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{"created":"2022-01-31T14:22:29.557060+00:00","id":"lit4509","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Richter, Raoul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 14: 119-156","fulltext":[{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\nYon\nRaoul Richter.\nAVer \u00fcber die Spinozische Willenslehre etwas erfahren m\u00f6chte und mit dem Aufbau der \u00bbEthik\u00ab vertraut ist, wird sich naturgem\u00e4\u00df zun\u00e4chst unter den den einzelnen Theilen vorangeschickten Definitionen nach einer Begriffsbestimmung des Willens umsehen, um darin die allgemeinste Auffassung von seinem Wesen im System kennen zu lernen. Aber diese \u00bballgemeinste Auffassung\u00ab wird ihm gleich als eine h\u00f6chst sonderbare entgegentreten; denn unter den einleitenden Definitionen sucht er den Willen vergeblich und gewinnt somit die Vermuthung, dass dieser aus den Grundbegriffen des Systems verbannt sei. Gleich dem ersten, metaphysischen, Theil werden alle die Hauptwesenseigenschaften Gottes in ihren Definitionen vorangeschickt, der Wille fehlt; freilich der Ereiheitsbegriff tritt in der VH. Definition auf; aber genau besehen schlie\u00dft gerade seine Erkl\u00e4rung alle Willk\u00fcrbestimmung aus; denn frei sein hei\u00dft ja hier necessitirt sein, wenn auch aus den Gesetzen der eigenen Natur heraus. Im 2. Theile, obgleich er \u00bb\u00fcber die Natur und den Ursprung der Seele\u00ab handelt, l\u00e4sst keine der sieben einf\u00fchrenden Begriffsbestimmungen irgendwelchen Aufschluss \u00fcber die \u00bb voluntas\u00ab errathen. Dagegen sind der \u00bbIdea\u00ab zwei Definitionen mit angeh\u00e4ngten Erkl\u00e4rungen gewidmet. Mochte man sich das Ausbleiben des Willens in den Grunddefinitionen des 1. Theils aus metaphysischen Gr\u00fcnden, in denen des zweiten aus dem trotz der allgemeinen Ueberschrift vorwiegend erkenntnisstheoretischen Inhalt deuten, so vermisst man im 3. Theile, der von der Natur und dem Ursprung der Affecte","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nRaoul Richter.\nhandelt, nur mit gr\u00f6\u00dftem Staunen den Willen als grundlegenden Begriff. Denn hier wird ja doch gerade das gesammte nichtintellec-tuelle Gebiet der inneren Erfahrung abgesondert bearbeitet. In dem eigentlich ethischen (4.) Theile fehlt der Wille unter den \u00bbDefinitionen\u00ab gleichfalls, obschon dem Thema des Abschnittes weit ferner liegende Begriffe wie \u00bbm\u00f6glich\u00ab und \u00bbzuf\u00e4llig\u00ab in getrennten Erkl\u00e4rungen eingehende W\u00fcrdigung erfahren. Der letzte und 5. Theil beginnt bekanntlich gleich mit den Axiomen. Diese stiefm\u00fctterliche Behandlung des Willens im allgemeinen, wie sie sich in dem Fehlen seiner Begriffsbestimmung unter den grundlegenden Definitionen kund thut, muss beim blo\u00dfen Durchbl\u00e4ttem der \u00bbEthik\u00ab von vornherein einiges Misstrauen gegen die Psychologie Spinoza\u2019s erwecken. Wie weit dieses wissenschaftlich gerechtfertigt ist, kann freilich nur eine genauere Untersuchung ergeben.\nI. Die Stellung des Willens in der Natur.\nA. Der Wille in der natura naturans.\nWenn man in der Darlegung der dem Spinoza eigent\u00fcmlichen Willenslehre zun\u00e4chst im wesentlichen dem deductiven Gange des Systems selber folgt, was aus mancherlei Gr\u00fcnden \u2014 der vornehmste ist die tiefere Einsicht in die Begriffe durch das Aufrollen ihrer Entwickelung \u2014 geboten erscheint, so gilt die erste Frage dem obersten Begriff, der Substanz und lautet: kommt der Gottsubstanz oder der natura naturans Wille zu? Dar\u00fcber gibt nun zwar der 1. Theil an zahlreichen Stellen klare und eingehende Auskunft, aber f\u00fcr Kenner der \u00bbEthik\u00ab keine voraussetzungslose. Denn wenn wir von Willen und Willk\u00fcr in Gott als einer irrth\u00fcm-lichen Auffassung wiederholt zu lesen bekommen, ohne doch eine n\u00e4here Bestimmung dieses Willenshegriffs zu erhalten, so k\u00f6nnen wir \u2014 denen das Spinozische System keine Ueberraschung mehr ist \u2014 hier nicht ohne weiteres die gew\u00f6hnliche und einfache Bedeutung des Wortes einsetzen. Wir wissen ja, dass Spinoza zwei verschiedene, nach der Meinung einiger sogar g\u00e4nzlich disparate Willens-","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n121\nbegriffe kennt: den Willen als Bejahung, also in der Erkenntniss, n\u00e4her im Urtheil, als eine theoretische Function; und den Willen als Begehren und seine Verwirklichung im Handeln, die Grundlage und unmittelbare Folge der \u00bbAffecte\u00ab Lust und Unlust, selbst ein Affect und also eine emotional-praktische Function. Nun muss von vornherein festgelegt werden, dass derjenige Wille, von dem der 1. Theil der \u00bbEthik\u00ab \u2014 allerdings ohne n\u00e4here Erkl\u00e4rung \u00fcber seine Stellung zu den obigen Classen abzugeben \u2014 spricht, sowohl das Bejahen wie das Begehren befasst, besser: ein Zerfallen des Begriffs in diese beiden Gruppen noch von sich ahweist. Dass die theoretische Seite, die Bejahung, in die Leugnung eines g\u00f6ttlichen Willens mit aufgenommen ist, beweist sich leicht daraus, dass auch der Verstand Gott abgesprochen wird; ohne