Open Access
{"created":"2022-01-31T14:26:36.797650+00:00","id":"lit4485","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Schmid, Bastian","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 300-322","fulltext":[{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\nYon\nBastian Schmid.\nBautzen.\nEs war kein Zufall, vielmehr entsprach es einem Charakterzug des ganzen geistigen Lehens des 19. Jahrhunderts, dass das Willens-problem den Kern der meisten philosophischen Systeme bildete. Besonders trifft diese ganze Erscheinung dann zu, wenn, man den Willensbegriff im weiteren Sinne fasst und in all dem Werden, ' Entwickeln ein th\u00e4tiges Princip sieht, im Gegensatz zur starren, unver\u00e4nderlichen Substanz. Kant wie Eichte, Schelling und Hegel wie Ed. v. Hartmann und Nietzsche, sie alle sind von der Macht und Bedeutung des Willens \u00fcberzeugt und geben dieser Thatsache mindestens in der praktischen Philosophie Ausdruck.\nZweimal aber wurde der Wille als der letzte Seinsgrund \u00fcberhaupt angesehen, als das treibende Princip, das sich eine Welt schuf und sich in unz\u00e4hligen Formen vermannigfaltigte, bei Schopenhauer und Wundt. Merkw\u00fcrdigerweise erf\u00e4hrt jedoch der beiden Philosophen zu Grunde liegende Gedanke in der Durchf\u00fchrung eine so gro\u00dfe Verschiedenheit, dass beide Weltanschauungen nichts mehr als den Namen gemeinsam haben.\n\u00bbDer Wille in der Natur\u00ab betitelt Schopenhauer eine l\u00e4ngere Abhandlung, die im Jahre 1835 erschien und die den im Hauptwerk mit fraglicher Consequenz durchgef\u00fchrten Gedankengang an den Resultaten der einzelnen Naturwissenschaften mit Beispielen illustrirt. Ein seltsames Buch f\u00fcr uns Nachgeborne! Wenn wir auch heutzutage mit Recht dieses Werk mit beredtem Stillschweigen \u00fcbergehen, wenn wir \u00fcber Ausgang und Begr\u00fcndung des Problems sowohl, als auch \u00fcber die Art und Weise nachtr\u00e4glicher Beweisf\u00fchrungen und","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in (1er Natur.\n301\nFolgerungen die Achsel zucken, so mag es doch nicht uninteressant sein, diese L\u00f6sung des Willensproblems kurz zu charakterisiren, um so recht den Contrast gegen\u00fcber den Vorz\u00fcgen einer Willenstheorie, die in der Erfahrung wurzelt, zu versp\u00fcren, n\u00e4mlich gegen\u00fcber dem Wundt \u2019sehen Voluntarismus.\nBekanntlich ist nach Schopenhauer der Wille das Unerkennbare, unabh\u00e4ngig von Erkenntnissgesetzen, grundlos, unbewusst, er ist Einer, jedoch nicht Eins im Begriff einer Zahl, sondern jenes Eine, welches aller Vielheit zu Grunde liegt, und welches unserm Intellect unter unz\u00e4hligen Objectivationen erscheint. In einfachster Form \u00e4u\u00dfert er sich als Kraft, sei es als Schwere, Undurchdringlichkeit, Magnetismus, Elektricit\u00e4t, chemische Qualit\u00e4t; aber in allen F\u00e4llen hat man im Auge zu behalten, dass die Kraft kein physischer, sondern ein metaphysischer Begriff (Wille) ist. An sich grundlos, sind ihre Erscheinungen dem Satze vom Grunde unterworfen gleich den Handlungen der Menschen ; die Kr\u00e4fte sind die Bedingungen von Ursachen und Wirkungen, ohne seihst jemals dem Causalit\u00e4tsgesetz untergeordnet zu sein. Die Thatsache nun, dass die elektrischen und magnetischen Kr\u00e4fte f\u00fcr die Wissenschaft ein gr\u00f6\u00dferes B\u00e4thsel bilden, als die mechanischen (wo der causale Zusammenhang mathematisch einfacher ist, \u00bbWirkung gleich Gegenwirkung\u00ab), gibt der Phantasie des Philosophen Anlass zu der mystischen Anschauung, es sei in diesen ge-heimnissvollen Vorg\u00e4ngen bereits eine h\u00f6here Stufe der Objectivation des Willens zu versp\u00fcren. Der Wille strebt nun weiter! Er macht im Krystall den Anlauf zum Lehen, erstarrt aber in der Form. In der Pflanze jedoch kommt er zu einem dumpfen Selbstgenuss und im Thier und Menschen, wo bereits das Medium der Erkenntniss dazu tritt, zum Handeln nach Motiven. Und wie jede Thiergestalt einer Sehnsucht des Willens, sich gerade so und nicht anders zu objectiviren, Ausdruck gibt, so auch wieder jedes einzelne Organ. Er wollte sto\u00dfen, deshalb gab er dem Stiere H\u00f6rner, er wollte auf B\u00e4ume klettern, sich dort n\u00e4hren, friedlich leben, dem bemoosten Aste gleichen und stellte sich deshalb im Faulthiere dar. Um als Affe auf den Aesten leben zu k\u00f6nnen, streckte er Ulna und Radius unverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig in die L\u00e4nge, verk\u00fcrzte sie aber und stattete sie mit Wurf schaufeln aus, wenn er unter der Erde als Maulwurf graben wollte.\nNoch ist der intelligenzlose, dumpfwaltende Wille nicht am Ziele","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nBastian Schmid.\nangelangt, sich selbst zu erkennen, um sich hierauf, schaudernd von dem Elende der Welt zur\u00fcckschreckend, zu verneinen; es fehlte noch das Licht des Verstandes, das er sich im menschlichen Gehirn ansteckt. Er will erkennen und objectivirt sich als Gehirn, das die Function hat eine Welt vorzustellen (und schlie\u00dflich zu begreifen): \u00bbDie Welt als Vorstellung, die auf der schwachen Linie schwebt, zwischen der \u00e4u\u00dferen Ursache (Motive) und der hervorgerufenen Wirkung (Willensakte) bei erkennenden (thierischen) Wesen, als bei welchen deutliches Auseinandertreten beider erst anf\u00e4ngt\u00ab1).\nDemnach ist der Wille das Prim\u00e4re, das Ding an sich, das von ehedem ist, die Objectivation desselben, der Leib, ist das Secund\u00e4re und endlich drittens die Function dieses Leibes, das Erkennen, ist das Terti\u00e4re und zwar ist letzteres nichts anderes, als der Ausdruck des Erkennenwollens.\nAuf den ersten Blick nun liegt die Frage nahe, ob nicht Schopenhauer trotz aller metaphysischen Verschrobenheiten als ein Vorl\u00e4ufer Darwin\u2019s anzusehen ist, wie etwa Goethe oder Oken; denn sowohl die \u00bbWelt als W. u. V.\u00ab als auch das Buch \u00bbder Wille in der Natur\u00ab weist, letzteres die Resultate der einzelnen Naturwissenschaften zusammenfassend, auf eine Entwicklung von Stufe zu Stufe hin. Wenn man sich aber Schopenhauer n\u00e4her ansieht, so findet man, dass er in dieser Hinsicht ebenso, wie der von ihm gehasste Hegel, Plato\u2019s Sch\u00fcler ist und die Offenbarungen des Willens als nicht zeitlos und pl\u00f6tzlich ansieht, als Objectivationen, in denen sich die Idee auf verschiedenen Stufen ent\u00e4u\u00dferte. Hegel sagt ungef\u00e4hr: \u00bbDie Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen nothwendig hervorgeht und die n\u00e4chste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultirt, aber nicht so, dass die eine aus der anderen nat\u00fcrlich erzeugt w\u00fcrde, sondern in der inneren den Grund der Natur ausmachenden Idee. Solcher nebul\u00f6ser im Grunde sinnloser Vorstellungen, wie das sogenannte Hervorgehen der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelten Thierorganisation aus den niedrigeren u. s. w., muss sich die denkende Betrachtung entschlagen\u00ab.\n1) Vergl. Anatomie, Die Welt als Wille I. S. 190, \u00a7 28; ebenda II. zur Teleologie Cap. 26, S. 373\u2014386.