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{"created":"2022-01-31T14:18:28.560658+00:00","id":"lit4490","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Vierkandt, A.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 20: 407-455","fulltext":[{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cuitur.\nVon\nA. Vierkandt.\nBerlin.\nEine wesentliche Eigenschaft der menschlichen Cuitur besteht darin, dass die einzelnen Culturgiiter Gruppen von festen Formen bilden, von denen alles menschliche Leben umfasst wird, in denen es verl\u00e4uft. Das gilt sowohl f\u00fcr Sitte, Recht und Oultus, wie f\u00fcr die Sprache, die Denkgewohnheiten und allgemeinen Anschauungen eines Volkes sowohl auf dem ethischen, wie dem religi\u00f6sen, dem politischen und anderen Gebieten, wie auch f\u00fcr die Erscheinungen der Technik und Wirthschaft, die verschiedenen Berufsarten oder die wissenschaftliche und k\u00fcnstlerische Th\u00e4tigkeit. Ueberall findet der Einzelne hier feste Geleise vor, in denen er sich im allgemeinen ebenso weiter bewegt, wie es die andern vor ihm gethan. haben und neben ihm thun. Die vorliegende Abhandlung versucht die Frage zu beantworten: auf welchen Ursachen beruht dieses Weiterbestehen der einmal vorhandenen festen Formen, diese Erhaltung der Cuitur?1) Im wesentlichen dieselbe Frage hat bereits Tarde in seinem epochemachenden Buche \u00bbLes lois de l\u2019imitation \u00ab zu beantworten gesucht. Zwar spricht er dort nur von der Bedeutung der Nachahmung f\u00fcr das Bestehen der Gesellschaft und Cuitur. Aber diese Nachahmung ist bei ihm ein sehr complexer Begriff, der bei genauerer Betrachtung eine F\u00fclle einzelner Factoren in sich fasst. Die folgende Skizze, die\n1) Die analoge Frage f\u00fcr die Erhaltung der Gruppe hat bereits Georg* Simmel behandelt: Schmoller\u2019s Jahrb\u00fccher, Bd. 22, S. 235 286 (\u00bbDie Selbsterhaltung der socialen Gruppe*).","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nA. Vierkandt.\nunter Zur\u00fcckdr\u00e4ngung alles Details lediglich die Hauptpunkte summarisch zu markiren versucht, unterscheidet sich von diesem Buch im Princip vor allem dadurch, dass sie die Analyse des complexen Thathestandes weiter zu f\u00fchren bestrebt ist.\nDass hei der Erhaltung der Oultur die Reflexion, die bewusste R\u00fccksichtnahme auf den Nutzen nur eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringe Rolle spielt, hegt bei den meisten Culturg\u00fctern auf der Hand Auch hier erweist sich jener Individualismus der Aufkl\u00e4rung als unzul\u00e4nglich, der \u2014 eine fast unvermeidliche Folge ihres psychologischen Substanzbegriffes und ihres Intellectualismus \u2014 die einzelnen Cultur-g\u00fcter als durch und f\u00fcr die isolirten Individuen geschaffen betrachtet. Zu l\u00f6sen verm\u00f6gen wir unser Problem vielmehr nur, wenn wir von der Thatsache ausgehen, dass alle Oulturg\u00fcter \u00fcberindividuelle Gebilde sind, dass es sich bei ihrer Erhaltung also um Beth\u00e4tigungen des Gesammtgeistes handelt, wobei wir mit Wundt unter dem letztgenannten Begriff \u00bbdie thats\u00e4chliche Wirklichkeit aller der psychischen Vorg\u00e4nge\u00ab verstehen, \u00bbdie innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft durch die Wechselwirkungen der psychischen Energien der Einzelnen zu Stande kommen\u00ab *). Bei dieser Auffassung verliert der Begriff des Gesammtgeistes den mystischen und unwissenschaftlichen Charakter, den ihm die Denkweise der Romantik beigelegt hatte und die popul\u00e4re Denkweise noch heute beilegt, indem sie ihn in geheimnissvoller, undefinirbarer Weise als ein Wesen auffasst, das zwischen und \u00fcber den Einzelnen eine selbst\u00e4ndige Existenz fristet. Begreiflich wird diese Verirrung, die einen fast unvermeidlichen R\u00fcckschlag gegen den Individualismus der Aufkl\u00e4rung bildet, durch das ausgesprochene Missverh\u00e4ltniss von Ursache und Wirkung, das uns hier wie bei allen Beth\u00e4tigungen des Gesammtgeistes entgegentritt. Auch bei unserem Problem verleugnet es sich nicht. Auf der einen Seite ein System von objectiven Gebilden, die wie Sprache, Sitte, Religion u. s. w. selbst\u00e4ndig \u00fcber dem Einzelnen schweben und an Wirksamkeit ihm weit \u00fcberlegen sind. Das Individuum w\u00e4chst von vornherein in sie hinein und ist im allgemeinen nicht im Stande einen erheblichen Einfluss auf sie auszu\u00fcben, w\u00e4hrend\n1) Wundt, Logik 2 II, 2, S. 295. Vgl. Wundt, Ethik 2 S. 499 und Wundt, System der Philosophie, S. 591.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n409\nes umgekehrt von ihnen aufs st\u00e4rkste beeinflusst wird. Auf der anderen Seite eine Reihe von Processen, denen jede Absicht der Erhaltung der Oulturgtiter fern liegt, die nicht einmal ein Bewusstsein der entsprechenden Wirkung in sich enthalten, und die von so geringer Absichtlichkeit und von so geringer St\u00e4rke sind, dass \u00fcberhaupt erst eine nachtr\u00e4gliche Reflexion sie sich zum Bewusstsein zu bringen vermag. Ein System von objectiven, \u00fcber den Einzelnen schwebenden festen Formen als einen beil\u00e4ufigen Effect derartiger Bewusstseinsvorg\u00e4nge zu begreifen erscheint auf den ersten Blick als ein verzweifeltes Unternehmen. Allein das geistige Leben wird allgemein von einem derartigen Missverh\u00e4ltnis von Ursache und Wirkung, von einer Tendenz der Selbststeigerung beherrscht, von der wir als besondere F\u00e4lle mit Wundt das Princip der sch\u00f6pferischen Synthese, das Wachsthum der geistigen Energie und die Heterogonie der Zwecke anf\u00fchren k\u00f6nnen1). Unsere Aufgabe beschr\u00e4nkt sich daher darauf, im vorliegenden Falle diese merkw\u00fcrdige Thatsache, die wir als von vornherein gegeben hinnehmen m\u00fcssen, uns durch eine m\u00f6glichst eingehende Beschreibung und Zergliederung der einschl\u00e4gigen Erscheinungen nach Kr\u00e4ften verst\u00e4ndlich zu machen.\nWir sto\u00dfen dabei freilich auf gewisse Schwierigkeiten, auf die wir hier zun\u00e4chst kurz hinweisen. Es sind ihrer wesentlich drei. Sie wurzeln in der allgemeinen Natur des geistigen Lebens und der Unm\u00f6glichkeit, sie ad\u00e4quat darzustellen. Erstens kann die Analyse der Erscheinungen nicht den Grad erreichen, der dem logischen Bed\u00fcrfnis gen\u00fcgen w\u00fcrde. Sie kann nur \u00bbTheilinhalte des Bewusstseins\u00ab analysiren, \u00bbderen jeden sie als einen unl\u00f6sbaren Zusammenhang von Eigenschaften festh\u00e4lt, die stets an einander gebunden und daher m diesem Sinne unanalysirhar sind\u00ab2). Die Zergliederung f\u00fchrt also immer wieder auf complexe Vorg\u00e4nge; es l\u00e4sst sich daher eine partielle Wiederholung nicht vermeiden, insofern gewisse elementare Processe bei verschiedenen Complexen zur Darstellung kommen. Zweitens geht die Analyse in anderer Beziehung oft zu weit. \u00bbAlle jene Theilinhalte des Bewusstseins, welche die psychologische Analyse unter-\n1)\tVgl. Wundt, Logik 2 H, 2, S. 267\u2014281. Wundt, Ethik 2 S. 265. Wundt, System der Philosophie S. 314\u2014318 und S. 343\u2014345.\n2)\tWundt, Logik 2 n, 2, S. 60.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nA. Yierkandt.\nscheidet und zum Zweck der wissenschaftlichen Verst\u00e4ndigung noth-wendig unterscheiden muss\u00ab, sind ja in Wahrheit \u00bbnicht real getrennte oder auf ein einziges gleichartiges Element zur\u00fcckf\u00fchrbare That-sachen\u00ab, sondern \u00bbunaufl\u00f6slich an einander gebundene Bestandtheile unseres geistigen Lebens, so dass irgend ein psychischer Erfolg niemals aus einem der Theilinhalte allein, sondern immer nur aus ihrer aller Verbindung abgeleitet werden kann\u00ab1). Die isolirende Darstellung muss diesen Zusammenhang zun\u00e4chst vernachl\u00e4ssigen; sie kann aber \u00bbden Fehler einer Umwandlung der Abstractionsproducte in reale Vorg\u00e4nge\u00ab durch eine \u00bbnachfolgende Synthese\u00ab vermeiden. Diese Synthese werden wir im Folgenden jedoch zum gro\u00dfen Theil dem Leser \u00fcberlassen. Selbst jene Wechselwirkung zwischen den Einzelnen oder zwischen einem Einzelnen und der ihn umgebenden Gruppe, die bei jeder einzelnen der im Folgenden er\u00f6rterten Ursachen zur Geltung kommt, werden wir nur theilweise explicite darstellen, in anderen F\u00e4llen denjenigen Theil der Vorg\u00e4nge, der sich in dem Einzelnen abspielt, isolirt zur Darstellung bringen. \u2014 Ein dritter Fehler der Darstellung besteht darin, dass sie die St\u00e4rke und den Grad der Bewusstheit der Processe \u00fcbertreiben muss. Indem diese in die Sph\u00e4re der intellectuellen Betrachtung erhoben werden, erscheinen sie uns gleichsam wie in einem Hohlspiegel, gesteigert und \u00fcbertrieben. Es ist kaum ganz zu vermeiden, dass \u00bbdie psychologische und die erkenntniss-theoretische Analyse der Thatsachen, die nachtr\u00e4glichen Reflexionen des wissenschaftlichen Beobachters und die psychischen Motive der Erscheinungen\u00ab in einander flie\u00dfen. \u00bbDer Fehler ... ist um so schwieriger zu \u00fcberwinden, weil die logischen Vorg\u00e4nge, wenn auch nicht in der abstracten Form, in der wir sie . . . zu Grunde legen, doch immerhin in einer alle anderen psychischen Elemente durchdringenden concreten Beth\u00e4tigung wirklich zu den Grundbestand-theilen des seelischen Lebens geh\u00f6ren\u00ab2).\nWir wenden uns jetzt unserem Problem selbst zu. Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der festen Formen der Cultur k\u00f6nnen wir in zwei Gruppen eintheilen, je nachdem sie vorwiegend unmittelbar der Natur des individuellen Bewusstseins und der Art der innerhalb der\n1)\tWundt, Logik 2 H, 2, S. 63.\n2)\tWundt, Logik 2 n, 2, S. 61.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n411\nGemeinschaft stattfindenden Wechselwirkungen oder vorwiegend der Natur der (Kulturg\u00fcter selbst, wie sie dem Bewusstsein erscheinen, entflie\u00dfen. Die erstere Gruppe verh\u00e4lt sich gegen den specifischen Inhalt der jeweiligen einzelnen (Kulturg\u00fcter von vornherein gleichg\u00fcltig, die letztere entspringt deren wahrem oder vermeintlichem Werth. Wir bezeichnen die erstere als die formalen, die letztere als die sachlichen Gr\u00fcnde. Wir beginnen mit der ersteren.\nI. Die formalen Gr\u00fcnde.\n1) Das Selbstgef\u00fchl. Dieses kann sowohl zu Leistungen, welche zu den bestehenden Culturformen in Widerspruch stehen, wie zu solchen, welche mit ihnen in Uebereinstimmung stehen, anreizen. Der erstere Typus, als dessen Beispiel etwa die bekannte That des Herostrat dienen k\u00f6nnte, wird freilich angesichts des Gegengewichtes, welches die s\u00e4mmtlichen \u00fcbrigen hier weiter zu betrachtenden Factorcn in die Wagschale werfen, sich verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig selten realisiren. Bei dem zweiten Typus kann es sich wieder entweder um Leistungen handeln, die sich nur nach ihrer allgemeinen Qualit\u00e4t aber nicht im einzelnen den bestehenden Formen einf\u00fcgen, vielmehr, im einzelnen diese zu modificiren oder zu bereichern suchen, oder es kann sich um solche handeln, bei denen sowohl im ganzen wie im einzelnen jene Uebereinstimmung vorhanden ist. Den ersteren Fall repr\u00e4sentiren Bestrebungen, welche die im allgemeinen hei einer Gruppe gangbaren Mittel, sich Ansehen zu verschaffen, in neuen Modificationen benutzen. Hier handelt es sich also eigentlich gar nicht um das Weiterbestehen, sondern vielmehr um die Neugestaltung von Culturg\u00fctern. Insbesondere alles Aufbringen neuer Moden kommt hier in Betracht. Im zweiten Fall treibt das Selbstgef\u00fchl den Menschen an, mit den bereits vorhandenen Formen der Gesellschaft sich aus R\u00fccksicht auf die \u00f6ffentliche Meinung in Uebereinstimmung zu setzen oder zu erhalten. Das Selbstgef\u00fchl kann dabei entweder eine positive oder eine negative Wirkung aus\u00fcben. Das erstere ist da der Fall, wo die Beth\u00e4tigung vorhandener fester Formen wegen der damit verkn\u00fcpften Befriedigung des Selbstgef\u00fchls mit einem positiven Lustgef\u00fchl verkn\u00fcpft ist; insbesondere da, wo der Einzelne innerhalb des gegebenen festen Rahmens eine gewisse Selbst\u00e4ndigkeit dadurch","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nA. Vierkandt.\nentfalten kann, dass er die vorhandenen Br\u00e4uche in etwas gesteigertem Ma\u00dfe aus\u00fcbt. Es kommen hier vorz\u00fcglich eine Eeihe von Sitten, Umgangsformen und dergleichen in Betracht, besonders Formen, die sich auf Tracht, \u00e4u\u00dferes Benehmen und \u00e4hnliches beziehen. Hier bieten ja die Verh\u00e4ltnisse dem Einzelnen eine gewisse M\u00f6glichkeit, sein Benehmen vorz\u00fcglich hinsichtlich der Intensit\u00e4t, mit der bestimmte Formen beobachtet werden, etwas zu individualisiren. Besonders weisen wir noch auf jene Br\u00e4uche und Formen hin, durch die einzelne Gesellschaftsclassen sich von andern unterscheiden. Welche Befriedigung gew\u00e4hrt z. B. dem angehenden Studenten die strenge Beobachtung aller Formen des Comments! Oder manchen Gesell-schaftsclassen die Beobachtung gewisser besonderer Formen, durch die dem Ehrbegriff Gen\u00fcge geleistet wird! (Siehe Hr. 7.)\nIn negativer Weise wirkt das Selbstgef\u00fchl ebenfalls dahin, den Einzelnen vor Abweichungen von den bestehenden Formen der Cultur zur\u00fcckzuhalten. Es kommt dabei eine mehr innerliche und eine mehr \u00e4u\u00dferliche Form in Betracht. Bei der ersteren denken wir vorz\u00fcglich an die Wirksamkeit des Pflichtgef\u00fchles, welche ja zum gro\u00dfen Theil ein Ausfluss der Selbstachtung ist. Genauer werden wir die Frage, warum Pflichtgef\u00fchl und Selbstachtung hei der Bewahrung fester Formen interessirt sind, erst weiter unten beantworten k\u00f6nnen. (Siehe Nr. 8.) Bekannter und leichter verst\u00e4ndlich ist die zweite Art der Wirksamkeit des Selbstgef\u00fchles, die Furcht, sich Tadel und Missachtung der Gesellschaft durch ein Abweichen von den gewohnten Bahnen zuzuziehen. Indem wir auch hier die Beantwortung der Frage, warum die Gesellschaft die Verletzung ihrer Lehensgewohnheiten mit Tadel und Missachtung bestraft, auf sp\u00e4ter verschieben (siehe Nr. 5), beschr\u00e4nken wir uns darauf, die Wirksamkeit dieses Factors an. einigen Beispielen zu erl\u00e4utern.\nWir w\u00e4hlen dazu die Befolgung der Gebote der Etikette und des Herkommens. Wie weit die Ueberwindung von Unlustgef\u00fchlen hier gehen kann, zeigen Erscheinungen wie die stoische Buhe des gefangenen Indianers auf der Folter oder die der Jugend der meisten Naturv\u00f6lker bei den Pubert\u00e4tsceremonien, Thatsachen wie der Selbstmord in allen denjenigen F\u00e4llen, in denen die Sitte ihn fordert, wie z. B. beim Harikiri der Japaner, oder auch das wesenverwandte Duell. Auf tieferen Stufen ist die Furcht vor Verletzung des","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde \u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n413\nHerkommens im ganzen wohl noch gr\u00f6\u00dfer als bei uns, weil das Selbstgef\u00fchl des Einzelnen dort nicht etwa schw\u00e4cher, sondern eher st\u00e4rker entwickelt ist1), derart dass F\u00e4lle, wo Kr\u00e4nkung des Selbstgef\u00fchles zum freiwilligen Tode f\u00fchrt, hei den Naturv\u00f6lkern nichts Seltenes sind2).\nDem Einfluss, den das Selbstgef\u00fchl auf praktischem Gebiet auf die Beobachtung des Herkommens aus\u00fcbt, entspricht ein ganz \u00e4hnlicher auf theoretischem Gebiet. Es wirkt auch hier darauf hin, dass der Einzelne sich mit den herrschenden Denkgewohnheiten, bevorzugten Anschauungen, Zeitstr\u00f6mungen, wissenschaftlichen, k\u00fcnstlerischen, politischen, religi\u00f6sen Moden und dergleichen oder den sittlichen Ideen seiner Zeit nicht in Widerspruch setzt. Zu einem solchen Widerspruch geh\u00f6rt n\u00e4mlich nicht blo\u00df viel eigene Initiative, sondern mindestens eben so viel Muth und Selbst\u00e4ndigkeit. Denn auch hier verh\u00e4ngt die Gesellschaft .