Verstand aber ist ein Bejahen oder Verneinen von Eigenschaften undenkbar; wird doch gerade deshalb sp\u00e4ter der Wille im Urtheil dem Verst\u00e4nde gleichgesetzt1), welche Gleichsetzung allerdings \u2014 wie wir sehen werden \u2014 mit der gr\u00f6\u00dften Vorsicht gedeutet werden muss. Das Streben und seine Verwirklichung andererseits muss aus dem Grunde in der \u00bb voluntas\u00ab des 1. Theils mitbegriffen sein, weil die Aufstellung der \u00bbfreien Nothwendigkeit\u00ab in Gott sich gegen ein Eingreifen in den Weltenlauf, also gegen ein \u00bbWirken\u00ab richtet. Ueberdies werden auch die \u00bbAffecte\u00ab sogar in diesem Theile schon einmal vor\u00fcbergehend Gott abgesprochen2) und die Widerlegung eines zielbewussten, aber willk\u00fcrlichen Handelns mit der-Behauptung begr\u00fcndet: wenn Gott nach einem Zwecke handelt, so erstrebt er nothwendiger-weise etwas, das er entbehrt3). Den deutlichsten Beleg aber f\u00fcr das Fehlen aller Gef\u00fchle und Affecte in Gott bringt erst der letzte Theil des Hauptwerkes mit dem 17. Lehrsatz: \u00bbGott ist frei von Leidenschaften und wird von keinem Affect der Lust oder Unlust erregt4).\n1)\tEthik H, Pr. XLIX; wir citiren nach: B. de Spinoza Opera. \u00bbJ. van Vloten et J. P. N. Land. Editio altera. Hagae 1895.\u00ab Den \u00bbkurzen Tractat\u00ab f\u00fchren wir nach der Oh. Sigwart\u2019schen Uebersetzung an.\n2)\tEthik I, Pr. VUI, Sch. II.\t3) Ethik I, Appendix.\n4) Dem steht nicht die geistige Liebe, mit der Gott sich selber liebt, und\nvon der nur ein Theil die menschliche ist, entgegen. Denn sie ist ja nur das reine beschauen der eigenen unver\u00e4nderlichen Vollendung mit der Begleitvorstellung seiner selbst als deren Ursache, somit kein \u00bbUebergang\u00ab, keine Steigerung, wie","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nRaoul Richter.\nFerner ist der Wille als Begierde ja nichts als der bewusste Selbsterhaltungstrieb und dieser wird ausdr\u00fcckhch nur von den ver\u00e4nderlichen Einzeldingen behauptet. Dies ist aus der Verwendung des an sich vieldeutigen Ausdrucks \u00bbres\u00ab in der Demonstration des betreffenden Lehrsatzes leicht zu ersehen* 1). Beide Willensseiten aber trifft der Umstand gemeinsam, dass eine Anzahl der Beweise gegen den Willen in Gott f\u00fcr Begehren wie Bejahen gleich bindend sind; so besonders der gro\u00dfe systematische Beweis gegen die Willensfreiheit, der rein aus der modalen Natur der \u00bb voluntas\u00ab gef\u00fchrt wird, einer Bestimmung, welche ebensogut der \u00bbaffirmatio\u00ab wie der \u00bbcupiditas\u00ab eignet. Deshalb ist es m\u00f6glich geworden, dass gerade in diesem Lehrs\u00e4tze einige2) das Wollen nur als Begehren, andere3) nur als Bejahung gefasst wissen wollten. Dass wir zu keiner der beiden Erkl\u00e4rungsarten stehen, sondern den Willen im 1. Theile der \u00bbEthik\u00ab als Oberbegriff der zwiesp\u00e4ltigen Seiten, also ganz allgemein, nehmen, bedarf keiner weiteren Erkl\u00e4rung. Der Hauptgrund daf\u00fcr: dass n\u00e4mlich Bejahen und Begehren hei Spinoza \u00fcberhaupt nicht als polare Gegens\u00e4tze auftreten, sondern in einer Hinsicht wesensgleich zu fassen sind, kann erst sp\u00e4ter zur Sprache kommen. Hier\nbei Lust und Liebe im Menschen, nur ganz uneigentlich daher \u00bbLiebe\u00ab genannt, wie auch an andrer Stelle verwahrend betont wird (Ethik Y, Pr. XVII, Coroll.). K. Fischer sieht daher in diesem Begriff mit Unrecht einen der Grundwiderspr\u00fcche des Systems (Descartes und seine Schule, 3. Auflage H, S. 546).\n1)\tEthik III, Pr. VI. Una quaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur. Der Beweis -beginnt: \u00bbres enim singul\u00e4res modi sunt\u00ab und st\u00fctzt sich sogar wesentlich auf diese modale Natur der Dinge. Dass sonst Spinoza \u00bbres\u00ab bald auf unver\u00e4nderliches und ewiges, ja auf Gott anwendet (Deus res extensa), bald nur die Einzeldinge (wie in erw\u00e4hntem Lehrsatz), also K\u00f6rper und geistige modi, bald endlich nur ausgedehnte modi (wie II, Pr. VH) damit begreift, beweist, wie vorsichtig man in der Deutung auch dieses Terminus zu sein hat. So gr\u00fcndet Kuno Fischer (a. a. O. S. 465) einen der Spinozischen Beweise f\u00fcr das Selbstbewusstsein darauf, dass die Seele die Idee eines Dinges sei, und da \u00bbDing\u00ab bei Spinoza sowohl K\u00f6rper wie Vorstellung bedeute, auch die Idee einer Idee haben m\u00fcsse. Nun geht aber aus den in Frage kommenden Stellen ganz deutlich hervor, dass Spinoza in dem Satze von der Seele als der Vorstellung eines wirklichen Dinges, Ding nur k\u00f6rperlich verstanden haben kann, mithin der ganze Fischer\u2019sche Beweis hinf\u00e4llig wird.\n2)\tCamerer: Die Lehre Spinoza\u2019s. Stuttgart 1877. S. 113.\n3)\tv. Kirchmann: Erl\u00e4uterungen zu Spinoza\u2019s Ethik. 2. AufL, S. 39.