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n303\nWeicht Schopenhauer von dieser Ueberzeugung ah, wenn er, nach einer abf\u00e4lligen Kritik \u00fcber Lamarck und seine Ansicht \u00fcber die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit in der Natur, dahin kommt zu behaupten: .... \u00bbDenn hier ist der Meister, das Werk und der Stoff eins und dasselbe. Daher ist jeder Organismus ein \u00fcberschwenglich vollendetes Meisterst\u00fcck. Hier hat nicht der Wille erst die Absicht gehegt, den Zweck erkannt, dann die Mittel ihm angepasst und den Stoff besiegt; sondern sein Wollen ist unmittelbar auch der Zweck und unmittelbar das Erreichen: es bedurfte sonach' keiner fremden, erst zu bezwingenden Mittel: hier war Wollen, Thun und Erreichen eines und dasselbe\u00ab (Vergl. Anatomie). Spricht Schopenhauer nicht im Hegel\u2019schen Sinne, wenn er behauptet, dass die Stufen der Objectivation keineswegs friedlich neben einander ruhten, sondern dass \u00bbim Bestreben der einzelnen Ideen, ihre Gebiete zu erweitern, ein heftiger Kampf auf dem Gebiete der Materie entbrennt, dass jeder Organismus die Idee, deren Abbild er ist, nur darstellt nach Abzug des Theiles seiner Kraft, welche verwendet wird auf Ueherw\u00e4ltigung der niedrigeren Ideen, die ihm die Materie streitig machen\u00ab (Yergl. Anatomie).\nUnd ^dieser Wille nun, der durchaus unvorstellbar ist, der au\u00dfer der Zeit steht und in einem bewussten Drange, intelligenzlos ohne vorhergehenden Zweck zweckm\u00e4\u00dfig schafft, sollte sich in unendlich vielen Variationen vergegenw\u00e4rtigt haben? Die Starrheit seiner Formen schlie\u00dft ebenso eine Weiterentwicklung aus, wie seine Intelligenzlosigkeit eine Seihstentwicklung des Geistes aus der Natur. Da ist es nun allerdings nicht zu verwundern, dass eine so eng mit dem Schaffen der Natur verkn\u00fcpfte Frage, wie die nach der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit, nicht ohne gro\u00dfe Widerspr\u00fcche mit dem Willen verkn\u00fcpft wurde. H\u00f6ren wir nur einige Beispiele Schopenhauer\u2019s: \u00bbDas Termitennest ist das Motiv, welches die lange Zunge des Ameisenb\u00e4ren hervorgerufen hat; die Eierschale das Motiv, f\u00fcr den gefangenen Vogel einen Schnabel zu schaffen; die schwarze Haut verursacht die Farbe der darauf wohnenden L\u00e4use, und die hei\u00dfe W\u00fcste die Beschaffenheit der wasserhaltigen Zellen im Magen des Kamels\u00ab. Die Deutung dieser Beispiele k\u00f6nnte \u00fcbrigens noch immer doppelsinnig sein und unter Umst\u00e4nden zu Gunsten der Entwicklungsgeschichte ausfallen; aber sobald man der Schopenhauer\u2019sehen Aufforderung","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nBastian Schmid.\nnachkommt, die Erkl\u00e4rung r\u00fcckw\u00e4rts zu gebrauchen, zeigt sich erst deren Unzul\u00e4nglichkeit: \u00bbEs ist nicht nur anzunehmen, dass jede Species sich nach den Vorgefundenen Umst\u00e4nden bequemte, sondern dass diese in der Zeit vorgegangenen Umst\u00e4nde selbst ebenso R\u00fccksicht nehmen auf die dereinst kommenden Wesen\u00ab (Welt als W. 1.190). Demnach bequemte sich ahnungsvoll das Termitennest dem Ameisenb\u00e4ren, die Schale dem Vogel, die W\u00fcste dem Kamelmagen, die Negerhaut den L\u00e4usen an. Die Reihe ist bequem r\u00fcckw\u00e4rts zu verfolgen, die Ideen sind zeitlos, ein Akt des Willens ; schon die Rotation der Umebel musste sich dem kommenden Geschlecht gem\u00e4\u00df verrichten.\nEine Kritik dieser Ansichten ist ebenso \u00fcberfl\u00fcssig, wie eine er-kenntnisstheoretische Untersuchung der Begr\u00fcndung von Schopenhauer\u2019s Willensmetaphysik, in ihrer Unbeweisbarkeit, ihren Widerspr\u00fcchen, ihrer Dogmatik. Man darf sich ja nur daran erinnern, wie er den Willen einf\u00fchrt, wie er den Satz vom Grunde auf das Unerkennbare anwendet u. s. w.\nEs wird uns hier vielmehr die Frage besch\u00e4ftigen, in welcher Weise ein anderer Philosoph es unternahm, in der Natur das werk-th\u00e4tige Schaffen des Willens zu erkennen. Dabei wollen wir die Gr\u00fcnde, die ihn dazu veranlassen, kennen lernen und pr\u00fcfen, ob wirklich die Empirie f\u00fcr ihn spricht und ob die \u00fcber die Erfahrung hinausgehenden Speculationen nothwendig sind. Zu diesem Zwecke d\u00fcrfte es f\u00f6rderlich sein, die Wundt\u2019sehe Willenstheorie in kurzem vorzuf\u00fchren, um sie hernach an anderen Anschauungen \u00fcber das Naturwollen, dem Darwinismus und der modernen Entwicklungstheorie zu messen.\nW\u00e4hrend dort bei Schopenhauer das Zweckproblem nur eine secund\u00e4re Bedeutung hat und ohne erkenntnisstheoretische Erw\u00e4gungen oft nur rein \u00e4u\u00dferlich an die Th\u00e4tigkeit des Willens anschlie\u00dft, um dieses Wirken nachtr\u00e4glich zu beleuchten, finden wir bei Wundt Wille und Zweck so eng mit einander verkn\u00fcpft, dass beide Begriffe nicht unabh\u00e4ngig von einander betrachtet werden k\u00f6nnen. Der Grund zu einer derartigen Verkn\u00fcpfung beider Begriffe ist leicht ersichtlich. Im ersteren Falle haben wir es mit einem blinden, intelligenzlosen Willen zu thun, der mit einem Male sich objectivirte, im letzteren mit einem von Anfang an mit Intelligenz begabten Wollen, dessen Entwicklung er\u00f6rtert, erwiesen ist. Folgen wir einer kurzen Charak-terisirung d\u00e8S Wundt \u2019sehen Zweckbegriffes.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n305\nIm Gegensatz zu der bekannten \u00e4u\u00dferen Teleologie, die sich an die rationelle Theologie des vorigen Jahrhunderts anlehnt, aber auch im Gegensatz zur sogenannten rein mechanischen Naturauffassung stellt Wundt einen Zweckhegriff auf, der vom Gesichtspunkt der actuellen Causalit\u00e4t eine blo\u00dfe Umkehrung der Causalbetrachtung ist. Danach kann man eine Folge von Ereignissen sowohl unter dem Gesichtspunkte der Causalit\u00e4t als unter dem der Teleologie betrachten, womit Ursache und Mittel, Wirkung und Zweck zu \u00e4quivalenten Begriffen geworden sind. (System der Phil. UL Aufl. 312.)\nEs war vor allem das Gebiet der Biologie, auf welchem die teleologischen Erkl\u00e4rungen sich so lange zu behaupten vermochten und zwar wohl deshalb, weil hier eine Umkehrung der causalen Betrachtung, also ein Ausgehen von den Folgen und ein Schlie\u00dfen auf die unbekannten Ursachen naheliegend und bei dem damaligen tiefen Stand dieser Wissenschaften m\u00f6glich war. Man \u00fcbersah, indem man dem Weltbaumeister vorausgedachte Zwecke unterschob und sich denselben als einen Mechaniker dachte, der die Maschine erst in seinem Kopfe nach all ihrer Zweckm\u00e4\u00dfigkeit entstehen l\u00e4sst, die Thatsache, dass die Zeugungs- und Entwicklungsvorg\u00e4nge einem inneren Naturzusammen-hange angeh\u00f6ren, der erst jvom Gesichtspunkte des au\u00dfenstehenden Naturbeobachters beurtheilt wird. Auf diese Weise wird also die Zweckidee nachtr\u00e4glich/ in die Dinge hineingetragen und schlie\u00dflich wird unser K\u00f6rper nicht als Product einer Zweckidee, wohl aber als ein zweckm\u00e4\u00dfiges Product angesehen (System 314 i). \u00bbDie Interpretation bleibt \u00fcberall so lange eine causale oder blo\u00df subjectiv-teleo-logische, als man sich auf die Naturseite der Erscheinungen beschr\u00e4nkt; sie wird objectiv-teleologisch erst in dem Augenblick, wo man auf die Triebe und Vorstellungen R\u00fccksicht nimmt, die vom Standpunkte subjectiver Wahrnehmungen aus als die zureichenden Motive der \u00e4u\u00dferen Handlungen erscheinen. Auf diese psychologische Interpretation sind wir aber immer dann gen\u00f6thigt zur\u00fcckzugreifen, wo es sich um die Feststellung eines umfassenden Zusammenhangs von Entwicklungserscheinungen handelt\u00ab (System 498).