\u00fcber Abweichungen dieselbe Missachtung und denselben Tadel wie auf dem praktischen Gebiet. Es gibt in den Augen der meisten Menschen nichts Vernichtenderes f\u00fcr eine Anschauung, als dass sie von niemandem getheilt wird, nichts L\u00e4cherlicheres f\u00fcr einen Einzelnen als sich zu einer derartig isolirten Auffassung zu bekennen. Nat\u00fcrlich wird dadurch nicht nur manche th\u00f6richte Extravaganz, sondern auch viel Gutes unterdr\u00fcckt und erstickt. Die \u00fcbertriebene Werthsch\u00e4tzung, die die Eltern heute mit Vorliebe auf die Erfolge ihrer Kinder in der Schule legen, ist z. B. eine derartige zweischneidige Mode.\n2) Die Freude am K\u00f6nnen. Sie beruht auf der Verschmelzung zweier Vorg\u00e4nge, n\u00e4mlich der Lust an der Th\u00e4tigkeit und der Regungen des Selbstgef\u00fchles. Dass die Th\u00e4tigkeit als solche unter gewissen Bedingungen und innerhalb gewisser Grenzen von Lustgef\u00fchlen begleitet ist, ist sicher. Welche Befriedigung anderseits das Selbstgef\u00fchl aus der Bew\u00e4ltigung einer irgendwie gestellten Aufgabe sch\u00f6pft, ist ebenso klar. Insbesondere spielt dabei die Rivalit\u00e4t eine gro\u00dfe Rolle, derart, dass man neben der \u00bbFreude am K\u00f6nnen\u00ab\n1)\tVierkandt, Naturv\u00f6lker und Culturv\u00f6lker. S. 181 ff.\n2)\tYgl. Richard Lasch: \u00bbBesitzen die Naturv\u00f6lker ein pers\u00f6nliches Ehrgef\u00fchl?\u00ab Ztschr. f. Socialwissenschaft. Bd. Ill, S. 837\u2014844.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nA. Vierkandt.\nauch von einer \u00bbFreude am Besser-K\u00f6nnen\u00ab sprechen darf1]. Diese Freude am K\u00f6nnen beg\u00fcnstigt die Erhaltung der vorhandenen Cultur-formen offenbar deswegen, weil diese Formen jener Begung einen bequemen Stoff zur Verf\u00fcgung stellen. Sie stellen ja gleichsam feste Bahnen dar, in denen die menschliche Energie sich deswegen mit Vorliebe ergie\u00dft, weil in ihnen der in Bede stehende Affect am leichtesten seine Befriedigung findet. Besonders f\u00fcr das erste Aus\u00fcben einer fest geregelten Th\u00e4tigkeit, mag sie nun sportlicher oder beruflicher Art sein, kommt dieser Factor in Betracht. Auch die an sich wegen ihrer Einf\u00f6rmigkeit und Unselbst\u00e4ndigkeit wenig Befriedigung gew\u00e4hrenden Erwerbs- und Berufsarten werden in der ersten Zeit von den Meisten, die sich ihnen widmen, weil die Th\u00e4tigkeit innerhalb ihres Bahmens dem Selbstgef\u00fchl Gen\u00fcge leistet, mit einer gewissen Neigung ausge\u00fcbt. Und auch bei allen mit dauernder Befriedigung verkn\u00fcpften Berufen pflegt eben deswegen die Lust zu ihnen am Anf\u00e4nge besonders gro\u00df zu sein.\n3) Mangel an Initiative. Es handelt sich hier um eine That-sache, die man auch als Mangel an Spontaneit\u00e4t bezeichnen k\u00f6nnte \u2014 um die Thatsache n\u00e4mlich, dass das menschliche Denken und Handeln im allgemeinen die gewohnten Pfade vor neuen bevorzugt, neue nur widerwillig, selten und unter Anstrengungen beschreitet. Wir gewahren diesen Mangel nicht nur bei den Naturv\u00f6lkern, wo er sich u. a. darin \u00e4u\u00dfert, dass der Culturschatz eines Stammes viel h\u00e4ufiger durch Entlehnung fremder als durch eigene Sch\u00f6pfung neuer Culturg\u00fcter bereichert wird, sondern auch noch auf der H\u00f6he unserer Cultur z. B. in der Unf\u00e4higkeit des Durchschnittsmenschen zum andauernden logischen Denken, wie wir sie tagt\u00e4glich im Gespr\u00e4ch um uns beobachten k\u00f6nnen. Sein logisches Niveau ist bekanntlich durchweg sehr niedrig, nicht blo\u00df bei M\u00e4nnern, die \u00fcberhaupt nicht logisch geschult sind, sondern auch bei solchen, die innerhalb ihres Berufes h\u00f6heren Anforderungen gen\u00fcgen, au\u00dferhalb seiner aber sofort eine Stufe sinken, derart, dass ihre logische Leistungsf\u00e4higkeit gleichsam nur als eine angelernte \u00e4u\u00dfere Fertigkeit, als ein vor\u00fcbergehend\n1) Vgl. Karl Groos, Die Spiele der Thiere. S. 294\u2014296. Karl Groos, Die Spiele der Menschen. S. 248 ff. und S. 498.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n415\nangelegtes Gewand erscheint, aber nicht mit ihrem ganzen Wesen verwachsen ist. Aehnlich ist es auf dem Gebiet der Technik und Industrie. So gro\u00df ihre Leistungen auch sind, so handelt es sich bei ihnen meist doch mehr um Modificationen und Verbesserungen im Einzelnen als um wirklich bahnbrechende Leistungen. Auf wie wenig selbst\u00e4ndigen Sch\u00f6pfungen z. B. baut sich das ganze Reich der Technik der Kriegsf\u00fchrung auf. Bei den Naturv\u00f6lkern handelt es sich trotz der verwirrenden F\u00fclle der einzelnen Formen immer nur um einige wenige Grundformen, wie Bogen, Speer, Schild, Keule und Schwert \u2014 Formen, die wir bereits auf recht niedrigen Culturstufen antreffen. Auf eine bahnbrechende neue Sch\u00f6pfung sto\u00dfen wir von da ab erst wieder in der Neuzeit in Gestalt der Schusswaffen. Lehrreich ist ferner der Mangel an rationellem Charakter, das Ueberwiegen der Ueberlieferung und des Herkommens \u00fcber die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit bei den Ger\u00e4then des t\u00e4glichen Lebens, bei den Leistungen des Handwerks und der Industrie \u2014 eine Eigenschaft, die Herbert Spencer einmal einer eingehenden W\u00fcrdigung unterzogen hat.\nWie sehr die menschliche Vernunft selbst im wissenschaftlichen Leben lahmt, das sehen wir ferner an einem einzelnen Beispiel, an der langsamen Entwicklung der Fourier\u2019schen Theorie der W\u00e4rmeleitung, die uns Mach mit den folgenden Worten beschreibt: \u00bbJedem, der die Fourier\u2019sehe Theorie kennen lernt, wird dieselbe als eine gro\u00dfe Leistung erscheinen. Bedenkt man aber, aus was f\u00fcr einfachen Mitteln sich dieselbe zusammensetzt, welche von verschiedenen bedeutenden Menschen in dem Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert m\u00fchsam unter vielfachen Irrth\u00fcmern herbeigeschafft worden sind, so darf man wohl glauben, dass dieses Geb\u00e4ude unter g\u00fcnstigen \u00e4u\u00dferen und psychologischen Umst\u00e4nden wohl auch in recht kurzer Zeit h\u00e4tte zu Stande kommen k\u00f6nnen. Man lernt hieraus, dass auch der bedeutende Intellect mehr dem Leben als der Forschung angepasst ist\u00ab1). In derselben Gedankenrichtung liegt es, wenn v. Helmholtz die Art, wie die gro\u00dfen Probleme gel\u00f6st werden, dem planlosen Ersteigen eines unbekannten Berges vergleicht, bei dem man erst ganz zuletzt eine bequeme Stra\u00dfe erblickt, die man gleich h\u00e4tte benutzen k\u00f6nnen; oder wenn Werner von Siemens einmal sagt: \u00bbDie\n1) Mach, Prineipien der W\u00e4rmelehre. S. 124.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nA. Vierkandt.\nn\u00e4chstliegenden Erfindungen von principieller Bedeutung werden in der Hegel am sp\u00e4testen und auf den gr\u00f6\u00dften Umwegen gemacht\u00abl).\nDiesem Mangel an Initiative ist es zum gro\u00dfen Theil zuzuschreiben, dass \u00fcberall die alten Z\u00f6pfe so langsam abgeschnitten werden. Besonders innerhalb der Berufsth\u00e4tigkeit der Beamtenwelt, aber auch bei andern Berufen und Erwerbsarten ist dieses zum gro\u00dfen Theil aus blo\u00dfer Indolenz entspringende Haften am Ueberlebten, Alten h\u00e4ufig zu beobachten. Bei allen denjenigen Berufsarten, bei denen es sich um ein Herrschen und Befehlen handelt, wird die eben angedeutete eine psychologische Wurzel dieses conservativen Hanges deutlich in dem bekannten Worte, das so oft die Erkl\u00e4rung f\u00fcr derartige Erscheinungen abgibt: Quieta non movere \u2014 ein Wort, das uns so recht die Neigung enth\u00fcllt, diejenige Bahn zu bevorzugen, welche den geringsten Widerstand in sich enth\u00e4lt.\nBei diesem Widerstand, den wir hier als Mangel an Initiative bezeichnen, handelt es sich \u00fcbrigens nicht blo\u00df um den Widerstand des eignen Ich, welches sich schwer neuen Bahnen des Denkens oder Handelns zuwendet, sondern vielfach auch um denjenigen, den die Gesellschaft solchen Neuerungen gegen\u00fcber leistet; ein Widerstand, der sich passiv im Ignoriren, Todtschweigen u. dgl., aktiv im Widersprechen, Versuchen der Umstimmung u. \u00e4. \u00e4u\u00dfert. Wir erinnern hier an ein bekanntes Wort des Vicar of Wakefield: Er sei es oft m\u00fcde geworden im Kreise der Seinigen die Vernunft zu repr\u00e4sentiren. Die bekannte Beobachtung, dass ein gewisses Ma\u00df von Originalit\u00e4t, Selbst\u00e4ndigkeit und sch\u00f6pferischen Leistungen sich leichter in der Einsamkeit als im innigen Zusammenleben entfaltet, ja, vielleicht auch die h\u00e4ufige Eamilienlosigkeit des Genies d\u00fcrfte zum Theil dieselbe Wurzel haben.\nDieser Mangel an Initiative l\u00e4sst den Einzelnen die herk\u00f6mmliche Form offenbar deswegen bevorzugen, weil sie f\u00fcr ihn den Weg des geringsten Widerstandes darstellt. Das gilt sowohl f\u00fcr das theoretische wie f\u00fcr das praktische Leben. In den Wissenschaften werden die herrschenden Methoden und Anschauungen, in den K\u00fcnsten die herrschenden Stilarten zum gro\u00dfen Theil nicht blo\u00df oder nicht \u00fcber-\n1) Volkmann, Erkenntnisstheoretische Grundz\u00fcge der Naturwissenschaften. 8. 135.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n417\nwiegend wegen ihres innem Werthes, sondern ebenso sehr oder mehr aus reiner Bequemlichkeit, aus Mangel an eigener Spontaneit\u00e4t bevorzugt. Der Druck, den politische und religi\u00f6se Parteien durchweg auf das Denken ihrer Anh\u00e4nger aus\u00fcben, selbst solcher K\u00f6pfe darunter, die sonst ziemlich selbst\u00e4ndig sind, ist \u00e4hnlich zu erkl\u00e4ren: wer eine festgepr\u00e4gte Summe von Erscheinungen und Schlagworten nicht nur sich aneignen kann, sondern sich von den verschiedensten Seiten geradezu aufgedr\u00e4ngt sieht, der wird nur mit ziemlichem Kraftaufwand diesem fremden Gut gegen\u00fcber seine geistige Integrit\u00e4t zu wahren verm\u00f6gen. Dass die Beth\u00e4tigung der verschiedenen Berufsarten, der technischen und wirtschaftlichen Lebensformen sich immer wieder in denselben Bahnen bewegt, ist ebenfalls zum gro\u00dfen Theil hieraus zu erkl\u00e4ren. Nicht nur zweckm\u00e4\u00dfige sondern auch zwecklose oder ganz unzweckm\u00e4\u00dfige Bestandteile in ihnen werden auf diese Weise unverdient conservirt. Besonders deutlich kann man die Wirksamkeit dieses Factors auf dem Gebiet der Sitten erkennen. Die Sitte enth\u00e4lt f\u00fcr fast alle wichtigen typischen Erscheinungen und Schwierigkeiten des Lebens feste Bahnen des Benehmens, welche zugleich die bequemste Art darstellen, die etwa vorhandenen Schwierigkeiten zu beseitigen. Wieviel mehr eigener Initiative bed\u00fcrfte z. B. der Mensch, wenn es keine festen Formen f\u00fcr die Eheschlie\u00dfung oder bei Todesf\u00e4llen g\u00e4be. Wie die vorhandenen Umgangsformen \u00fcber manche Schwierigkeiten, insbesondere \u00fcber starke Spannungen hinweg helfen, indem sie wie mit einem weiten, gestaltlosen Mantel alle starken Affecte verh\u00fcllen und daran verhindern, sich sichtbar kund zu geben, ist oft genug ger\u00fchmt worden. Diejenigen Gesellschaftskreise, welche \u00fcber einen besonderen Comment zum Schutz ihrer Classenehre verf\u00fcgen, besitzen ebenfalls ein bequemes Mittel, die Schwierigkeiten zu l\u00f6sen, welche f\u00fcr einen Menschen aus der Verletzung seiner Ehre durch einen anderen sich ergeben. Alle diese Formen spielen offenbar eine \u00e4hnliche Bolle wie die Auskunft, die man sonst wohl in einer schwierigen individuellen Lage von einem bew\u00e4hrten Freunde erbittet und erh\u00e4lt: sie stellen einen Typus des Benehmens dar, welcher den Einzelnen mindestens durchweg vor Tadel und Missachtung bewahrt, in vielen F\u00e4llen auch zu demjenigen Verhalten f\u00fchrt, welches der Situation am meisten angemessen ist.\nDer eben betrachtete Factor ist offenbar vorz\u00fcglich f\u00fcr diejenigen Wundt, Philos. Studien. XX.\t27","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nA. Vierkandt.\nF\u00e4lle von Bedeutung, wo dem Einzelnen die in Betracht kommenden Formen der Cultur noch neu sind; theils also gegen\u00fcber solchen Culturg\u00fctem, deren Aus\u00fcbung ihrer Natur nach dem Einzelnen nur gelegentlich zuf\u00e4llt, wie etwa die Beobachtung bestimmter Sitten und Formen bei den gro\u00dfen Ereignissen des einzelnen Lebens, theils da, wo der Einzelne in die festen Bahnen des Erwerbs- und Berufslebens frisch eintritt. Sowie er sich l\u00e4nger in ihnen bewegt, tritt zu der negativen Wirksamkeit des Mangels an Initiative noch die positive Wirksamkeit eines andern Factors hinzu, zu dessen Betrachtung wir jetzt \u00fcbergehen.\n4) Die Uebung. Ihre f\u00fcr uns wesentlichste Wirkung besteht in der bekannten Erleichterung, welche sie jeder Th\u00e4tigkeit gew\u00e4hrt. Am deutlichsten ist diese bei allen k\u00f6rperlichen Fertigkeiten, welche einer besonderen Erlernung bed\u00fcrfen, durch diese aber v\u00f6llig automatisch werden. Der Gegensatz zwischen der au\u00dferordentlichen Anstrengung, welche das Abspielen des einfachsten Musikst\u00fcckes dem unge\u00fcbten Anf\u00e4nger bereitet, und der automatischen Sicherheit, mit welcher der Ge\u00fcbte das schwierigste St\u00fcck auch bei Ablenkung seiner Aufmerksamkeit bew\u00e4ltigt, zeigt uns diesen Einfluss in drastischer Weise. Auf seiner Verkennung beruht die durchg\u00e4ngige Ueber-sch\u00e4tzung der Leistungen aller M\u00e4nner, welche sich an hervorragenden Stellen des \u00f6ffentlichen oder privaten Lebens befinden. So bedeutend auch die Leistungen aller irgendwie f\u00fchrenden Geister in objectiver Hinsicht, d. h. nach der Seite ihrer Leistungen hin sind, so sind doch die subjectiven Anstrengungen, welche zum Beispiel mit dem Amte eines Ministers oder der sch\u00f6pferischen Th\u00e4tigkeit eines gro\u00dfen Gelehrten oder K\u00fcnstlers verbunden sind, vielfach kaum erheblicher als diejenigen, welche eine Th\u00e4tigkeit von mehr untergeordneter Bedeutung und mehr mechanischem Inhalte erfordert, weil der Einfluss der Uebung und der Gewohnheit in dem einen Falle eben so sehr wie in dem anderen zur Geltung kommt, und der Grad der Anstrengung sich weniger nach der H\u00f6he der Leistung an sich als nach ihrem Verh\u00e4ltniss zur Durchschnittsleistung des Einzelnen bemisst. Dieser erleichternde Einfluss der Uebung bildet eine der wichtigsten Grundlagen der menschlichen Cultur, indem er eine fortgesetzte Steigerung der objectiven Leistungen ohne ein entsprechendes Anwachsen","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fbt die Erhaltung der Cultur.\n419\nder subjectiven Schwierigkeiten erm\u00f6glicht. Yor allem hierauf beruht das au\u00dferordentliche Missverh\u00e4ltniss zwischen der subjectiven und der objectiven Seite der Cultur, zwischen den ihre Erscheinungen schaffenden Anstrengungen und den von ihnen ausgehenden Wirkungen \u2014 ein Missverh\u00e4ltniss, welches immer auf\u2019s Neue das Erstaunen des denkenden Beobachters hervorzurufen geeignet ist.\nDie Bedeutung der Uebung f\u00fcr die Erhaltung der Culturformen ist danach klar. Sie h\u00e4lt den Einzelnen in ihren festen Geleisen aus einem zweifachen Grunde fest. Erstens macht sie es ihm leichter sich in ihnen als au\u00dferhalb ihrer zu bewegen. Namentlich im h\u00f6heren Alter zeigt sich vorz\u00fcglich im Berufsleben die Bedeutung dieses Umstandes in Gestalt der bekannten Thatsache, dass hier die Leistungsf\u00e4higkeit innerhalb des Berufes, namentlich in den h\u00f6heren Berufsarten bis weit \u00fcber jene Altersgrenze sich erh\u00e4lt oder gar noch steigt, jenseits deren die allgemeine Leistungsf\u00e4higkeit vorz\u00fcglich neuen und ungewohnten Aufgaben gegen\u00fcber bereits wieder herabsinkt. Zweitens wirkt die mit der Uebung verbundene Mechanisirung auf die Regsamkeit und Variationskraft des Geistes l\u00e4hmend ein, wirkt also in demselben Sinne wie der eben betrachtete Mangel an Initiative. Von den Kreisen des Handwerkers an aufw\u00e4rts bis zu denjenigen des Gelehrten oder K\u00fcnstlers, die in ihren Methoden, in die sie sich einmal eingearbeitet haben, auch dann sich noch weiter fortbewegen, wenn diese lange nicht mehr die vollkommensten sind, erstreckt sich diese conservative und l\u00e4hmende Wirksamkeit der Uebung.