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n123\nm\u00fcssen die angef\u00fchrten und gen\u00fcgend bindenden Thatsachen ausreichen; also die voluntas ist vorl\u00e4ufig ganz allgemein der Wille, der theoretische wie praktische, ohne principielle Ber\u00fccksichtigung dieser Doppelbedeutung, die nur in den verschiedenen Accenten bald auf diese bald auf jene Seite hervortritt. Die Begriffsscheidung ist hier etwa \u00e4hnlich bei Seite gelassen, wie in den ganzen drei ersten Theilen der Ethik die Trennung von \u00bbm\u00f6glich\u00ab und \u00bbzuf\u00e4llig\u00ab, deren Besonderheiten erst der 4. Theil mit der Begr\u00fcndung bringt, dass die genaue Unterscheidung bis dahin nicht vonn\u00f6then gewesen w\u00e4re. Ihre gemeinsame Behandlung war aber auch hier nur unter der Voraussetzung einer engen Begriffsverwandtschaft erm\u00f6glicht.\nDieser alle sp\u00e4teren Besonderheiten noch vereinende Wille wird nun uneingeschr\u00e4nkt und in seiner ganzen Ausdehnung Gott oder der Substanz abgesprochen1).\nUnd zwar aus verschiedenen Gr\u00fcnden. Die ersten treten uns, wenn wir der Darlegung Spinoza\u2019s folgen, im Scholion der 17. Proposition entgegen. Sch\u00e4lt man aus dieser Erkl\u00e4rung alles auf den Willen in Gott Bez\u00fcgliche mit Hintansetzung der Folgeeigenschaften wie Allmacht u. a. heraus, so gewinnt man eine Behauptung und zwei Beweise. Der Natur Gottes kommt weder Verstand noch Wille zu: ad Dei naturam neque intellectus neque voluntas pertinent \u2014 das ist der Satz, den das Scho\u00fcon zu st\u00fctzen sucht. Der\n1) In den auch nach Abfassung der \u00bbEthik\u00ab geschriebenen Briefen, sowie im theolog.-polit. Tractat, \u00fcbrigens auch an einigen Stellen der \u00bbEthik\u00ab selber, findet sich eine laxere Ausdrucksweise, und es werden: divinus intellectus et voluntas, aeternum decretum etc. \u00f6fters genannt. Dann sind \"Wille und Verstand in Gott \u2014 wie bei Descartes \u2014 als identisch zu fassen (Tract. theolog. polit., Cap. IV, Mitte). \"Wo es irgend angeht, ist dabei aber im Sinne Spinoza\u2019s jedes anthropomorphe Element aus der Auffassung zu beseitigen. Im theolog.-polit. Tractat allerdings finden sich unvers\u00f6hnliche Widerspr\u00fcche mit der g\u00f6ttlichen Willenslehre der \u00bbEthik\u00ab ; was \u00fcber die \u00bbStimme Gottes\u00ab, die Offenbarung, die Ableitung der 7 S\u00e4tze aus dem Glaubensbegriff (Cap. XIV) u. a. gesagt wird, ist ohne ein Wollen in Gott schlechterdings unfassbar. Es muss hier also, wenn man die von manchen gegebene Erkl\u00e4rung der Ironie oder Heuchelei ausschlie\u00dft, Spinoza vom theologischen Standpunkt aus die S\u00e4tze ausgesprochen haben, etwa in dem Sinne, wie er selbst einmal schrieb: \u00bbNam, quia theologia Deum passim, nec temere, ut hominem perfectum repraesentat, propterea oppor-tunum est, ut in Theologia dicatur Deum quidquam cupere, Deum taedis operi-bus improborum affici, et proborum delectari\u00ab (Ep. XXIII, olim XXXVI).","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nRaoul Richter.\nerste Beweis richtet sich gegen eine falsche Auffassung der Willensfreiheit in Gott. Nachdem im vorhergehenden Corollarium Gott als einzig freie Ursache erkl\u00e4rt worden war, galt es, der landl\u00e4ufigen und der Spinozischen contr\u00e4ren Fassung dieses Begriffs entgegenzutreten. \u00bbAndere glauben, Gott sei deshalb eine freie Ursache, weil er nach ihrer Meinung bewirken k\u00f6nne, dass das, was \u2014 nach unserer Behauptung \u2014 aus seiner Natur folgt, d. h. was in seiner Macht steht, nicht geschieht oder von ihm nicht gewirkt wird \u00ab1). Diesem falschen Freiheitshegriff wird mit der Erinnerung an den (16.) Lehrsatz begegnet: dass Unendliches auf unendliche Weise (also alles) aus Gott mit Nothwendigkeit gefolgt sei, oder immer mit derselben Noth-wendigkeit folge, genau so wie aus der Natur des Dreiecks von Ewigkeit zu Ewigkeit folge, dass die Summe seiner Winkel gleich 2 R ist. In einer solchen Auffassung des Verh\u00e4ltnisses zwischen Gott und Welt scheint allerdings kein Platz f\u00fcr die leiseste Willensregung zu sein; am allerwenigsten aber ist mit ihr ein willk\u00fcrliches Eingreifen Gottes f\u00f6rdernd oder zerst\u00f6rend in sein eigenes (aber noth-wendiges) \u00bbWerk\u00ab vertr\u00e4glich.\nMit diesem metaphysischen gegen den Gotteswillen, speciell gegen die g\u00f6ttliche Willk\u00fcr gerichteten Beweis kreuzt sich ein anderer, aus dem scheinbaren Widerstreit der Determination mit der Allmacht entstandener, welcher aber erst hei der Behandlung der Seitenbegriffe in der Willenslehre (Macht, Freiheit, Handeln) seine Stelle finden kann. Dagegen direct gegen das Bestehen eines g\u00f6ttlichen Willens \u00fcberhaupt wendet sich der nun anschlie\u00dfende rein logische zweite Beweis; er beruht auf der (logischen) Unm\u00f6glichkeit irgendwelcher Gemeinsamkeit zwischen dem menschlichen und g\u00f6ttlichen Verst\u00e4nde wie Willen. \u00bbDenn der Verstand und der Wille, welche Gottes Wesen ausmachen w\u00fcrden, m\u00fcssten von unserem Verst\u00e4nde und Willen himmelweit verschieden sein, und k\u00f6nnten nur im Namen \u00dcbereinkommen, ungef\u00e4hr so wie der Hund als Sternbild und der Hund als bellendes Thier\u00ab. Die Wesensverschiedenheit erhellt zun\u00e4chst aus einer Eigenschaft des menschlichen Verstandes. Unser Verstand folgt den erkannten Gegenst\u00e4nden zeitlich nach oder ist allenfalls mit ihnen zugleich; d. h. diese m\u00fcssen vor oder mit ihm\n1) Anfang des Schol.