\nBekanntlich hat von Seiten der mechanischen Naturauffassung, die Ansicht, es sei durch causale Erkl\u00e4rung die teleologische\n1) \u00bbSystem\u00ab bezieht sich im folgenden stets auf das System der Philos. II. Aufl. Wundt, P141os. Studien. XX.\t20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nBastian Schmid.\nhinf\u00e4llig geworden, mehr und mehr um sich gegriffen. Diese Auffassung ist deshalb nicht ganz vorurtheilsfrei zu nennen, weil sie unter der teleologischen Erkl\u00e4rung wohl nur die bekannte rationelle, metaphysische Deutung versteht. Die Vertreter der mechanischen Weltauffassung bedenken nicht, dass man von einer Zweckm\u00e4\u00dfigkeit \u00fcberall da sprechen kann, wo ein Eintreten bestimmter That-sachen und Schlusseffecte und in der Verbindung dieser Resultate eine Wirkung gesehen wird, die ihre Ursache hat, Wirkungen, die in einem causalen Zusammenh\u00e4nge stehen, der in diesem Falle r\u00fcckw\u00e4rts betrachtet wird. (System 317.)\nEine andere Frage nun, die zugleich an die Verwerthung des Zweckhegriffes gro\u00dfe Anforderungen stellt, ist die, welche auf das Werden der Organismen gerichtet ist. Hier stehen sich die mechanische und die animistische Auffassung, von welch letzterer auch Lamarck beeinflusst ist, gegen\u00fcber. Das Hauptprincip des genannten Naturforschers \u00bbUehung st\u00e4rkt die Organe, Nicht\u00fcbung schw\u00e4cht dieselben\u00ab, sowie eine Anzahl seiner Ideen gingen ah Darwin \u00fcber, der im Besitz eines gro\u00dfen Thatsachenmaterials stehend, hierzu noch seine bekannten, dem Mechanismus mehr oder minder angeh\u00f6rigen Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde f\u00fcgte.\nUnbegrenzte Variabilit\u00e4t und Vererbung erworbener Eigenschaften einerseits und Kampf ums Dasein anderseits sind die drei wesentlichen Factoren, von welchen die Entwicklung getragen wird, und zwar sind die beiden ersten vom Standpunkte Darwin\u2019s mechanisch, d. i. zuf\u00e4llig und zwecklos. Die dritte Annahme ist ein Gemisch von mechanistischen und animistischen Ideen, mechanistisch dann, wenn man einen stummen Kampf ums Dasein in jenen Wirkungen erblickt, wie sie durch Klima, Bodenbeschaffenheit und Nahrungsverh\u00e4ltnisse namentlich auf Pflanzen ausge\u00fcbt werden und wodurch dann jene Exemplare erhalten bleiben, die unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen leben ; animistisch, wenn es sich um einen wirklichen Kampf handelt, wie ihn z. B. Hirsche um den Besitz des Weibchens k\u00e4mpfen, und der Starke, der Leistungsf\u00e4hige siegt. Hier entstehen durch die Uehung des Kampfes neue Eigenschaften, die die ge\u00fcbten Organe noch mehr vervollkommnen. In diesem activen Kampfe dominiren aber nicht mehr die \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcsse, sondern es machen sich bereits innere \u2014 ein Wollen nach Zweckvorstellungen \u2014 geltend, aber solcher Zweck-","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n307\nVorstellungen, die im wollenden Wesen selber liegen, m. a. W. die zweckth\u00e4tige Kraft ist der Wille. (System 320.)\nSomit enth\u00e4lt die Darwinsche Theorie einen Gedanken, welcher das Freiwerden von Willenseinheiten ausspricht, und damit macht er den Animismus mit seiner Zweckidee hinf\u00e4llig. Hingegen ist der Voluntarismus durch die Thatsache, dass psychisches auf physisches mit \u00e4u\u00dferen Erfolgen hin\u00fcberwirkt, in seine Rechte eingesetzt worden. Jener Willenseinfluss zeigt sich vor allem im Nahrungs- und Geschlechtstrieb, dann aber auch noch, wie namentlich bei niederen Wesen, in anderen Erscheinungsformen des thierischen Lebens.\nDer Gedanke, dass Organisation und Lebensweise in steter Wechselwirkung stehen, tritt nun in neue Beleuchtung. Als oberstes Princip wirkt der Wille, der durch \u00e4u\u00dfere Reize veranlasst die Lebensweise und damit nach und nach die Organe modificirt. Je mehr ein Thier sich vervollkommnet, desto gr\u00f6\u00dfer wird auch die Zahl der Triebe und damit wird auch die Individualit\u00e4t insofern ausgepr\u00e4gter, als den Willenshandlungen ein gr\u00f6\u00dferer Spielraum gelassen wird. Nun erweitern sich fortw\u00e4hrend die Wechselwirkungen zwischen Organisation und Lebensweise und zugleich die F\u00e4higkeit des Organismus, verschiedene Leistungen zu combiniren. hingegen werden die bei den verschiedenen Einfl\u00fcssen mgRg\u00e8bend\u00e9n Factoren immer versteckter, und zuletzt ist es nur noch die Thatsache der Wechselwirkung zwischen Organisation und Function, die als Resultat bestehen bleibt.\nAllerdings hat die Annahme, die organische Zweckth\u00e4tigkeit auf den Willen zur\u00fcckzuf\u00fchren, auf den ersten Blick sehr viel gegen sich, und zwar gen\u00fcgt schon der Einwand, dass eine Menge von Lebensformen unter Bedingungen Vorkommen, die einen Willenseinfluss nicht erkennen lassen. Abgesehen davon, dass das ganze Pflanzenreich an sich schon als willenlos gilt, sind auch eine Menge zweckm\u00e4\u00dfiger Einrichtungen des thierischen K\u00f6rpers wie Herz, Lunge und alle \u00fcbrigen vegetativen Organe dem Willen entzogen, so dass h\u00f6chstens noch von einem Einfluss des Willens auf die willk\u00fcrlichen Muskeln gesprochen werden k\u00f6nnte. Zu einem unbewussten Willen zu greifen, hie\u00dfe dem Vitalismus und metaphysischen Willen Th\u00fcr und Thor \u00f6ffnen. Infolgedessen kann nur dann der Wille als Erkl\u00e4rungsprincip zweckm\u00e4\u00dfiger Wirkungen angesehen werden, wenn er empirisch nach-\n20*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nBastian Schmid.\nweisbar ist. Dabei kommen zwei Gesichtspunkte in Betracht, die Verbreitung und objective Zweckm\u00e4\u00dfigkeit der Willenshandlungen.\nBei den einfachst organisirten thierischen Organismen, denen eine cons\u00e9quente B\u00fcckverfolgung geistiger Functionen ein, wenn auch nur auf d\u00e4mmerndes Bewusstsein nicht versagen kann, tritt unter den psychischen Factoren der Wille derart in den Vordergrund, dass sowohl die Bewegung der pulsirenden Vacuolen als auch jene der Wimperhaare als Willensakte anzusehen sind. Und so kann man das Fliehen vor Licht und Aufsuchen des Schattens (oder umgekehrt) gewisser einzelliger Algen, die Bewegungen des Protoplasmaleibes der Am\u00f6be und noch andere derlei Erscheinungen auf einen Willen zur\u00fcckf\u00fchren, der thats\u00e4chlich noch den ganzen Organismus beherrscht. Eine physikalische oder chemische Erkl\u00e4rung dieser Vorg\u00e4nge ist ausgeschlossen. Auch bei den O\u00f6lenteraten, deren vielzelliger Leib noch eine ziemlich gleichm\u00e4\u00dfige Organisation aufweist, wo theilweise nur eine geringe Arbeitstheilung herrscht, kann dem Willen noch eine gro\u00dfe Wahlf\u00e4higkeit in Bezug auf die meisten Handlungen zuge-schrieb\u00ebn werden. Wie sich nun nach und nach eine Arbeitstheilung einstellt, wie sodann gewisse Oentren, wie Ern\u00e4hrung, Athmung, Herz-th\u00e4tigkeit in mechanischer Selbstregulirung functioniren, ist ebenso erwiesen, wie die Annahme, dass diese Einrichtungen allm\u00e4hlich entstanden sind. Und wenn erst der Wille den ganzen Organismus beherrschte, so ist infolge der Mechanisirung psychischer und physischer Functionen auch anzunehmen, dass diese Akte nach und nach dem Bereich des Willens entzogen worden, und er dagegen durch die Mechanisirung und Entlastung Gelegenheit fand, zu h\u00f6heren Stufen zu klimmen und auch diese wieder seinem Machtbereich einzuverleiben.