des Sittlichen vom Subject aus, die Relativit\u00e4t der einzelnen Normen aus den verschiedenen Erscheinungsformen ein und desselben im Menschen befindlichen, sei es als Gef\u00fchl, sei es als Vemunftstimme empfundenen allgemeing\u00fcltigen sittlichen Princips zu verstehen. Damit gibt man die Beschr\u00e4nkung der sittlichen Werthe auf die Sph\u00e4re des Subjects zu, ohne doch die Anerkenntnis eines absoluten sittlichen Princips fallen zu lassen. Und endlich kann man die sittlichen Werthurtheile unter Hinnahme ihrer v\u00f6lligen Relativit\u00e4t als ein psychologisch eigenartiges Ph\u00e4nojnen zu begreifen suchen, ohne an einem obersten absoluten Moralprincip festzuhalten. In allen drei E\u00e4llen w\u00e4re ersichtlich keine Veranlassung, die grunds\u00e4tzliche Unerkennbarkeit der sittlichen Werthe zu behaupten. Wie nahe aber die Skepsis selbst die zweite und dritte Auffassung, welche recht eigentlich erst eine Errungenschaft der neueren Moral-philosophie genannt werden kann, gestreift hat, zeigte die vernichtende Analyse des Begriffs eines \u00bban sich au\u00dfer uns befindlichen Erstrebens-werthen\u00ab1). Und auch der ganze Skeptizismus gegen die Wissenschaft fiele (bis auf die Polemik gegen die logischen Vernunftoperationen) mit dem Aufgeben der naiv-realistischen Voraussetzungen dahin. Denn die Wissenschaft hat es nach pyrrhonischer Auffassung nur mit der Erforschung der Dinge an sich zu thun; die aSrjXa, \u00e8zx\u00e8\u00e7 u7toxe([isva und \u00f4o-flAimxw\u00e7\tsind ihr Wechselbegriffe2).\nW\u00fcrde also mit den genannten Voraussetzungen die Unerkennbarkeit dieser \u00f6iroxst(j.sva aufgehoben, weil alsdann solche in der von der Skepsis angenommenen Art zu unberechtigten Begriffen herabs\u00e4nken, so h\u00e4tte auch die Wissenschaft wieder freie Bahn f\u00fcr ihre Forschung.\n1) Siehe oben S. 282 ff.\n2) P. I, 13.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen desgriech. Skepticismus. 295\nWenn demnach Sextus in der Ethik eben so wenig wie in der Erkenntnistheorie dem Dr\u00e4ngen der Gedankeng\u00e4nge nachgibt und weder die Eigenart des Sittlichen fallen lassend, dasselbe auf individuelle oder sociale willk\u00fcrliche Werthsetzung zur\u00fcckf\u00fchrt1) noch die neuen Bahnen der Zukunft beschreitet, so kann man eben nur in der Art der genannten Voraussetzungen die hemmenden Fesseln hierf\u00fcr erblicken. Fragt man nun aber, warum diese Voraussetzungen f\u00fcr die pyrrhonische Skepsis so bindend gewesen seien, so gen\u00fcgt die Antwort, dass das gesammte Alterthum in ihnen befangen gewesen, nicht\n1) Dies scheint Aenesidem gethan zu haben; er l\u00f6ste das Gute und Schlechte in subjectiv-individuelle Bestimmungen auf und stellte das Gute als to txipo\u00fcv und \u0153cteXo\u00f9v, das Schlechte als to \u00e9vcmlra; iyvi hin (in bemerkenswerther Parallele zu den \u00e4sthetischen Werthen); die Annahme einer unabh\u00e4ngigen Existenz von Werthen wird eine xoivi) Ttp\u00f4Xirjipi\u00ee genannt und alle Widerspr\u00fcche in der Aussage \u00fcber die sittlichen Werthe aus diesem Yorurtheil hergeleitet. (Math. XI, 42\u201444.) Gibt diese Stelle die Anschauung Aenesidem\u2019s correct wieder (was der Text bei Photius