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n125\ngegeben sein. Anders bei Gott. Er ist die erste Ursache aller Dinge und kann nicht irgendworin zugleich oder gar sp\u00e4ter wie ein anderes sein. Sein \u00bbVerstand\u00ab ist vielmehr erst die Bedingung f\u00fcr das Dasein und Wesen des zu Verstehenden. Aus dieser Allcausa-lit\u00e4t Gottes gewinnt sich nun ein neuer und allgemeinerer Grund f\u00fcr die Leugnung von Verstand und Wille. Ist Gott wirklich die Ursache von allem, wie er es ja in den meisten Gottesbegriffen, vorz\u00fcglich aber im Spinozischen ist, so ist er es auch von dem menschlichen Verst\u00e4nde, und da das Verursachte von der Ursache gerade in dem, was es von der Ursache hat, abweicht1), so ist die Wesensungleichheit eines (angenommenen) g\u00f6ttlichen und menschlichen Verstandes erwiesen, damit aber die Annahme auch zu einem leeren Worte herabgesunken.\nTrotz dieser scheinbaren Gleichordnung von Verstand und Wille in ihrer gemeinsamen Entfernung aus Gott kann doch eine gewisse Bevorzugung des Verstandes in der formalen Behandlung dem genaueren Einblick nicht entgehen; wird doch in dem gesammten Beweis alles nur von dem Verst\u00e4nde ausgesagt und das Mithegriffensein des Willens in diese Gr\u00fcnde durch den bezeichnenden Schlusssatz anerkannt: \u00bbden Willen betreffend kann auf dieselbe Weise vorgegangen werden, wie jeder leicht sehen wird\u00ab2).\nImmerhin findet das Absprechen von Wille und Willk\u00fcr hier noch nicht seine folgerichtige und scharf pr\u00e4cisirte Stelle im System, wird vielmehr nur als Polemik gegen eine falsche unwissenschaftliche Auffassung der \u00bbcausa lib\u00e9ra\u00ab, und daher auch nur in einem Scho-lion behandelt.\n1)\tMan hat (v. Kirchmann: Erl\u00e4uterung zu Spinoza\u2019s Ethik, S. 30) \u2014 und mit Recht \u2014 darauf hingewiesen, dass Spinoza hier die Wesensverschiedenheit der Wirkung von der Ursache betont, w\u00e4hrend er sonst stets ihre Gemeinsamkeit behauptet; der Widerstreit wird besonders klar, wenn man den hier vorgetragenen Satz: \u00bbcausatum differt a sua causa praecise in eo quod a causa habet\u00ab einem anderen (Tract, theol. polit., Cap. IV) gegen\u00fcberstellt: Cognitio effectus per causam nihil aliud est, quam causae proprietatem aliquam cognoscere.\n2)\tSchlusssatz des Scholions: circa voluntatem eodem modo proceditur, ut facile unusquisque videre potest. Aus der in diesem Scholion allerdings durchg\u00e4ngigen (sechsmaligen) Wortreihenfolge \u00bbintellectus et voluntas\u00ab (die sich wiederum sechsmal I, Pr. XXXIII, Sch. II findet) auf eine Priorit\u00e4t des Verstandes schon hier schlie\u00dfen zu wollen, w\u00e4re nicht nur kleinlich, sondern auch fehlerhaft. Die umgekehrte Reihenfolge findet sich zweimal I, Pr. XXXII, Coroll. II.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nRaoul Richter.\nHatten nun die bisherigen Beweise, der metaphysische wie der logische, ihre Gr\u00fcnde dem Gottesbegriff entnommen, so nehmen die systematischen Beweise vom Willensbegriff ihren Ausgang. Der eine spricht Gott \u00fcberhaupt allen Willen, der andere alle Willk\u00fcr ah. Dir Gang ist kurz folgender: Wille ist nicht absolutes geistiges Sein (absoluta cogitatio), sondern nur einer von dessen Modi. Mithin geh\u00f6rt er nicht zur natura naturans (Prop. 31 mit Dem.), diese aber ist laut ihrer ausdr\u00fccklichen Erkl\u00e4rung im Scholion der vorvorhergehenden Propositio gleichbedeutend mit der ewigen Substanz oder Gott. Die Vertauschung der Glieder geschieht stillschweigend im 2. Coroll. der 32. Pr. und es tritt dort somit (ungenau in seiner Stellung als Consequenz des Lehrsatzes von der Leugnung aller Willensfreiheit, aber als unabweisbare Folge der Zurechnung des Willens zur natura naturata) der Satz auf: dass sich Wille und Verstand zu Gott wie Buhe und Bewegung und ganz wie alle \u00fcbrigen modi verhielten, mithin ihm als Eigenschaften nicht zuk\u00e4men. Der andere Beweis beruht indirect gleichfalls auf der modalen Natur des Willens; denn da dieser dadurch in die unendliche Causalit\u00e4tskette der Modi eingereiht ist und seine Veranlassung immer von anderen Dingen und nicht aus sich selbst empf\u00e4ngt, kann er nicht einmal im Spinozischen Sinne der Selbstnecessitirung freie Ursache hei\u00dfen. Also \u2014 so schlie\u00dft das erste Corollar wieder mit stillschweigendem aber folgerichtigem Einsatz Gottes f\u00fcr die \u00bballeinige freie Ursache\u00ab \u2014 handelt Gott nicht aus Willensfreiheit1).\nWas etwa aus diesen S\u00e4tzen weiteres f\u00fcr die allgemeine Willenslehre Spinoza\u2019s zu ersehen w\u00e4re, wie die Stellung des Willens zum Verstand oder die Art der Anweisung unter die \u00bbModi\u00ab, kann erst bei Behandlung der positiven freite der Beweise zur Sprache kommen. Hier interessirten sie'nur in ihrer negativen Eigenschaft als den g\u00f6ttlichen Willen eliminirende Pactoren. Weiter unten werden sie uns wieder begegnen.\nDie Probe auf die vorgetragene Willensausscheidung von der wirkenden Natur liegt in der Unrichtigkeit aller auf Gott bezogenen Zweckbegriffe. Muss Gott alle Willk\u00fcr,\n1) Ethik I, Pr. XXXII, Coroll. I.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinozas.\n127\nja aller Wille abgesprochen werden, so kann er auch die Welt nicht nach Zwecken geschaffen haben, so ist die teleologische Weltanschauung eine Erdichtung. Spinoza ist die enge Beziehung zwischen Wille und Zweck nicht entgangen und er glaubte sich daher in der Leugnung aller Zwecke (causae finales) auf diejenigen S\u00e4tze berufen zu d\u00fcrfen, in welchen Wille und Willk\u00fcr Gott abgesprochen wurden1). Die \u00fcbrigen antiteleologischen Belege aber, die der Anhang zum ersten Theile bringt, st\u00fctzen wiederum eben diese S\u00e4tze. Sie verbannen die Zwecke aus der Natur in einer beliebten Beweisart Spinoza\u2019s, n\u00e4mlich durch Aufdeckung ihrer psychologischen Entstehung. Da die Menschen alle ihren eigenen Vortheil suchen, sich dessen bewusst sind, die Motive aber, von denen sie bestimmt werden, nicht kennen, so entsteht zun\u00e4chst der Freiheitswahn (der hier bei Seite bleibt), und ein Handeln nach Zwecken, welche eben in den erstrebten Vortheilen bestehen; diese finden sich aber durch manches in der Natur gewaltig gef\u00f6rdert, wie durch die Augen, die zum Sehen, die Fr\u00fcchte, die zur Nahrung dienen, und so kam man dazu, in Au\u00dfen- wie Innenwelt nur ein System von Mitteln zu sehen, deren obergeordneter Zweck der menschliche Nutzen sei; und da die Menschen doch nicht annehmen konnten, dass sie selbst diese Mittel geschaffen h\u00e4tten, so schoben sie ihre Erschaffung dem Weltsch\u00f6pfer zu, ihn \u2014 nach dem bekannten Schluss von sich auf andere \u2014 mit menschlicher Freiheit und menschlichen Zweckbegriffen begabend2). Eine andere psychologische Entstehung des Zweckbegriffs \u2014 in schon philosophischeren K\u00f6pfen \u2014 leitet sich von der Endlosigkeit der Causalkette her. Wenn auch bei irgend einem Ereigniss A seine unmittelbare Ursache zugegeben werden kann und auch ihre Ursache und so fort, so kommt man doch einmal \u2014 nach dieser Leute Meinung \u2014 bei einer letzten und unverursachten Ursache an, welche dann nur von Gott bezweckt sein kann. Wie sehr diese Logik bei der immanenten Causalit\u00e4tsauffassung dem Spinoza als irrth\u00fcmlich gelten\n1)\tEthik I, Appendix, Absatz II, Anfang.\n2)\tEthik I, Appendix: ex mediis, quae sibi ipsi parare soient, concludere debuerunt darf aliquem vel aliquos Naturae rectores, humana praeditos libertate, qui ipsis omnia curaverint et in eorum usum omnia feeerint. Atque horum etiam ingenium, quandoquidem de eo nunquam quid audiverant, ex suo iudicare debuerunt.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nRaoul Richter.\nmusste, ist offenbar. Er nennt dies Yor- besser Zur\u00fcck-Gehen denn auch in scharfer Satire nur eine Flucht zum Willen Gottes, dem \u00bbAsyl der Unwissenheit\u00ab. \u2014 Gegen diese Erweisung der Irrth\u00fcmlich-keit der Zweckbegriffe durch ihre psychologische Motivirung treten die anderen antiteleologischen Beweisgr\u00fcnde wesentlich zur\u00fcck. So die Umkehrung der gesammten Natur in Causalit\u00e4t, Zeit und Werthen: Denn das Zweckprincip betrachtet die Ursache als Wirkung, das fr\u00fchere als sp\u00e4teres, wie von selbst erhellt, und endlich das Voll-kommnere als das Unvollkommnere. Die unmittelbarsten Wirkungen Gottes st\u00e4nden n\u00e4mlich dann als untergeordnetere Mittel den mittelbarsten als der Verwirklichung der Ziele an Vollkommenheit nach, was der Spinozischen Weltauffassung mit der umgekehrten Reihenfolge stracks zuwiderl\u00e4uft. Dann aber auch sind die Zwecke in Gott mit seiner Vollkommenheit unvertr\u00e4glich : \u00bbdenn wenn Gott nach einem Zwecke handelt, erstrebt er nothwendig etwas, dessen er entbehrt\u00ab1). So handelt Gott nicht nach Zwecken und auch das Motiv des Guten ist streng von seinem Wirken auszuscheiden. Ein \u00bbsub ratione boni agere\u00ab Gottes rechnet Spinoza zu den gr\u00f6\u00dften Widersinnigkeiten, nicht der Zeit der Widerlegung werth2).\nIn drei Eigenschaften, die Gott zugedacht zu werden pflegen, muss sich dann diese Negation alles Wollens gleich bemerklich machen. Es sind: Allmacht, Wirken (Sch\u00f6pfen, Schaffen, Handeln) und Freiheit. Sie alle kann sich die gew\u00f6hnliche Auffassung ohne ein zu Grunde liegendes Wollen nicht vorstellen. Es gilt darum, sie entweder fallen zu lassen oder mit Beibehaltung der Worte deren Sinn umzudeuten. Letzteren Weg w\u00e4hlt Spinoza denn auch hier, wie er ihn so oft beschritten hat3).\n1)\tSiehe oben S. 121.\n2)\tEthik I, Pr. XXXIH, Schol. II (Schluss). Ygl. Tract, brev. I, Cap. IV (6).