\n5) Die Macht der Gewohnheit. Sie darf nicht mit dem Werth der Uebung verwechselt werden; die letztere n\u00e4mlich wirkt positiv, die erstere negativ hemmend, insofern die Uebung ein bestimmtes Thun erleichtert, die Gewohnheit aber als eine Art innerer Zwang den Menschen verhindert, dieses Thun mit einem anderen zu vertauschen. Am bekanntesten ist dieser eigenth\u00fcmliche Zwang der Gewohnheit bei ganz individuellen Lebensgewohnheiten, deren Aus\u00fcbung objectiv betrachtet f\u00fcr den Betreffenden keineswegs einen gr\u00f6\u00dferen Werth besitzt als die Beobachtung irgend welcher anderen Lebensformen, deren Unterlassung aber, mag es sich auch z. B. nur um die Gewohnheit handeln zu einer bestimmten Stunde einen Spaziergang zu machen, den Betreffenden Unbehagen verursachen w\u00fcrde. Den\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nA. Vierkandt.\nBegriff der Gewohnheit verstehen wir dabei nicht nur im praktischen, sondern auch im theoretischen Sinne. Neben Gewohnheiten des Benehmens und Handelns sprechen wir auch von Denk- und Vorstellungsgewohnheiten. Wo z. B. ein Aberglaube, wie derjenige \u00fcber die verh\u00e4ngnisvolle Macht der Zahl Dreizehn in einem sonst gebildeten und intelligenten Kopf seine Herrschaft behauptet, da kann man die Z\u00e4higkeit, mit der er jedem Versuch der Entfernung trotzt, nur mit derjenigen Hartn\u00e4ckigkeit vergleichen, mit der eine praktische Gewohnheit der t\u00e4glichen Lebensordnung sich gegen alle Versuche der Ab\u00e4nderung wehrt. F\u00fcr die Erhaltung der Culturformen ist die Thatsache der theoretischen Gewohnheit wohl noch viel wichtiger als diejenige der praktischen. Die letztere spielt sicherlich f\u00fcr die Erhaltung der festen Formen z. B. innerhalb der Erwerbs- und Berufsarten eine gro\u00dfe Rolle, wie man besonders an \u00e4lteren Personen beobachten kann, denen ihre bestimmte Art ihren Beruf anzufassen so sehr in Fleisch und Blut \u00fcbergegangen ist, dass sie sich weder in eine Ab\u00e4nderung noch in eine Aufgabe desselben zu finden verm\u00f6gen. Die Macht der theoretischen Gewohnheit kommt sowohl f\u00fcr das Gebiet der theoretischen wie f\u00fcr das der praktischen Culturg\u00fcter in Betracht. F\u00fcr das erster e handelt es sich um die allgemeinen Anschauungen einer Zeit und eines Volkes, um ihre religi\u00f6sen, politischen, rechtlichen, philosophischen Ideen u. s. w., um die Voraussetzungen, allgemeinen Lehren und Methoden der Wissenschaften u. \u00e4. Besonders f\u00fcr das letztgenannte Gebiet ist es \u00fcberall da, wo es sich um allgemeine Principien und Anschauungen handelt, die ebenso einer rationellen Begr\u00fcndung entbehren wie einer rationellen Kritik und Polemik unzug\u00e4nglich sind, durchaus angebracht von Denkgewohnheiten zu reden, um damit den mechanischen, alogischen, gleichsam versteinerten Charakter dieser Vorstellungen zu bezeichnen.\nF\u00fcr die Natur der hier in Betracht kommenden politischen, religi\u00f6sen und verwandten Anschauungen gilt dieser Mangel an logischem Fundament und an logischer Anpassungsf\u00e4higkeit nat\u00fcrlich in erh\u00f6htem Ma\u00dfe. Wie sehr das menschliche Denken gewohnt ist, sich \u00fcber diese Grundlage seiner Ueberzeugungen hinwegzut\u00e4uschen und ihre logische Wahrheit zu \u00fcbersch\u00e4tzen, bezeugt die bekannte Argumentation Kant\u2019s in seiner Erkenntnisslehre, wonach alle diejenigen Wahrheiten, deren Gegentheil man sich angeblich gar nicht","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n421\nTorstellen kann, allgemeing\u00fcltig und nothwendig sind und demgem\u00e4\u00df einen \u00fcberempirischen Ursprung besitzen m\u00fcssen. Man hat mit Recht dagegen eingewandt, dass schon die blo\u00dfe Ausnahmslosigkeit derartiger S\u00e4tze, das hei\u00dft der Mangel abweichender Erlebnisse gen\u00fcgt, um sie subjectiv als nothwendig erscheinen zu lassen, w\u00e4hrend sie objectiv nichts weiter als durch keine Ausnahme ersch\u00fctterte Denkgewohnheiten zu sein brauchen.\nAuf dem Gebiet der praktischen Oulturg\u00fcter \u00e4u\u00dfert sich dieselbe Eigenth\u00fcmlichkeit des menschlichen Geistes darin, dass man sich alle Formen der menschlichen Lebensprocesse, welche ausnahmslos g\u00fcltig sind, gar nicht als durch irgend welche andere ersetzbar vorstellen kann, sie vielmehr als absolut nothwendig sich denken muss. Der naive Mensch kann sich kaum vorstellen, dass ein anderer anders handeln oder sich benehmen kann, als er selber es gewohnt ist und es um sich sieht. Auf der tiefsten Stufe kann er es z. B. kaum begreifen, dass in einem andern Lande eine andre Sprache gesprochen wird als die seinige, und selbst in den h\u00f6heren Kreisen stehen die meisten der Opposition gegen gewisse Unsitten der Gegenwart, wie etwa das Trinkgeldgeben, deswegen so indolent gegen\u00fcber, weil sie ebenfalls nicht \u00fcber die Abstractionskraft verf\u00fcgen, um diese zuf\u00e4llige Form als durch eine andere ersetzt oder einfach beseitigt sich vorstellen zu k\u00f6nnen. Zum gro\u00dfen Theil eine Folge dieser Kraft der Denkgewohnheit ist das Misstrauen, mit dem die Menschen \u2014 je tiefer sie stehen, desto mehr; bei uns wohl am st\u00e4rksten der Bauernstand \u2014 auftauchenden Neuerungen so oft zun\u00e4chst begegnen. That-s\u00e4chliche Abweichungen von solchen ausnahmslos g\u00fcltigen Normen findet man demgem\u00e4\u00df durchweg l\u00e4cherlich, auch wenn sie sachlich um nichts tiefer stehen als dasjenige, an dessen Stelle sie treten. Aus diesem Grunde bel\u00e4cheln wir z. B. die Analogiebildung der Kindersprache, obwohl sie an sich oft sehr zweckm\u00e4\u00dfig und sinnvoll ist.\nDiese \"Wirksamkeit der Gewohnheit kommt freilich f\u00fcr die Erhaltung der Oulturg\u00fcter mehr indirect als direct in Betracht, weil sie sich nicht nur bei demjenigen \u00e4u\u00dfert, der ihnen handelnd gegen\u00fcbertritt, sondern und zwar mindestens der Kopfzahl nach in st\u00e4rkerem Betrage auch bei denjenigen, die ihnen betrachtend gegen\u00fcberstehen. Die letzteren wirken n\u00e4mlich offenbar auf den ersteren zur\u00fcck, indem","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nA. Vierkandt.\nsie namentlich verm\u00f6ge der Beeinflussung seines Selbstgef\u00fchles ihn in den vorhandenen Bahnen festhalten \u2014 ein Zusammenhang, auf den wir sp\u00e4ter noch n\u00e4her eingehen werden (s. Nr. 11).\n6) Gef\u00fchlswirkungen. Die hier gemeinte Wirksamkeit beruht auf einer Verschiebung von Gef\u00fchlst\u00f6nen, verm\u00f6ge deren diese von dem Inhalt bestimmter Erlebnisse und Vorg\u00e4nge auf deren sie einrahmende Formen \u00fcbergehen und diesen dadurch einen Gem\u00fcthswerth verleihen. Sowohl der ganze Ablauf des menschlichen Lebens wie insbesondre seine einzelnen ungew\u00f6hnlichen gro\u00dfen Ereignisse sind ja \u00fcberall von festen Formen eingerahmt; zun\u00e4chst von den Formen der jeweilig in Betracht kommenden Sitten und allgemeiner, gleichsam mehr im Hintergrund, von den festen Formen des Hechtes, der Gesellschaft, des Staates, der Technik, Wirthschaft, Kunst u. s. w. Im Bewusstsein verschmilzt nun das individuelle Leben sammt seinen einzelnen besonderen Ereignissen mit diesem Rahmen und Hintergrund. Demgem\u00e4\u00df \u00fcbertragen sich die Gef\u00fchle, welche den pers\u00f6nlichen Lebensablauf begleiten, insbesondere die Erregungen, mit denen seine gro\u00dfen Ereignisse verkn\u00fcpft sind, wie eben schon angedeutet, auf die sie begleitenden festen Formen. Zun\u00e4chst hat das allgemein zur Folge, dass diese als etwas ebenso Wichtiges vom naiven Denken erfasst und gesch\u00e4tzt werden wie der Inhalt des Lebens selbst. Wo insbesondere dieser Inhalt ein erfreulicher ist, da wird dann auch der Affect der Freude auf jenen Rahmen sich \u00fcbertragen und seine Sch\u00e4tzung erh\u00f6hen. Einerseits gewinnen so die festen Formen der einzelnen markanten Lebensereignisse sowie manche anderen materiellen Begleiterscheinungen einen gro\u00dfen Gef\u00fchlswerth: das naive Denken kann keine Verlobung ohne Ringe, keine Ehe ohne Hochzeit, kein Examen ohne Frack, kein Regiment ohne Fahne sich vorstellen u. s. w. Daraus zum gro\u00dfen Theil erkl\u00e4rt es sich, wie sehr das menschliche Gem\u00fcth an den Symbolen der Dinge haftet, oft eben so sehr oder mehr als an diesen selbst. Welche Bedeutung hat z. B. f\u00fcr das Leben der Kirche der Altar, f\u00fcr die Aus\u00fcbung der Herrschergewalt die Krone! Wie sehr f\u00fchlt sich in der Sph\u00e4re der Berufsth\u00e4tigkeit der Einzelne oft mit deren R\u00e4umlichkeit, etwa mit seinem Laboratorium, mit der Anstalt, der Fabrik u. dgl. verwachsen! Welche Gef\u00fchlswirkung verm\u00f6gen allgemein alle Arten von Paladien und","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n423\n\u00e4hnlichen Symbolen auszu\u00fcben! Diese ganze Art einen Werth in Dinge hineinzutragen, die erst ihre eigenartige Bedeutung gewinnen, k\u00f6nnen wir am besten an der sexuellen Liebe erl\u00e4utern, deren idea-lisirende Wirkung ja bekannt ist. Ueber diese, bei einzelnen Lebensprocessen sich \u00e4u\u00dfernden Wirkungen hinaus aber macht sich noch eine weitere Verschiebung des Gef\u00fchles geltend, verm\u00f6ge deren das ganze Leben des Menschen f\u00fcr ihn wie f\u00fcr seine Mitmenschen mit seinem allgemeinen Hintergrund, mit seinen technischen, k\u00fcnstlerischen, wirtschaftlichen Zust\u00e4nden, den religi\u00f6sen, politischen Anschauungen u. s. w. verw\u00e4chst. Ueberall aber liegt in diesen Dingen offenbar ein Grund, an allen diesen Formen festzuhalten.\nIn anderen F\u00e4llen strahlt das Gef\u00fchl nicht vom Inhalt zum K\u00e4hmen, sondern von einem Gegenst\u00e4nde zu einem gleichartigen \u00fcber. In wissenschaftlichen Systemen wird so neben dem Wahren oft das Falsche gleich geachtet und mithin f\u00fcr wahr aufgenommen. Moralische oder \u00e4sthetische Verirrungen einer Zeit finden mit deswegen allgemeine Anerkennung, weil sie oft mit den besten Leistungen auf diesen Gebieten eng verkn\u00fcpft auftreten. Gerade die moralisch hoch stehenden Naturen huldigen oft auch manchen Excessen oder Perversit\u00e4ten besonders eifrig, weil, sie in Folge ihrer Selbstzucht den Anforderungen ihrer Zeit zu entsprechen sich besonders eifrig bem\u00fchen; so etwa einem Ueberma\u00df von Selbstent\u00e4u\u00dferung in Gestalt der Askese oder den Anforderungen eines \u00fcbertriebenen Ehrgef\u00fchls in Gestalt des Duellwesens oder auf tieferen Stufen den Geboten einer wilden Grausamkeit u. s. w. Auf dem \u00e4sthetischen Gebiet verh\u00e4lt es sich zum Theil offenbar analog.\nEinen besonderen Fall der in Rede stehenden Gef\u00fchlswirkungen bildet weiter die Neigung am Alten zu haften. Freilich handelt es sich auch schon im vorigen Falle eigentlich um ein solches Haften, sofern ja alle festen Formen die Eigenschaft haben alt zu sein. Die Steigerung, die wir hier meinen, beruht aber vorz\u00fcglich darauf, dass hier auch das Verwachsensein dieser Formen mit den vergangenen Geschlechtern f\u00fcr das Gem\u00fcth in Betracht kommt. Die Affecte der Verehrung und Liebe, die sich den Vorfahren zuwenden, \u00fcbertragen sich ebenfalls auf den Rahmen, innerhalb dessen deren Leben verflossen ist. Sie wirken hier ganz \u00e4hnlich verst\u00e4rkend, wie schon innerhalb des individuellen Lebens es in den meisten F\u00e4llen die","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nA. Vierkandt.\nErinnerung an die eigene gl\u00fcckliche Jugend thut, die ebenfalls in ihrem intellectuellen und emotionalen Theile mit derjenigen an den begleitenden Rahmen zu verschmelzen pflegt. Hierauf beruht zum gro\u00dfen Theil die bekannte Thatsache, dass das Alte an sich, unabh\u00e4ngig von seinem eigentlichen Werth, gesch\u00e4tzt wird, oder dass ihm vielmehr ein solcher vom Affecte beigelegt wird auch da, wo die kritische Pr\u00fcfung keinen hinreichenden Anlass dazu findet. Wie sehr z. B. die Liehe zur angestammten Sprache und Yolksart hierin wurzelt, bringen die bekannten Wendungen von der \u00bbMuttersprache\u00ab oder der \u00bbV\u00e4ter heiligem Brauche\u00ab deutlich zum Ausdruck. Die Wirksamkeit dieses Factors hat vielfach auch eine nachtr\u00e4gliche Anpassung der Vorstellungs- und Urtheilskraft an die gegebenen Thatsachen zur Folge, indem sie, dem bekannten Dichterworte entsprechend: Sei im Besitze und du hist im Recht, das Wirkliche als vern\u00fcnftig erscheinen l\u00e4sst \u2014 eine Thatsache, auf die wir sp\u00e4ter noch zur\u00fcckkommen werden.\nDa der Grund f\u00fcr die eben betrachtete Erscheinung in Wirkungen des Gef\u00fchles hegt, so muss sie sich am deutlichsten da zeigen, wo diese Wirkungen sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht zu Tage treten, das hei\u00dft da, wo einerseits die betreffenden Institutionen die st\u00e4rksten Gef\u00fchle hervorrufen, und wo anderseits widerstrebende Interessen ihnen am wenigsten entgegentreten. Aus beiden Gr\u00fcnden macht sich jener conservative Hang am wenigsten bei den Erscheinungen des praktischen Lebens geltend, bei denen vielmehr rationelle R\u00fccksichten der N\u00fctzlichkeit eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gro\u00dfe Rolle spielen. Viel st\u00e4rker \u00e4u\u00dfert er sich schon im Bereich der Sitten. So manche widersinnig oder gar unsittlich gewordnen Sitten, wie etwa diejenige des Eracktragens bei feierlichen Gelegenheiten, des Leichenschmauses, des Duells, der Jagdfestlichkeiten w\u00fcrden ohne dieses Haften am Alten wohl schon mehr zur\u00fcckgedr\u00e4ngt oder wie der Brauch des Leichenschmauses fr\u00fcher verschwunden sein. Am st\u00e4rksten aber macht sich die uns hier besch\u00e4ftigende Erscheinung da bemerklich, wo sie von dem Affecte einer starken Verehrung getragen wird, namentlich im Gebiete der religi\u00f6sen und staatlichen Erscheinungen. Wie hervorragend conservativ und ritual die Rechtsformen, die Gesch\u00e4ftsformen und zum Theil auch die Etikette innerhalb der Bureau-kratie sind, ist ja bekannt. Bei der Religion k\u00f6nnen wir bei den primitiven V\u00f6lkern f\u00fcr diesen conservativen Geist noch einen","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n425\nbesonderen Grund angeben. Die G\u00f6tter und Geister haben sieb bekanntlich vielfach aus den Seelen der Verstorbenen entwickelt oder sind gar mit ihnen identisch. Die Verstorbenen aber geh\u00f6ren im Durchschnitt dem h\u00f6heren Lebensalter an, in dem das Haften am Alten bekanntlich ausgepr\u00e4gter ist als in der Jugend, und den Verstorbenen werden dieselben Eigenschaften beigelegt, welche die Lebenden besessen haben. Es h\u00e4ngt hiermit zusammen, dass so oft in den Berichten betont wird, wie die Geister ein besonderes Gewicht auf die Befolgung der Stammessitten legen und jede Verletzung derselben besonders stark bestrafen. Eine au\u00dferordentliche Verehrung der staatlichen Gewalt gewahren wir ebenfalls schon bei manchen der primitiven St\u00e4mme. Wo sich irgend ein Despotismus ausgebildet hat, da h\u00e4lt er in der Regel mit gro\u00dfem Nachdruck darauf, dass ihm \u00fcberall mit den Formen der gr\u00f6\u00dften Verehrung begegnet wird; die Eitelkeit des Herrschers und die Furcht der Unterthanen wirken dann zu einem entsprechenden Verhalten der letzteren zusammen. Zwischen der fortw\u00e4hrenden Gewohnheit, dem Herrscher Ehrfurcht zu bezeugen, und dem Glauben an seine Machtf\u00fclle findet dann offenbar eine naheliegende Wechselwirkung mit dem Ergehniss der Steigerung nach beiden Richtungen hin statt. Wo die Affecte der Furcht und Verehrung der Staatsleitung gegen\u00fcber hinreichend stark sind, m\u00fcssen sie, wie alle Affecte, eine verengende Wirkung auf das Bewusstsein aus\u00fcben, dadurch dessen Kritik beeintr\u00e4chtigen und den Glauben an die Macht der Staatsgewalt \u00fcber alle Grenzen des Vern\u00fcnftigen hinaus wachsen lassen. Auch heute noch k\u00f6nnen wir, wie Herbert Spencer treffend ausgef\u00fchrt hat, diesen \u00fcbertriebenen Glauben an die Staatsgewalt beobachten, nur dass er sich bei uns in der Regel weniger auf die Person des Herrschers als theils auf die bestehenden Institutionen und die Kraft der Gesetzgebung, theils auf die Urtheilskraft und Leistungsf\u00e4higkeit der einzelnen politischen Parteien und den innem Werth der Majorit\u00e4t bezieht. Auf die Rolle, welche, wie eben angedeutet, die Suggestion dabei spielt, kommen wir sp\u00e4ter zur\u00fcck (s.Nr. 9).