\nEs spielen also thats\u00e4chlich empirische Willenshandlungen in dem zweckm\u00e4\u00dfigen Aufbau der Organismen eine Hauptrolle. Selbstverst\u00e4ndlich kann nicht angenommen werden, dass der K\u00f6rper, der durch unendlich viele Zweckhandlungen aus einem einfachen psychophysischen Organismus hervorging, schlie\u00dflich von subjectiven Zweckvorstellungen bestimmt worden w\u00e4re, die einige Entwicklungserfolge anticipirt h\u00e4tten. Die Erfolge waren unbeabsichtigt. Es ist ein Nebenerfolg, wenn durch Uebung ein Organ sich st\u00e4rkt oder wenn die Muskeln durch Arbeitsleistungen ver\u00e4ndert werden und auf die","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n309\nSkeletttheile und auf die sie beherrschenden Nervencentren ver\u00e4ndernd eingreif en. Von Stufe zu Stufe wird angezeigt, dass die objective Zweckm\u00e4\u00dfigkeit durchaus verschieden ist von der subjectiven, die dieselbe hervorbrachte; denn der objective Erfolg \u00fcberschreitet regelm\u00e4\u00dfig das ihm vorausgehende Zweckmotiv. Jenes Gesetz, das die geistige Entwicklung beherrscht, das Princip der Heterogonie der Zwecke, bew\u00e4hrt sich also schon auf der physischen Seite der organischen Entwicklung.\nEs werden also von jedem nach Zwecken handelnden Wollen Zwecke erreicht, die nicht beabsichtigt, weil nicht vorausgesehen waren, anderseits gelangen andere gewollte Zwecke durch die Widerst\u00e4nde, die sie finden, nicht zur Ausf\u00fchrung. Immer aber f\u00fchrt der gewollte Zweck eine Reihe von Nebenerfolgen herbei, die man in Bezug auf den zwecksetzenden Willen als zweckm\u00e4\u00dfig ansehen muss, und es kommt daher die Regel von der Vervielf\u00e4ltigung der Zwecke in Betracht, die in unmittelbarer Verbindung steht mit dem alles geistige Leben beherrschenden \u00bbPrincip des Wachsthums geistiger Werthe\u00ab. Wenn sich also der Wille als th\u00e4tige geistige Macht die Natur dienstbar macht, so befestigt er die Erfolge des geistigen Wirkens bleibend, und er gewinnt neues Material,i\u00fcr die Steigerung dieses Wirkens. \u00bbSo erscheint die Selbstsch\u00f6pfung der organischen Welt in jeder Beziehung als eine Vorstufe der geistigen Entwicklung\u00ab (System 329).\nDas Princip der Heterogonie der Zwecke darf nicht etwa dahin verstanden werden, dass jede aus einer zwecksetzenden Th\u00e4tigkeit hervorgehende Wirkung als objectiver Zweck zu betrachten w\u00e4re. \u00bbVielmehr ist nur immer derjenige Erfolg ein objectiver Zweck zu nennen, der in der Richtung der vorausgehenden subjectiven Zweckvorstellung liegt, so dass er im Sinne derselben als zweckm\u00e4\u00dfig anerkannt werden muss\u00ab (System 331).\nEinige Beispiele werden diese Anschauung illustriren. Die Protistenformen haben bekanntlich in physischer und psychischer Hinsicht in jenen Ueberg\u00e4ngen von Thier- und Pflanzenreich schon vieles voraus, und sie haben sich gerade deshalb, weil sie angewiesen sind, sich selbst Nahrung zu erwerben, und somit durch einen fortw\u00e4hrenden Gebrauch ihres Organismus, ihrer Wimperhaare diese Vervollkommnung verschafft, die den undifferenzirten Ueberg\u00e4ngen fehlt. Ohne Zweifel","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nBastian Schmid.\nsind die pflanzlichen Urformen durch die Gewohnheit, mittelst Chloro-phyllk\u00f6mer sich seihst Nahrung zu verschaffen, zun\u00e4chst in ihren psychischen Functionen zur\u00fcckgeblieben und zwar in dem Ma\u00dfe, als rein physikalische Einfl\u00fcsse \u00fcberhandnahmen und jene Vorg\u00e4nge mechanisirten, die fr\u00fcher von freier Willensbestimmung abh\u00e4ngig waren. Und je mehr diese einseitige Entwicklung \u00fcberhand nimmt, desto gleichf\u00f6rmiger gestaltet sich diese Organismenwelt, desto niedriger ist die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit, die nur noch den Nachwirkungen derselben unterworfen ist, wie ja ein Blick auf die Pflanzenwelt ohne weiteres lehrt. Nur noch die Befruchtungsvorg\u00e4nge, d. i. die Verschmelzung zweier einzelliger Wesen, denen sowohl freie Bewegung als auch Willensakte damit zukommen, erinnern an die urspr\u00fcngliche Herrschaft des Geistigen.\nIn gewisser Hinsicht besteht nun bei h\u00f6her entwickelten Thieren eine gewisse Uebereinstimmung mit den Pflanzen darin, dass eine Reihe von Organen den physikalischen und chemischen Einfl\u00fcssen, \u00fcberlassen bleibt, aber deshalb, weil hier der Geist ohne diese Entlastung keine weiteren Entwicklungsphasen eingehen k\u00f6nnte. So wurden die anfangs vielleicht noch mit Bewusstsein ausgef\u00fchrten Akte des Verdauens nach und nach in rein mechanische Geschehnisse umgewandelt, d. h. sie wurden nach und nach als reflectorische und automatische Bewegungen niederen Nervencentren \u00fcbertragen, die in zweckm\u00e4\u00dfiger Selbstregulirung dem Ganzen sich f\u00fcgen. Auf diese Weise entstand die nat\u00fcrliche Maschine, deren erste Einrichtung als denkbar einfachstes Gebilde noch in all ihren Bewegungen geistig beherrscht werden konnte, die aber nach und nach, weil sich das Geistige ein immer weiteres Arbeitsfeld schaffte, zum automatenhaften Handlanger herabsank.\nDiese ohne Zweifel vorhandene, nach und nach entstandene Zweckm\u00e4\u00dfigkeit kann nicht als eine subjective, vorhergesehene gedeutet werden, nicht also als eine von vornherein beabsichtigte, vielmehr ist das Gesammtproduct, der lebende K\u00f6rper, ein unbeabsichtigter Nebenerfolg. Wenn das Thier Nahrung aufnimmt, so gehorcht es einem Triebe, den es im Interesse seiner Erhaltung zu stillen bem\u00fcht ist, wenn sich aber dabei gewisse physikalische und physiologische Ver\u00e4nderungen in seinem Organismus abspielen, oder wenn sich nach Vorhandensein eines einfachen Darmes die Muskeln nach und nach","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n311\nmit den Nerven zu vollkommenen Verdauungsapparaten entwickeln, so bedeutet ein solches Hinausgehen \u00fcber den Zweck ein Wachsthum, eine Vervollkommnung, die nun ihrerseits wieder fortschreitet. In letzter Hinsicht ist dieses Fortschreiten ein Ausfluss der befestigten Willensmacht auf ihr k\u00f6rperliches Substrat. Er zwingt die Naturkr\u00e4fte in seine Dienste und verwerthet die Energien der objectiven Welt zum Aufbau des Organismus. So hat er als geistige Macht die Naturkr\u00e4fte in seine Dienste gestellt, um seine Erfolge dauernd niederzulegen, un^neue Wirksamkeit, neues Schaffen hinzuzuf\u00fcgen; die Organismen aber werden, vom Willen geschaffen, \u00bbeine Vorstufe der geistigen Entwicklung\u00ab (System 329).