\n3)\tSpinoza\u2019s Geringsch\u00e4tzung der gew\u00f6hnlichen Wortbedeutungen ist ein durchgehender Zug seiner Lehre. Schon im ersten Dialog des \u00bbkurzen Tract ats\u00ab werden die Worte eine Quelle der \u00bbDoppelsinnigkeit\u00ab genannt; in der Abhandlung \u00fcber die Verbesserung des Verstandes und in der \u00bbEthik\u00ab st\u00fctzt sich dann die Berechtigung der Umdeutung des Wortsinns auf systematische Gr\u00fcnde. Denn die Worte sind ein Theil der Imagination und \u00bbad captum vulgi\u00ab entstanden, als solche aber eine Hauptursache des Irrthums (De I. E. Tr., S. 27); so f\u00e4rben die im Alltagsleben geborenen Worte ihre allt\u00e4gliche Bedeutung auf die philosophischen Begriffe, die sie durch Uebertragung bezeichnen, ab (De I. E. Tr., S. 8,","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n129\nIst alles Wollen und alle Willk\u00fcr aus G-ott verbannt, hat er sich nicht freiwillig geschaffen, sondern existirt er, wie die Welt, aus\nAnmerk.), oder aber, was in \"Wahrheit positive Eigenschaft, aber in der \u00bbEinbildung\u00ab: nicht vorstellbar, erh\u00e4lt durch die Entstehung aus dieser Quelle negative \"Wortbedeutung (wie unendlich, unk\u00f6rperlich u. s. w.). \u00bbVieles bejahen und verneinen wir\u00ab \u2014 meint Spinoza feinsinnig \u2014 \u00bbweil die Natur der Worte die Bejahung und Verneinung zul\u00e4sst, nicht aber die Natur der Dinge (De I. E. Tr., S. 28)\u00ab. Zur Subsumtion der Worte unter die \u00bbImaginatio\u00ab vgl. auch \u00bbEthik\u00ab II, Pr. XL VH, Sch. HI, Pr. LH Schol. betont ausdr\u00fccklich, die Namen der Affecte seien \u00bbmehr aus ihrem gew\u00f6hnlichen Gebrauch, als aus ihrer genauen Erkenntniss entstanden\u00ab. Daher nimmt Spinoza denn auch \u2014 und das ist der Kern seiner Lehre von den Worten \u2014 f\u00fcr sich das Recht in Anspruch, gegebenen Worten andere aus der Erkenntniss ihrer Begriffe geflossene Bedeutungen unterzulegen, welche nur \u00bbnicht vollst\u00e4ndig von dem gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch abweichen\u00ab (Ethik III, Affect. Def. XX, Expl.). So weit man es verm\u00f6ge, solle man immer \u00bbad captum vulgi\u00ab reden (Tract, d. I. E., S. 6). Ep. VI (gegen Schluss' findet er die Schuld f\u00fcr die Dunkelheit seiner Ausdrucksweise \u00bbwie gew\u00f6hnlich\u00ab in dem Mangel an Worten. Epist. XXIH (olim XXXVI) wird die Uebertragung theologischer Terminologie auf die Philosophie zur\u00fcckgewiesen, deren Gefahr Spinoza selber aber allerdings an mancher Stelle des theolog.-polit. Tractats erlegen ist (vgl. S. 123, Anm.). Nun hat ja jeder Denker zweifelsohne das Recht, sich ihm als wesentlich darstellende Vorstellungscomplexe mit Wort-Symbolen zu belegen. Aber ob es r\u00e4thlich ist, den Sinn dieses Complexes streifende Worte aus dem gew\u00f6hnlichen Leben zu entnehmen, bleibt dahingestellt. Bei Spinoza jedenfalls hat die nicht ganz cons\u00e9quente Terminologie und ihre Vermengung mit dem gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch, vor der er selber eindringlich warnte, \u00f6fters zu Paralogismen gef\u00fchrt (vgl. Heinze-Ueberweg: Gesch. d. Ph., 8. Auf!., III*, S. 127, Anmerkg.). Zweifellos aber und durch den ganzen Charakter des Philosophen wie den m\u00fchsamen Aufbau seines Werkes sichergestellt bleibt es, dass die neuen Wortbedeutungen in redlichstem Streben und gr\u00fcndlichstem Forschen sich ihm als die einzig sinnvollen und wissenschaftlichen ergaben; es ist also eine h\u00f6chst imgerechte Verkennung dieser m\u00fchevollen Bearbeitung gegebener Begriffe und so recht das Gegentheil von der Sinnesweise Spinoza\u2019s, zu glauben: geheime Eitelkeit habe ihn als \u00bbPhilosophen\u00ab verleitet, statt der verst\u00e4ndlichen Worte andere in einem verkehrten Sinne zu gebrauchen, womit die Darstellung erst das Pikante (!) und Geheimnissvolle erlangt, was sp\u00e4tere Zeiten m\u00fchsam nach einer verborgenen Weisheit in ihnen suchen l\u00e4sst (v. Kirchmann: Erltrg. zum theolog.-polit. Tractat, S. 25). Legt man schon unnachweisbare psychologische Motive logischen Gedanken unter, so m\u00fcssen sie wenigstens nicht diametral Charakter und Geistesart des Denkers zuwiderlaufen. \u2014 Jedenfalls trifft der Hinweis Spinoza\u2019s auf die rein durch Worte verursachte Begriffsverwirrung in den Meinungen einzelner wie der Systeme einen wesentlichen Erkl\u00e4rungsgrund zahlreicher Missverst\u00e4ndnisse; vgl. auch Goethe (Biedermann: Goethe\u2019s Gespr\u00e4che Bd. Vm, S. 96) : \u00bbWenn nun ein h\u00f6herer Mensch \u00fcber das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm \u00fcberlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Wnndt, Philos. Studien. XIV.\t9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nRaoul Richter.\nh\u00f6chster Nothwendigkeit seines Wesens heraus (wie es doch bei Spinoza der Fall ist), so kann seine Freiheit \u2014\u2022 wenn anders er eine solche besitzen soll \u2014 nicht mehr der Nothwendigkeit, sondern nur dem \u00e4u\u00dferen Zwange1) entgegenstehen, und frei sein hei\u00dft: Dasein und Wirken aus der inneren Nothwendigkeit seiner Natur. In diesem Sinne kommt denn Gott und ihm allein Freiheit zu; kein Wunder, da ja die Rettung seiner Freiheit das treibende Motiv in der Umdeutung dieses Wortes gewesen war. Die Gottsubstanz existirt nothwendig durch sich selbst; denn aus ihrer Definition (= Wesen) folgt ihr Dasein, und da alle Dinge in ihr sind und sein m\u00fcssen, kann sie nichts von au\u00dfen zum Handeln bestimmen oder zwingen2). Somit ist Gott \u00bbfreie\u00ab Ursache3) von sich und der Welt und die S\u00e4tze: Deus est causa libera und Deus non operator ex libertate voluntatis sind keine Gegens\u00e4tze mehr. \u00bbSie sehen also, dass ich die Freiheit nicht in ein freies Beschlie\u00dfen, sondern in eine freie Nothwendigkeit setze\u00ab4).