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{"created":"2022-01-31T12:39:03.307107+00:00","id":"lit4488","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Thieme, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 360-381","fulltext":[{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\nYon\nKarl Thieme.\nLeipzig.\nDie philosophische Disciplin, die Wundt seihst noch mit dem herk\u00f6mmlichen Namen \u00bbReligionsphilosophie\u00ab zu bezeichnen pflegt, soll nach seiner Auffassung der Philosophie \u2014 die ich von ihm zuerst im Wintersemester 1883/84 in der Vorlesung \u00fcber \u00bbLogik und wissenschaftliche Methodenlehre\u00ab gelernt habe \u2014 eine Philosophie der Theologie sein. Ausdr\u00fccke wie Philosophie der Physik, der Geologie, der Physiologie k\u00f6nnen nach \u00bbEinleitung in die Philosophie\u00ab S. 85 nicht beanstandet werden, falls dadurch wirklich eine Behandlung angedeutet werden soll, welche die einzelnen Probleme in einen allgemeineren Zusammenhang bringt. Wie nun schon K\u00fclpe in seiner \u00bbEinleitung in die Philosophie\u00ab, 1. Aufl. S. 102, der Religionsphilosophie den Beruf bestimmt hat, eine Philosophie der Theologie zu sein, und in der zweiten Auflage S. 97 wiederholt, der Hauptsache nach erscheine sie als eine Philosophie der Religionswissenschaft, also auch der (positiven) Theologie, so m\u00f6chte auch ich unter diesem Titel \u00bbPhilosophie der Theologie\u00ab, von den Gedanken Wundt\u2019s ausgehend, die er ausdr\u00fcckt, einige methodologische Bemerkungen \u00fcber das Verh\u00e4ltniss von Philosophie und Theologie, Wissen und Glauben, theoretischer und praktischer Aufgabe der Philosophie machen.\nDie Theologie ber\u00fccksichtigt schon Wundt\u2019s Abhandlung \u00bbUeher die Eintheilung der Wissenschaften\u00ab im 5. Band der \u00bbPhilosophischen Studien\u00ab. In dem Schema der Geisteswissenschaften erscheint da unter den Wissenschaften von den Geisteserzeugnissen die \u00bbsystematische Theologie\u00ab. Vorher wird \u00bbReligionslehre oder systematische","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\t361\nTheologie\u00ab gesagt und ihr besonders nahes Yerh\u00e4ltniss zur Philosophie hervorgehoben.\nIn dem etwas sp\u00e4teren \u00bbSystem der Philosophie\u00ab hei\u00dft es zwar bei der Gliederung der Einzelwissenschaften nicht \u00bbTheologie\u00ab, sondern nur \u00bbReligionslehre\u00ab, aber vorher bei dem Thema \u00bbReligion und Philosophie\u00ab wird die \u00bbwissenschaftliche Theologie\u00ab als die bestimmte Einzelwissenschaft von der Religion, die zwischen der ab-stracten Theorie (Philosophie) und dem Leben (Religion) vermittle, in Pflicht genommen und in den Kreis jener Einzelwissenschaften gestellt, die auf den verschiedenen Gebieten die allgemeinen Probleme vorbereiten, die der Philosophie zufallen.\nIn der zweiten Auflage des Systems bemerkt man, dass sie nicht mehr die wissenschaftliche Theologie als die Einzelwissenschaft von der Religion nennt, sondern die Religionswissenschaft. So sagt diese Auflage auch bei der Gliederung der Einzelwissenschaften da, wo in jener Abhandlung die \u00bbsystematische Theologie\u00ab stand; aber als die parallele historische Disciplin bezeichnet sie \u00bbdie Religions- und Kirchengeschichte\u00ab, w\u00e4hrend fr\u00fcher von Religionsgeschichte allein geredet wurde. Und ein jener Gliederung neu hinzugef\u00fcgter Schlussabsatz erkl\u00e4rt, dass in ihr solche Gebiete \u2014 wie die Theologie \u2014 fehlen, die wegen ihrer praktischen Wichtigkeit als Lehrdisciplinen eine abgesonderte Stellung einnehmen, an sich aber nicht selbst\u00e4ndige Einzelwissenschaften, sondern Theilgebiete bestimmter allgemeinerer Wissenschaften sind. Gerade bei diesen Theilgebieten k\u00f6nne es \u00fcbrigens Vorkommen, dass sie zugleich in n\u00e4heren Beziehungen als die reinen Einzelwissenschaften zur Philosophie stehen, so dass sie Ueber-gangsglieder von jenen zu dieser darstellen. So sei die Theologie, insofern sie es mit dem Ursprung, der Geschichte und Kritik einer bestimmten Religionsanschauung und ihrer Glaubensurkunden zu thun hat, ein Theil der allgemeinen Religionswissenschaft und mit dieser auf die H\u00fclfe der Philologie, der Geschichte und der Psychologie angewiesen; auf der andern Seite aber, da sie au\u00dferdem \u00fcber die allgemeine religi\u00f6se und ethische Bedeutung der besonderen Glaubensanschauung, der sie dient, Rechenschaft geben will, stehe sie in naher Beziehung zur Philosophie.\nDiese Erkl\u00e4rung \u00fcber die Theologie ber\u00fchrt sich mit der, die in der zweiten Auflage der Logik (H, 2, S. 632) die Gr\u00fcnde angibt, aus","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nKarl Thieme.\nwelchen der Theologie in methodologischer Beziehung keine besondere Stellung in dem System der Wissenschaften angewiesen werden k\u00f6nne.\n\u00bbZu ihrer einen H\u00e4lfte, als Interpretation und Kritik der christlichen Ueber-lieferungen und als Geschichte der Kirche und ihrer Lehre, geh\u00f6rt die wissenschaftliche Theologie ganz und gar zu den philologisch-historischen Disciplinen, und zwar in den exegetischen Theilen zur Philologie, in den historischen zur Geschichte. Zu ihrer andern H\u00e4lfte aber, als sogenannte systematische Theologie, sucht sie, insofern sie \u00fcberhaupt den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu sein, die Religion mit den allgemeinen wissenschaftlichen Anschauungen, also in erster Reihe mit der Philosophie, in der diese allgemeinen Anschauungen ihren n\u00e4chsten Ausdruck finden, in Zusammenhang zu bringen. Insbesondere sind es Erkenntnisstheorie, Metaphysik, Ethik und Religionsphilosophie, mit denen sich auf diese Weise die systematischen Theile der Theologie, Dogmatik und theologische Ethik, auseinanderzusetzen haben. Demgem\u00e4\u00df sind denn auch auf diesen Gebieten die theologischen durchaus mit den im Folgenden zu schildernden philosophischen Methoden identisch. Aus diesem ganzen Verh\u00e4ltnis ergibt sich zugleich, dass die Theologie zwar, insofern sie concrete geschichtliche Erscheinungen und einen bestimmten Thatbestand religi\u00f6ser Anschauungen zu ihren Objecten hat, gegen\u00fcber der Philosophie eine Einzelwissenschaft ist, dass sie aber doch in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe als andere Einzelwissenschaften ihrerseits auf die H\u00fclfe der Philosophie angewiesen ist. Uebrigens ist auch das kein grunds\u00e4tzlicher Unterschied. Denn \u00e4hnliche Wechselwirkungen bestehen naturgem\u00e4\u00df aller Orten. Auch Physiologie, Geschichte und Socialwissenschaften f\u00fchren ja, wie wir sahen, auf philosophische Fragen zur\u00fcck, deren Beantwortung wiederum f\u00fcr die L\u00f6sung der einzelnen Probleme von prineipieller Bedeutung wird.