Bibi. 212 zu best\u00e4tigen scheint), so kann von einem ethischen Skepticismus (der doch immer auf die vorl\u00e4ufige Erkenntnissunm\u00f6glichkeit der Werthe gehen m\u00fcsste) hier nicht die Bede sein; wohl aber von einer Zur\u00fcckf\u00fchrung der sittlichen Werthurtheile auf individuelle Lust- und Unlustgef\u00fchle im Sinne der j\u00fcngeren Sophisten. Daraufhin wage ich eine Vermuthung \u00fcber die Entwicklung der Voraussetzungen des Pyrrhonismus, deren n\u00e4here Begr\u00fcndung aber die Grenzen dieser Studie \u00fcberschreiten w\u00fcrde: Die von den Begr\u00fcndern des Pyrrhonismus erhaltenen Fragmente geben \u00fcber die Eigenart der erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen dieser M\u00e4nner keine Aufschl\u00fcsse; erst Aenesidem l\u00e4sst in den Tropen die naiv-realistischen Voraussetzungen f\u00fcr die sinnliche Wahmehmungs-theorie hindurchblicken, wie wir sie bei der Besprechung dieser Tropen entwickelt hatten: stillschweigende Annahme von an sich bestehenden Dingen mit Eigenschaften, welche den sinnlichen Empfindungen wesensgleich sind. In der Ethik ' dagegen vertritt er auf Grund der obigen Angaben unter Wegfall der realistischen Voraussetzungen einen reinen Individualismus im Sinn der Sophisten, der freilich den Skepticismus in strenger Bedeutung ausschlie\u00dft. Vom skeptischen Gesichtspunkt ausgehend f\u00fchren dann die j\u00fcngeren Vertreter der Schule wie Sextus die realistischen Voraussetzungen auch f\u00fcr die Ethik wieder ein (unter den auseinandergesetzten Einschr\u00e4nkungen) und machen sich den Gegensatz von 6m>xe!p.eva und cpatvopeva, der f\u00fcr Aenesidem nur auf dem Gebiet der aiaJbjt\u00e4 Geltung hatte, f\u00fcr die gesammte Philosophie zu Nutze. Wie weit dies Einspannen in das Begriffspaar tpusei Sv \u2014 tpaivopevov bei Sextus geht und wie weit sich diese Methode dabei von ihrer urspr\u00fcnglichen Bestimmung entfernt, zeigt am deutlichsten P. I, 34, wo eine ausgesprochene Behauptung sich selbst als noch nicht ausgesprochener, aber dem Sinn nach vorhandener wie das cpatvopxvov zum tf\u2019jaet Sv verhalten soll.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nRaoul Richter.\nv\u00f6llig. Zwar wird es immer als der schlagendste Beweis f\u00fcr die er-kenntnisstheoretischen Grenzen des Alterthums gelten k\u00f6nnen, dass auch das Extrem der antiken Kritik, dass die Skepsis sich von diesen Grenzen nicht zu befreien vermochte, aber es waren auch damals bereits kr\u00e4ftige Ans\u00e4tze gemacht worden, in Ethik und Erkenntnistheorie die einseitig realistischen Pr\u00e4missen zu durchbrechen. Von den drei M\u00f6glichkeiten, den Skepticismus gegen die sinnliche Erkenntnis zu \u00fcberwinden, deren jede eine bestimmte Art der Aufhebung der naiv-realistischen Voraussetzungen bedeutete, waren die beiden ersten bereits zur Zeit Pyrrho\u2019s angeschlagen worden. Die Oyrenaiker hatten hier den extremen Idealismus vertreten und alle Empfindungen als rein subjective Zust\u00e4nde (r.