\nEs h\u00e4tte nun nahe gelegen, das \u00bbHandeln\u00ab in Gott im engen Anschluss an den neugewonnenen Freiheitsbegriff zu entwickeln. Hei\u00dft doch im Spinozischen Sinne \u00bbHandeln\u00ab : die zureichende (d. h. alleinige) Ursache seiner Wirkungen sein, und in diesem Sinne w\u00e4ren handeln und freisein congruente Begriffe, Gott in allererster Linie also ein \u00bbhandelndes\u00ab Wesen. Es ist aber ausdr\u00fccklich zu bemerken, dass Spinoza diesen Begriff des Handelns im metaphysischen Theile noch bei Seite l\u00e4sst, und Gottes Handeln nur durch die bisher gewonnenen Ergebnisse ohne stillschweigende Vorwegnahme der sp\u00e4teren Definition, die die Affectenlehre er\u00f6ffnet, zu retten versucht5). Dennoch\nfernliegendes auszudr\u00fceken. Es m\u00fcsste ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um seinen eigenth\u00fcmlichen Wahrnehmungen zu gen\u00fcgen. Da dieses aber nicht ist, so muss er bei seiner Anschauung ungew\u00f6hnlicher Naturverh\u00e4ltnisse stets nach menschlichen Ausdr\u00fccken greifen, wobei er dann fast \u00fcberall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.\u00ab\n1)\t\u00bbCoagi\u00ab bedeutet bei Spinoza immer: von au\u00dfen gezwungen sein; weder in dem lateinischen noch deutschen Worte hegt diese Bestimmung; Spinoza will sie aber ausdr\u00fccklich (I, Def. VH) darin aufgenommen wissen.\n2)\tEthik I, Pr. XVII mit Dem.\t3) Ethik I, Pr. XVII, Coroll. II.\n4)\tEpistola LVm (olim LXH)-\n5)\tDamit stimmt auch die Terminologie im ersten Theile der Ethik, in dem \u00bbagere\u00ab noch nicht im Gegensatz zu \u00bbpati\u00ab steht; die XVII. Prop. (Deus ex","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\ntai\nkann er auch ohne diese ausdr\u00fcckliche Vergewaltigung der Worte mit ihrer gew\u00f6hnlichen Bedeutung nicht im Einklang bleiben. Denn nach ihr ist nun einmal ein Handeln ein Umsetzen des Willens in Thaten und ohne ein Wollen undenkbar. Gott also, dem kein Wille zukommt, kann nicht handeln und dennoch handelt er. Nicht nur dass dies Wort zu wiederholten Malen von ihm ausgesagt wird, es wird sogar vorz\u00fcglich betont, dass es unm\u00f6glich sei, sich vorzustellen, Gott handle nicht1). An der n\u00e4mlichen Stelle erhalten wir Aufkl\u00e4rung \u00fcber die Art dieses Handelns ; es soll n\u00e4mlich mit dem noth-wendigen Abfluss aller Dinge aus Gott erwiesen sein. Also ist sein Handeln sein Wirken. Damit aber ist die Sph\u00e4re des Begriff\u00bb dem Gebrauche entgegen erweitert, denn nur, was wollend wirkt, handelt. Gottes Wirken ist ja aber nur der reale Ausdruck seines Wesens, nicht seines Willens. Gottes Handeln ist somit sein Sein: \u00bbdarum ist es uns ebenso unm\u00f6glich, zu begreifen, Gott handle nicht, wie Gott existire nicht\u00ab2).\nEs er\u00fcbrigt noch einen Blick auf Gottes Allmacht, diesen unentbehrlichen Bestandtheil seiner Vollkommenheit, zu werfen. Auch sie scheint durch die neue Willenslehre aufs \u00e4rgste gef\u00e4hrdet und einer Umdeutung bed\u00fcrftig; denn hat Gott nicht die F\u00e4higkeit, die kleinste Ver\u00e4nderung mehr zu bewirken, und st\u00e4nde es \u2014 verm\u00f6ge der Bedingtheit seines und dieser Welt Daseins durch sein Wesen \u2014 nicht in seiner Macht, die Welt anders zu schaffen, wie sie geschaffen ist (I, Pr. XXXIH), wie kann man ihn da noch allm\u00e4chtig nennen? Man kann es, wenn man die Macht Gottes nicht mit der weltlicher Herrscher verwechselt3), die durch Beschl\u00fcsse und Machtspr\u00fcche eingreif en k\u00f6nnen in die Verh\u00e4ltnisse ihres Beichs. Aber auf Gott bezogen ist diese Auffassung ein Ungedanke. Er, der der Zahl nach die Ursache von Unendlichkeiten, der Beschaffenheit nach die Ursache\nsolis suae naturae legibus et a nemine coactus agit) m\u00fcsste sonst lauten: Deus agit at non patitur.\n1) Ethik II, Pr. ID, Schob\t2) Ebenda.\n3) Ebenda: nam nemo ea, quae volo, percipere recte poterit, nisi magno-pere caveat, ne Dei potentiam cum humana regum potentia vel jure confundat. Vgl. auch Tract, theolog. polit., Dap. VI (S. 23), wo die Meinung derjenigen zur\u00fcckgewiesen wird, die die Macht Gottes und der nat\u00fcrlichen Dinge getrennt fassen.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nRaoul Richter.\naller Vollkommenheiten, er, der selbst das All ist, kann keine Aen-derung oder Verbesserung in der Welt wirken, ohne selbst ein andrer zu werden, was widersinnig ist. Seine Macht kann darum auch nur \u2014 wieder unter Umdeutung des \u00fcblichen Sinnes \u2014 sein Wesen seihst sein1). Wer glaubt, dass dies eine Einschr\u00e4nkung dieser Macht bedeute, und Gottes Vollkommenheit zuwiderlaufe, hat nicht einen zu hohen, sondern zu niederen Begriff von Gottes Allmacht gefasst. So richtet Spinoza geschickt den Vorwurf der Gegner gegen diese selbst: denn die, welche annehmen, Gott k\u00f6nne nicht schon alles, was er erkenne, geschaffen haben, da sonst seine Allmacht ersch\u00f6pft w\u00e4re, sagen damit, dass er etwas nicht wirken k\u00f6nne, \u00fcber das sich seine Macht erstreckt2). G\u00f6ttliche und menschliche Vollkommenheit sind also incommensurabel, wir erreichen eine Vorstellung jener auf anthropomorphem Wege nicht3). Will man trotzdem von einer Leitung Gottes sprechen, so muss dies unter strengster Vermeidung eines