\u00ab\nEndlich die \u00bbEinleitung in die Philosophie\u00ab \u00e4u\u00dfert sich wie die erste Auflage des Systems \u00fcber die Theologie auch nur bei dem Thema \u00bbPhilosophie und Religion\u00ab. Indem sich die neuere Theologie mehr und mehr dem Ziel einer wirklichen Religionswissenschaft zu n\u00e4hern suche, m\u00fcsse unvermeidlich zwischen Philosophie und Religion die Theologie als Mittelglied zu treten bem\u00fcht sein. Die Theologie als Wissenschaft ordne sich so einerseits als kritische Geschichte der Entstehung der Glaubens\u00fcberlieferungen und ihrer literarischen Urkunden den historischen und philologischen Disciplinen unter. Anderseits ber\u00fchre sie sich, insofern sie auf eine Erkenntniss des psychologischen Ursprungs der religi\u00f6sen Ideen und ihrer ethischen Bedeutung nicht verzichten k\u00f6nne, nahe mit der Psychologie und Ethik.\nIn den vorgef\u00fchrten Bemerkungen Wundt\u2019s \u00fcber die Theologie spiegeln sich die eigenth\u00fcmlichen Schwierigkeiten ihrer Begriffsbestimmung.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n363\nW\u00e4hrend sie nach der zweiten Auflage des Systems eine besondere Religionsanschauung \u2014 nat\u00fcrlich die christliche \u2014 zum Gegenstand hat und deshalb an sich nicht eine selbst\u00e4ndige Einzelwissenschaft, sondern ein Theil der allgemeinen Religionswissenschaft ist, wird sie in der \u00bbEinleitung\u00ab wieder zur Religionswissenschaft berufen als der selbst\u00e4ndigen \u00bbtheils historischen, theils psychologischen\u00ab Einzelwissenschaft von der Religion.\nE\u00fcr die logische Gliederung der Wissenschaften ist es freilich inconcinn, neben einer selbst\u00e4ndigen Wissenschaft von der Religion eine selbst\u00e4ndige Wissenschaft von der christlichen Religion, also von einer Art dieser Gattung, stehen zu lassen. Es liegt da nahe, entweder die Christenthumswissenschaft zu einem unselbst\u00e4ndigen Theil-gebiet der allgemeinen Religionswissenschaft zu machen, oder ihr das \u00bbZiel einer wirklichen Religionswissenschaft\u00ab zu stecken. Bei der logischen Gliederung der Wissenschaften kann man auch ruhig der Theologie die \u00bbkritische Geschichte der Entstehung der Glaubens\u00fcberlieferungen und ihrer litterarischen Urkunden\u00ab aufgehen, da die praktische Theilung der wissenschaftlichen Arbeiten ihr schon die Geschichte der Entstehung z. B. des Korans ahnehmen wird.\nDie im \u00bbSystem\u00ab 2 S. 6 erw\u00e4hnten Bem\u00fchungen um die Begr\u00fcndung einer allgemeinen Religionswissenschaft brauchen nur mit einer besonderen Wissenschaft von einer besonderen Religion zu rechnen, der Theologie oder Christenthumswissenschaft. Denn keine andre Religion ist gleicherma\u00dfen zum Gegenst\u00e4nde einer besondern Wissenschaft geworden, die nachhaltig als Glied in die Gesammtentwicklung der Wissenschaft bestimmt und bestimmend verflochten gewesen ist ; weshalb denn auch Theologie und Christenthumswissenschaft zu Wechselbegriffen geworden sind1).\nDas werden sie auch bleiben m\u00fcssen, wenn in Folge jener Bem\u00fchungen die Theologie ihrerseits die Aufgabe einer allgemeinen Religionswissenschaft \u00fcbernimmt. Dass dies mehr und mehr geschehe, berichtet die \u00bbEinleitung\u00ab von der Entwicklung der neueren Theologie. Welche Bestrebungen auch damit gemeint sein m\u00f6gen \u2014 auf die neuesten eines Tr\u00f6ltsch u. a. wird in der Literaturangabe zu dem betreffenden \u00a7 3 nicht hingewiesen \u2014 auch einer Methodologie,\n1) Ygl. Kahler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre. 2. Aufl. 1893, \u00a7 6.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nKarl Thieme.\ndie von Wundt\"\u2019s Auffassung des Verh\u00e4ltnisses zwischen Philosophie und Religion ausgeht, entsprechen sie jedenfalls nur, sofern sie die Theologie gerade als Christenthumswissenschaft allein f\u00fcr die berufene Wissenschaft von der Religion \u00fcberhaupt halten.\nEine wirkliche Religionswissenschaft ist ja einerseits Geschichte der Religionen, \u00bbReligions- und Kirchengeschichte\u00ab, wobei sie auf die H\u00fclfe fast aller \u00fcbrigen historischen Disciplinen (besonders der Mythologie und Ethologie) und der Philologie angewiesen ist. Anderseits erstrebt sie mit H\u00fclfe der Anthropologie und Individual- wie V\u00f6lkerpsychologie eine systematische Erkenntniss des religi\u00f6sen Lehens. Da aber in den religi\u00f6sen Elementen des geistigen Lehens die h\u00f6chsten Bed\u00fcrfnisse des menschlichen Gem\u00fcths befriedigt werden \u2014 eine Thatsache, deren Aufh\u00f6ren auch schon vom rein anthropologischen Standpunkt aus sehr unwahrscheinlich ist \u2014 so geb\u00fchrt der Religionswissenschaft eine einzigartige philosophische Bedeutung im Kreise der Einzelwissenschaften, wie weiter ausgef\u00fchrt werden wird. Von der Religionswissenschaft kommt aber wieder die wissenschaftliche Erkenntniss des Ohristenthums f\u00fcr die Philosophie der gegenw\u00e4rtigen Weltperiode in Betracht, da es als die vollkommenste der ethischen Religionen gegeben und zur allgemeing\u00fcltigen Religion zu werden bestimmt ist. Hat also die Religionswissenschaft um der bestimmten christlichen Religion willen jene Bedeutung, so wird die vorhandene Wissenschaft von dieser Religion, die wissenschaftliche Theologie, f\u00fcr die Methodologie die gegebene Religionswissenschaft sein. Mit der Einordnung der Theologie \u2014 als Religionswissenschaft \u2014 unter die Einzelwissenschaften kann und muss also die Auffassung verbunden bleiben, dass die Theologie \u2014 als Christenthumswissenschaft \u2014 in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe als andere Einzelwissenschaften in Wechselwirkung mit der Philosophie steht.\n\u00bbDa die Theologie \u00fcber die allgemeine religi\u00f6se und ethische Bedeutung der besonderen Glauhensanschauung, der sie dient, Rechenschaft gehen will, steht sie in naher Beziehung zur Philosophie\u00ab (System 2 S. 30). Diese Rechenschaft \u00fcber die allgemeine religi\u00f6se und ethische Bedeutung des Christenthums bleibt die philosophische Aufgabe der Theologie, auch wenn sie den wissenschaftlichen Dienst an der Religion \u00fcberhaupt \u00fcbernimmt. Er dr\u00e4ngt in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe als andere Einzelforschung auf Wechselwirkung mit der Philosophie und diese","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n365\nvollzieht sich zuh\u00f6chst in jener Rechenschaft. In der \u00bbLogik\u00ab a. a. 0. sagt Wundt, als sogenannte systematische suche die Theologie, \u00bbinsofern sie \u00fcberhaupt den Anspruch erhebt Wissenschaft zu sein, die Religion mit den allgemeinen wissenschaftlichen Anschauungen, also in erster Reihe mit der Philosophie, in der diese allgemeinen Anschauungen ihren n\u00e4chsten Ausdruck finden, in Zusammenhang zu bringen\u00ab. Der Ausdruck \u00bbdie Religion\u00ab in dieser Stelle \u00fcberrascht in ihrem Context, da dieser nur auf \u00bbdie christliche Religion\u00ab f\u00fchrt. Aber vielleicht schillert er hier nicht so ungenau wie hei manchen Philosophen zwischen der Bedeutung \u00bbChristenthum\u00ab und \u00bbdas ganze religi\u00f6se Lehen der Menschheit\u00ab hin und her, sondern soll wirklich dieses letztere bezeichnen. Jedenfalls ist es Wundt\u2019s Ansicht, dass, wenn sich die christliche Dogmatik und Ethik mit den philosophischen Disciplinen auseinandersetzen, die philosophische Geltung der Ge-sammterscheinung des religi\u00f6sen Lehens entschieden wird.