\n7) Das Gruppenbewusstsein. Seine Existenz und Bedeutung ist vielleicht bei uns selbst nicht so deutlich zu beobachten wie bei tiefer stehenden St\u00e4mmen, weil bei uns diejenige Einheit, an der man jene Erscheinung zun\u00e4chst zu constatiren versucht w\u00e4re, n\u00e4mlich","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nA. Vierkandt.\ndiejenige der Nation, zu gro\u00df, der Zusammenhang zwischen ihren einzelnen Individuen zu abstract, zu wenig sinnlicher Natur ist, um das Gruppenbewusstsein unter normalen Verh\u00e4ltnissen noch mit hinreichender Kraft in die Erscheinung treten zu lassen. Wir m\u00fcssen hei uns schon zu den kleineren Kreisen hinahsteigen um es wahrnehmen zu k\u00f6nnen. In der Familie, in Vereinen, Berufsclassen, St\u00e4nden, bei den Kindern in Schulen und Schulclassen ist es viel deutlicher zu erkennen. Der D\u00f6rfler, der auf den St\u00e4dter oder auf die Angeh\u00f6rigen anderer D\u00f6rfer in abgelegenen Gegenden vielleicht noch mit einem Gef\u00fchl der Ueberlegenheit der eigenen Gruppe und der Minderwerthigkeit anderer hinabsieht, zeigt es ebenfalls bedeutend kr\u00e4ftiger. Wie stark es hei den Naturv\u00f6lkern ist, geht z. B. daraus hervor, dass oft der Name eines Stammes wie z. B. der der Innuit mit dem Worte f\u00fcr Menschen schlechtweg identisch ist \u00e4hnlich wie die hochgestiegenen Griechen bekanntlich auf alle anderen V\u00f6lker als Barbaren mit Geringsch\u00e4tzung herabsahen. Das Hinschwinden der Naturv\u00f6lker vor dem Hauche der europ\u00e4ischen Gesittung erkl\u00e4rt sich bekanntlich zum Theil, wie man besonders bei den Indianern beobachten kann, aus demselben Stammesselbstgef\u00fchl, welches sich gegen\u00fcber der f\u00fcr sie nicht bestreitbaren Ueberlegenheit der europ\u00e4ischen Cultur t\u00f6dtlich verletzt f\u00fchlt.\nDie naheliegende Wirkung dieses Gruppenbewusstseins besteht in der Hochsch\u00e4tzung aller charakteristischen Eigenarten der eigenen und der Untersch\u00e4tzung aller entsprechenden Eigenarten der fremden Gruppen. F\u00fcr den naiven Menschen ist die Art, wie er und sein Stamm das Leben ordnet und f\u00fchrt, die einzig vern\u00fcnftige, neben der alle andern als unvern\u00fcnftig erscheinen. Auf dem Lande sehen wir noch heute bei uns, wie etwa abweichende Br\u00e4uche und dialektische Abweichungen bei Nachbard\u00f6rfern von dem D\u00f6rfler verspottet werden. George Elliot hat uns meisterhaft geschildert wie in einer, freilich schon etwas zur\u00fcckliegenden Zeit den Weber Silas Marner, der in ein fremdes Dorf einwanderte, dessen Einwohner kaum als einen vollen Menschen gelten lassen wollten. In den h\u00f6heren Gesellschafts-Schichten bemerken wir hei uns \u00e4hnlich auf dem Gebiet der Umgangsformen gerade da, wo es sich um ganz nichtige Eigenth\u00fcmlichkeiten handelt, in allen einigerma\u00dfen exclusiv denkenden Gruppen dieselbe Neigung, solche unterscheidenden Merkmale \u00fcberaus hoch zu sch\u00e4tzen.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n427\nDer Neger, der vom Hauch der europ\u00e4ischen Gesittung einmal gestreift ist, zeigt ebenso ein Bestreben, diese in allen ihm erreichbaren und verst\u00e4ndlichen Merkmalen, vor allem also in nichtigen Aeu\u00dferlich-keiten, oft in antiquirten Moden und verbrauchten Abf\u00e4llen, nachzuahmen. Er blickt dann als \u00bbHosennigger\u00ab stolz auf die Buschleute des Innern herab, deren Unber\u00fchrtheit solcher Zierrathe entbehrt. Aehnlich beschreibt uns eine Schilderung Passarge\u2019s drastisch, mit welchem Hohn die mohamedanischen Eulbe auf die viel tiefer stehenden, nur mit einem Penis-Futteral bekleideten Heidenneger herabblickten, die sich dieses Anzuges vor ihnen weidlich sch\u00e4mten. Der Grund daf\u00fcr ist klar. Alle Eigenth\u00fcmlichkeiten, durch die sich eine Gruppe von anderen unterscheidet, verschmelzen f\u00fcr ihr Bewusstsein mit der Vorstellung ihres eigenen Werthes; der Affect, der sich urspr\u00fcnglich auf den letzteren bezieht, wird dadurch auch auf die Vorstellung der ersteren \u00fcbertragen. Die St\u00e4rke dieses Affectes beruht vorz\u00fcglich auf der F\u00fclle der hier in Betracht kommenden Wechselwirkungen. Solche treten zwar bei den meisten der von uns hier der Reihe nach er\u00f6rterten Factoren auf ; doch m\u00f6ge es gen\u00fcgen ihre Art an diesem einen Fall zu erl\u00e4utern. Einerseits finden sie in der bekannten Weise zwischen den einzelnen Individuen statt, indem die Kundgebungen jedes Einzelnen auf den Affect aller anderen verst\u00e4rkend einwirken ; anderseits existirt bei jedem Einzelnen zwischen dem Selbstgef\u00fchl selbst und seinen Beth\u00e4tigungen eine analoge Wechselwirkung wiederum mit accumulativer Tendenz. Beide Systeme poten-ziren sich nat\u00fcrlich gegenseitig. F\u00fcr die St\u00e4rke des so erzeugten Gef\u00fchles f\u00fchren wir hier noch das folgende Beispiel an. Bei den Bella-Bella auf Vancouver ist der Lippenpflock zugleich ein Abzeichen des Ranges, da bei jeder Vergr\u00f6\u00dferung des Pflockes ein kostspieliges Fest gegeben werden muss. Cunningham belauschte einmal den Streit zweier Damen dieses Stammes, deren eine endlich ihren Lippenpflock als entscheidenden Trumpf ausspielte, indem sie schrie: \u00bbWas bist Du denn? Hast Du vielleicht eine so gro\u00dfe Lippe wie ich, hast Du so viele Geschenke gegeben wie ich? Geh nach Hause, und wenn Du mit einem so gro\u00dfen Pflock wiederkommst, wie ich habe, dann wollen wir weiter reden!\u00ab Die andre lie\u00df den Kopf h\u00e4ngen und schlich davon1).\n1) Schurtz, Urgeschichte der Cultur. S. 65.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nA. Vierkandt.\nDie Wirkung dieses Gruppenbewusstseins auf die Erhaltung der Culturg\u00fcter liegt auf der Hand. Aus der Hochsch\u00e4tzung der Eigen-th\u00fcmlichkeiten der Gruppe ergibt sich ein Bestreben, an ihnen fest zu halten und zwar sowohl aus einem positiven wie aus einem negativen Grunde: aus einem positiven, weil alle jene Eigent\u00fcmlichkeiten als werthvoll an sich empfunden werden, und aus einem negativen, weil man der Vermengung mit anderen Gruppen dadurch vorheugen will. Das Verhalten des Einzelnen wird durch dieses Bestreben sowohl unmittelbar wie mittelbar beeinflusst. Unmittelbar sucht er selbst aus den genannten beiden Gr\u00fcnden alle Eigent\u00fcmlichkeiten seiner Gruppe zum Ausdruck zu bringen, mittelbar aber kommt die Wirkung der Gruppe auf ihn in Betracht, sofern sie den Wunsch hat, dass jeder ihrer Angeh\u00f6rigen in seinem Benehmen von den Eigent\u00fcmlichkeiten der Gruppe nicht abweicht.\nDie St\u00e4rke, mit der der hier betrachtete Factor wirkt, ist hei verschiedenen Gruppen verschieden. Sie h\u00e4ngt davon ah, oh der Einzelne sich mit seiner Gruppe stark oder schwach verkn\u00fcpft f\u00fchlt, mehr oder weniger in ihr aufgeht. Der Grad dieses Aufgehens h\u00e4ngt wieder von drei Umst\u00e4nden ah. Erstens nimmt er mit der wachsenden H\u00f6he des geistigen Lebens ab, weil diese die Individuen immer mehr differenzirt. Zweitens nimmt er unter sonst gleichen Umst\u00e4nden mit dem Umfange der Gruppen ah, weil der wachsende Umfang sowohl die Gleichartigkeit des Bewusstseinszustandes wie auch die Uebersichtlichkeit und die sinnliche Anschaulichkeit des Zusammenhanges beeintr\u00e4chtigt. Wir ber\u00fchren damit schon den dritten Factor, welcher in der Art des Zusammenhangs besteht. Je mehr der Zusammenhang sinnlicher und anschaulicher Natur ist, desto st\u00e4rker ist er, w\u00e4hrend er in dem Ma\u00dfe sich ahschw\u00e4cht, in dem er einen ahstracteren Charakter annimmt. Steigen wir daher von tieferen zu h\u00f6heren St\u00e4mmen auf, indem wir immer das Volk als Gesammtheit im Auge behalten, so vereinigen sich alle drei Umst\u00e4nde, um das Gruppenhewusstsein zu vermindern. G\u00fcnstiger gestaltet sich das Verh\u00e4ltniss auf h\u00f6heren Stufen, wenn wir zu kleineren Gruppen herabsteigen, z. B. zu einzelnen Berufsclassen oder einzelnen Gesellschaftskreisen. Wenn einzelne von ihnen, z. B. der Officierstand, sich durch ein besonders starkes Gruppenhewusstsein auszeichnen, so kann man auch hier wohl noch die relativ starke Wirksamkeit des ersten","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n429\nund dritten Factors daf\u00fcr verantwortlich machen. Mit dieser st\u00e4rkeren \"Wirkung des Gruppenbewusstseins innerhalb engerer Kreise h\u00e4ngt es zusammen, dass es hei uns von viel gr\u00f6\u00dferer Wirksamkeit als f\u00fcr ernsthafte Culturg\u00fcter f\u00fcr gewisse Aeu\u00dferlichkeiten und einzelne Modethorheiten ist.\n8) Die Nachahmung. Ihre Wirksamkeit zeigt sich vorz\u00fcglich auf zwei verschiedenen Gebieten. Erstens auf demjenigen der pers\u00f6nlichen Lebensf\u00fchrung und zweitens in einer Reihe von Erscheinungen, die man wohl auf einen besonderen Unterordnungstrieb hat zur\u00fcckf\u00fchren wollen. Beider pers\u00f6nlichen Lebensf\u00fchrung denken wir an die Art und Weise, wie der Einzelne sein Lehen in den gro\u00dfen Hauptz\u00fcgen zu ordnen pflegt, wie er sich mit den ernsten Aufgaben des Lebens auseinander setzt und seine Mu\u00dfe ausf\u00fcllt, also sowohl an die Arbeit wie an den Sport, den Genuss, die Formen des Zusammenlebens und dergleichen. Auch die Beobachtung so mancher Sitten, z. B. derjenigen, die die gro\u00dfen Ereignisse des einzelnen Lebens einrahmen, wie die Sitte der Taufe, der Hochzeit, des Begr\u00e4bnisses, geh\u00f6rt offenbar zum Theil hierher.\nIn allen diesen Dingen ist der Einfluss der Nachahmung unverkennbar. Auf den Gedanken ein Haus zu kaufen, eine Ehe einzugehen, eine Vergn\u00fcgungsreise zu unternehmen oder eine bestimmte Art von Sport zu treiben, bestimmte Berufe zu ergreifen u. a. w\u00fcrden die wenigsten Menschen kommen, wenn sie nicht die Vorbilder dazu fortw\u00e4hrend um sich s\u00e4hen. Bed\u00fcrfte es noch eines besonderen Beweises f\u00fcr diesen Einfluss der Nachahmung, so k\u00f6nnte man sich auf das Missverh\u00e4ltniss berufen, das hier, wie so oft im Leben, zwischen Zweckm\u00e4\u00dfigkeit und Zweckbewusstsein herrscht. Alle die genannten Handlungen und Ma\u00dfnahmen sind wegen der mit ihnen verkn\u00fcpften Werthe offenbar als zweckm\u00e4\u00dfig zu bezeichnen, aber ein auch nur einigerma\u00dfen klares Bewusstsein davon hat der Einzelne, wenn er sie ins Werk zu setzen beginnt, offenbar nicht. Wundt ist deswegen mit Recht nicht abgeneigt, auch auf diese Erscheinung des menschlichen Lebens den aus der Thierwelt entnommenen Begriff des Distinctes anzuwenden1).\nZwei Gr\u00fcnde k\u00f6nnen vorz\u00fcglich f\u00fcr diese Nachahmung angegeben\n1) \"Wundt, Vorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele. 2 S. 432.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nA. Vierkandt.\nwerden. Erstens wird die Befriedigung, welche mit den einzelnen Gen\u00fcssen und G\u00fctern des Lehens verbunden ist, wie der Einzelne es bei anderen verlaufen sieht, von ihm als Zuschauer in seinem Bewusstsein vorweggenommen und wird so f\u00fcr ihn zu einem Motiv sein Lehen in dieselben Bahnen zu lenken. Einen Sport wie das Radfahren z. B. lernen die meisten Menschen offenbar wegen des Genusses, der nach den Schilderungen der in ihm bereits Einheimischen mit ihm verkn\u00fcpft ist. Ein zweiter Grund liegt in gewissen Wirkungen der Suggestion. Wir kommen auf ihn im n\u00e4chsten Abschnitt zu sprechen und weisen hier nur auf einzelne Beispiele hin, wie auf den Einfluss, den oft das suggestiv wirkende Vorbild einzelner hervorragender Pers\u00f6nlichkeiten auf die Berufswahl, oder auf denjenigen, den etwa eine herumziehende Indianertruppe auf die Spiele der Kinder aus\u00fcbt.\nWir kommen jetzt zu einer Reihe von Erscheinungen, die man unter den Begriff der Unterordnung subsumiren kann und bei denen man auch wohl von der Wirkung eines Unterordnungstriebes sprechen darf, falls man die logische Reserve nicht au\u00dfer Augen l\u00e4sst, die bei der Anwendung eines zusammenfassenden Ausdruckes f\u00fcr gewisse complexe Gruppen von Erscheinungen nothwendig ist. Es handelt sich hier um die Thatsache, dass der Einzelne sich in gewisse \u00fcberindividuelle Ordnungen, welche theils dem Gebiete des Berufslebens, theils dem Gebiet der Sitten insbesondere der Lebensformen angeh\u00f6ren, willig und mit einer gewissen Freudigkeit einf\u00fcgt und sich ihren Tendenzen auch da, wo sie sich gegen das eigene Interesse oder Wohlbefinden richten, nicht widersetzt. Schon beim Spiele der Kinder zeigt sich eine derartige Willigkeit der Einordnung in die Regeln des Spiels in einer mit der sonstigen Unb\u00e4ndigkeit der kindlichen Natur in auffallendem Gegens\u00e4tze stehenden Weise. Auch das Benehmen der Kinder gegen\u00fcber den Eltern wird mit von diesem Triebe, nicht etwa blo\u00df von der Furcht oder der Liebe bestimmt. Im Schulleben der Kinder zeigt sich derselbe Trieb in Gestalt des Gerechtigkeitssinnes, der eine verdiente Strafe ohne Auflehnung, ohne Hass gegen den Lehrer auf sich nimmt, sowie \u00fcberhaupt in Gestalt der bekannten Thatsache, dass die strengsten Lehrer in der Regel, wofern sie nur gerecht sind, sich der gr\u00f6\u00dften Zuneigung erfreuen. Aehnlich ist aus manchen Schilderungen der Gauner- und Verbrecher-","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n431\n\u2022weit bekannt, wie die strengsten und kl\u00fcgsten Polizeibeamten im allgemeinen durchaus nicht gehasst, sondern eher mit einem aus Furcht, Bewunderung und Neigung gemischten Gef\u00fchle betrachtet werden. Und endlich ist derselbe Oharakterzug am Neger von vielen Beobachtern constatirt worden. Aehnlich wie ein Kind in der Schule unterwirft er sich einer verdienten Strafe ohne Murren und ohne einen Hass gegen den sie verh\u00e4ngenden Europ\u00e4er zu fassen. Im Bereich der Oulturformen im engern Sinn beth\u00e4tigt sich dieser selbe Unterordnungstrieb, wie oben schon erw\u00e4hnt, als die freiwillige Einf\u00fcgung in die gro\u00dfen Formen des menschlichen Lebens, theils diejenigen des Berufes, theils diejenigen, welche dem Gebiete der Sitte und Sittlichkeit angeh\u00f6ren. Er bildet also einen weitern Factor, welcher ebenfalls zu gewissen. Thatsachen der Nachahmung f\u00fchrt1 * *) Der Grund f\u00fcr alle diese Erscheinungen der Unterordnung liegt in einer Verbindung zweier Bewusstseinszust\u00e4nde. N\u00e4mlich einerseits in einem Gef\u00fchle der Bewunderung, der Verehrung, der Furcht, der Liebe, anderseits in dem Bestreben, es der mit solchem Gef\u00fchle betrachteten Person gleich zu thun, also abstract ausgedr\u00fcckt einerseits in einem Gef\u00fchle der Distanz und anderseits in der Tendenz diese Distanz zu \u00fcberbr\u00fccken. Beide Bewusstseinszust\u00e4nde brauchen sich dabei nicht auf eine Person, sondern k\u00f6nnen sich auf ein objectives Gebilde, eine bestimmte Lebensordnung, eine Berufsordnung, sittliche Normen, conventionelle Regeln wie beim Spiel und dergleichen beziehen. Der Bezug auf sie kann dabei durch einzelne autoritative Personen, welche diese Ordnung repr\u00e4sentiren, vermittelt werden. Er kann aber auch ein unmittelbarer sein verm\u00f6ge der allgemeinen F\u00e4higkeit des menschlichen Bewusstseins, unpers\u00f6nlichen Gebilden \u00e4hnliche Gef\u00fchle entgegenzubringen wie pers\u00f6nlichen. Je nachdem der eine oder andre Bestandteil \u00fcberwiegt, ergeben sich zwei Typen.