\nEine derartige Interpretirung des organischen Werdens und Selbstentwickelns des Geistes hat auch eine andere Auffassung des Zweckbegriffes zur Folge. Waren bei Schopenhauer Zweck und Motiv insofern gleich, als erreichter Zweck und verwirklichte Vorstellung ein und dasselbe sein sollten, so wird hier, den Bewusstseins- und Erfahrungsthatsachen entsprechend, das Wirkungsfeld\nerweitert.\t___\nSeit dem Auftreten der Entwicklungstheorie ist eine Zweckm\u00e4\u00dfigkeitslehre, wie sie sich lange in ihrer metaphysischen Bolle gefiel, nicht mehr m\u00f6glich. Thats\u00e4chlich k\u00f6nnte man nach der alten. Auffassung einen Organismus nur zweckm\u00e4\u00dfig nennen, wenn die Seele im Sinne eines Weltbaumeisters den Erfolg vorausd\u00e4chte, also Motiv und Endergebnis \u00fcbereinstimmten.\nDagegen w\u00fcrden nicht nur die Organismen, sondern auch alle gewordenen Geistessch\u00f6pfungen wie Staat, Beligion, Sitte, Sprache nicht mehr unter den Begriff des Zweckes fallen. Denn diese sind doch das Endergebnis unz\u00e4hliger Willensbestrebungen und nicht die Bealisirung vorausgedachter Vorstellungen. Gewiss, die subjective Zweckvorstellung f\u00fchrt zum objectiven Erfolg, aber sie kann kein Bild des letzteren genannt werden, und sehr oft liegt die Hauptbedeutung des objectiven Zwecks in jenen Eigenschaften, von welchen die subjective Vorstellung nichts enth\u00e4lt (System 331).\nDemnach kann man die Organismen und die organischen Sch\u00f6pfungen zweckm\u00e4\u00dfig nennen, weil sie zur Ausf\u00fchrung jener Lebensfunctionen bef\u00e4higen, aus deren primitivster Beth\u00e4tigung sie selbst allm\u00e4hlich hervorgingen, die geistigen Sch\u00f6pfungen zweckm\u00e4\u00dfig, weil","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nBastian Schmid.\nsie die Verwirklichung der geistigen Grundtriebe darstellen, aus deren Entfaltung sie sich allm\u00e4hlich entwickelt haben.\n\u00bbDie sch\u00f6pferische Energie, die sich in der organischen Natur beth\u00e4tigt, besteht daher niemals in einer absoluten Neusch\u00f6pfung, sondern immer nur in einer fortdauernden Differenzirung und Poten-zirung von Leistungen, die in ihren einfachen Formen urspr\u00fcnglich gegeben sind\u00ab (System 332).\nDass nun die entwicklungstheoretischen Ansichten Wundt\u2019s mit den von Darwin ausgesprochenen nicht im Einklang stehen, geht aus den bisherigen Darlegungen des Zweckgedankens sowohl als auch aus der Erfahrung hervor. Die geistigen Factoren haben auf die Entwicklung des Einzelnen wie des gro\u00dfen Ganzen stets einen bedeutenden Einfluss ausge\u00fcbt. Es ist begreiflich, wenn sich unser Philosoph vor allem gegen die Selection wendet. \u00bbAnderseits ist jedoch die Selectionstheorie selbst in dieser einseitigen (gemeint ist die \u00e4u\u00dfere Selection) den absoluten Zufall zum Sch\u00f6pfer der organischen Welt erhebenden Gestalt ebenso sehr logisch unm\u00f6glich, wie sie der Erfahrung widerstreitet. Sie ist logisch unm\u00f6glich, weil die Wahrscheinlichkeit, dass bei ganz beliebigen, individuellen Variationen eine n\u00fctzliche in einer hinreichenden Zahl von F\u00e4llen auftreten werde, um sich befestigen und fortpflanzen zu k\u00f6nnen, offenbar verschwindend klein ist. Man glaubt zwar diese Wahrscheinlichkeit dadurch erh\u00f6hen zu k\u00f6nnen, dass man auf die fast unbegrenzten Zeitr\u00e4ume hinweist, die zur Verf\u00fcgung stehen. Dies ist aber deshalb ein Irrthum, weil die Gr\u00f6\u00dfe der Zeiten die F\u00e4lle ung\u00fcnstiger ebensogut wie die F\u00e4lle g\u00fcnstiger Variation vermehrt\u00ab (System 321). \u2014 Und nun folgt in viel gewichtigeren Gr\u00fcnden ein Einwand gegen die Darwinsche Theorie, der ein stets wiederkehrender und nie zu beseitigender sein wird: Mit der Erfahrung steht die Zufallshypothese deshalb im Widerstreit, weil jene \u00fcberall lehrt, dass Selection, geschehe sie nun durch \u00e4u\u00dfere Natureinfl\u00fcsse oder durch k\u00fcnstliche Z\u00fcchtung, immer erst da ihre Hebel einsetzen kann, wo ein Anfang in bestimmter Richtung gegeben ist. Ein solcher Anfang schlie\u00dft aber \u2022nothwendig irgend einen objectiven Zweck bereits ein. Es entsteht daher die Frage: wo nimmt dieser urspr\u00fcngliche Zweck, ohne den alle secund\u00e4ren Einfl\u00fcsse nichts ausrichten w\u00fcrden, seinen Ursprung ? (System 321.)","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n313\nLassen wir vorderhand diese Frage offen, und gehen wir jetzt auch an diesen beiden Einw\u00e4nden vor\u00fcber, um die gegen den Darwinismus gerichteten Angriffe der Naturforscher zu h\u00f6ren. Da haben wir zun\u00e4chst solche Ansichten zu verzeichnen, welche in der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit kein Forschungsproblem sehen. War an sich der Zweckgedanke nicht gerade die st\u00e4rkste Seite Darwin\u2019s, so glaubten doch viele Forscher ihn \u00fcberhaupt negiren zu m\u00fcssen, wie K\u00f6lliker und N\u00e4geli. So sagt K\u00f6lliker in seinem Aufsatz: \u00bbUeber die Darwinsche Sch\u00f6pfungstljporie\u00ab in der Zeitschr. f. wissensch. Zool. Y 14. p. 174\u2014186 Jahrg. 1864: \u00bbDie teleologische allgemeine Anschauung Darwin\u2019s ist eine verfehlte. Die Variet\u00e4ten entstehen ohne Einwirkung von Zweckbegriffen oder eines Princips des N\u00fctzlichen nach allgemeinen Naturgesetzen und sind n\u00fctzlich oder sch\u00e4dlich oder indifferent\u00ab. Und N\u00e4geli (Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre 1884): \u00bbDie anorganische Natur im Ganzen und im Einzelnen wird von der exacten Wissenschaft zuweilen als ein System von Kr\u00e4ften und Bewegungen angesehen, die sich gegeneinander ins Gleichgewicht gesetzt haben und, wo dasselbe gest\u00f6rt wird, einem neuen Gleichgei^ichte Xzustreben. Die organische Natur ist ebenfalls sowohl als Ganzes wiedn-jbclem einzelnen Theil als solches ein viel complicirteres System von Kr\u00e4ften und Bewegungen, und die Aufgabe der phylogenetischen Wissenschaft ist es vor allem, die Ursachen der Gleichgewichtsstr\u00f6mungen und damit der stets fort eintretenden Ver\u00e4nderungen, nicht irgendwelcher anderer daraus sich ergebender Beziehungen aufzusuchen\u00ab.\nAbgesehen davon, dass ein solcher Standpunkt jeglichen Zweckgedanken in unberechtigter Weise ausschlie\u00dft, \u00fcbersieht er auch die grosse Kluft, die sich zwischen der organischen und anorganischen Natur aufthut und damit die bei der ersteren waltenden neu hinzugekommenen Complicationen (Kr\u00e4fte), und zwar diejenigen, auf Reize zu antworten im allgemeinen und die psychischen (Thierwelt) im be-sondern. Sodann gibt auch noch der Umstand zu denken, dass durch eine rein mechanische physikalische Naturbetrachtung die Wesen nicht von einem h\u00f6heren Standpunkte aus, der die Biologie im gro\u00dfen Stil, das gro\u00dfe Naturganze betrachtet, aufgefasst werden.","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nBastian Schmid.