\nNach der eben erw\u00e4hnten Erkl\u00e4rung Wundt\u2019s \u00fcber die Theologie ist sie \u00bbin viel h\u00f6herem Ma\u00dfe als andere Einzelwissenschaften ihrerseits auf die H\u00fclfe der Philosophie angewiesen\u00ab. Aber um den h\u00f6heren philosophischen Bedarf der Einzelwissenschaft Theologie zu verstehen, muss man begreifen, dass die Philosophie in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe als auf die H\u00fclfe anderer Einzelwissenschaften auf die der Theologie angewiesen ist.\nDurch Wundt\u2019s Definition der Philosophie ist der Inhalt der philosophischen Wissenschaft so bestimmt, dass der Zweck, den sie w\u00e4hrend ihrer ganzen historischen Entwicklung im wesentlichen festgehalten hat, auch nach seiner praktischen Seite der heutigen Stufe der Wissenschaft im ganzen wie der Theologie insbesondere angepasst erscheint.\nDie neueste Definition in der \u00bbEinleitung\u00ab (S. 19) umfasst auch den genetischen Haupttheil der Philosophie, die Erkenntnisslehre, und lautet: \u00bbPhilosophie ist die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen und die von der Wissenschaft benutzten allgemeinen Methoden und Voraussetzungen des Erkennens auf ihre Principien zur\u00fcckzuf\u00fchren hat\u00ab. Dem systematischen Haupttheil, der Principienlehre, f\u00e4llt die Aufgabe zu, die durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nKarl Thieme.\nSystem zu vereinigen. Er wird zun\u00e4chst in eine allgemeine Principien-lehre, gew\u00f6hnlich Metaphysik genannt, und in eine specielle zerlegt, diese wieder in Natur- und Geistesphilosophie und letztere endlich nach den haupts\u00e4chlichsten Geisteserzeugnissen in eine Reihe von Sondergebieten, die wiederum n\u00e4chste Mittelglieder bilden zwischen der allgemeinen Principienlehre und den besonderen Geisteswissenschaften: so die Ethik und Rechtsphilosophie, die Aesthetik und die Religionsphilosophie. Die besondere Geisteswissenschaft, die durch das Mittelglied der \u00bbReligionsphilosophie\u00ab mit der Metaphysik vermittelt wird, ist die Theologie. Ihre einzigartige H\u00fclfsleistung f\u00fcr die Philosophie h\u00e4ngt mit deren praktischem Zweck zusammen.\nDer Zweck der Philosophie besteht \u00fcberall in der Gewinnung einer allgemeinen Welt- und Lebensanschauung, welche die Forderungen unserer Vernunft und unseres Gem\u00fcths gleichm\u00e4\u00dfig befriedigen soll. In diesem Zweck sind zwei Zwecke enthalten: ein theoretischer, rein intellectuelle^ der in dem Streben unserer Vernunft nach Einheit und Zusammenhang des Wissens seine Wurzel hat, und ein praktischer, der der Gem\u00fcthsseite unseres Seelenlebens angeh\u00f6rt, und der nach einer Welt- und Lehensanschauung verlangt, die unseren Gem\u00fcthsbed\u00fcrfnissen gerecht wird.\nDer praktische Zweck der Philosophie bringt sie in nahe Beziehungen zur religi\u00f6sen Weltanschauung. Denn dass das Gem\u00fcth zur Befriedigung seiner sittlichen Forderungen und seines Gl\u00fccksbed\u00fcrfnisses in Glaubens\u00fcberzeugungen \u00fcber Welt und Lehen und entsprechendem Verhalten auf die Erlebnisse reagirt, ist die religi\u00f6se Function des Menschengeistes.\nDie Art und Weise, wie die Philosophie bis zur heute erreichten Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung dem praktischen Zweck nachkam, bedeutete eine Vermengung von Religion und Philosophie, Glauben und Wissen, Praxis des Lebens und wissenschaftlicher Theorie. Man verwechselte das wissenschaftliche Nachdenken \u00fcber einen Gegenstand mit dem Gegenstand selber. Das hing aber zusammen mit jener alten unheilvollen Uebersch\u00e4tzung des Theoretischen vor dem Praktischen und des Vern\u00fcnftigen vor dem geschichtlich Gewordenen, die noch im Zeitalter der Aufkl\u00e4rung durchweg herrschte. Die Aufkl\u00e4rungsphilosophie forderte eine reine Vernunftreligion, die die positive, \u00fcberlieferte zu ersetzen habe. Indem sie in dem Ganzen des","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n367\nphilosophischen Systems ein sich der Wissenschaft unterordnender Theil ist, also auch nur dasjenige Inhalt des Glaubens sein darf, was zugleich Object des Wissens ist, werden in den extremsten der so entstandenen Systeme die Unterschiede der wissenschaftlichen und der religi\u00f6sen Weltanschauung \u00fcberhaupt beseitigt: der endg\u00fcltige Inhalt des Glaubens reducirt sich auf eine bestimmte Anzahl wissenschaftlicher S\u00e4tze \u00fcber den allgemeinen Grund des Seins.\nDurch die Ueberwindung des einseitigen Intellectualismus tritt die mit Kant beginnende Entwicklung in einen scharfen Gegensatz zur Philosophie vorangegangener Zeiten, wenn es auch begreiflicher Weise an R\u00fcckf\u00e4llen bis in die Gegenwart herab nicht gefehlt hat. Wundt\u2019s Centennarbetrachtung \u00bbUeber den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte\u00ab schlie\u00dft mit der Feststellung: \u00bbGalt endlich der Aufkl\u00e4rungsphilosophie die verstandesm\u00e4\u00dfige Reflexion als der einzige Richter \u00fcber wahr und falsch, \u00fcber gut und b\u00f6se, und erblickte sie darum in der intellectuellen Besch\u00e4ftigung des Geistes das h\u00f6chste Gut, so hat die heutige Psychologie und Ethik erkannt, dass die h\u00f6chste menschliche Th\u00e4tigkeit der aus dem Gef\u00fchl erwachsende, das Denken wie das \u00e4u\u00dfere Handeln lenkende Wille ist, und dass darum das h\u00f6chste menschliche Gut ein guter Wille bleibt\u00ab. Und Wundt\u2019s Werthbestimmung des praktischen Zwecks der Philosophie entspricht der des sittlichen Ideals, hinter dem das theoretische Postulat der nat\u00fcrlichen Weltordnung an Dringlichkeit weit zur\u00fcckstehe. Wenn dieses verschw\u00e4nde, \u00bbso w\u00fcrde damit unser Verlangen die Welt der Erscheinungen begreifen zu wollen f\u00fcr immer unbefriedigt bleiben, aber die Welt unseres Willens, die sittliche Welt w\u00fcrde in unverminderter Macht fortbestehen. Verschw\u00e4nde dagegen das sittliche Ideal, w\u00fcrde jeder einzelne ethische Zweck zu einer vor\u00fcbergehenden T\u00e4uschung, die Weltgeschichte zu einer zusammenhangslosen Oom\u00f6die, die dem Vergessen anheimf\u00e4llt, sobald der Vorhang gefallen ist, \u2014 welcher andere Werth bliebe dann aller theoretischen Welterkenntniss, m\u00f6chte sie auch noch so tief und umfassend sein, als der einer m\u00e4\u00dfigen Befriedigung der Neugier, die mit dem ephemeren Bed\u00fcrfniss, dem sie gedient, in das n\u00e4mliche Nichts zur\u00fccks\u00e4nke, in welchem der rastlose Wille selbst, nachdem er sich an eingebildeten Zwecken ersch\u00f6pft, endlich Ruhe f\u00e4nde?\u00ab (Ethik 2 S. 564/5).","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nKarl Thieme.