\n1) Ueber die Erscheinungen des Unterordnungstriebes vgl. Groos, Spiele des Menschen S. 436\u2014448 und Mark Baldwin, Das sociale und sittliche Leben\nerl\u00e4utert durch die seelische Entwicklung S. 8\u201418. Leider fehlt bei beiden eine Analyse und Erkl\u00e4rung der Erscheinungen. Eine solche, die sich auch auf die Thatsache der Nachahmung erstreckt, findet sich dagegen bei B. Gurewitsch, Die Entwicklung der menschlichen Bed\u00fcrfnisse und die sociale Gliederung der Gesellschaft (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Bd. XIX, Heft 4)\n8.47\u201449, bei Tarde, Les lois de limitation, chap. IV et VI, bei Spencer,\nPrincipien der Sociologie, Bd. HI, \u00a7 423; bei Lotze, Mikrokosmos 4 H, 437.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nA. Vierkandt.\nWo das Gef\u00fchl der Distanz am st\u00e4rksten ist, da ergibt sich ein Zustand innerer Verehrung, der sich den Werth der gesch\u00e4tzten Person oder des gesch\u00e4tzten Objectes innerlich anzueignen bestrebt ist und diesen inneren Zustand in Handlungen und eine Art des Benehmens umsetzt, welche dem verehrten Vorbild entsprechen. Wo aber das Streben, es dem letzteren gleich zu thun, ausschlaggebend ist, da entsteht das Verlangen, sich durch Einf\u00fcgung in die einmal bestehende Ordnung eine \u00e4u\u00dfere Anerkennung zu verschaffen entweder von Seiten der diese Ordnung verk\u00f6rpernden Person oder von Seiten des Publikums. Im ersteren Fall wird das Selbstgef\u00fchl mehr innerlich, im letzteren mehr \u00e4u\u00dferlich befriedigt. Zur Erl\u00e4uterung erinnern wir nochmals an das vorhin erw\u00e4hnte Benehmen des Negers der europ\u00e4ischen Oultur gegen\u00fcber. Einerseits hat der Schwarze ein deutliches Bewusstsein der Ueberlegenheit unserer Gesittung und blickt demgem\u00e4\u00df zu ihr empor; aber nicht immer mit Verehrung, sondern oft auch mit einem aus Furcht und Trotz gemischten Affect. So \u00fcberwiegt bald der erstere, bald der zweite Typus, und besonders den \u00fcbrigen Eingeborenen gegen\u00fcber kommt nur der letztere zur Geltung. \u2014 Ein weiterer Grund f\u00fcr die Erscheinungen der Unterordnung kann in gewissen Einfl\u00fcssen der Suggestion liegen, auf die wir jetzt zu sprechen kommen.\n9) Die Suggestion. Ihr Charakteristisches besteht bekanntlich in dem Einfluss, den bestimmte psychische Einwirkungen auf den Bewusstseinsverlauf eines Menschen aus\u00fcben. Ganz allgemein kann man wohl von einer Neigung auch des isolirt gedachten Menschen sprechen, irgendwie in ihm auftauchende Vorstellungen ohne weiteres f\u00fcr richtig zu halten und irgendwie in ihm entstehende Impulse /feu Bewegungen oder Handlungen in diese selbst umzusetzen. Ueberall wo durch Einwirkung eines anderen diese Tendenzen \u00fcber ihr nat\u00fcrliches Ma\u00df verst\u00e4rkt werden, sprechen wir von Suggestion. Den Grund f\u00fcr diese suggestive Einwirkung erblicken wir mit Wundt in einer Verengung des Bewusstseins1). Eine solche wird urspr\u00fcnglich durch bestimmte Sinnesreize oder durch die Macht der Affecte, sp\u00e4ter daneben auch durch die blo\u00dfe Macht der Gewohnheit hervor-\n1) Ygl. Wundt, Vorlesungen \u00fcber die Mensehen- und Thierseele. 2 S. 367. Wundt, Hypnotismus und Suggestion, S. 48 ff.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n433\ngerufen. Wir haben es hier nur mit der Einwirkung des Affectes zu thun, und zwar desjenigen Affectes, welcher durch den Einfluss in irgend einem Sinne hervorragender oder als \u00fcberlegen empfundener Pers\u00f6nlichkeiten ausge\u00fcbt wird. Eine solche Pers\u00f6nlichkeit kann entweder ein Einzelner oder eine Gesammtheit sein. Im ersteren Palle kann die Pers\u00f6nlichkeit als \u00fcberlegen entweder an sich selbst oder verm\u00f6ge ihrer Stellung und ihres Verh\u00e4ltnisses zu dem beeinflussten Individuum empfunden werden. Welche fascinirende Wirkung zun\u00e4chst gro\u00dfe Pers\u00f6nlichkeiten an sich auszu\u00fcben verm\u00f6gen, wissen wir aus einzelnen historischen Beispielen, wie z. B. von Napoleon I. P\u00fcr uns kommt hier nur der Einfluss in Betracht, den sie im Berufsleben zu beth\u00e4tigen verm\u00f6gen, indem ihre imponirende Pers\u00f6nlichkeit mit dazu beitr\u00e4gt, den Adepten in die vorgeschriebenen festen Bahnen hineinzubannen. Es k\u00f6nnen dadurch besondere Eigent\u00fcmlichkeiten innerhalb gr\u00f6\u00dferer Kreise hervorgerufen werden, wie denn bekanntlich gerade in Kleinigkeiten viele Meister auf ihre Sch\u00fcler abzuf\u00e4rben. pflegen. \u2014 Durch sein Verh\u00e4ltniss gegen\u00fcber dem suggerirten Individuum wirkt der Einzelne \u00fcberall da, wo dieses von autoritativer Natur ist. Die Autorit\u00e4t spielt bekanntlich im Leben der Gesellschaft \u00fcberall die gr\u00f6\u00dfte Rolle. Das Alter steht in einem solchen Verh\u00e4ltniss zur Jugend und \u00e4hnlich die social, wirtschaftlich und geistig h\u00f6her stehenden Kreise zu den tiefer stehenden. Es ist dabei eine merkw\u00fcrdige F\u00fcgung, dass gerade die genannten Gruppen und Kreise meist besonders conservativer Natur sind, das Alter wegen der Macht der Gewohnheit und Uebung, des Mangels an Initiative und dergleichen, die oberen Gesellschaftsclassen wohl vorz\u00fcglich, weil sie verm\u00f6ge der vorhin analysirten Gef\u00fchlswirkungen sich mit den bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Zust\u00e4nden besonders eng verwachsen f\u00fchlen, und die geistige Aristokratie wenigstens in Gestalt der Priesterz\u00fcnfte deswegen, weil, wie oben betont, in der G\u00f6tterwelt das Alte ein ganz besonders ehrw\u00fcrdiges Antlitz hat. Dass der hier in Rede stehende Einfluss suggestiver Natur ist, erkennt man vorz\u00fcglich an solchen F\u00e4llen, bei denen der gesunde Geschmack und das gesunde Urtheil geradezu durch ihn verf\u00e4lscht werden, z. B. bei so vielen Modethorheiten, bei den Arten von unverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfigem Aufwand u. dgl., in denen die niederen Classen die h\u00f6heren nachahmen.\nWundt, Philos. Studien. XX.\n28","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nA. Vierkandt.\nViel st\u00e4rker aber ist die suggestive Wirkung, welche von der Gesammtheit auf den Einzelnen ausgeht. Welche un\u00fcberwindliche Macht die Masse f\u00fcr jeden darstellt, ist ja bekannt genug. Die Berufung darauf, dass alle so denken oder alle so handeln oder alle sich so benehmen, ist f\u00fcr fast jeden Einzelnen die oberste Instanz. Die gr\u00f6\u00dften Thorheiten werden geglaubt und begangen, die st\u00e4rksten Verst\u00f6\u00dfe gegen den guten Geschmack und die Moral werden entschuldigt und mitgemacht, weil alle es so thun. So manche jeder reellen Grundlage entbehrenden oder gar widersinnigen Anschauungen werden noch heute allgemein geglaubt, so manche Sitten und Br\u00e4uche, die unseren verfeinerten sittlichen Gef\u00fchlen widerstreiten, wie z. B. das Trinkgeldgeben in manchen Situationen oder der Jagdsport in vielen F\u00e4llen, werden blindlings gebilligt und nachgeahmt, w\u00e8il man es \u00fcberall so wahmimmt und nirgend eine Ausnahme davon findet. So manche Verirrungen anderer V\u00f6lker, wie z. B. die Knabenliebe der Griechen oder der ma\u00dflose Aber- und Wunderglaube des Mittelalters, lassen uns mit Tarde1) ebenfalls an die Wirksamkeit dieses Factors denken.\nDer Grund f\u00fcr diesen suggestiven Einfluss der Gesammtheit ist in allen denjenigen F\u00e4llen deutlich, wo der Zusammenhang der Gruppen sinnlicher und anschaulicher Natur ist. In allen diesen F\u00e4llen findet bekanntlich verm\u00f6ge der Ausdrucksbewegungen der Affecte und der K\u00fcckwirkung, die diese selbst auf den Gef\u00fchlslauf in verst\u00e4rkendem Sinne aus\u00fcben, eine Wechselwirkung zwischen deren Individuen statt, welche \u00fcberall ip einer Verst\u00e4rkung der der Tendenz der Gruppe entsprechenden Gef\u00fchle in den einzelnen Individuen und zu einer Abschw\u00e4chung oder Vernichtung der entgegengesetzten Gef\u00fchle in ihnen f\u00fchrt. Ein derartiger sinnlicher Zusammenhang zwischen den Bestandtheilen der Gruppe ist auf tieferen Stufen durchweg vorhanden; man denke z. B. an die Oeffentlichkeit des politischen Lebens, der Gerichtsverhandlungen, aller rituellen Akte u. s. w. Auf h\u00f6heren Stufen aber verschwindet er immer mehr oder zieht sich wenigstens auf sehr kleine Gebiete wie z. B. die Familie zur\u00fcck, die f\u00fcr die Erhaltung der Culturg\u00fcter keine \u00fcberwiegende Bedeutung mehr haben. Indem hier der Zusammenhang innerhalb der Gruppen\n1) Tarde, Les lois de l\u2019imitation, 2 S. 89.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n435\neinen abstracteren Charakter annimmt, tritt an die Stelle der Wirkung der Ausdrucksbewegungen diejenige der blo\u00dfen Menge an sich und vorz\u00fcglich diejenige der Ausnahmslosigkeit. Zu ihrer Veranschaulichung gehen wir von der Wirkung aus, welche die Zustimmung oder ihr Mangel bei der Ber\u00fchrung eines Individuums mit einem einzelnen Menschen auf dieses aus\u00fcbt. Der Durchschnittsmensch f\u00fchlt sich bekanntlich durch jede Zustimmung in seinem Selbstbewusstsein gef\u00f6rdert und gehoben, durch jede Ablehnung in seiner Sicherheit beeintr\u00e4chtigt. Diese Wirkungen sind im allgemeinen gewiss von sehr geringem Betrage, aber nicht zu bestreiten, und selbst bei einem an Selbst\u00e4ndigkeit weit \u00fcber dem Durchschnitt stehenden Individuum werden sie nicht immer ausbleiben. Namentlich wo statt eines Menschen nacheinander mehrere Einzelstimmen in Betracht kommen, wird auch eine ziemlich sichere Natur durch ihre zustimmende oder ablehnende Haltung beeinflusst werden, entsprechend dem Dichterwort:\nDurch zweier Zeugen Mund\nWird allerwegs die Wahrheit kund.\nInsbesondere eine wiederholte Ablehnung pflegt auch einen einigerma\u00dfen selbstbewussten Menschen etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ebenso interessant und charakteristisch ist die bekannte Thatsache, dass auf eine Person, die von dem Urtheil eines anderen, ihm schon ziemlich vertraut gewordenen Individuums wenig mehr bestimmt wird, oft genau dieselbe Urtheilsabgabe, wenn sie aus einem fremden Munde erfolgt, einen starken Eindruck macht. \u2014 Zu erkl\u00e4ren sind diese Dinge offenbar daraus, dass die Gesammtheit f\u00fcr den Einzelnen wenigstens generell die oberste Autorit\u00e4t hinsichtlich seiner Urtheile und seiner Handlungen darstellt. Auf die weitere Frage nach dem Grunde dieser Abh\u00e4ngigkeit k\u00f6nnen wir hier nur durch den Hinweis auf die Rolle antworten, welche offenbar das Selbstgef\u00fchl und das daraus entspringende Beifallsbed\u00fcrfniss auf jeden Menschen aus\u00fcbt; ein weiteres Eingehen auf sie w\u00fcrde uns an dieser Stelle zu weit f\u00fchren.\nDie eben angedeuteten Einwirkungen finden nun offenbar in gesteigertem Ma\u00dfe statt, wo dem Einzelnen eine ganze Gruppe gegen\u00fcbersteht, vorz\u00fcglich also in allen denjenigen F\u00e4llen, in denen die\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nA. Vierkandt.\nGesammtheit sich in den in Betracht kommenden festen Geleisen der Cultur ohne Ausnahme und ohne Widerspruch bewegt, wie z. B. hei den meisten Sitten, den herrschenden moralischen, politischen, religi\u00f6sen Anschauungen u. s. w. Die fortgesetzte H\u00e4ufung entweder zustimmender oder dissentirender Meinungs\u00e4u\u00dferungen muss wegen der damit verkn\u00fcpften Gef\u00fchlswirkungen schlie\u00dflich eine suggestive Bedeutung f\u00fcr den Einzelnen gewinnen. In demselben Sinne wirkt aber negativ auch, falls der Einzelne Neigung zur Auflehnung gegen eine Cultur-form in sich versp\u00fcrt, der Gedanke an die H\u00e4ufung der Widerspr\u00fcche und an die damit verkn\u00fcpfte fortgesetzte Bel\u00e4stigung \u2014 eine Einwirkung, auf die wir schon oben hingewiesen und f\u00fcr die wir dort als klassisches Beispiel ein bekanntes Wort des Vicar of Wakefield angef\u00fchrt haben.\nDie hier besprochenen Erscheinungen der Suggestion, sowie die vorhin erw\u00e4hnten Thatsachen des Unterordnungstriehes, welche letzteren zum Theil ja auf jene zur\u00fcckweisen, sind ganz besonders geeignet, uns \u00fcber die Natur des Gehorsams aufzukl\u00e4ren, ohne den keine Cultur und Gesellschaft, ja \u00fcberhaupt keine Vereinigung bestehen kann. Es gibt wahrscheinlich in der ganzen Welt keine einzige Disciplin, die allein oder auch nur vorwiegend durch die Furcht aufrecht erhalten wird. Die wahren, statt dessen haupts\u00e4chlich in Betracht kommenden Kr\u00e4fte bestehen zwar in den s\u00e4mmtlichen hier der Reihe nach betrachteten Factoren. Vorz\u00fcglich lehrreich aber sind die beiden eben genannten, weil ihre\"Wirkungen vom unerfahrenen Beobachter am ehesten mit, denjenigen der blo\u00dfen Furcht verwechselt werden k\u00f6nnen. Wie wenig die letztere ausschlaggebend ist, beweist \u00fcbrigens der anarchische Zustand so vieler primitiver St\u00e4mme, bei denen fast nur innere Kr\u00e4fte das Ganze Zusammenhalten. Tarde weist mit Recht darauf hin1) wie sehr auch der Gehorsam, den gro\u00dfe Eroberer im Stile Alexanders des Gro\u00dfen oder Napoleons I. gefunden haben, auf solchen inneren Wirkungen beruht. Und seiner Annahme, dass \u00fcberall bei den Urspr\u00fcngen der Civilisationen solche Kr\u00e4fte ma\u00dfgebend gewesen seien, verm\u00f6gen wir nur deswegen nicht beizustimmen, weil uns die Existenz solcher Heroen zu jener Zeit nicht gesichert genug erscheint.\n1) Tarde, Les lois de l\u2019imitation, 2 p. 87.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"437\nDie Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n10)\tDer allm\u00e4hliche Wechsel der Generationen. Wir meinen hiermit die Bedeutung der Jugend als eines Zeitalters der Unselbst\u00e4ndigkeit und den Einfluss der Erziehung und Tradition w\u00e4hrend dieses Stadiums. Ueberlieferung und Erziehung lassen dem heranwachsenden Geschlecht die vorhandenen Oulturformen zum gro\u00dfen Theil bereits in Fleisch und Blut \u00fcbergehen, ehe es entwickelt genug ist, um eine Kritik an ihnen zu \u00fcben oder den Versuch eines selbst\u00e4ndigen Benehmens ihnen gegen\u00fcber ins Werk setzen zu k\u00f6nnen. Auch \u00fcber die eigentliche Kindheit hinaus macht sich noch ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltniss bemerklich, insofern bekanntlich im allgemeinen die einflussreichsten Stellungen in der Gesellschaft sowohl bei den Naturv\u00f6lkern wie auch bei uns im politischen, wirtschaftlichen und geistigen Leben von \u00e4lteren Leuten bekleidet werden. Da diese durchschnittlich conservativer als die Jugend sind, so wirkt auch dieses Verh\u00e4ltniss im Sinne der Erhaltung der Oulturformen. Es findet so ein merkw\u00fcrdiges Verh\u00e4ltniss der Ausschlie\u00dfung zwischen der Neigung und der F\u00e4higkeit zum Widerstande gegen die vorhandenen Oulturformen statt. So lange noch die Neigung in der jungen Generation vorhanden sein k\u00f6nnte, hat sie nicht die F\u00e4higkeit zum selbst\u00e4ndigen Benehmen, und wenn sie diese erlangt hat, ist jene erloschen. Man k\u00f6nnte unter diesem Gesichtspunkte das heranwachsende Geschlecht unter dem Symbol eines gefangenen Vogels vorstellen, dem man erst in dem Augenblick die Freiheit wiedergibt, in dem seine Schwingen gestutzt sind.