\nPr\u00fcfen wir jetzt den Einwand, dass kleine Ab\u00e4nderungen nicht im st\u00e4nde seien, eine Auslese zu veranlassen, oder deutlicher gesprochen, dass Darwin uns nicht erkl\u00e4ren k\u00f6nne, aus welchem Grunde sich diejenigen Organe, welche noch in ihren Anfangsstadien begriffen sind, also noch nicht selectionswerthig sind, sich fortbilden, um sodann hei der Auslese mit dem Pr\u00e4dicat \u00bbt\u00fcchtig\u00ab bedacht werden zu k\u00f6nnen. H\u00f6ren wir hier\u00fcber Darwin seihst (Entstehung der Arten p. 101) : \u00bbKann man es denn, wenn man sieht, dass viele f\u00fcr den Menschen n\u00fctzhche Ab\u00e4nderungen unzweifelhaft vorgekommen sind, f\u00fcr unwahrscheinhch halten, dass auch andere mehr oder weniger einem jeden Wesen seihst in dem gro\u00dfen und zusammengesetzten Kampfe ums Lehen vortheilhafte Ab\u00e4nderungen im Laufe vieler aufeinander folgender Generationen zuweilen Vorkommen werden?\nWenn solche aber Vorkommen, bleibt dann noch zu bezweifeln (wenn wir uns nur daran erinnern, dass offenbar viel mehr Individuen geboren als m\u00f6glicherweise fortlehen k\u00f6nnen), dass diejenigen Individuen, welche irgend einen, wenn auch noch so geringen Yortheil vor anderen voraus besitzen, die meiste M\u00f6ghchkeit haben, die anderen zu \u00fcberdauern und wieder ihresgleichen hervorzubringen? Anderseits k\u00f6nnen wir sicher sein, dass eine im geringsten Grade nachtheilige Ab\u00e4nderung unnachsichtlich zur Zerst\u00f6rung der Form f\u00fchrt. \u00ab\nWenn also Variationen Vorkommen \u2014 und deren Auftreten ist ohne Zweifel \u2014 so ist der Selectionswerth der variirenden Organe erst eine secund\u00e4re Erscheinung. Die Zuf\u00e4lligkeit der ersteren, um im Sinne Darwin\u2019s zu sprechen, ist beim Auftreten mitunter f\u00fcr die Art gleichg\u00fcltig, sie k\u00f6nnen auch wieder verschwinden. Es kann aber sein, dass unter den neu hinzugetretenen Merkmalen einige f\u00fcr das Wohl des Individuums von Yortheil sind, und diese bleiben daher bestehen. Es wird sich also stets darum handeln, ob ein Organ auf die Stufe \u00bbSelectionswerth\u00ab zu besitzen erhoben wird oder nicht. Erst dann kann von einer weiteren Entwicklung, die die k\u00fcnftige Art betrifft, die Rede sein. Nehmen wir Beispiele: Eine bestimmte Dichte des Pelzes oder des Gefieders, hervorgerufen durch strenge K\u00e4lte, l\u00e4sst die so ausger\u00fcsteten Individuen den Winter leicht \u00fcberleben; eine derartige Beschaffenheit des Kleides wird also ohne","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n315\nZweifel Selectionswerth haben. Ver\u00e4nderte Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse, wie sie bei Raupen \u00f6fters Vorkommen, rufen eine andere F\u00e4rbung hervor; (hierzu treten die zahlreichen Beispiele, die uns die Haus-thiere liefern).\nGute Constitution, an sich eine Selection, ertr\u00e4gt Hunger und Durst, ung\u00fcnstige klimatische und sonstige Verh\u00e4ltnisse viel leichter, als schwache, und ist auch den durch diese Verh\u00e4ltnisse hervorgerufenen Ver\u00e4nderungen zug\u00e4nglich und somit f\u00fcr Selectionswerthe schon pr\u00e4parirt. Unter den V\u00f6geln, welche viel Nachstellungen von Raubv\u00f6geln ausgesetzt sind, werdelf diejenigen, welche durch fortgesetzten Gebrauch ihrer Organe Sternum und Pneumacit\u00e4t der Knochen vervollkommnen, stets im Vortheil sein und denselben auch auf ihre Nachkommen \u00fcbertragen. Thiere, welche sich gegen Nachstellungen nicht durch Vertheidigungsmittel, auch nicht durch Schutzf\u00e4rbung oder Mimicry sch\u00fctzen k\u00f6nnen, sondern die lediglich auf die gro\u00dfe Production von Nachkommen angewiesen sind, werden durch jede Vervollkommnung dieser Anlage ihre Art \u00fcber andere Arten den Sieg davon tragen lassen. Und so k\u00f6nnen verschiedene Vervollkommnungen von Organen, kleine Ab\u00e4nderungen an den Flug-, Schwimmapparaten, am Schnabel, am Gebiss, Ab\u00e4nderungen, die aus verschiedenen \u00e4u\u00dferen Ursachen hervorgerufen wurden, sich zum Selectionswerth erheben, ohne von der Stammform endg\u00fcltig abzuweichen.\nStets wird also die Variation das Erste, das Vorausgehende, die Selection das Zweite sein; ohne erstere ist an eine Auswahl, an einen Fortschritt nicht zu denken. Zugleich muss au\u00dfer den gro\u00dfen Zeitr\u00e4umen noch die M\u00f6glichkeit von Pluralvariationen angenommen werden, verbunden mit verschiedenen anderen Verh\u00e4ltnissen wie Beg\u00fcnstigung und Festhalten erworbener Merkmale durch geschlechtliche Zuchtwahl, Oombinationen verschiedener Selectionsfactoren an ein und derselben Art, so dass z. B. scharfes Gesicht, gutes Geh\u00f6r, St\u00e4rke u. s. w. sich in einer Raubthierart vereinigen. Anderseits soll nicht vergessen werden, dass es der Natur ganz gleichg\u00fcltig ist, wenn der Kampf ums Dasein zu stark w\u00fcthet, wenn Hunderte von Arten aussterben, oder wenn durch Kreuzung bereits erworbene Merkmale wieder vernichtet werden.\nWenn auch die M\u00f6glichkeit der Entstehung von Selectionswerthen","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nBastian Schmid.\nimmerhin eine mehr als beachtenswerthe Hypothese bleiben wird, so ist doch ein anderer Einwand nicht aus dem Weg zu r\u00e4umen, n\u00e4mlich der von Eimer, Wundt u. a. gemachte, die Ursache der Variationen zu erkl\u00e4ren.\nDarwin seihst hat \u00fcber dieses Problem, ohne es der L\u00f6sung n\u00e4her zu bringen, viel nachgedacht und es schlie\u00dflich f\u00fcr unl\u00f6slich erkl\u00e4rt. H\u00f6ren wir Plate, der in seinem lehrreichen Buche \u00bbUeber Bedeutung und Tragweite des Darwinschen Selectionsprincipes\u00ab (Leipzig, Engelmann 1900 S. 14) unter anderem sagt: \u00bbBilliger Weise lie\u00dfe sich gegen Darwin nur etwa Folgendes sagen: Die Frage nach dem Ursprung der Ab\u00e4nderungen ist ungleich wichtiger als diejenige, welche Variationen erhalten bleiben, jene stellt das eigentliche Problem dar, diese ist nur von untergeordneter Bedeutung. In diesem Sinne meint Wolff (Beitr\u00e4ge zur Kritik der Darwin\u2019schen Lehre. Leipzig, Georgi 1898 S. 37): \u00bbWenn gezeigt ist, dass die Theorie von der Auslese des Besseren nichts erkl\u00e4rt, so hat die Frage, ob eine solche Auslese \u00fcberhaupt stattfindet, nur ein sehr untergeordnetes Interesse.\u00ab \u2014 Ich kann mich einer solchen Ansicht nicht anschlie\u00dfen, namentlich dann nicht, wenn sie, wie bei Wolff, so einseitig in der Werthsch\u00e4tzung \u00fcber das Ziel hinausschie\u00dft. Es handelt sich hier wieder um den alten Streit, ob die directe Ursache einer Erscheinung oder die Bedingung f\u00fcr das Inkrafttreten der Ursache wichtig ist. Der Streit ist offenbar m\u00fc\u00dfig, denn beide sind gleich wichtig. Wenn ein K\u00f6rper von einer schiefen Ebene hinabgleitet, so ist die Schwerkraft die directe Ursache, aber die Neigung der Unterlage die nothwendige Bedingung zu ihrer Beth\u00e4tigung, und ohne dass beide Zusammentreffen, kommt der K\u00f6rper nicht ins Gleiten. In der organischen Natur ist das Problem der Probleme die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit. Diese direct aus der Variabilit\u00e4t zu erkl\u00e4ren, geht nicht an, weil es zahllose Unvollkommenheiten und indifferente Merkmale gibt, welche beweisen, dass das organische Geschehen nicht \u00fcberwiegend Zweckm\u00e4\u00dfiges erzeugt. Wenn nun trotzdem die Anpassungen die Organismen in erster Linie beherrschen, so kann dies nur die Folge besonderer Bedingungen sein, welche Darwin im Kampf ums Dasein und in der Selection nachgewiesen hat und die als solche f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Anpassungen eben so wichtig sind wie die Faktoren, welche die Variabilit\u00e4t veranlassen.