\nDer Primat des Lebens vor dem Wissen entscheidet auch das Verh\u00e4ltnis\u00ab der Philosophie zur religi\u00f6sen Weltanschauung. Der praktische Zweck der Philosophie darf nicht in der Absicht verfolgt werden, Religion durch Philosophie zu ersetzen. Alle philosophischen Bestrebungen sind von dem Punkte an verfehlt, wo sie darauf ausgehen, selbst religi\u00f6se Vorstellungen zu erzeugen. Die Philosophie hat gerade so wenig neue Religionen zu gr\u00fcnden, wie sie positive Rechtsordnungen zu stiften oder naturwissenschaftliche oder psychologische Entdeckungen zu machen oder durch neue Erfindungen zu n\u00fctzen hat. \u00bbEine Philosophie, die Religionslehre sein will, leidet unter dem n\u00e4mlichen Missverst\u00e4ndnisse wie eine Philosophie, welche die Aufgabe einer wissenschaftlichen Ethik darin erblickt, Moralgesetze zu geben, statt zu untersuchen, wie und warum Moralgesetze entstanden sind und entstehen m\u00fcssen\u00ab. Es ist ein Uebergriff der Philosophie auf ein ihr nicht geh\u00f6riges Gebiet, wenn sie nicht blo\u00df den sittlichen Forderungen des Gem\u00fcths reflectirend gegen\u00fcbertritt und sie in der von ihr errichteten Weltanschauung erkenntnissm\u00e4\u00dfig geltend macht, sondern diese als gesetzgebend dem Leben gegen\u00fcber betrachtet. Der Philosoph als solcher ist nicht Religionsstifter, Prophet, Reformator, sondern steht dem religionsgeschichtlichen Process selbst ebenso fern wie etwa der Staatenbildung. Die wissenschaftliche Philosophie ist ebenso wenig eine religi\u00f6se Weltanschauung wie ein Strafgesetzbuch oder eine Landesverfassung eine Wissenschaft ist. Religionsanschauungen sind geschichtlich gewordene und gleich anderen geistigen Sch\u00f6pfungen sich geschichtlich entwickelnde That-sachen. Mit dieser Erkenntniss wird die Sonderung der theoretischen Erkenntnissprobleme von den Aufgaben des praktischen Lebens auch f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis zwischen Philosophie und Religion ma\u00dfgebend. Die in der antiken Welt vorhandene Einheit von Leben und Lehre, von Wissen und Glauben ist f\u00fcr den modernen Menschen eine \u00fcberwundene Entwicklungsstufe.\nDie Erf\u00fcllung jenes praktischen Zweckes der Philosophie vollzieht sich also bei der gegenw\u00e4rtigen Stellung der drei Gebiete, Wissenschaft, Philosophie und Religion ganz anders wie fr\u00fcher. Zwischen der Philosophie als allgemeiner Wissenschaft und dem praktischen Leben stehen die bestimmten Einzelwissenschaften, die seine einzelnen Gebiete wissenschaftlich untersuchen. Die Philosophie tritt nirgends","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n369\njenem selbst unmittelbar gegen\u00fcber, sondern ihr Gegenstand sind die Ergebnisse dieser Einzelwissenschaften. In diesem Sinne bildet daher nicht das religi\u00f6se Leben selbst den unmittelbaren Inhalt der philosophischen Betrachtung, sondern diese steht auch hier zun\u00e4chst dem bereits wissenschaftlich verarbeiteten Thatbestand gegen\u00fcber, den ihr die Theologie entgegenbringt. Eben deshalb dr\u00fcckt der Name \u00bbPhilosophie der Theologie\u00ab genauer als \u00bbReligionsphilosophie\u00ab die wirkliche Aufgabe der Philosophie in der Richtung auf das religi\u00f6se Leben aus.\nDieses wird also von der Theologie zum Object ihrer Untersuchungen gemacht. Als Wissenschaft geh\u00f6rt nat\u00fcrlich auch sie nicht selbst zum religi\u00f6sen Leben, sondern ist verstandesm\u00e4\u00dfige Reflexion dar\u00fcber, die es denkend zu begreifen sucht. Das Theologi-siren ist ebenso wenig wie das Philosophiren etwas Emotionelles, ein das Gem\u00fcth befriedigendes Glauben, sondern intellectueller Art wie jede wissenschaftliche Th\u00e4tigkeit, es ist wissenschaftliche Analyse, logische Verarbeitung des Glaubens. > Das eigentliche Endergebniss der Theologie ist die Erkenntniss, dass das von ihr nach seinem Wesen richtig begriffene Christenthum die vollkommenste religi\u00f6se Weltanschauung ist. Das ist die Erkenntniss, die die Philosophie mit den durch die andern Einzelwissenschaften vermittelten Erkenntnissen zu einem widerspruchslosen Erkenntnisssystem zu vereinigen hat. In ihm ist in Form dieser theologischen Erkenntniss die religi\u00f6se Weltanschauung in die wissenschaftliche Weltanschauung eingeordnet. Dadurch ist aber nicht etwa diese theilweise selbst religi\u00f6s geworden. Denn sie nimmt nicht den religi\u00f6sen Inhalt oder die Gegenst\u00e4nde des christlichen Glaubens glaubend in sich auf, sondern nur die theologische d. h. wissenschaftliche Erkenntniss, welches religi\u00f6se Glauben das vollkommenste ist. Damit ist dem praktischen Zweck der Philosophie gen\u00fcgt, d. h. neben den Forderungen der Vernunft denen des religi\u00f6sen Gem\u00fcths zu ihrem Recht verholten, soweit das in einer Wissenschaft \u00fcberhaupt geschehen kann.\nAber sollte damit wirklich schon eine wissenschaftliche Weltanschauung gewonnen sein, welche die Forderungen der Vernunft und des Gem\u00fcths gleichm\u00e4\u00dfig befriedigt? Unsere letzten S\u00e4tze bed\u00fcrfen der Erg\u00e4nzung. Die Beziehungen zwischen der Theologie als der Einzelwissenschaft von der religi\u00f6sen Weltanschauung, den andern\nWun dt, PMlos. Studien. XX.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nKarl Thieme.\nEinzelwissenschaften und der die Ergebnisse aller Einzelwissenschaften zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung verarbeitenden allgemeinen Wissenschaft, der Philosophie, k\u00f6nnen sich nicht darauf beschr\u00e4nken, dass in dieser Weltanschauung neben dem philosophischen Ertrag der andern Einzelwissenschaften unverglichen mit ihm das theologische Resultat gilt, dass das Christenthum die vollkommenste religi\u00f6se Weltanschauung ist. Zwischen den drei Gebieten Theologie, System der andern Einzelwissenschaften und Philosophie m\u00fcssen mannigfache Wechselwirkungen stattfinden, die erst die unsre Vernunft und unser Gem\u00fcth gleichm\u00e4\u00dfig befriedigende einheitliche wissenschaftliche Weltanschauung ergeben.\nDa diese ein widerspruchsloses Erkenntnisssystem sein soll, muss vor allem auch an jenem einzelwissenschaftlichen, positiven Resultat der Theologie die philosophische Aufgabe gel\u00f6st d. h. gepr\u00fcft werden, ob der Inhalt der christlichen Weltanschauung mit dem philosophischen Ertrag aller andern Einzelwissenschaften widerspruchslos zusammenbestehen kann. Denn der Einheitstrieb der menschlichen Vernunft, der Widerspr\u00fcche zwischen den verschiedenen Gebieten unseres Wissens nicht duldet, macht sich nothwendig auch f\u00fcr das Verh\u00e4ltniss zwischen Wissen und Glauben geltend. Zwar sind Wissen und Glauben zwei von einander verschiedene Functionen des Menschengeistes, deren Motive und Zwecke nicht zusammenfallen, aber es bleibt doch immer g\u00fcltig, dass ihre Inhalte, da sie in einem und demselben Menschengeiste Platz finden m\u00fcssen, nirgends in Widerstreit mit einander gerathen d\u00fcrfen. Ist man dar\u00fcber einig, so ist es ein ziemlich gleichg\u00fcltiger Wortunterschied, ob man das religi\u00f6se und das wissenschaftliche System zwei Weltanschauungen nennt, die mit einander in Einklang gebracht werden m\u00fcssen, oder oh man sie als die sich erg\u00e4nzenden Bestand-theile einer Weltanschauung betrachtet. Wundt (System 1 S. 6) zieht jedoch den letzteren Ausdruck schon um deswillen vor, weil er von vornherein den Gedanken einer doppelten Wahrheit ausschlie\u00dfe. Der andere Ausdruck schlie\u00dft den Irrthum aus, dass ein und dieselbe Function, das Wissen, die gesammten Inhalte in einem und demselben Menschengeiste erfassen k\u00f6nne, dass die christlichen Glaubensobjecte in irgendwelchem Sinne Gegenst\u00e4nde des Wissens werden k\u00f6nnen. Die von der Philosophie zu erstrebende einheitliche Weltanschauung ist eine wissenschaftliche, nicht weil alle Gegenst\u00e4nde,","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n371\ndie sie zu ber\u00fccksichtigen hat, gewusst werden k\u00f6nnen, sondern weil diejenigen, die geglaubt werden m\u00fcssen, Inhalte der von der wissenschaftlichen Theologie berechtigten religi\u00f6sen Weltanschauung sind, und weil ihre Uebereinstimmung mit den Inhalten des Wissens wissenschaftlich gepr\u00fcft ist.