\u00e4ti-q) ohne Hinweis auf an sich bestehende Objecte aufgefasst1). Demokrit hatte den grunds\u00e4tzlichen Standpunkt des kritischen Realismus mit der Ansicht verk\u00fcndet, dass alle sinnlichen Qualit\u00e4ten rein subjectiven, die mathematisch-physikalischen Eigenschaften aber objectiven Bestand bes\u00e4\u00dfen. Ja selbst die Passivit\u00e4t des Subjects beim Zustandekommen der sinnlichen Wahrnehmung, dieses st\u00e4ndige Element jedes extremen Realismus, war schon in dem erkenntnisstheoretischen Aper\u00e7u eines Protagoras und Empedokles von der \u00bb Gegenbewegung im Subject\u00ab durchbrochen worden. In der Ethik hatten die Sophisten die Anschauung mit nicht misszuverstehender Deutlichkeit verbreitet, dass subjectives Belieben des Einzelnen oder der Masse die sittlichen Werthe geschaffen habe. In welchem Grade diese Richtungen einem Manne wie Sextus vertraut waren, welchen Einfluss Demokrit und die Sophisten auf die Begr\u00fcnder des Skepticismus ge\u00fcbt haben, ist bekannt. Auch ist es merkw\u00fcrdig, wie Sextus, wo er auf die Er-kenntnisslehre Demokrit\u2019s oder der Cyrenaiker zu sprechen kommt, gelegentlich eine extrem-idealistische oder kritisch-realistische Bemerkung unterflie\u00dfen l\u00e4sst, gewisserma\u00dfen gegen seine Absicht, mit\n1) Allerdings nicht ganz rein; wie Natorp (Archiv f. Glesch, d. Phil. III, 355ff., 361) nachgewiesen hat. Auch nach den Berichten des Sextus l\u00f6sen die Cyrenaiker bald alle Existenz in subjective Bewusstseinszust\u00e4nde auf (o? te -;\u00e0p \u00e2no vrj\u00ee xupfjvrj\u00ee cptXoaocpoi p.(!va tpaaw im\u00e2p^eiv l\u00e0 it\u00e2\u00f4r), \u00e2XXo \u00ea\u00e8 o\u00f9t\u00e9v. Math. VI, 53), bald stellen sie die Natur der hrcoxelpieva nur als unauffassbar hin (P. I, 215), indem auch sie das Dasein von &ra>xd|j.evtx mit bestimmten Qualit\u00e4ten annehmen; bald wird von ihnen dieses Dasein weder bejaht noch verneint, sondern bezweifelt (Math. VII, 194).","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 297\nfortgerissen von der Anschauungsart dieser M\u00e4nner1). Und trotzdem h\u00e4lt er hartn\u00e4ckig an seinem Standpunkt fest. Wie ist dies hei dem hohen G-rad von Kritik, welcher diesem Skeptiker wie seinen Vorg\u00e4ngern im Einzelnen eignet, zu verstehen? Nur so, dass diese M\u00e4nner die dunkle Ahnung gehabt haben m\u00f6gen, dass ihr totaler Skepticismus einzig auf dem Boden eines totalen Realismus erbl\u00fchen k\u00f6nne. Nun w\u00e4re es ja f\u00fcr einen Philosophen ein \u00fcbler Grund, an gewissen Voraussetzungen nur darum festzuhalten, um zu bestimmten Ergebnissen gelangen zu k\u00f6nnen. Einen Irrthum aufzugehen, wenn man ihn eingesehen, hat seit je als die Tugend des theoretischen Erkennens gegolten. Und in der That w\u00e4re das (man m\u00f6chte sagen) krampfhafte Festhalten an den naiv-realistischen Voraussetzungen bei einer so kritischen Richtung unverst\u00e4ndlich, w\u00e4ren \u00fcberhaupt theoretische und nicht in erster Linie praktische Motive die treibenden in dieser Philosophie gewesen. Die der Skepsis aber war das Bestreben, die Ataraxie, ^die Apathie, und dadurch die Eudai-monie zu erlangen2); und Mittel dazu war das philosophische Erf gebniss von einer derzeitigen Unm\u00f6glichkeit des Erkennens. Wo aber ethische Beweggr\u00fcnde, zumal in ethisch intensiv empfindenden Epochen oder Individuen die F\u00fchrung des Philosophirens \u00fcbernehmen, da erscheint eine Tr\u00fcbung auch des scharfsinnigsten Verstandes auf bestimmten Punkten nicht mehr wunderbar, mag derselbe nun einem antiken Skeptiker oder einem Kant, Schopenhauer, Nietzsche zu eigen sein.