\u00ab","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n317\nSo sehr derartige Ansichten geeignet sind, den Darwinismus zu rechtfertigen, und so sehr die Entwicklungstheorie gewinnt, wenn man mit dem Darwinismus den Lamarckismus verbindet, so macht sich doch an dem ganzen Lehrgeb\u00e4ude ein bedenklicher Mangel geltend, die Abwesenheit des geistigen Factors. Die Einfl\u00fcsse des Psychischen auf das Physische wurden bereits oben zur Gen\u00fcge angewendet, und sie sind \u00fcberall da zu versp\u00fcren, wo wir \u00fcberhaupt auf ein Vorhandensein des Geistigen schlie\u00dfen k\u00f6nnen. So sind wir bei der einzelnen freilebenden Zelle, hei jenem Wesen, das nicht Thier, nicht Pflanze ist, zur Annahme psychischessFunctionen berechtigt, und man k\u00f6nnte kaum eine zwingendere Annahme f\u00fcr die Entwicklung h\u00f6her stehender Formen finden, als die Mitwirkung geistiger, specieller Willenserscheinungen. Das Ausstrecken von Pseudopodien, das Auftreten von Wimperhaaren, das Pulsiren von Vacuolen, das sind Functionen, die sich nie aus \u00e4u\u00dferen Beizen, aus Variationen mit darauf folgender Selection allein erkl\u00e4ren lassen, sie fordern vielmehr einen inneren Anlass, der nach und nach eine Herrschaft \u00fcber das Physische aus\u00fcbt, die nicht ohne Folgen auf den Organismus bleiben kann. Dieser Beherrschung durch das- Seelische haben sich die Pflanzen nach und nach entzogen. Ausgenommen d\u00fcrften au\u00dfer den Algen nur noch die Geschlechtsproducte aller Pflanzengattungen sein. Die willk\u00fcrliche Bewegung der m\u00e4nnlichen Zellen, das Zusteuern zum Ei, das durch \u00e4u\u00dfere Beize, z. Th. chemische veranlasst wird, ist ein Vorgang, der nicht ohne Annahme eines, wenn auch nur aufd\u00e4mmernden Bewusstseins erkl\u00e4rt werden kann. Was aber die anderen Bewegungen der Pflanze anbelangt, sei es Geotropismus, Heliotropismus, Bheotropismus u. s. w., Schlingbewegung, Schlaf- und Wachbewegung, Bewegung wie die Mimosa sie hervorbringt, so ist eine rein physikalische Interpretation viel einfacher und ausreichender, weil die Annahme eines Gesammtbewusstseins, das den ganzen Organismus beherrscht, eine willk\u00fcrliche, unbegr\u00fcndete und der psychische Zusammenhang nicht denkbar w\u00e4re. Um so mehr tritt hier der Darwinismus in den Vordergrund. Hier sind es Bodenbeschaffenheit und klimatische Verh\u00e4ltnisse und der stille Kampf ums Dasein u. s. w., Kreuzung, Vererbung, die Variation und Selection bewirken.\nAnders im Thierreich. Wundt selbst f\u00fchrt als Beispiel das","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nBastian Schmid.\nAxolotl an, einen Kiemenmolch, dessen Athmungswerkzeuge noch wenig differenzirt sind, so dass er sich zum Land- und Wasserthier entwickeln kann. Die Beispiele lie\u00dfen sich nat\u00fcrlich mehren.\nMan darf aber nie vergessen, dass die erreichten Erfolge ein Product verschiedener Eactoren sind. Wenn eine Raupe aus \u00e4u\u00dferen Anl\u00e4ssen gezwungen ist, eine andere als die gewohnte Pflanze aufzusuchen, so wird sie wahrscheinlich eine ausw\u00e4hlen, die der vorhergehenden an Geschmack \u00e4hnlich ist, oder wenigstens eine solche, die ihren Bed\u00fcrfnissen hehagt; wenn nun die ver\u00e4nderten Nahrungsverh\u00e4ltnisse eine Earbenver\u00e4nderung hervorrufen, so ist das ein unbeabsichtigter Nebenerfolg, Um gro\u00dfer K\u00e4lte zu entgehen, k\u00f6nnen nicht nur die V\u00f6gel, sondern auch die S\u00e4ugethiere Wanderungen antreten; werden aber gr\u00f6\u00dfere Landstriche von diesen ung\u00fcnstigen klimatischen Verh\u00e4ltnissen betroffen und stellen sich noch andere Hindernisse dem Thier entgegen, wie etwa hohe Gebirgsz\u00fcge, gr\u00f6\u00dfere Str\u00f6me, dann ist das Thier gezwungen zu bleiben und es k\u00f6nnen nun verschiedene M\u00f6glichkeiten eintreten. Es kann die ganze Art aussterben, es kann aber auch nach einer t\u00fcchtigen Auslese ein Winterkleid durch die K\u00e4ltereize hervorgerufen werden. W\u00e4rk es nun schon einem Theil dieser Tiere gelungen zu entkommen, so h\u00e4tten sich dieselben in einem g\u00fcnstigeren Klima nicht ver\u00e4ndert, und wir h\u00e4tten nun zwei Arten. In solchen wie den eben erw\u00e4hnten Beispielen haben die Willenseinfl\u00fcsse eine geringe Rolle gespielt. Nehmen wir andere Umst\u00e4nde an. Die Anpassung an die Umgebung, die Schutzf\u00e4rbung ist wohl gro\u00dfentheils durch psychische Beth\u00e4tigung mitbedingt. Es sind bekanntlich die W\u00fcstenthiere gelb, die Thiere im Norden und in den Schneeregionen wei\u00df und solche, die auf unsem Feldern leben, haben die F\u00e4rbung derselben angenommen. Eine landl\u00e4ufige Erkl\u00e4rung w\u00fcrde nun die sein: diejenigen Thiere, welche von Anfang an der Umgebung am meisten glichen, konnten sich leichter vor feindlichen Nachstellungen sichern als die anderen, und von dem; Nachkommen der Gesch\u00fctzteren werden wieder diejenigen, welche die beste Schutzfarbe hatten, die gr\u00f6\u00dfte Aussicht im Kampf ums Dasein gehabt haben u. s. f. Es ist also nicht ber\u00fccksichtigt, inwieweit die geistigen F\u00e4higkeiten der Thiere mitgespielt haben; sicher aber ist, dass sich die Gesch\u00f6pfe ihrer F\u00e4rbung bewusst sind. Eine verfolgte Fliege wird sich nach l\u00e4ngerem Herumjagen im Zimmer","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Der Wille in der Natur.\n319\nauf das schwarze Ofenrohr setzen, ein junger Hase, ein junges Rebhuhn legen sich instinktm\u00e4\u00dfig auf die Erde, wie eben auch die alten Thiere zu diesem Mittel greifen. Gerade derartige Instinkte zeugen von geistigen Beth\u00e4tigungen, die durch Generationen hindurch ge\u00fcbt und auf das Nervensystem \u00fcbertragen wurden.\nAus diesen Beispielen, die sich nat\u00fcrlich aus verschiedensten Gebieten herbeibringen lie\u00dfen, geht hervor, dass das Geistige, speciell der Wille durch fortw\u00e4hrende Uebung (im obigen Fall durch Anpassung) die Schutzf\u00e4rbung nicht nur erh\u00e4lt, sondern auch fortw\u00e4hrend beg\u00fcnstigt.\t^\nNoch mehr tritt das Geistige bei der Anlage von Wohnungen in den Vordergrund, und gerade diese n\u00e4here Umgehung ist dann nicht wieder ohne Einfluss auf die Lebensweise und z. Th. auch auf die \u00e4u\u00dfere K\u00f6rperbeschaffenheit. Ich erinnere an die rationell angelegte Bienenwabe zum Unterschied von dem Hummelnest und an die in H\u00fclsen steckenden Phryganidenlarven, an den nicht verh\u00e4rteten Hinterleih des Pagurus, soweit er in der Schale steckt.