\nDie Uebereinstimmung zwischen dem zu pr\u00fcfen, was die christliche Weltanschauung laut der wissenschaffliehen Theologie glaubt, und dem, was die Philosophie als Zusammenfassung alles au\u00dfertheologischen Wissens wei\u00df, ist die Endaufgabe der Philosophie, die Aufgabe ihres obersten Sondergebiets, der Philosophie der Theologie. Man kann diese Pr\u00fcfung aber auch als die philosophische Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie auffassen: die Bedeutung der Ber\u00fccksichtigung der Glaubensinhalte f\u00fcr eine Vernunft und Gem\u00fcth gleichm\u00e4\u00dfig befriedigende allgemeine Weltanschauung macht es begreiflich, dass die Wissenschaft vom Glauben sich selbst berufen f\u00fchlt, die allgemeine Richtung anzugeben, innerhalb deren der Glaube mit der auf dem Gebiet des Wissens beginnenden Verkn\u00fcpfung aller Erkenntnissinhalte zu einer Einheit in Uebereinstimmung bleibt. Der Ausdruck \u00bbPhilosophie der Theologie\u00ab meint ja eigentlich das Philosophien an der Theologie, an ihren Erkenntnissen. Aber ein 'Missverst\u00e4ndnis, das dabei an die von der Theologie getriebene Philosophie, an den philosophischen, allgemeinen, principiellen Bestandteil der Theologie d\u00e4chte, w\u00e4re nicht schlimm. Denn das richtige Philosophien der Theologie ist nicht verschieden von dem, was ein an der Theologie arbeitendes Sondergebiet der Philosophie zu leisten hat: Anwendung der allgemeinen Principienlehre oder Metaphysik auf die Theologie, Vermittelung zwischen den theologischen und den in der Metaphysik schon zusammengearbeiteten au\u00dfertheologischen Erkenntnissen.\nDas Problem der Philosophie, eine die Forderungen unsrer Vernunft und unsres Gem\u00fcths gleichm\u00e4\u00dfig befriedigende wissenschaftliche Weltanschauung zu gewinnen, das h\u00f6chste Problem der menschlichen Wissenschaft, wird also von der Philosophie der Theologie zu l\u00f6sen versucht. Ihre Bem\u00fchungen setzen nach dem eben Gesagten voraus, dass von der Metaphysik die au\u00dfertheologischen Erkenntnisse zu einem System der Welterkenntniss zusammengearbeitet sind. Der Ertrag, den die Philosophie der Theologie von der Metaphysik\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nKarl Thieme.\ngewinnt, besteht darin, dass nicht nur kein Bestandteil dieses Systems den wesentlichen Glaubensgegenst\u00e4nden widerspricht, sondern vielmehr seine h\u00f6chsten transcendenten Ideen diesen Glaubensgegenst\u00e4nden einigerma\u00dfen analog sind. Zwar nicht etwa die Existenz dieser Glaubensgegenst\u00e4nde kann die Metaphysik beweisen, so dass sie in Gegenst\u00e4nde des Wissens umgewandelt w\u00fcrden, wohl aber die Notwendigkeit, dass die Vernunft ihnen einigerma\u00dfen analoge Ideen denkt, die die Erfahrung \u00fcberschreiten. Mehr zu leisten ist die Philosophie weder berufen noch bef\u00e4higt. \u00bbInsbesondere muss sie v\u00f6llig davon abstehen, au\u00dfer jener Notwendigkeit der Idee auch die Notwendigkeit einer der Idee entsprechenden Realit\u00e4t aufzuzeigen\u00ab. Auf diesen Satz folgte in der ersten Auflage des Systems noch der folgende: \u00bbDie Philosophie kann die Notwendigkeit des Glaubens beweisen; ihn in Wissen umzuwandeln, dazu reicht ihre Macht nicht aus\u00ab. Aus welchen Gr\u00fcnden dieser Ausspruch in der zweiten Auflage S. 436 weggefallen sein mag, dar\u00fcber wollen wir keine Vermutung wagen. Jedenfalls ist der Beweis der Notwendigkeit jener philosophischen Vernunftideen etwas anderes als der Beweis der Notwendigkeit des religi\u00f6sen Gem\u00fcthsglaubens. Zu bestimmen, wie sich das Denken jener Ideen und das religi\u00f6se Glauben zu einander verhalten, ist wegen des praktischen Zwecks der Philosophie von gro\u00dfer Bedeutung. Sollte jenes Denken durch menschliche Gem\u00fcthsbed\u00fcrfnisse bedingt sein und durch seine Ideen die Ber\u00fccksichtigung der Glaubensgegenst\u00e4nde in einer Weltanschauung entbehrlich machen, die Vernunft und Gem\u00fcth gleichm\u00e4\u00dfig befriedigen soll?\nDie beiden Vernunftideen, die dem eigentlichen Glaubensinhalt einigerma\u00dfen analog sind, sind die des absoluten Weltgrundes und des absoluten Weltzwecks. Sie entstehen in der Philosophie der Geisteswissenschaften, die die geistige Welt, das Reich der Werthe, der Zwecke, des Willens, untersuchen. Und zwar sind Psychologie und Geschichte, insbesondere Ethologie, die empirischen Geisteswissenschaften, aus denen sich die Vernunftfragen nothwendig erheben, die von jenen Ideen beantwortet werden. Psychologische, historische, ethologische Erfahrung berechtigt zun\u00e4chst, zu ihr \u00fcber ihre Grenzen hinaus aber in ihrer Richtung hinzuzudenken die organische Verbindung der Menschheit zu einer einzigen sittlichen Gesammtpers\u00f6n-","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n373\nlichkeit. Das ist keine rein theoretische Vernunftidee, die f\u00fcr unser Handeln kein Interesse h\u00e4tte, sondern ein praktisches Ideal, das sittliche Menschheitsideal, das schlie\u00dflich jeder einzelnen sittlichen Handlung ihre Richtung zu gehen hat.\nEs ist aher auch keine rein theoretische Vernunftidee, bei der unser Gfem\u00fcth nicht mitwirkte, sondern ein ethisches Postulat desselben. Das Menschheitsideal liegt in der Zukunft, der wir zwar W\u00fcnsche und Forderungen entgegenbringen, von der wir aber schlechterdings nichts wissen k\u00f6nnen. Forderungen sind begr\u00fcndete W\u00fcnsche, solche also, die ihr Recht auf gewisse Thatsachen der Erfahrung st\u00fctzen k\u00f6nnen. Die Philosophie der oben genannten empirischen Wissenschaften hat zu beurtheilen, inwiefern die bisherige Erfahrung zum Postulat des Fortschritts der Menschheit zu jenem Ideal Anlass gibt. Sie darf dem bisherigen Verlauf der menschlichen Entwicklung die Zuversicht entnehmen, dass in der Richtung auf das Menschheitsideal alle Entwicklung verl\u00e4uft oder, wo sie in der Wirklichkeit abweichende Wege einschl\u00e4gt, wenigstens in dieser Richtung verlaufen sollte. Diese Zuversicht hat aher eben vielmehr die Bedeutung einer Forderung, die einem subjectiven G-em\u00fcthsbed\u00fcrfniss entgegenkommt, als einer nothwendigen Folgerung aus den ohjectiven Zeugnissen jener Wissenschaften. Gewiss bieten die empirisch nachweisbaren Entwicklungen des Gesammtgeistes Anf\u00e4nge dar zu der postulirten Entwicklung des Menschheitsideals im Gesammtverlauf der Menschheitsgeschichte: es sind uns empirisch Verbindungen Vieler zu einem Ganzen gegeben, der Stammesverband, die Familie, der Staat, die Gesellschaft, sogar die f\u00fcr gewisse allgemeinste Interessen sich ausbildende internationale Willensgemeinschaft der Culturv\u00f6lker. Aher dass dies Gegebene das Normale, der Anfang des Idealen ist und die abweichende Entwicklung in der Wirklichkeit das Nichtseinsollende, das ist keine rein theoretische, sondern eine durch unser moralisches Gef\u00fchl mitgewirkte Erkenntniss.