\n1)\tSo erreicht, was die Vorstellung von den Eigenschaften der E)7roxel(ieva anlangt, Sextus die gr\u00f6\u00dfte Entfernung von dem naiven Realismus dort, wo er die skeptische Anschauung gegen die Demokritische abgrenzt; P. I. 213 hei\u00dft es \u00fcber den verschiedenen Gebrauch des oi pi\u00e4XXov bei Demokrit und der Skepsis in Anwendung auf das bekannte Honigbeispiel: \u00e8xE\u00eevoi p.\u00e8v y\u201cP \u00e8irl to! |A7]8\u00c9Tepov e\u00eevat Td\u00ceTTOuai rjjv cprav/jv, ijjj.e\u00ee\u00e7 8\u00e8 \u00e8t\u00e0 to! (*yvosIv, n\u00f4xepov dpuporepa -f] o\u00f4o\u00e9xEpov Ti iijTi t<ot ipaivopivcnv (zumal auf die letztere M\u00f6glichkeit, welche zum kritischen Realismus hindr\u00e4ngt, wird sonst von Sextus nirgends Werth gelegt; am meisten noch in den S. 2692) angezogenen Stellen). Dass aber die sinnlichen Wahrnehmungen auch nicht einmal die Existenz von Dingen an sich verb\u00fcrgen, sondern rein subjective Empfindungen sein k\u00f6nnten und weiter nichts, diese Anschauung wird als M\u00f6glichkeit erwogen bei der Erw\u00e4hnung der Ansichten \u00bbEiniger\u00ab (unter denen in erster Linie die Cyrenaiker und Demokrit zu verstehen sein d\u00fcrften), welche allen objectiven Inhalt an der sinnlichen Wahrnehmung leugneten, das xevona\u00fcav derselben behauptend. (P. II, 49.)\n2)\tP. I, 12.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nRaoul Richter.\nSo sehen wir die scheinbar freiste, unabh\u00e4ngigste und kritischste Philosophie des Alterthums auf naiv-dogmatischen Voraussetzungen fu\u00dfen, welche in gewissem Sinne unter dem erkenntnisstheoretischen Niveau andrer zeitgen\u00f6ssischer Denker geblieben sind. Aber nur auf dieser Basis lie\u00dfen sich die skeptischen Ergebnisse mit solcher Wucht entwickeln, wie es ein Theil der Menschheit in der m\u00fcden verfallenden Welt damals bedurfte. Wissenschaftlich werthvoll bleibt der pyrrhonische Skepticismus trotz dieser R\u00fcckst\u00e4ndigkeit. Denn durch ihn wurde eigentlich der extrem-realistische Standpunkt in der Erkenntnistheorie, den er sich selbst zur Voraussetzung w\u00e4hlte, zu Tode getroffen; m\u00f6gen andre Denker des Alterthums schon theilweise diesen Standpunkt verlassen haben, seine Selbstaufhebung erfuhr er erst dadurch, dass die Pyrrhoniker mit unerbittlicher Kritik seine letzten Consequenzen zogen \u2014 die skeptischen. Indem diese M\u00e4nner aus einer Form des naiven erkenntnisstheoretischen Dogmatismus kritisch den Skepticismus entwickelten, machten sie die Bahn frei f\u00fcr andre positive Formen, die nun nicht als Voraussetzungen angenommen, sondern als Ergebnisse erarbeitet wurden, und welche' den skeptischen Folgerungen entgingen. In der That hat die in der neueren Zeit frisch erbl\u00fchende Erkenntnistheorie in ihren klassischen Vertretern wohl nie wieder auf den extremen Realismus zur\u00fcckge-griffen. Sie suchte neue Positionen, welche den gef\u00e4hrlichen Folgerungen der Skepsis nicht verfallen konnten, zum Theil ausdr\u00fccklich in Hinblick auf