\nWie bereits erw\u00e4hnt, haben Thiere, welche vielen Nachstellungen ausgesetzt sind und geringe Vertheidigungsmittel besitzen, viel Nachkommen und umgekehrt. So legt der Adler, auf hohen unzug\u00e4nglichen Klippen wohnend und durch K\u00f6rperst\u00e4rke ausgezeichnet, nur 2\u20143 Eier, die auf der Erde nistenden V\u00f6gel dagegen eine ziemliche Anzahl und das Haushuhn endlich, weil man 'ihm fortw\u00e4hrend die Eier wegnimmt, brachte es zu einer erstaunlichen Virtuosit\u00e4t gegen\u00fcber seinen nahen Verwandten. Derartige Verh\u00e4ltnisse greifen allerdings schon auf die Organisation hin\u00fcber. Und gerade die ist es, welche durch den Willen so sehr beeinflusst wurde.\nFreilich darf man auch hier die \u00e4u\u00dferen Anl\u00e4sse nicht untersch\u00e4tzen, man darf nie vergessen, dass dieselben oft st\u00e4rker sind als die inneren, und dass der Wille manchmal gar nicht mehr in Betracht kommt. Anderseits hat man stets in Erw\u00e4gung zu ziehen, dass es sich, wie Wundt oft erw\u00e4hnt, nicht um beabsichtigte Erfolge bei einer Interpretation handelt, sondern gro\u00dfentheils um unbeabsichtigte, und gerade diese sind in ihren Wirkungen unberechenbar. So erstarken durch den Gebrauch die Sinnesorgane; Thiere mit unvollkommenen Schwimmwerkzeugen entwickeln dieselben durch Uebung zu zweckm\u00e4\u00dfigen Gebilden, Flugapparate, waren sie noch so unvollkommen, haben sich allm\u00e4hlich","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nBastian Schmid.\nzu erstaunlicher Leistungsf\u00e4higkeit gesteigert und dabei auf die ganze K\u00f6rperbeschaffenheit und die Lebensweise gro\u00dfen Einfluss ausge\u00fcbt. Leichtes K\u00f6rpergewicht, erreicht durch Pneumacit\u00e4t der Knochen, durch Fortfall eines Eileiters, eines Dickdarms, der Z\u00e4hne u. s. w., starke Brustmuskeln \u2014 alle diese Ab\u00e4nderungen sind nach obiger Lehre unbeabsichtigt.\nDen in all diesem Werden hervorstechenden Antheil des Geistigen kann man hei einiger Ueberlegung nicht ableugnen. Am thierischen Organismus arbeiten, wie hervorgehoben, nicht nur die \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcsse allein mit, er seihst ist es, der durch Beth\u00e4tigung dieser oder jener Organe eine Umwandlung herbeischafft, und alle diese Th\u00e4tig-keit geht schlie\u00dflich direct oder indirect auf den Willen zur\u00fcck, von dem der thierische Organismus beherrscht wird.\nWie eingangs des Aufsatzes erw\u00e4hnt, d\u00fcrfte es nicht geeignet sein, Wundt hinsichtlich seines Evolutionismus mit Schelling oder Hegel zu vergleichen. Der innere Abstand ist zu gro\u00df. Aber auch von Spencer trennt ihn eine gewaltige Kluft. Abgesehen davon, dass bei diesem Denker der Entwicklungshegriff nur eine ph\u00e4nomenale Bedeutung hat, ist derselbe nur der \u00e4u\u00dferen Erfahrung entnommen. Daher die Leugnung jeglichen Zweckes und der naturalistische, materialistische Charakter.\nHingegen verkn\u00fcpfen bekanntlich Wundt mit Fechner wichtige Punkte. Wenn auch Fechner auf eine Allbeseelung hinauskommt und vor einem Hylozoismus nicht zur\u00fcckscheut, wenn er seine Probleme manchmal sehr merkw\u00fcrdig begr\u00fcndet (auch wenn er nicht als Dr. Mieses spricht) und sein wissenschaftliches Denken nicht frei von religi\u00f6sen Einfl\u00fcssen ist, und wenn ferner manche seiner Ansichten einer vern\u00fcnftigen Naturbetrachtung hindernd im Wege stehen, so k\u00f6nnen seine Gedanken und seine Weltanschauung in Bezug auf die Anregung, die sie gaben, und den Kern, der in ihr enthalten ist, auf dauernden Werth Anspruch machen.\nEs ist charakteristisch f\u00fcr ihn, wenn er als Mann der Wissenschaft behauptet, dass man den einzelnen Zellen, aber nicht der ganzen Pflanze ein dunkles Bewusstsein zuschreiben kann, sodann aber doch wieder S\u00e4tze wie folgende niederschreibt: \u00bbWie sp\u00e4rlich w\u00fcrde \u00fcberhaupt nach Wegfall der Pflanzen aus dem Reiche der Seelen die Empfindung in der Natur verstreut sein, wie vereinzelt","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dfer Wille in der Natur.\n321\ndas Thier dann nur als Reh durch die \"W\u00e4lder streifen, als K\u00e4fer um die Blumen fliegen; und sollten wir der Natur wirklich Zutrauen, dass sie eine solche W\u00fcstenei ist, sie, durch die Gottes lebendiger Odem weht? Wie anders dies, wenn die Pflanzen Seelen haben und empfinden; nicht mehr wie blinde Augen, taube Ohren in der Natur dastehen, in ihr, die sich so vielmal seihst erblicket und empfindet, als Seelen in ihr sind, die sie empfinden; wie anders f\u00fcr Gott seihst, der die Empfindungen aller seiner Gesch\u00f6pfe gewiss in einem Zusammenspiel und Zusammenklang vernimmt, wenn die Instrumente dazu nicht mehr in weiten Zwischenr\u00e4umen von einander stehen. \u00ab\t\"\u00bb\nEs braucht nach den bisherigen Auseinandersetzungen wohl kaum bemerkt zu werden, dass sich Wundt, sobald er zu dem empirisch gegebenen Ausgangspunkte die von der Vernunft geforderte Totalit\u00e4t hinzuf\u00fcgt, diese Forderung als eine unbedingte ansieht, aber auch zugleich diese ideale Fortsetzung der realen Forschung als hypothetisch bezeichnet.\nZu solchen Hypothesen geben z. B. die auf scheinbar sehr realem Boden stehenden Vorg\u00e4nge der Zeugung, Zelltheilung Anlass, die nach Wundt eine dreifache Interpretation zulassen und die in letzter Hinsicht nur in unbestimmten Theorien ihre Erkl\u00e4rung finden. Ein anderes Beispiel, welches eine Erg\u00e4nzung der empirischen Thatsachenreihe bietet, ist die Frage nach der Beseeltheit der Materie. Wenn die einfachsten Organismen eine Art Bewusstsein haben, so ist es denkbar, dass das Psychische nicht mit einem Male in die Welt kam, dass dasselbe in einer noch tieferen Stufe, als man gew\u00f6hnlich annimmt, zu finden ist, und dass schlie\u00dflich selbst die Atome irgend einer psychischen Qualit\u00e4t nicht entbehren.\nDiese f\u00fcr eine physikalische und chemische Betrachtung ganz bedeutungslose Folgerung \u2014 bedeutungslos in dem Sinne, als die Annahme einer Beseeltheit die Wissenschaften nicht im geringsten f\u00f6rdert, sondern im Gegentheil eher hinderlich sein w\u00fcrde, ist nur in dem oben erw\u00e4hnten Sinne heachtenswerth. Sie w\u00fcrde aber auch formell unrichtig sein, wenn sie etwa mit Fechner darauf hinausk\u00e4me, eine Beseelung der Erde oder der Gestirne \u00fcberhaupt anzunehmen, weil hierzu in der Erfahrungswelt alle Anhaltspunkte fehlen\nWundt, Philos. Studien. XX.\t91","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nBastian Schmid. Der Wille in der Natur.\nund sodann eine solche Annahme die gr\u00f6\u00dften Widerspr\u00fcche in sich schl\u00f6sse.\nWundt\u2019s Naturauffassung ist uns gerade insofern sehr sympathisch, als sie von dem Naturforscher angenommen werden kann und sich anderseits in eine Welt- und Lebensanschauung einordnet, wie sie in ihrer empirischen Begr\u00fcndung wohl noch nie aufgestellt wurde.","page":322}],"identifier":"lit4485","issued":"1902","language":"de","pages":"300-322","startpages":"300","title":"Der Wille in der Natur","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:26:36.797660+00:00"}