\nEin Nehenerfolg der ethischen Forderung des sittlichen Menschheitsideals ist die Befriedigung des Gl\u00fccksbed\u00fcrfnisses des menschlichen Gem\u00fcths. K\u00f6nnen wir uns doch dieses Ideal vollkommener Willensgemeinschaft der ganzen Menschheit nur zugleich als einen Zustand vollkommensten Gl\u00fcckes, weil vollkommensten Friedens und freiester Entfaltung aller menschlichen Kr\u00e4fte denken.","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nKarl Thieme.\nDem Fortschritt der Menschheit zum sittlichen Ideal ordnet sich \u00fcbrigens eine Entwicklung ein, zu deren Beurtheilung theilweise die Philosophie der Naturwissenschaften berufen ist. Alles geistige Geschehen setzt physische Bedingungen und H\u00fclfsmittel voraus. Jene Verbindungen individueller Geister, aus denen die Gesammtentwick-lung des geistigen Lehens hervorgeht, bleiben \u00fcberall an Naturbedingungen gebunden, und sie wirken ihrerseits wieder auf die Natur zur\u00fcck, indem die Naturkr\u00e4fte der vereinten Energie menschlichen Wollens unterworfen werden. Das Ideal dieser Culturarbeit, das jenem inneren sittlichen Ideal entspricht, ist die volle Herrschaft \u00fcber die Erde, die Umwandlung dieser Wohnst\u00e4tte der Menschheit in ein gewaltiges Organ des Geistes. Die Naturphilosophie wehrt dem Gem\u00fcth, ihr Widersprechendes zu der empirischen Naturbeherrschung hinzuzutr\u00e4umen.\nDas sittliche Menschheitsideal wird von der Vernunft durch die \u00bbreligi\u00f6sen\u00ab Ideen erg\u00e4nzt. Sie muss zu ihm als der zur geistigen Entwicklung geforderten Folge den ad\u00e4quaten Grund dieser Entwicklung hinzudenken, um ihr Einheitsbed\u00fcrfniss zu befriedigen, das ihr gebietet, die empirisch gegebenen Erkenntnisse mit ihren nicht gegebenen Voraussetzungen zu einem in sich geschlossenen System von Gr\u00fcnden und Folgen zusammenzufassen. Zur Erg\u00e4nzung des sittlichen Menschheitsideals wird die Vernunft aber auch durch ihre naturphilosophische Unendlichkeitsidee bestimmt, durch das Nachdenken \u00fcber \u00bbden bestirnten Himmel \u00fcber mir\u00ab. Es fordert einen \u00fcber die Naturbedingungen des Menschheitsideals hinausreichenden Naturzusammenhang und dieser macht es sehr unwahrscheinlich, dass jene unsere geistige Welt die Totalit\u00e4t des geistigen Seins \u00fcberhaupt sei.\nAber ein geistiger Grund, der unsere von der Erfahrung aus erreichbare Idee geistiger Entwicklung \u00fcberschreitet, ist nicht nur ein theoretisches, sondern zugleich ein praktisches Postulat. Damit die naturphilosophischen Ideen der das Gem\u00fcth befriedigenden Geltung unsres sittlichen Menschheitsideals im Weltlauf nicht widersprechen, denkt die Vernunft die \u00bbreligi\u00f6sen\u00ab Ideen. M\u00f6gen wir es noch so weit bringen in der Herrschaft \u00fcber die Erde, schlie\u00dflich behalten die selbst der zu einer einzigen Gesammtpers\u00f6nlichkeit verbundenen Menschheit unendlich \u00fcberlegenen kosmischen M\u00e4chte die letzte","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n475\nEntscheidung. Die Entwicklung der Erde als Wohnst\u00e4tte der jetzt lebenden Menschheit hat einen Anfang gehabt und wird demzufolge ohne allen Zweifel auch einmal ein Ende haben. So erscheint auch das sittliche Menschheitsideal zeitlich begrenzt, verg\u00e4nglich, der Vernichtung preisgegeben und infolge dessen auch dem Werthe nach beschr\u00e4nkt und nichtig. Einen bleibenden Werth kann es in der Idee nur gewinnen, wenn es als Bestandteil einer unendlichen sittlichen Weltordnung, als Glied einer unendlichen Totalit\u00e4t gedacht wird, n\u00e4mlich als Folge eines letzten absoluten Weltgrundes, aus dem es eine Folge, aber nicht die letzte Folge ist: als Mittel zu dieser, dem absoluten Weltzweck, gedacht, behauptet es seinen unverg\u00e4nglichen Werth im Weltprocess.\nBeim Denken der beiden Ideen des absoluten Weltgrundes und des absoluten Weltzwecks wird das theoretische Interesse weit \u00fcberfl\u00fcgelt durch Antriebe, die im Gem\u00fcth liegen. In Bezug auf die zweite sagt Wundt in der \u00bbLogik\u00ab (I2, S. 416), die Ueherzeugung von einem au\u00dferhalb der Erfahrung gelegenen Weltzweck beruhe einzig und allein auf einem ethischen Postulate, sie sei ein Glaube, kein Wissen, weil die entscheidenden Zeugnisse f\u00fcr sie nur in uns selber liegen. \u00bbDenn wenn sich auch das sittliche Streben der Menschheit in zahlreichen objectiven Thatsachen verk\u00f6rpert hat, so w\u00fcrde diesen doch ohne unser hinzutretendes moralisches Gef\u00fchl nicht die geringste \u00fcberzeugende Kraft beiwohnen\u00ab.\nJe bestimmter eine Philosophie ihre h\u00f6chsten Ideen aus dem Gem\u00fcth ahleitet, um so leichter kann sie sein Postuliren derselben und sein religi\u00f6ses Glauben mit einander verwechseln. Aber die beiderseitigen Gegenst\u00e4nde sind eben nur einigerma\u00dfen analog. Jene philosophischen Ideen entbehren wegen ihrer absoluten Unendlichkeit jedes bestimmten Inhaltes. Diese Unbestimmtheit, zureichend weil un\u00fcberschreithar f\u00fcr das philosophische Denken, befriedigt nicht das religi\u00f6se Gem\u00fcth. Es will einen bestimmten vorstellbaren Inhalt. Darum glaubt es an Gott als den sch\u00f6pferischen Weltwillen, dessen pers\u00f6nlicher Willensakt der letzte Grund der gesammten geistigen Entwicklung sei, und an einen idealen Endzustand des eignen Daseins wie des Seins aller Dinge.\nDiese Glaubensvorstellungen begreift die Philosophie, sofern sie die Theologie nicht respectirt, nur als Symbole d. h. als Vorstellungs-","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nKarl Thieme.\nformen, in die sich jene nothwendigen transcendenten Vemunftideen verm\u00f6ge der geistig-sinnlichen Natur des Menschen nothwendig umwandeln. Eine vorurtheilslose Philosophie der Theologie dagegen hat der theologischen Erkenntniss gerecht zu werden, dass das gl\u00e4ubige Gem\u00fcth in seinen symbolischen Glaubensvorstellungen eine von ihm erlebte Wirklichkeit ausdr\u00fccken will. Wird dies nicht ber\u00fccksichtigt, sondern vorausgesetzt, dass das Gem\u00fcth in seinen Glaubensvorstellungen nichts anders ausdr\u00fccke als die von ihm postulirten Ver-nunftideen, so braucht sich die zusammenfassende Weltanschauung um jene nicht zu k\u00fcmmern, da sie ja ihren allgemeing\u00fcltigen Gehalt in diesen nothwendigen Ideen enth\u00e4lt. Eine solche Weltanschauung wird das religi\u00f6se Gem\u00fcth, dessen Vorstellen und Handeln sie nicht etwa selber ersetzen will, doch insofern befriedigen, als sie in diesem religi\u00f6sen Vorstellen und Handeln nicht etwa eine geistige Verirrung erblickt, sondern es unter dem Begriff des Symbols anthropologisch als nothwendig begreift. Mit H\u00fclfe einer wissenschaftlichen Theologie, der sie alle Voraussetzungen verbietet, die nicht in allgemein feststehenden Thatsachen der psychologischen Erfahrung ihre Rechtfertigung finden, wird sie erkennen, dass die christlichen Glaubensvorstellungen und Kultformen die vollkommensten sind, weil sie mit ihr \u00fcbereinstimmen, und sie wird diese Erkenntniss um so h\u00f6her sch\u00e4tzen, je ernster sie es mit der zu ihrem praktischen Zweck geh\u00f6rigen Befriedigung des religi\u00f6sen Gem\u00fcths nimmt.