\n11)\tWechselwirkungen zwischen Handlung und Denkweise. Wir erl\u00e4utern den hier gemeinten Factor zun\u00e4chst an einigen Beispielen. Die Naturv\u00f6lker, vorz\u00fcglich ihre Priester, verkehren mit der Geisterwelt bekanntlich sehr intensiv in Gestalt von Ekstasen, Visionen und Tr\u00e4umen. Der Inhalt dieser Bewusstseinszust\u00e4nde entspricht dabei dem allgemeinen Satze, dass in diesem pathologischen Zustande die W\u00fcnsche, Hoffnungen und Meinungen des Menschen anschauliche Gestalt annehmen, die subjective Seite seines Bewusstseins f\u00fcr ihn gleichsam Fleisch und Blut wird. In der Ekstase oder Vision erlebt der Priester dasjenige, was er vorher zu erleben glaubt oder hofft; im Traume schaut der Einzelne die G\u00f6tter- oder Geisterwelt so, wie er sie sich nach dem Glauben seines Stammes gedacht","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nA. Vierkandt.\nhat. Der Grund f\u00fcr den Inhalt dieser Zust\u00e4nde liegt also in den herrschenden Anschauungen. Indem diese aber durch jene einen vermeintlichen Beweis f\u00fcr ihre Richtigkeit finden, wirken jene wiederum im Sinne der Verst\u00e4rkung auf sie zur\u00fcck. Es findet also eine Wechselwirkung zwischen den Anschauungen der Gesammtheit und den Erlebnissen der Einzelnen mit dem Effecte der wechselseitigen Steigerung statt. Ein weiteres Beispiel entnehmen wir den sch\u00f6nen Er\u00f6rterungen Herbert Spencer\u2019s \u00fcber den \u00fcbertriebenen Glauben der meisten Menschen an die Macht der Regierung. *) Dieser Glaube l\u00e4sst das Publicum \u00fcberall, wo irgend welche M\u00e4ngel der Politik sich bemerklich machen, nach Abh\u00fclfe auf dem Wege der Th\u00e4tigkeit der Regierung, event, auf dem Wege der Gesetzgebung rufen. Indem die Regierung diesem Verlangen im allgemeinen entspricht, verst\u00e4rkt sie wiederum den Glauben an ihre Allmacht, der sie vorher zu solchen Schritten veranlasst hatte ; also auch hier dieselbe Kreisbewegung mit derselben Steigerung. Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit der Sch\u00e4tzung des Geldes: die theoretische Hochachtung des Einzelnen vor ihm entspringt zum gro\u00dfen Theil der Wahrnehmung, dass alle Menschen ihm nachtrachten, dieses Nachjagen aber beruht wieder zum gro\u00dfen Theil auf der allgemeinen Werthsch\u00e4tzung. Besonders deutlich wird diese Wechselwirkung bei solchen Zust\u00e4nden, wo das Geld wenig praktische, genauer wenig wirthschaftliche Bedeutung besitzt, wie das bei den Naturv\u00f6lkern meistens da der Fall ist, wo es lediglich als sogenanntes Binnengeld innerhalb des Stammes vorz\u00fcglich zu socialen Zwecken, wie Heirath, Einkauf in eine h\u00f6here Gesellschaftsclasse u. s. w. verwendet wird. E\u00fcr unsere Auffassung hat die Sch\u00e4tzung des Geldes hier viel mehr einen imagin\u00e4ren Zug als bei uns. In der That ist jener merkw\u00fcrdige Zirkel, verm\u00f6ge dessen das Geld von allen gesch\u00e4tzt wird, weil es von allen erstrebt wird, und von allen erstrebt wird, weil es von allen gesch\u00e4tzt wird, hier noch viel deutlicher, weil seine Verwendung zu socialen Zwecken im ganzen doch eine seltene ist und vorwiegend das Geld noch den Charakter eines Schmuckes oder eines Luxus besitzt. Genau dasselbe k\u00f6nnen wir bei uns \u00fcberall da beobachten, wo es sich um Besitzth\u00fcmer handelt, die entweder gar keine oder keine in Betracht kommende praktische Verwendbar-\n1) Spencer, Einleitung in die Sociologie I, S. 214.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n439\nkeit besitzen wie vielfach Edelsteine, Alterth\u00fcmer, Rarit\u00e4ten u. \u00e4. Der sachliche Werth tritt hier vor dem subjectiven vollst\u00e4ndig in den Hintergrund, und dieser beruht offenbar auf derselben steigernden Wechselwirkung von Sch\u00e4tzen und Erstreben.\nDiese selbe Wechselwirkung kommt nun allgemein f\u00fcr die Erhaltung bestimmter Culturg\u00fcter in Betracht; n\u00e4mlich vorz\u00fcglich f\u00fcr diejenige der Sitten, der wirthschaftlichen und technischen, der politischen und socialen Zust\u00e4nde, der niederen und h\u00f6heren Berufsarten und auch des religi\u00f6sen Rituals. Eine Sitte z. \u00df. befolgt der Einzelne, weil die anderen es von ihm erwarten; und diese erwarten es von ihm, weil sie die Sitte \u00fcberall bei den betreffenden Anl\u00e4ssen befolgt sehen. Der Handwerker arbeitet nach einer ganz bestimmten Schablone, weil das Publicum es von ihm verlangt, und dieses verlangt es, weil es das Handwerk sich immer in dieser bestimmten Bahn bewegen sieht. Eine \u00e4hnliche Wechselwirkung zwischen dem K\u00fcnstler und dem Publicum erh\u00e4lt bestimmte Stilarten. Allgemein k\u00f6nnen wir die hier in Rede stehende Erscheinung auf die Eormel bringen: der Handelnde benimmt sich gem\u00e4\u00df der Erwartung der Zuschauer, und die Erwartung der Zuschauer richtet sich nach dem Benehmen des Handelnden. Wir beobachten hier eine Kreisbewegung von der denkbar gr\u00f6\u00dften Vollkommenheit ; wir sehen die Culturformen liier in einen Zirkel gebannt, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. An dieser Stelle wird es uns recht deutlich, wie sehr die subjectiven Gr\u00fcnde die sachlichen bei der Erhaltung der Culturg\u00fcter an Bedeutung \u00fcbertreffen.\nBei der hier betrachteten Wechselwirkung sind die Rollen des Zuschauers und Handelnden zum Theil auf verschiedene Personen vertheilt. Als Zuschauer kommen zwar alle Individuen in Betracht, hinsichtlich der Handelnden jedoch finden vorz\u00fcglich zwei Einschr\u00e4nkungen statt. Erstens verh\u00e4lt sich die Jugend, wie vorhin schon er\u00f6rtert, vorwiegend receptiv; sie s\u00e4ttigt sich in der Rolle der Zuschauer zun\u00e4chst mit den Eindr\u00fccken, welche die vorhandenen Culturformen auf sie aus\u00fcben, verw\u00e4chst so innerlich ganz und gar mit ihnen, ehe sie selbst dann als Schauspieler auf die B\u00fchne tritt, um diejenige Rolle zu spielen, mit der sie inzwischen inner lieh verschmolzen ist. Eine zweite Einschr\u00e4nkung bildet der Beruf bei allen denjenigen Culturg\u00fctem, f\u00fcr deren Erhaltung nur bestimmte Berufsarten in Betracht kommen.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nA. Vierkandt.\n12) Der Rollenwechsel. Es handelt sich hierbei um den Druck den die Gesammtheit auf den Einzelnen hinsichtlich der Befolgung gewisser Nonnen des Zusammenlebens, also vorz\u00fcglich gewisser Sitten sittlicher und rechtlicher Gebote aus\u00fcbt. Die Anschauungen \u00fcber das, was in einem solchen Fall geschehen soll, sind an sich bei der Gruppe und bei dem Einzelnen gleich, nur werden sie bei diesem durch sein eigenes zuwiderlaufendes Interesse so sehr zur\u00fcckgedr\u00e4ngt, dass er ohne jenen Druck oft die socialen Normen nicht befolgen und die Unterlassung vor sich selbst besch\u00f6nigen w\u00fcrde, w\u00e4hrend umgekehrt die Gruppe, wenn sie ihn zur Befolgung dr\u00e4ngt, sittlich nicht h\u00f6her steht als er, sondern nur das Verdienst einer von der Collision entgegengesetzter Interessen befreiten Situation hat. Wir k\u00f6nnen dabei zwei Typen unterscheiden, je nachdem die Gruppe pers\u00f6nlich an der Befolgung der Normen uninteressirt oder interessirt ist. Wir beginnen mit dem ersten Fall. Hier steht die Gruppe als Zuschauer dem Einzelnen als Handelnden gegen\u00fcber. Allgemein gilt dabei bekanntlich der Satz, dass der Zuschauer strenger urtheilt als der Handelnde \u00fcber sich selbst. Das gilt z. B. durchweg der Pflichterf\u00fcllung im t\u00e4glichen Leben gegen\u00fcber. Der Einzelne ist viel geneigter, bei etwaigen Collisionen zwischen der Pflicht und wider-streitenden Interessen sich vor sich selbst zu entschuldigen und zu rechtfertigen. Der sittliche Antrieb, den er auf sich selbst aus\u00fcbt, ist weit geringer als derjenige der uninteressirten Gesammtheit. Wenn z. B. der wirthschaftlich g\u00fcnstiger Gestellte den Anforderungen der Wohlth\u00e4tigkeit innerhalb gewisser Grenzen nicht entsprechen will, so ist die Auffassung der Gesellschaft nicht deshalb so rigoros, weil ihre Mitglieder im Durchschnitt h\u00f6her stehen als er, sondern weil sie von denjenigen Interessen unber\u00fchrt bleiben, die seinen humanen Regungen widerstreben. Vielleicht am deutlichsten ist diese Einwirkung auf dem Gebiet der \u00e4u\u00dferen Umgangsformen, des Anstandes, der H\u00f6flichkeit und zum Theil auch noch der Billigkeit und der Gerechtigkeit. Namentlich unter den Geboten des Anstandes, der H\u00f6flichkeit und des gesellschaftlichen Ceremoniells seufzt gelegentlich wohl ein jeder, aber dennoch tr\u00e4gt er in allen anderen F\u00e4llen, in denen er von der Befolgung jener Normen nichts zu leiden hat, als Zuschauer und Beurtheilender mit zu ihrem weiteren Bestehen bei. Es wirkt hierbei eine Eigenschaft mit, die in anderen","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"441\nDie Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\nFallen sinh nicht im g\u00fcnstigen sondern im ung\u00fcnstigen Sinne bemerklich macht, n\u00e4mlich die geringe Bef\u00e4higung der meisten Menschen, sich in den Zustand eines andern hinein zu versetzen, insbesondere also auch die inneren Widerst\u00e4nde nachzuf\u00fchlen und zu w\u00fcrdigen, die ihm die Erf\u00fcllung derartiger Normen erschweren.\nIn anderen F\u00e4llen hat die Gruppe ein pers\u00f6nliches Interesse an der Befolgung ihrer Normen z. B. bei der Bestrafung von Verbrechern, bei dem Rechts- oder Gesetzesbruch, bei der Besteuerung und \u00fcberhaupt bei der Aufrechterhaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Wenn hier die Gruppe jede Auflehnung gegen sie verurtheilt, so wirken dabei offenbar egoistische und sittliche Kr\u00e4fte zusammen. Aber wesentlich ist auch hier, dass die Beurteilenden jedesmal \u00fcber der Collision der Interessen stehen, von dem Drucke frei sind, der den Widerspenstigen zur Auflehnung antreibt.\t:\nMan pflegt den hier betrachteten Sachverhalt wohl auf die Formel zu bringen : die Gesellschaft zwingt den Einzelnen wider seine eigenen Interessen zu handeln, oder man sagt auch: die sittliche, gesellschaftliche und staatliche Ordnung entspricht dem Egoismus der Gesammt-heit, und diese sorgt daher f\u00fcr sich selbst, wenn sie den Einzelnen an der Auflehnung gegen sie verhindert. Diese Ausdrucksweise verschleiert den wahren Sachverhalt schon dadurch, dass sie sich mit der einfachen Beschreibung des complexen Zustandes und Vorganges begn\u00fcgt, statt ihn in seine Bestandtheile zu zerlegen. Sie verh\u00fcllt insbesondere aber das Eigenartige dieses Verh\u00e4ltnisses auch deswegen, weil sie gar nicht auf denjenigen Vorgang eingeht, den wir in der Ueberschrift als Rollenwechsel bezeichnet haben. Abgesehen n\u00e4mlich von den gr\u00f6beren Verletzungen der bestehenden Ordnung kommt gelegentlich jeder Einzelne in die Lage, sich gegen sie zu vergehen oder gegen sie vergehen zu wollen und dabei denselben Druck der Gruppe zu erfahren, andern er in anderen F\u00e4llen selbst mitzuwirken pflegt. In einem Bilde k\u00f6nnte man von einer Gruppe sprechen, deren Mitglieder sich gegenseitig selbst Ketten anlegen, von denen ]edesmal ein Einzelner sich von den \u00fcbrigen die Fesseln schmieden l\u00e4sst, um sich danach, w\u00e4hrend das Loos der Reihe nach die anderen trifft, selber an dieser Knechtung zu betheiligen. Bei der Befolgung","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nA. Vierkandt.\nder Anspr\u00fcche der gesellschaftlichen Etiquette ist dieses Verh\u00e4ltnis vielleicht am klarsten. Hier tritt n\u00e4mlich der innere Werth der socialen Normen und damit der Antheil, den auch noch das eigene sittliche Urtheil des Widerstrebenden an der Unterwerfung hat, am meisten zur\u00fcck. Hier handelt es sich in einer au\u00dferordentlichen Ann\u00e4herung um einen Mechanismus, bei dem alle Einzelnen wechselseitig darauf hinwirken, einander einem Zwang zu unterwerfen, den jeder Einzelne da, wo er selbst von ihm betroffen wird, verabscheut. Von einem Mechanismus hier zu sprechen ist deswegen so angebracht, weil die Wirkung, die wir hier betrachten, nicht auf einer Entfaltung neuer Kr\u00e4fte sondern nur auf einer besonders zweckm\u00e4\u00dfigen Gruppirung der wirkenden Elemente beruht. Eben deswegen ist auch der Ausdruck > Gesellschaft\u00ab so irref\u00fchrend, weil es sich hei allen diesen Einwirkungen der Gruppe auf den Einzelnen keineswegs um ein verschiedenes Substrat, um eine h\u00f6here sittliche Qualit\u00e4t, sondern um dieselben sittlichen Kr\u00e4fte handelt, die auch in dem einzelnen Widerstrebenden vorhanden sind, nur dass sie bei ihm gel\u00e4hmt, hei den andern aber frei sind. F\u00fcr die wunderbare und r\u00e4thselhafte Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des socialen Lebens liefert grade dieser Process des Rollenwechsels einen der lehrreichsten Belege.\nII. Die sachlichen Gr\u00fcnde.\nEs handelt sich hier um die Thatsache, dass die Formen der Cultur vielfach auch um ihrer selbst willen, n\u00e4mlich wegen des ihnen beigelegten logischen, ethischen, \u00e4sthetischen oder praktischen Werthes bewahrt werden. Wir unterscheiden dabei zwei Typen. Entweder sch\u00f6pft das Bewusstsein seine Ueberzeugung vom Werthe des betreffenden Culturgutes aus diesem selbst, d. h. genauer aus dem Eindruck, den es von ihm an und f\u00fcr sich empf\u00e4ngt und ebenso empfangen w\u00fcrde, falls es als isolirtes Wesen allein ihm gegen\u00fcberst\u00e4nde; oder es wird bei seiner Sch\u00e4tzung thats\u00e4chlich von den Anschauungen seiner Umgebung beeinflusst und sucht diese, jenes Zusammenhanges unbewusst, nachtr\u00e4glich vor sich und anderen aus sachlichen Gr\u00fcnden zu rechtfertigen. Wir unterscheiden beide F\u00e4lle als prim\u00e4re und secund\u00e4re sachliche Gr\u00fcnde.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"l)ie Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n443\n1) Prim\u00e4re sachliche Gr\u00fcnde. Wir m\u00fcssen hier wieder zwischen berechtigten und unberechtigten Gr\u00fcnden unterscheiden. Solange die letzteren lediglich auf zuf\u00e4lligen individuellen Yerirrungen in der Sch\u00e4tzung beruhen, haben sie f\u00fcr uns nat\u00fcrlich kein Interesse. Es gibt jedoch auch falsche Sch\u00e4tzungen von allgemeiner H\u00e4ufigkeit und typischem Charakter, ohne dass sie sich auf sociale Einfl\u00fcsse zur\u00fcckf\u00fchren lassen. Vorz\u00fcglich bei der Selbsterhaltung der religi\u00f6sen Systeme sprechen solche Einfl\u00fcsse in hohem Ma\u00dfe mit. Jedes religi\u00f6se System n\u00e4mlich wird einerseits von seinen Anh\u00e4ngern so construirt, \u00fcbt anderseits auf diese solche Wirkungen aus, dass es auch f\u00fcr den unbetheiligten Zuschauer, der den psychologischen Mechanismus dieser Processe nicht zu \u00fcberblicken vermag, seinen Wahrheitsbeweis in sich zu tragen scheint. Wir gehen jedoch auf diese Dinge hier nicht ein1), sondern beschr\u00e4nken uns auf einen kurzen Ueberblick \u00fcber die berechtigten prim\u00e4ren sachlichen Gr\u00fcnde. Von ihnen nennen wir zuerst den idealen Gehalt gewisser Culturg\u00fcter, d. h. ihren Gehalt an logischen, ethischen und \u00e4sthetischen Werthen. Wie weit dieser zum Fortbestehen der wissenschaftlichen Anschauungen, der k\u00fcnstlerischen Richtungen, der sittlichen Normen, der Sitten und des Rechtes beitr\u00e4gt, bed\u00fcrfte h\u00f6chstens insofern einer weiteren Er\u00f6rterung, als man davor Warnen m\u00fcsste, die Bedeutung dieses Momentes zu \u00fcbersch\u00e4tzen. Auf diesen Punkt werden wir jedoch sp\u00e4ter im Zusammenhang der abschlie\u00df enden Er\u00f6rterung dieser ganzen Untersuchung zur\u00fcckkommen.\nIn zweiter Linie ist der Nutzen gewisser Culturg\u00fcter in Betracht zu ziehen. Wir machen zun\u00e4chst auf diejenige Art von Nutzen aufmerksam, die man als einen imagin\u00e4ren bezeichnen k\u00f6nnte. Wir meinen damit die religi\u00f6se Motivirung, welche, abgesehen vom religi\u00f6sen Ritual selber, so viele Sitten auf primitiven Stufen aufrecht erh\u00e4lt. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, wie die G\u00f6tter in der Regel als besonders conservativ gedacht werden und demgem\u00e4\u00df die vorhandene gesellschaftliche Ordnung besonders zu sch\u00fctzen als geeignet erscheinen. Ebenso umfassend ist die St\u00fctze, welche aus dem\n1) Skizzirt sind sie f\u00fcr die religi\u00f6sen Systeme vom Verfasser in dem Aufsatz : \u00bbDie Selbsterhaltung der religi\u00f6sen Systeme\u00ab. Vierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie und Sociologie. Bd. 26. S. 205\u2014220.","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nA. Vierkandt.\nrealen Nutzen der Erhaltung der Culturg\u00fcter erw\u00e4chst. Vorz\u00fcglich die Formen der Technik und der Wirthschaft und \u00fcberhaupt aller Berufsarten kommen dahei in Betracht. Vielfach lassen sich auch die Erscheinungen des Rechts und der Sitte diesem Gesichtspunkte unterordnen. Den Nutzen der einzelnen Sitten hat bekanntlich Rudolf von Ihering scharfsinnig, wenn auch wohl etwas \u00fcbertreibend, indem er zu viel in die Dinge hineintrug, er\u00f6rtert. Wir weisen zur Erl\u00e4uterung nur hin auf den Nutzen der Umgangsformen, welche die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft b\u00e4ndigen und gegenseitig vor Ausbr\u00fcchen der Rohheit sch\u00fctzen; auf den Werth der Trauerkleidung, welche den Trauernden davor sichert, in unpassende Situationen hineingezogen zu werden, und die Gesellschaft vor dem peinlichen Schauspiel bewahrt, dass er sich in einer seiner Lage nicht angemessenen Weise benimmt; oder endlich an den Nutzen der Blutrache, die auf h\u00f6heren Stufen vielfach da, wo ein ausgepr\u00e4gter Rechtsschutz des menschlichen Lebens noch, nicht vorhanden ist, diesen verm\u00f6ge der Furcht vor Wiedervergeltung zu ersetzen im st\u00e4nde ist. Handelt es sich in diesen F\u00e4llen um einen Nutzen f\u00fcr die ganze Gesellschaft, so ist er in anderen F\u00e4llen auf diejenigen beschr\u00e4nkt, die bei der Aus\u00fcbung einer bestimmten Sitte in Betracht kommen. So ist z. B. das Trinkgeldgeben zugleich dem Empf\u00e4nger und auch, indem es ihm eine aufmerksame Bedienung sichert, f\u00fcr den Gebenden vor-theilhaft. Oder bestimmte umst\u00e4ndliche Gru\u00dfformen bei Naturv\u00f6lkern sichern die sich Begegnenden, indem sie wegen ihrer Umst\u00e4ndlichkeit eine genauere Orientirung gestatten, gegenseitig vor der Gefahr pl\u00f6tzlichen feindlichen Ueberfalles.\nIn manchen F\u00e4llen tritt an die Stelle des Nutzens auch die blo\u00dfe Annehmlichkeit f\u00fcr alle oder einen Theil der bei der Aus\u00fcbung der betreffenden Sitte in Betracht kommenden Personen. So in vielen F\u00e4llen schon bei dem Trinkgeldgeben, so etwa bei der fr\u00fcheren Sitte der Leichenschm\u00e4use und bei allen Formen der Gastlichkeit, so auch bei allen denjenigen Grussformen, die einen vorwiegend einseitigen Charakter haben, indem sie vorz\u00fcglich Gef\u00fchle der Ehrerbietung oder auch der Furcht gegen\u00fcber M\u00e4chtigen zum Ausdruck bringen.\n2) Secund\u00e4re sachliche Gr\u00fcnde. Wir kommen jetzt zu denjenigen F\u00e4llen, in denen unsere Werthurtheile nicht der Natur der","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\t445\nDinge, sondern einer nachtr\u00e4glichen Anpassung unseres Bewusstseins an die gegebenen Thatsachen entspringen. Wir k\u00f6nnen diese Anpassung etwa auf die Formel bringen: es wird zu viel in die Thatsachen hineingelegt, oder auf die andere: es gilt im Sinne Hegel\u2019s alles Wirkliche als vern\u00fcnftig. Wir gehen zun\u00e4chst eine Reihe von Beispielen.\nAuf ethischem Gebiete nennen wir zuv\u00f6rderst als ein \u00fcbliches Verfahren die au\u00dferordentliche Glorificirung der Geschlechtsliebe. Es ist oft ausgesprochen, dass diese als eine blinde Leidenschaft an sich weder gut noch b\u00f6se ist, aber da theils sie selbst, theils ihr Schein im Leben der Gesellschaft eine gro\u00dfe Rolle spielt und oft mit sittlichen Werthen eng verflochten ist, so hat sich die sittliche Beurtheilung den Thatsachen in durchaus einseitiger und \u00fcbertreibender Weise angepasst, indem sie jene Verflechtung f\u00fcr nothwendig, die sittlichen Folgen f\u00fcr die einzig auftretenden erkl\u00e4rt. Die wunderbaren Spr\u00fcnge ferner, in denen sich das Schamgef\u00fchl bei verschiedenen V\u00f6lkern bewegt, die Widerspr\u00fcche besonders, die es auch bei derselben Gruppe zeigt, z. B. bei uns, wo es zwischen der \u00e4u\u00dfersten Pr\u00fcderie und der weitgehenden Entbl\u00f6\u00dfung im Ballsaal hin-und herpendelt, legen uns die Annahme einer nachtr\u00e4glichen Anpassung dieser Regungen wenigstens im Einzelnen zwingend nahe. Auch die sittliche Rechtfertigung des Duells z\u00e4hlt hierher. Die einseitige Verherrlichung des Mitleides, der Wohlth\u00e4tigkeit und der N\u00e4chstenliebe als der Angelpunkte der Moral hat \u00e4hnlich Nietzsche als Ausgeburten der Indolenz, der Bequemlichkeit und der Leistungsunf\u00e4higkeit auf h\u00f6heren sittlichen Gebieten mit Recht gegei\u00dfelt. Hierher geh\u00f6ren ferner gewisse Urtheile \u00fcber den inneren Gehalt der modernen Cultur, im besonderen solche, die in bekannter einseitiger Weise nur ihre wirthschaftliche Bl\u00fcthe im Auge haben, oder die gel\u00e4ufige Anpreisung des gro\u00dfst\u00e4dtischen Wesens als Bl\u00fcthe der Menschheit. Als ein letztes einzelnes Beispiel f\u00fchren wir das bekannte Argument an, mit dem man jeden selbst unver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfigen oder sinnlosen Aufwand des Einzelnen bei seiner Lebensf\u00fchrung zu rechtfertigen sucht, dass es n\u00e4mlich doch immer verdienstlich sei, Geld unter die Leute zu bringen \u2014 eine Behauptung, die bei einer auch nur einigerma\u00dfen n\u00e4heren Pr\u00fcfung sich als so sinnlos erweist, dass sie den Stempel ihrer nachtr\u00e4glichen","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nA. Vierkandt.\nAnpassung an gegebene Realit\u00e4ten an der Stirn tr\u00e4gt. Endlich geh\u00f6rt hierher die bekannte sittliche Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Institutionen wie der Ehe, des Besitzes, der Gliederung einer Gesellschaft in St\u00e4nde und Classen, der Art der Regierung und ihrer Th\u00e4tigkeit, der Kirche u. s. w. Das naive Denken ist gew\u00f6hnt, allen diesen Institutionen, indem es in einseitiger Weise bei ihnen lediglich das Licht, nicht den Schatten sieht, eine \u00fcbertriebene sittliche Bedeutung beizulegen und sie als v\u00f6llig unentbehrliche Grundlagen alles humanen Lebens zu denken, die durch keine anderen ersetzt oder auch nur modificirt werden k\u00f6nnten. Wenn man bedenkt, wie einige dieser Institutionen urspr\u00fcnglich vorzugsweise auf Raub, List und Gewalt und dergleichen sich aufbauten und sich erst sp\u00e4ter mehr oder weniger ethisirt haben, so wird man an das den Typus dieser Erscheinungen charakterisirende Dichterwort gemahnt: Sei im Besitze .und du wohnst im Recht. \u2014 Eine \u00e4hnliche Anpassung stellt die Rechtfertigung mancher Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte ihrer Zweckm\u00e4\u00dfigkeit oder N\u00fctzlichkeit dar, indem diese letzteren thats\u00e4chlich h\u00e4ufig viel geringer, als man annimmt, oder v\u00f6llig illusorisch sind. Wir meinen eine F\u00fclle von Gebr\u00e4uchen und Gepflogenheiten in den verschiedenen Gewerben, den Ma\u00dfregeln der Regierung, der Schule, der Kirche oder den Gewohnheiten anderer Berufsarten. Mit einem besonderen Falle dieses Typus h\u00e4ngt die von Herbert Spencer so eingehend geschilderte naive Ueber-sch\u00e4tzung der Macht des Staates zusammen, den das popul\u00e4re Denken so gern als ein alles verm\u00f6gendes Wesen auf fasst, welches durch Gesetz und Institutionen alle Sch\u00e4den zu heilen verm\u00f6chte, obwohl die Erfahrung t\u00e4glich das Gegentheil beweist. Diese Uebersch\u00e4tzung bedeutet nicht nur an sich eine Anpassung des Werthurtheiles an die Realit\u00e4t, sondern bildet auch die Grundlage f\u00fcr die eben erw\u00e4hnte Rechtfertigung so vieler staatlicher Ma\u00dfregeln unter dem Gesichtspunkte der N\u00fctzlichkeit.\nIndem wir aus dem \u00e4sthetischen Gebiet nur die nachtr\u00e4gliche Rechtfertigung auch der unsinnigsten Moden im Gebiete der Tracht oder der Umgangsformen, sowie die sachliche Begr\u00fcndung so mancher Tagesstr\u00f6mungen auf dem Gebiete der Literatur oder Kunst nennen, wenden wir uns sofort den logischen Anpassungen zu, d. h. der Thatsache, dass Urtheilen, die von Haus aus einen rein socialen","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n447\nUrsprung tragen, lediglich von anderen suggerirt sind, nachtr\u00e4glich mit voller subjectiver Ueberzeugung das Pr\u00e4dicat der Wahrheit beigelegt wird, und man ihnen eine F\u00fclle von Argumenten zur St\u00fctze gibt, sie auch deductiv zur Erkl\u00e4rung anderer Thatsachen in einer Weise zu verwenden sucht, als habe lediglich die Natur der Dinge zu ihrer Bildung Anlass gegeben. Wenn die Bororo z. B. die Kopfschmerzen eines Menschen, der vorzeitig aus dem Schlafe geweckt wird, damit erkl\u00e4ren, dass die ausgeschw\u00e4rmte Seele bei der R\u00fcckkehr sich zu sehr abhetzen muss, so dienen ihnen solche Deductionen als nachtr\u00e4glicher Wahrheitsbeweis von Anschauungen, die urspr\u00fcnglich einen vorwiegend gesellschaftlichen Ursprung haben. Dieselbe Erscheinung beobachten wir heute vielfach bei der Verteidigung der vielen Arten von Naturheilverfahren und verwandten Methoden, wie den Heilmitteln des Spiritismus oder den Gebetswirkungen. Ueberall wird von den Anh\u00e4ngern dieser Methoden hinterher eine F\u00fclle von Gr\u00fcnden und Thatsachen f\u00fcr ihre Bichtigkeit ins Feld gef\u00fchrt und die urspr\u00fcnglich rein subjective Entstehung dieser Wahngebilde erscheint so ihren J\u00fcngern selbst nachtr\u00e4glich als lediglich durch die Gewalt der Thatsachen hervorgerufen. Ein verwandtes Schauspiel ist es, wenn auf religi\u00f6sem und politischem Gebiet die Anh\u00e4nger aller Parteien mit gleichem Eifer f\u00fcr die ausschlie\u00dfliche Bichtigkeit ihrer jeweiligen Ueberzeugungen eintreten, gleich als seien diese lediglich aus den Thatsachen selbst gesch\u00f6pft.\nWir kommen jetzt zu den Gr\u00fcnden dieser Anpassung unserer Werthurtheile an die Thatsachen. Einige davon sind bereits im ersten Theile unserer Er\u00f6rterung erw\u00e4hnt worden. Wir nennen davon zun\u00e4chst die Thatsache der Denkgewohnheit, die, wie wir sahen, alles das, was allgemein g\u00fcltig und ausnahmslos ist, auch als nothwendig erscheinen l\u00e4sst. Indem sie so den festen Rahmen, in dem sich alles Leben abspielt, als etwas, das man nicht anders denken kann, als den Ausfluss einer inneren Nothwendigkeit hinstellt, schafft sie damit gleichsam ein Zwischenglied, welches zwischen der Thats\u00e4chlichkeit der Dinge und ihrem inneren Werth vermittelt, schafft sie damit eine Grundlage, auf der erst die \u00fcbrigen Ursachen in Wirksamkeit zu treten verm\u00f6gen.\nDiese k\u00f6nnen wir in solche von intellectueller und von emotionaler Beschaffenheit eintheilen. Inersterer Beziehung kommt die","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\tA. Yierkandt.\nWirksamkeit der Analogie in Betracht.. Wir erl\u00e4utern sie zun\u00e4chst an den Verirrungen des Intellectualismus, welche bekanntlich darin bestehen, dass man das Zweckbewusstsein und den Grad der Berechnung im menschlichen Handeln \u00fcbersch\u00e4tzt, oder dass man die Ergebnisse der eigenen Reflexion in ein Handeln und Benehmen hineintr\u00e4gt, welches analoge Wirkungen, aber nicht analoge Ursachen hat1). Diese Uebertragung entspringt vorz\u00fcglich dem Umstand, dass im allgemeinen diejenigen Bewusstseinsprocesse, welche mit einem gr\u00f6\u00dferen Aufwand von Ueberlegung ahlaufen, dem Menschen gleichsam am meisten in die Augen fallen. Sie erscheinen ihm daher leicht als die einzige Art des Benehmens und Handelns und werden demgem\u00e4\u00df zur Erkl\u00e4rung aller anderen Processe verwendet. Auf derselben Analogie beruht es offenbar zum gro\u00dfen Theile, wenn so viele feste Formen im Bereiche der Berufsarten, insbesondere der gewerblichen und technischen, wie auch so viele Institutionen und Ma\u00dfregeln der Regierung und Verwaltung als Ergebnisse zweckm\u00e4\u00dfiger Reflexion und zweckbewusster Th\u00e4tigkeit hingestellt werden ; der Schluss von gewissen Erscheinungen, bei denen wirklich eine solche Reflexion stattfindet, ist hier offenbar. Ein \u00e4hnlicher Trugschluss ist es, wenn man in die Erscheinungen der Sitte ein zu gro\u00dfes Ma\u00df von Zweckbewusstsein hineindeutet, oder wenn man heutzutage so viele Kurpfuschereien als zweckm\u00e4\u00dfig zu rechtfertigen sucht. Dieselbe verfehlte Uebertragung findet vielfach im Gebiete der ethischen und \u00e4sthetischen Erscheinungen statt, indem auch hier von einem Theile der Erscheinungen in unberechtigter Weise auf einen anderen geschlossen wird.\nDie emotionalen Gr\u00fcnde der Anpassung entspringen theils der Natur des menschlichen Bewusstseins an sich, theils der Art,, wie die Au\u00dfenwelt auf es einwirkt. In ersterer Hinsicht kommt die Wirkung des Selbstgef\u00fchls in Betracht. Wir erinnern zur Erl\u00e4uterung an eine individuelle Analogie: jemand, der f\u00fcr eine bestimmte Handlung oder Handlungsweise den wahren Grund vergessen hat, wird, wenn er nach einem solchen gefragt wird, in der Regel seine Unwissenheit vor anderen, wie vor sich selbst verschleiern und einen nachtr\u00e4glich gebildeten Grund angehen. Eine Hauptursache\n1) Ygl. Wundt, Logik 2 H, 2. S. 156.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n449\ndieser Verschiebung ist offenbar das Selbstgef\u00fchl, welches sich gegen den Gedanken des planlosen und un\u00fcberlegten Handelns str\u00e4ubt. Bei der Erhaltung der Culturformen kommt es in derselben Weise f\u00fcr viele praktische Culturg\u00fcter, insbesondere f\u00fcr die Formen der Sitte und des Rechtes, f\u00fcr die Berufsth\u00e4tigkeit sowie f\u00fcr die staatlichen Institutionen und Ma\u00dfregeln in Betracht. Auch hier str\u00e4ubt das Selbstgef\u00fchl sich gegen die Vorstellung, ohne rationelle Begr\u00fcndung sich in den herk\u00f6mmlichen Geleisen in ebenso mechanischer Weise zu bewegen wie ein Pferd, das im Kreise zu gehen gezwungen ist. Dass die ethischen, religi\u00f6sen und metaphysischen Werthurtheile, der Glaube an den Werth der sittlichen Normen und an die Wahrheit einer \u00fcbersinnlichen Welt ebenfalls zum Theil dem Selbstgef\u00fchl entspringt, ist klar. Es handelt sich dabei, k\u00f6nnte man auch sagen, um eine Art Projection des Ichs, welches die Ueberzeugung seines eigenen Werthes, den Wunsch seines eigenen Beharrens auf die umgebende Lebensordnung und das Weltganze \u00fcbertr\u00e4gt, sodass man auf diese Erscheinung auch den vorhin er\u00f6rterten Gesichtspunkt des Analogieverfahrens anwenden k\u00f6nnte. F\u00fcr die Neigung, den Sitten, Umgangs- und Lebensformen, die unser t\u00e4gliches Thun und Treiben regeln, einen eigenen Werth beizulegen, kommt dieses Selbstgef\u00fc vorz\u00fcglich in Verbindung mit der oben er\u00f6rterten Wirkung der Denkgewohnheit in Betracht; erscheint n\u00e4mlich jener Rahmen erst einmal als nothwendig, als gar nicht anders zu denken, so erweckt das Selbstgef\u00fchl nachtr\u00e4glich das Verlangen diese Nothwendigkeit als eine sinn- und werthvolle aufzufassen.