diesen Vortheil. Descartes und Galilei, Locke und die moderne Naturwissenschaft schlugen die Bahnen des kritischen Realismus ein; Berkeley stellte den extremen Idealismus als festestes Bollwerk gegen den Skepticismus auf1). Kant glaubte durch seinen kritischen, Idealismus das gleiche Ziel zu erreichen2). Noch heute ringen diese drei Richtungen um die Herrschaft; der naive Realismus dagegen, die Voraussetzung des Pyrrhonismus, darf f\u00fcr die Wissenschaft als \u00fcberwunden gelten; damit aber fallen auch seine Folgerungen, die eigenartigen skeptischen Ergebnisse hinweg. Dass der Berkeley\u2019sche wie der Kant'sche Idealismus zu einem\n1)\tBerkeley \u00bbdrei Dialoge zwischen Hylas und Philonus, zur Bek\u00e4mpfung von Skeptikern und Atheisten\u00ab; vgl. besonders S. 9 ff. 58, u. a. deutsche Uebers. von R. Richter.\n2)\tKjr. d. r. V. (Rosenkranz): S. 708.","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 299\nandersartigen Skepticismus ihrerseits Veranlassung gegeben haben, ist bekannt. Der Nachweis, warum einzig der kritische Realismus skeptischen Ausdeutungen am unzug\u00e4nglichsten ist, wie er denn, soweit ich sehe, auch historisch nirgends zu solchen gef\u00fchrt hat, w\u00fcrde aus dem Rahmen dieser Studie herausfallen. War doch deren Fragestellung eine bescheidenere, nur auf die Voraussetzungen der pyrrhonischen Skepsis gerichtet. Auch die Beantwortung ist im Grunde keine neue. Schon Augustin hat f\u00fcr die akademische Skepsis darauf hingewiesen, dass deren Bek\u00e4mpfung des Wahrheitskriteriums auf ganz sensualistischen, von der Stoa \u00fcbernommenen Grundlagen ruhe1), und noch k\u00fcrzlich hat Wundt in un\u00fcbertrefflicher Klarheit f\u00fcr den gesammten antiken Skepticismus den gleichen Gedanken ge\u00e4u\u00dfert: \u00bbwohl hat man bereits die Widerspr\u00fcche empfunden, zu denen ein solcher Standpunkt innerhalb der Erfahrung selbst f\u00fchrt . . . aber alle diese Erw\u00e4gungen f\u00fchrten nur zum Zweifel an der objectiven Existenz \u00fcberhaupt; sie lie\u00dfen den naiven Empirismus sofort \u00fcn den Skepticismus Umschl\u00e4gen, waren jedoch nicht im st\u00e4nde, innerhalb der empirischen Denkweise selbst eineji Fortschritt herbeizuf\u00fchren\u00ab2). Nur einer Erl\u00e4uterung dieses Satzes im Einzelnen an dem historisch vorliegenden Stoffe, sowie der Durchf\u00fchrung desselben auch f\u00fcr die ethischen Anschauungen des Pyrrhonismus wollte die vorliegende Arbeit dienen.\n1)\tLeder (Augustin\u2019s Erkenntnisstheorie in ihren Beziehungen zur antiken Skepsis u. s. w. Marburg 1901) S. 24\u201426.\n2)\tWundt, Einltg. i. d. Phil. S. 279/80. Vgl. Ueber naiven und kritischen Realismus, 1, S. 328 die Bemerkung: die Anschauung, \u00bbdass der Gegenstand selbst und seine Wahrnehmung oder Vorstellung toto genere von einander verschieden seien*, habe sich der skeptischen Erkenntnisstheorie entzogen.","page":299}],"identifier":"lit4484","issued":"1902","language":"de","pages":"246-299","startpages":"246","title":"Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griechischen Skepticismus","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:27:01.908069+00:00"}

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