\nAber eine solche Weltanschauung erscheint als unbefriedigend f\u00fcr Gem\u00fcth und Vernunft, wenn das Glauben des Gem\u00fcths als Erkennen, geistiges Innewerden einer Wirklichkeit gilt. Dann muss eine Weltanschauung erstrebt werden, die, ohne sich mit dem Glauben an diese Wirklichkeit zu verwechseln oder deren wissenschaftlichen Beweis zu versuchen, das Einheitsbed\u00fcrfniss der Vernunft und das religi\u00f6se Gem\u00fcth dadurch befriedigt, dass sie die Uebereinstimmung der Wirklichkeit, die der christliche Glaube erkennt, mit der wissenschaftlich nachweisbaren Wirklichkeit nachweist. Mit dieser Uebereinstimmung ist aber nur gemeint, dass die wissenschaftliche Welterkenntniss der Glaubenswirklichkeit in keinem Punkte widerspricht, sondern in ihr einigerma\u00dfen analogen Ideen gipfelt. Es gilt hier dasselbe, was Wundt (Logik 2I, S. 421) von dem Weg sagt, eine schlie\u00dfliche Verbindung zwischen den rein theoretischen Vernunftideen und den","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n377\nethischen Postulaten zu finden, dass er immer nur dazu f\u00fchren k\u00f6nne, die allgemeine Richtung anzugehen, innerhalb deren der Glaube mit der auf dem Gebiet des Wissens beginnenden Verkn\u00fcpfung aller Er-kenntnissinhalte zu einer Einheit in Uebereinstimmung bleibt, dass es sich aber niemals darum handeln k\u00f6nne, irgend welche bestimmte Glaubensinhalte in die Sph\u00e4re objectiver Gewissheit zu erheben. Gegen Ranke\u2019s Teleologie, die \u00fcberall von der Idee einer unmittelbaren providentiellen Lenkung der Geschichte beherrscht ist, bemerkt Wundt einmal (Logik 2II, 2, S. 429) : \u00bbWie k\u00f6nnen wir uns unterfangen zu wissen, was f\u00fcr Gott Mittel und was f\u00fcr ihn Zweck ist?\u00ab und f\u00e4hrt dann fort: \u00bbMan kann es keinem Historiker verbieten, dass er die Gegenst\u00e4nde seines wissenschaftlichen Interesses mit seiner religi\u00f6sen Weltanschauung in Einklang zu bringen sucht. Aber eine andere Sache ist es doch, wissenschaftliche Voraussetzungen auf subjective religi\u00f6se Glauhensmotive zu gr\u00fcnden. Ein Astronom z. B. mag aus dem Anblick des Weltgeb\u00e4udes religi\u00f6se Erhebung sch\u00f6pfen. Aber er hat ebenso wenig das Recht, mit Copernicus die centrale Stellung der Sonne aus der Vollkommenheit Gottes, wie mit einigen Anticopernicanern des 16. Jahrhunderts den Stillstand der Erde aus der G\u00fcte Gottes abzuleiten\u00ab. Auch die theologie-philosophische Weltanschauung will dem Forscher nicht das Recht geben, seinen Glauben in seine wissenschaftliche Welterkl\u00e4rung eingreif en zu lassen, wohl aber das Recht, seinen Glauben an die Wirklichkeit eines vollkommenen und g\u00fctigen Gottes bei seiner wissenschaftlichen Natur- und Ge-schichtserkenntniss zu behaupten, ja aus ihr zu bereichern.\nWas aber den Anspruch des religi\u00f6sen Glaubens, Erkenntniss einer Wirklichkeit zu sein, anbelangt, dessen Ber\u00fccksichtigung den theologie-philosophischen Standpunkt bezeichnet, so wird ihm ein philosophischer Werth deshalb nicht zugeschrieben, weil es ihm an wissenschaftlicher Allgemeing\u00fcltigkeit gehricht. \u00bbSolche Ueberzeugungen m\u00f6gen f\u00fcr das gl\u00e4ubige Individuum noch so fest stehen, sie k\u00f6nnen immer nur insofern \u00fcber das einzelne Bewusstsein hinausreichen, als sie f\u00fcr ein anderes Bewusstsein eine \u00e4hnliche subjective Sicherheit besitzen.\u00ab Allgemeing\u00fcltigkeit habe aber nur das, was unabh\u00e4ngig von individuellen Vorbedingungen in den allgemeinen Gesetzen der Vernunft begr\u00fcndet ist.\nDer religi\u00f6se Glaube selbst will das keineswegs sein, kein Sach-","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nKarl Thieme.\nverst\u00e4ndiger h\u00e4lt ihn f\u00fcr unabh\u00e4ngig von eigener innerer Grunderfahrung, als ob er jedermanns Ding sei, ohne dass jeder selbst hat wollen die Erfahrung machen. Wenn die th\u00e9ologie-philosophische Weltanschauung die Glaubenswirklichkeit gelten l\u00e4sst, so t\u00e4uscht sie sich also nicht dar\u00fcber, dass diese auf einer anders bedingten Er-kenntniss beruht als die \u00fcbrige Wirklichkeit. Aber dass auch diese Glaubenserkenntniss zu Allgemeing\u00fcltigem, das in den allgemeinen Gesetzen des religi\u00f6sen Lebens begr\u00fcndet ist, sich fortentwickelt, daf\u00fcr beruft sich die Philosophie der Theologie auf die Religionsgeschichte, und dass die in dieser sich entwickelnde Glaubenserkenntniss nicht auch ein Weg zu Wirklichem sei, h\u00e4lt sie nur f\u00fcr ein intellectuali-stisches Yorurtheil. Indem sie den Wahrheitsgehalt der Religion nicht auf die Ideen der philosophischen Vemunfterkenntniss reducirt, was auch eine gewisse Umwandlung von Glauben in Wissen ist, hat sie den einseitigen Intellectualismus erst ganz \u00fcberwunden, den doch schon diese praktischen Ideen \u00fcberbieten.\nNicht diese Reduction soll durch die Wechselwirkung zwischen Philosophie und Theologie zu st\u00e4nde kommen, wohl aber soll sich dadurch die oben geforderte Uebereinstimmung zwischen Glaube und Wissen heraus-stellen. Es gilt, wie gesagt, die allgemeine Richtung anzugeben, innerhalb deren der Glaube mit den transcendenten Yernunftideen und den sonstigen Bestandtheilen wissenschaftlich-philosophischer Erkenntniss in Uebereinstimmung bleibt. Wenn nun z. B. die Philosophie von der Theologie den Nachweis erwartet, dass in den ethischen Religionen, vor allem in der vollkommensten derselben, im Ohristenthum, Gott ausdr\u00fccklich als ein unvorstellbares, nicht einmal in unzul\u00e4nglichen Symbolen zu erreichendes Wesen, also der Weltgrund auch von der Religion als absolut transcendent gedacht wird, so kann die Theologie diesen Nachweis nicht erbringen; denn der Glaube jener Religionen beansprucht in Vorstellungen, die empirisch gegebenes Ethische wie z. B. G\u00fcte idealisiren, das in Gott zu erreichen, was er erlebt hat. Wagt dagegen die Philosophie einmal selbst anzudeuten, dass die Gottesidee nur durchf\u00fchrbar sei, wenn Gott als h\u00f6chster Weltwille , an. dem die Einzelwillen theilnehmen und neben dem ihnen doch eine eigene, selbst\u00e4ndige Wirkungssph\u00e4re zukommt, und die Weltentwicklung als Entfaltung des g\u00f6ttlichen Willens und Wirkens gedacht wird, so d\u00fcrfte die theologische Untersuchung des christ-","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n379\nlichen Sch\u00f6pfungsglaubens, obwohl er den geistigen pers\u00f6nlichen Gott \u00fcber die Welt absolut \u00fcberordnet, doch nicht in andere Richtung weisen. Auch den Nachweis kann die Theologie erbringen, dass im Ohristenthum mythologische Gottesvorstellungen abgestreift werden, die unserer Kosmologie widersprechen, was z. B. auch die unber\u00fchrt von dem Sto\u00df der Atome im Luftreich schwebenden G\u00f6tter Epikurs thun.