\nVon denjenigen emotionalen Gr\u00fcnden, welche aus der Wirkung der Au\u00dfenwelt auf das Individuum entspringen, haben wir bereits zwei im ersten Theile namhaft gemacht, n\u00e4mlich die Gef\u00fchlswirkung und die Wirkung der Suggestion (s. oben Nr. 6 u. 9). Beide wirken ja dahin, dass uns die thats\u00e4chlichen Formen der menschlichen Cultur als werthvoll erscheinen. Als eine weitere Ursache derselben Art kommt die allgemeine Thatsache der Voreingenommenheit und der Disposition in Betracht, deren Grund stets ein emotionaler ist. Wie sehr beide Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung der That-sachen verf\u00e4lschen, ist bekannt. In diesem Sinne wirken zun\u00e4chst Partei- und Standesinteressen; ferner wirkt im Gewerbe, in den Berufsarten \u00e4hnlich die R\u00fccksicht theils auf das Publikum, theils\nWundt, Philos. Studien. XX.\t29","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nA. Vierkandt.\nauf die Vorgesetzten. Herbert Spencer hat in seiner \u00bbEinleitung in das Studium der Sociologie\u00ab diese Wirkung der Voreingenommenheit so ausf\u00fchrlich geschildert, dass wir uns damit begn\u00fcgen, auf ihn zu verweisen. Wir entlehnen ihm nur noch ein Beispiel. Die That-sache, dass durchschnittlich die Verheiratheten eine l\u00e4ngere Lebensdauer als die Unverheiratheten haben, wird gern als ein Beweis f\u00fcr die vortheilhaften Wirkungen der Ehe hingestellt. Thats\u00e4chlich liegt dabei eine Verwechslung von Wirkung und Ursache oder vielmehr eine Verwechslung der Ursache mit dem Auftreten von zwei Parallelwirkungen vor, insofern eine bessere G-esundheit sowohl die Eheschlie\u00dfung wie die Lebensdauer beg\u00fcnstigt. Aber die allgemeine Ueberzeugung vom Werth der Ehe disponirt hier von Anfang zu einer derartigen Deutung der Thatsachen. Man k\u00f6nnte dabei auch wieder an eine Wirkung des Selbstgef\u00fchls denken, wie ja \u00fcberhaupt die verschiedenen Factoren sich nicht streng sondern lassen. \u2014 Als einen besonderen Grund jener Voreingenommenheit, welche uns den festen Rahmen unseres Lebens von vornherein als werthvoll erscheinen l\u00e4sst, f\u00fchren wir hier weiter noch eine Thatsache an, die man als Abfindung durch die Sitte bezeichnen k\u00f6nnte. Die Aus\u00fcbung mancher Sitten fasst n\u00e4mlich das popul\u00e4re Denken gleichsam als ebenso viele hinreichende Befriedigungen f\u00fcr entsprechende Forderungen des Gewissens auf. Die Einehe zum Beispiel gilt als hinreichende Erf\u00fcllung der Forderung der sexuellen Reinheit, gewisse Arten und Veranstaltungen der Wohlth\u00e4tigkeit als hinreichende Erf\u00fcllung der Gebote der Humanit\u00e4t, gewisse Arten der \u00f6ffentlichen Anerkennung oder Ehrung etwa als hinreichender Ausweis f\u00fcr die Trefflichkeit der Lebensf\u00fchrung des betreffenden Individuums u. s. w. Indem in allen diesen F\u00e4llen der Mensch sich vor seinem eigenen Gewissen als gerechtfertigt erfindet, erscheinen ihm auch die bestehenden Institutionen und Zust\u00e4nde \u00fcberhaupt als den sittlichen Anforderungen gen\u00fcgend. Der ganze Rahmen und Hintergrund unseres Lebens erscheint so gegen\u00fcber allen etwaigen Kritiken, die an ihm r\u00fctteln wollen, als von unwiderleglicher Zweckm\u00e4\u00dfigkeit und Gediegenheit und dieses allgemeine Gef\u00fchl schafft offenbar einen Boden f\u00fcr alle Anschauungen, welche nun auch den einzelnen Culturg\u00fctern einen besonderen Werth zuschreiben. \u2014 Endlich erw\u00e4hnen wir als letztes Beispiel f\u00fcr die Wirkungen der Voreingenommenheit die","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n451\nErscheinungen der falschen Statistik: Interessen, die zu den herrschenden Anschauungen passen, werden getreuer im Ged\u00e4chtniss bewahrt als solche von entgegengesetzter Art, woraus das Bewusstsein nat\u00fcrlich neue Nahrung f\u00fcr seine Voreingenommenheiten sch\u00f6pft. Erf\u00fcllte Weissagungen, gelungene Wunderkuren, F\u00e4lle, die einem Sprichwort Recht gehen, Erscheinungen und Thatsachen, die einer wissenschaftlichen Theorie entsprechen, werden \u00fcberall in dieser Weise vom Bewusstsein ganz anders gewerthet als die entgegengesetzten Dinge.\nSchlussbemerkung.\nDas wichtigste Ergebniss unserer ganzen Betrachtung ist die Einsicht in das Verh\u00e4ltniss, in dem die suhjectiven Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur zu den ohjectiven stehen. Zu den suhjectiven rechnen wir dabei nicht blo\u00df diejenigen, die wir bisher als die formalen bezeichnet haben, sondern auch die secund\u00e4ren sachlichen. Bei dieser Begrenzung des Begriffes unterscheiden sich die suhjectiven Gr\u00fcnde von den sachlichen dadurch, dass sie gegen den Inhalt de\u00e8\\ betreffenden Culturgutes gleichg\u00fcltig sind, einen Mechanismus darstellen, der unabh\u00e4ngig von dem Wer the seines Gegenstandes func-tionirt. An St\u00e4rke \u00fcherwiegen nun offenbar die suhjectiven Gr\u00fcnde bei weitem die ohjectiven. Um die Bedeutung dieser Thatsache ins klar zu machen, betrachten wir zun\u00e4chst der Reihe nach zwei fingirte Zust\u00e4nde der Gesellschaft, welche sich ergeben, wenn wir uns die eine oder die andere Gruppe von Factoren ausgeschaltet denken.\nDenken wir uns die suhjectiven Gr\u00fcnde ausgeschaltet, so erhalten wir eine Auffassung von der menschlichen Cultur, welche dem Ideenkreis der Aufkl\u00e4rung im wesentlichen entspricht. Diese legte ja ihren Constructionen nach Art des Naturmenschen und der Naturreligion ein Gesch\u00f6pf zu Grunde, das man als isolirten Vernunftmenschen bezeichnen kann. Zun\u00e4chst wurde der Mensch bekanntlich als ein von Haus aus ungeselliges Wesen betrachtet, das mit einem Stamme ein f\u00fcr alle Mal gegebener Eigenschaften, welche den Inbegriff der menschlichen Natur ausmachen sollten, von vorn herein ausgestattet, lediglich in \u00e4u\u00dfere Beziehung zu den \u00fcbrigen Menschen tr\u00e4te, die an dieser seiner Natur nichts Wesentliches zu \u00e4ndern oder wenigstens nichts zu verbessern verm\u00f6chten; denn die Einfl\u00fcsse der\n29*","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nA. Yierkandt.\nGesellschaft auf das Individuum war man bekanntlich mehr geneigt in der Hauptsache als depravirende, von der Reinheit der Natur hinwegf\u00fchrende aufzufassen. Ferner schrieb man dem Menschen ein so hohes Geistesniveau zu, dass sein ganzes Benehmen in erster Linie durch ad\u00e4quate Gr\u00fcnde, insbesondere durch richtige logische, ethische und \u00e4sthetische Werthsch\u00e4tzungen geleitet w\u00fcrde. F\u00fcr diese Anschauung beruhte die Erhaltung der Oultur demgem\u00e4\u00df vorz\u00fcglich auf der Einsicht in den Werth der einzelnen Oulturg\u00fcter, \u00e4hnlich wie man ja auch deren Erschaffung haupts\u00e4chlich auf zweckbewusste Th\u00e4tigkeit, insbesondere auf vorwegnehmende Berechnung ihres Werthes zur\u00fcckzuf\u00fchren pflegte. Mit dieser Auffassung stand freilich die andere, eben genannte von dem depravirenden Einfluss der Oultur in einem gewissen Widerspruch; indessen milderte sich dieser durch die wiederum auf den Grundgedanken zur\u00fcckf\u00fchrende Annahme, dass eine Befreiung von jenen irreleitenden Einfl\u00fcssen und eine R\u00fcckkehr zu dem gesunden Zustande der Natur im Princip f\u00fcr m\u00f6glich galt. \u2014 Wie verfehlt dieser Ideenkreis ist, bedarf keines Wortes; insbesondere w\u00fcrde die ganze Reihe der von uns er\u00f6rterten subjectiven Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Oulturg\u00fcter gen\u00fcgen, um seine Unrichtigkeit aufzudecken.\nDie entgegengesetzte Anschauung, f\u00fcr welche die Wirksamkeit der objectiven Factoren nicht existirt, begegnet uns schon in dem Gedankenkreise der Sophistik und ist neuerdings im Zusammenh\u00e4nge mit dem Entwicklungsgedanken in Gestalt eines unbeschr\u00e4nkten Relativismus ausgepr\u00e4gt worden. F\u00fcr diese Anschauung haben die Oulturg\u00fcter fast nur einen conventionellen Werth.\nDer wahre Sachverhalt liegt offenbar zwischen diesen beiden Extremen, aber doch dem letztgenannten bedeutend n\u00e4her als dem erstgenannten. Wir machen uns diese Thatsache am besten dadurch klar, dass wir eine, mit unserem Thema verwandte Frage hier kurz er\u00f6rtern: Wie entstehen die Oulturg\u00fcter? Da n\u00e4mlich die subjectiven Factoren jeden ihnen einmal vorgegebenen Inhalt unabh\u00e4ngig von dessen inneren Eigenschaften wie einen Mechanismus erfassen, so kommt es offenbar vorz\u00fcglich darauf an, welcher Stoff ihnen gegeben wird. Der Vorgang, auf den wir so hingewiesen werden, steht zu dem von uns in dieser Abhandlung betrachteten in einem Verh\u00e4ltnis sowohl der Verwandtschaft wie des Gegensatzes. In einem","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n453\ngegens\u00e4tzlichen Verh\u00e4ltniss insofern, als die f\u00fcr die Erhaltung der Cultur th\u00e4tigen Factoren nicht nur s\u00e4mmtlich einer Umwandlung der bestehenden Zust\u00e4nde, sondern'einige von ihnen auch jeder Neuschaffung von Culturg\u00fctem sich widersetzen. Ein Verh\u00e4ltniss der Verwandtschaft aber ist deswegen vorhanden, weil in der Hauptsache f\u00fcr den Process der Umwandlung und Neuschaffung dieselben Kr\u00e4fte in Betracht kommen wie f\u00fcr den der Erhaltung \u2014 eine Beziehung, die es uns auch begreiflich macht, warum der eben genannte Widerstand in manchen F\u00e4llen nicht zur Geltung kommt. Auch f\u00fcr die Entstehung der Culturg\u00fcter kommen formale und sachliche Motive in Betracht. Als formales Motiv ist vor allem der Factor der Eitelkeit zu nennen, dessen Einfluss auf die Schaffung von Moden l\u00e4ngst bekannt ist, und \u00fcber dessen Bedeutung f\u00fcr manche andere insbesondere wirthschaftliche Culturg\u00fcter uns eine k\u00fcrzlich erschienene Ver\u00f6ffentlichung1) in dankenswerther Weise belehrt hat. Die sachlichen Gr\u00fcnde k\u00f6nnen wir in derselben Weise wie bei unserem Thema in prim\u00e4re und secund\u00e4re eintheilen, und die letzteren sind dann auch hier mindestens in demselben Ma\u00dfe wichtig wie die ersteren. Im Ganzen \u00fcberwiegen jedenfalls auch hier die subjectiven vor den objectiven Factoren \u2014 ein Missverh\u00e4ltnis, das in Verbindung mit dem entsprechenden Missverh\u00e4ltnis bei der Erhaltung der Culturg\u00fcter uns eine sehr pessimistische Anschauung \u00fcber den Grad des Conventionellen in unserer Cultur nahe legt.\nAllerdings enthalten die Dinge selbst gegen dieses Ueberwiegen des Conventionellen gewisse Gegengewichte in sich, vorz\u00fcglich nach zwei Seiten. Erstens sehen wir die logische, ethische und \u00e4sthetische Werthsch\u00e4tzung bei der Entwicklung der Cultur neben den subjectiven Factoren vielfach eine gro\u00dfe Bolle spielen. Auch in der krausesten Mythologie l\u00e4sst sich eine gewisse primitive Logik, auch in dem Zusammenleben der niedrigsten Horden ein gewisser Grad von Altruismus, auch in den Kunstleistungen der rohesten St\u00e4mme ein gewisses Ma\u00df von \u00e4sthetischem Gehalt nicht verkennen. Vor-\n1) B. Gurewitsch, Die Entwicklung der menschlichen Bed\u00fcrfnisse und die sociale Gliederung der Gesellschaft. (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen Bd. XIX, Bfeft 4.) \u2014 Eine ausf\u00fchrliche Besprechung des Buches und zugleich eine Er\u00f6rterung des im Text oben in Bede stehenden Problems vom Verfasser in der Zeitschr. f. Socialwissenschaft, Bd. \u00f6.","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nA. Vierkandt.\nz\u00fcglich f\u00fcr die Weiterentwicklung und Umgestaltung der Culturg\u00fcter sind diese Motive von der gr\u00f6\u00dften Bedeutung, sofern sie einen einmal, wenn auch aus minderwerthigeren Motiven geschaffenen That-bestand nachtr\u00e4glich durchdringen und seine Weiterentwicklung her-vorrufen k\u00f6nnen. Auf dem Gebiet des sittlichen Lebens hat Wundt diesen Process als Verschiebung der Motive bezeichnet und n\u00e4her beleuchtet. Die Blutrache wird z. B. auf diesem Wege aus einem Gesch\u00f6pf der blinden Bachsucht zu einem bewussten Mittel, das Leben zu sichern; die Gastfreundschaft aus einer Ausgeburt egoistischen Aberglaubens zu einem Ausdruck humaner Begungen u. s. w. Zweitens ist ein innerer Werth einzelnen Culturg\u00fctern von Haus aus immanent. Insbesondere gilt das f\u00fcr das Gebiet des sittlichen Lebens. Zun\u00e4chst besitzen hier alle Gebote, unabh\u00e4ngig von ihrem Inhalt, den gro\u00dfen formalen Werth den Eigenwillen zu b\u00e4ndigen und zu brechen; insbesondere den so \u00fcberaus zahlreichen religi\u00f6sen Geboten der niederen V\u00f6lker hat man, ungeachtet ihres oft sq absurden Charakters, schon immer mit Becht diesen Nutzen nachger\u00fchmt. Aber auch sachlich muss man den Satzungen, Geboten und Sitten eines Stammes, indem man darin dem Ideenkreis des Utilitarismus beistimmt, nachsagen, dass wenigstens ein gro\u00dfer Theil von ihnen dem Nutzen der Gesammtheit entspricht, in diesem Sinne also einen ethischen Werth besitzt.\nTrotz dieser Gegeninstanzen liegt aber, wie gesagt, der wahre Sachverhalt dem conventionalistischen Extrem n\u00e4her als dem idealistischen. Der Eindruck, den wir von den Grundlagen der Cultur und deren gesammtem Charakter durch unsere Betrachtung erhalten haben, ist ein vorwiegend pessimistischer. Die Wirksamkeit der Gesammtheit der von uns er\u00f6rterten Eactoren kann man angesichts der Sicherheit, mit der sie dem Einzelnen v\u00f6llig unbewusst und v\u00f6llig unabh\u00e4ngig von seiner Willk\u00fcr functioniren, mit einem Mechanismus vergleichen; und sie stimmt mit einem solchen auch darin \u00fcberein, dass sie, wie jeder Mechanismus, blind ist, d. h. ihren Stoff unabh\u00e4ngig von dessen Werth verarbeitet. Man k\u00f6nnte diesen Mechanismus auch als einen \u00fcberpr\u00e4cisen bezeichnen, sofern er, teleologisch betrachtet, oft \u00fcber sein Ziel hinausschie\u00dft; denn er widersetzt sich vielfach, wie wir sahen, auch der Umwandlung der bestehenden und der Schaffung neuer Culturg\u00fcter. Seine Zweckm\u00e4\u00dfigkeit ist oft rein","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung der Cultur.\n455\nimmanent und mit unseren Werthurtheilen in Widerspruch; denn manches, was \u00e8r sch\u00fctzt, wie z. B. die religi\u00f6sen Systeme und die \u00fcbertriebenen Anschauungen von der Macht und Bedeutung des Staates, sind f\u00fcr das Bestehen der Gesellschaft und Cultur von der gr\u00f6\u00dften Bedeutung, ohne vor einer sachlichen Werthsch\u00e4tzung entsprechend bestehen zu k\u00f6nnen. Wir k\u00f6nnen zusammenfassend sagen: die rationalen und idealen Kr\u00e4fte hei der Erhaltung der Culturg\u00fcter sind verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig von so geringer Bedeutung, dass sie \u00fcberhaupt an der Grenze ihrer Wirksamkeit stehen. Der Mechanismus, den wir im Vorhergehenden aufzudecken versuchten, verdankt seine St\u00e4rke jedenfalls vorz\u00fcglich den subjectiven Eactoren; die objectiven Eac-toren dagegen verleihen ihm vorwiegend seinen Werth. Darin, dass auf diese Weise die subjectiven Eactoren in den Dienst der objectiven treten, dass sie gleichsam ihrer Indifferenz enthoben werden, liegt gewiss vom teleologischen Standpunkte aus eine au\u00dferordentliche Zweckm\u00e4\u00dfigkeit des Apparates. Aber sie wird wieder sehr beeintr\u00e4chtigt durch den geringen Baum, den \u00fcberhaupt die objectiven Eactoren einnehmen. Den inneren Werth einer jeden, insbesondere auch unserer Cultur, der ja durch die Gr\u00f6\u00dfe dieses Baumes wesentlich mitbestimmt wird, d\u00fcrfen wir uns demgem\u00e4\u00df nicht als zu hoch vorstellen, und in der That geh\u00f6rt es zu den Absichten der vorangegangenen Betrachtung, vor einer \u00fcbertrieben optimistischen Sch\u00e4tzung unseres Cultumiveaus zu warnen.","page":455}],"identifier":"lit4490","issued":"1902","language":"de","pages":"407-455","startpages":"407","title":"Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die Erhaltung von Cultur","type":"Journal Article","volume":"20"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:18:28.560664+00:00"}