\nUeberhaupt sind gerade die geschichtlichen Beziehungen zwischen Glaube und Kosmologie f\u00fcr die Wechselwirkung zwischen Theologie und Philosophie in der th\u00e9ologie-philosophischen Weltanschauung recht instructiv. Wenn die Wissenschaft laut der Geschichte des geistigen Lebens die Mission erf\u00fcllt hat, den Glauben von den Problemen der Welterkl\u00e4rung zu entlasten und dadurch seinen bleibenden Inhalt klarer ans Licht zu stellen, so gilt das haupts\u00e4chlich von den kosmologischen Problemen. Kann ja auch die religionsvergleichende Theologie nachweisen, wie sp\u00e4rlich die kosmologischen Elemente in der vollkommensten Religion und ihrer israelitischen Vorstufe sind. Dass nicht das copernikanische, sondern nur das ptole-m\u00e4ische Weltsystem mit dem Glauben \u00fcbereinstimme, war ein in seinem Wesen nicht begr\u00fcndetes Vorurtheil, mit dessen Beseitigung die Wissenschaft ihm einen erheblichen positiven Dienst geleistet hat, indem sie auf einem bestimmten Punkte ihn zur Besinnung dar\u00fcber veranlasste, was in seinen Inhalten von wesenhafter Beschaffenheit ist und was nicht (vgl. Sieb eck, Religionsphilosophie S. 213). Zum Nichtwesentlichen geh\u00f6ren auch alle jene symbolischen Gottesvorstellungen, die der glaubende Mensch zum Ausdruck seiner Gottes-erkenntniss aus der Erkenntniss der Sinnenwelt entnommen hat. Mit Irrth\u00fcmern dieses Welterkennens behaftet werden sie im Fortschritt desselben als Aberglaube abgestreift. Dieser Fortschritt hat den Glauben nicht anders als f\u00f6rderlich ber\u00fchrt. Ein Astronom kann aus dem Anblick des Weltgeb\u00e4udes \u00bbreligi\u00f6se Erhebung sch\u00f6pfen\u00ab, was uns bedeutet: seinen Glauben an Gottes Vollkommenheit und G\u00fcte bereichern. Nicht dass die abergl\u00e4ubischen Gottesvorstellungen durch wenigstens kosmologisch m\u00f6gliche ersetzt werden ist wesentlich, sondern dass die Richtung aufs Unendliche verst\u00e4rkt wird, innerhalb deren der Gottesglaube mit den kosmologischen Erfahrungsthatsachen und Ideen in Uebereinstimmung bleibt.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nKarl Thieme.\nSo w\u00fcrde auch dem, was die neueste Geschichte des religi\u00f6sen Lehens lehrt, ein einseitiger Mysticismus widerstreiten, der den Glauben unbek\u00fcmmert um das Wissen in der th\u00e9ologie-philosophischen Weltanschauung zur Geltung br\u00e4chte. Dass dem religi\u00f6sen Gef\u00fchl aus der Quelle wissenschaftlichen Denkens immer neue Anregungen gekommen sind, kann nur derjenige verkennen, der nichts davon wissen will, dass auch die Religion nicht ohne Entwicklung, ohne fortw\u00e4hrende Anpassung an die sonstigen Bedingungen des geistigen Lehens bestehen kann.\nDas Verhalten der Philosophie zur Religion soll, wie oben betont, vor allem ein theoretisches, kein praktisches sein: sie soll nicht darauf ausgehen, selbst religi\u00f6se Vorstellungen zu erzeugen und dem Gem\u00fcth vorzuschreiben. Aber indem die Philosophie der Theologie den Glauben auf seine Uebereinstimmung mit dem Wissen pr\u00fcft, bleibt freilich eine indirecte praktische Wirksamkeit bestehen. Es ist ahn-' lieh wie bei jeder anderen Wissenschaft. Der Erkenntniss zu dienen ist der einzige Zweck der eigentlichen Wissenschaft. Aber dass diese auf die Praxis des Lebens ihre Einfl\u00fcsse aus\u00fcben kann und muss, ist dadurch nicht ausgeschlossen. Umgeben uns doch \u00fcberall die Spuren dieser Wirkungen, obwohl die Wissenschaft als solche den Aufgaben des Lebens fern steht. Wenn ihr Zweck zu einem der praktischen Lebenszwecke mitwirkt, so erh\u00f6ht das sicherlich ihren allgemein menschlichen Werth, und es mag sein, dass sie ohne solche Erfolge gar nicht bestehen k\u00f6nnte \u2014 aber an sich bleiben sie doch Nebenerfolge. Wenn die intellectuelle Verarbeitung der religi\u00f6sen Fragen, die theologie-philosophische Pr\u00fcfung des Glaubens auf seine Uebereinstimmung mit dem Wissen dazu mitwirkt, dass die Religion ihr Wesen reiner darlebt, die abergl\u00e4ubischen Beimengungen \u00fcberwindet und sich aus den vom Wissen angeregten religi\u00f6sen Gef\u00fchlen bereichert, so ist das ein Nebenerfolg des widerspruchslosen Erkennt-nisssystems, an dem die Philosophie der Theologie eine Vernunft und Gem\u00fcth gleichm\u00e4\u00dfig befriedigende wissenschaftliche Weltanschauung hat.\nAber auch hier gilt schlie\u00dflich, was der Name \u00bbPhilosophie der Theologie\u00ab fordert, dass die Philosophie dem religi\u00f6sen Leben selbst, auch nicht um an seiner Entwicklung praktisch mitzuwirken, unmittelbar gegen\u00fcbertreten soll. Vielmehr ist zur philosophischen Beein-","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Philosophie der Theologie.\n381\nflussung des religi\u00f6sen Lebens, insoweit \u00fcberhaupt die Wissenschaft eine solche beanspruchen darf, zun\u00e4chst, und unmittelbar die Einzelwissenschaft davon berufen, die ohnehin die praktische mit der theoretischen Tendenz verbindet, die Theologie, die Philosophie erst mittelbar, insofern n\u00e4mlich, als es ihr gelungen ist, auf jene einen Einfluss auszu\u00fcben. So soll ja auch auf dem Gebiete des Rechts die sogenannte Rechtsphilosophie nur eine Philosophie der Rechtswissenschaft sein, d. h. sie soll nicht die positive Rechtsordnung selbst feststellen oder, wo es w\u00fcnschenswerth scheint, berichtigen, sondern die Begriffe der Rechtswissenschaft, damit diese dann auf die Rechtsordnung einzuwirken versuche. Wenn es ein Gl\u00fcck zu nennen ist, dass sich das praktische Leben stets mit skeptischer Vorsicht neuen juristischen Theorien gegen\u00fcberstellt und vollends rechtsphilosophische Lehren erst einer langen Assimilation durch die juristische Wissenschaft bed\u00fcrfen, ehe es ihnen gelingt auf das Leben einzuwirken (System 1 S. 9), so gilt \u00e4hnliches von neuen theologischen Theorien und theologie-philosophischen Lehren. Was diese anbelangt, so soll die Philosophie der Theologie selbst vom Primat des religi\u00f6sen Lebens vor ihrem Wissen so tief durchdrungen sein, dass sie jene aufkl\u00e4rerischen Uebergriffe vermeidet, ihre Lehren gleich als gesetzgebend dem religi\u00f6sen Leben gegen\u00fcber zu betrachten. Zur theologiephilosophischen Weltanschauung geh\u00f6rt es, die langsame Anpassung der Religion an das ach! so langsam wirklich sicher werdende Wissen nicht als ein Ungl\u00fcck anzusehen, weil sie den unendlichen Werth des Glaubens f\u00fcr das Leben begreift, auch wenn er sich in triebkr\u00e4ftiger Spannung zum Wissen befindet.","page":381}],"identifier":"lit4488","issued":"1902","language":"de","pages":"360-381","startpages":"360","title":"Philosophie der Theologie","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:39:03.307113+00:00"}