regierenden Willens geschehen. \u00bbUnter Gottes Regierung (Direetio Dei) verstehe ich jene feste und unver\u00e4nderliche Ordnung der Natur oder die Verkettung der nat\u00fcrlichen Dinge; denn ich sagte schon oben und zeigte es schon an einem anderen Orte, dass die allgemeinen Naturgesetze, nach denen alles geschieht und sich bestimmt, nur die ewigen Beschl\u00fcsse (d\u00e9cr\u00e9ta) Gottes sind, welche stets eine ewige Wahrheit und Nothwendigkeit einschlie\u00dfen. Es ist aber dasselbe, ob ich sage, alles geschieht nach Naturgesetzen, oder alles ordnet sich nach dem Beschluss und der Leitung Gottes\u00ab4). Die Vertr\u00e4glichkeit des \u00bbwahren\u00ab Machtbegriffs \u2014 d. h. der Unm\u00f6glichkeit einer anderen und der Nothwendigkeit der thats\u00e4chlichen Beschaffenheit der Welt \u2014 aber mit der Vollkommenheit trifft selbst bei Annahme einer Willensfreiheit in Gott zu. Denn nimmt man eine Entschlussf\u00e4higkeit Gottes an, so k\u00f6nnte Gott doch nie anders bestimmen als wie er bestimmt hat, denn in der zur Vollkommenheit geh\u00f6renden Ewigkeit gibt es kein nach- noch vorher5). Dann aber\n1) Ethik I, Pr. XXXIV.\t2) Ethik I, Pr. XVTI, Sch.\n3)\tEbenda und Epistola LVI (olim LX).\n4)\tTract, theolog. polit., Cap. m. Vgl. auch dazu das ganze Cap. VI.\n5)\tEthik I, Pr. XXXIII, Sch. II. Genau den gleichen Beweis der Vertr\u00e4glichkeit nur des willenlosen Allmachtsbegriffs mit der Vollkommenheit bringt schon Tract, brev. I, Cap. TV.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n133\nbedingt ja auch die Verschiedenheit m\u00f6glicher Beschl\u00fcsse einen anderen Verstand und Willen, d. h. ein anderes Wesen Gottes, was widersinnig ist. Auch hier wird in TJebereinstimmung mit dem \u00bbHandeln\u00ab und entgegengesetzt der \u00bbFreiheit\u00ab noch nicht von dem neuen \u2014 aller Werthung entkleideten \u2014 Vollkommenheitsbegriffe des Systems Gebrauch gemacht.\nAus alledem erhellt die vollst\u00e4ndige Elimination des Wollens in jedem Sinne aus der Gottsubstanz und die Umdeutung ihrer Willenseigenschaften in blo\u00dfes Wirken oder Sein1). Stellt man sich einen Augenblick aus dem Bahmen des Systems heraus, so ist dies Ergebniss eigentlich schon mit dem pantheistischen Gottesbegriff Spinoza\u2019s unweigerlich gegeben. Denn sind Welt und Weltenlauf in der alleinen Substanz \u2014 was die Art des Zeitverh\u00e4ltnisses und den Grad der Nothwendigkeit betrifft \u2014 \u00e4hnlich begriffen wie die mathematischen Lehrs\u00e4tze in ihren Figuren, so ist f\u00fcr irgend ein Wollen weder Baum noch Bed\u00fcrfniss. Die Absprechung hatte aber neben dem Willen auch den Verstand getroffen und beide wurden \u00bbebenb\u00fcrtig\u00ab und in gemeinsamer Behandlung (bis auf die kleine Schwankung S. 125) von der Substanz negirt.\nFreilich ist Gott die ewig-wirkende Substanz und \u00fcberfeine Ohren m\u00f6gen in dieser Bestimmung einen leisen Willenston hindurchklingen h\u00f6ren. Spinoza ist es aber niemals in den Sinn gekommen, diesen energetischen Zug, der sein ganzes System beherrscht, nach Analogie des Willens zu denken: Die Substanz wirkt sich und die Welt; die Attribute wirken die unendlichen Modificationen; jeder Modus bewirkt einen anderen Modus2); es ist auch nicht das kleinste Element in diesem Weltbild, das nicht irgendwie wirkend w\u00e4re; und eben deshalb steht Verstand und Wille sich auch darin noch gleich. Auch Erkennen ist Th\u00e4tigkeit, sowie Begehren, aber das eine nur\n1)\tDurch d* Thema des theolog. - polit. Tractats werden noch zahlreiche andere Umdeutungen von Gottes Willenseigenschaften n\u00f6thig und vollf\u00fchrt: so Gottes Gebote als ewige Wahrheiten, g\u00f6ttliches Gesetz = Liebe zu Gott (Cap. IV), Erw\u00e4hlung durch Gott = Bestimmung der Dinge (Cap. III) u. s. w.\n2)\tDas unklare Yerh\u00e4ltniss verschiedener Causalit\u00e4ten, zwischen Gott und Welt, den Attributen und den unendlichen Modificationen einerseits, den endlichen Dingen untereinander andrerseits hat Cam er er (a. a. 0.) \u00fcberzeugend nachgewiesen.","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nRaoul Richter.\nwirkende Kraft, das andere wollende. In diesem potentialen Zug liegt zugleich der Unterschied von dem Verh\u00e4ltniss zwischen Gott und Welt und den mathematischen S\u00e4tzen zu ihren Figuren.\nBis jetzt zeigt sich also der Gottesbegriff weder volun-taristisch noch intellectualistisch, wohl aber causal und logisch gef\u00e4rbt.\nEine solche intellectualistische F\u00e4rbung k\u00f6nnte man vielleicht schon eher in der Benennung des einen der erkennbaren Attribute sehen. Wie man auch diese Attribute in ihrer Stellung zum System gefasst wissen will, dass sie zur \u00bbnatura naturans\u00ab, also in der Besprechung hierher geh\u00f6ren, daf\u00fcr b\u00fcrgt der eigene Ausspruch Spinoza\u2019s1). Ausdehnung und geistiges Sein, Extensio und Cogitatio, so hei\u00dfen die zwei auserw\u00e4hlten unter den unendlichen Wesenseigenschaften der Substanz. Man bezichtet Spinoza stillschweigend einer petitio principii, die er nicht begeht, wenn man von vornherein Cogitatio mit: Denken wiedergibt. Denn alle Willensregungen, Gef\u00fchle und Leidenschaften fallen ja ebenso gut wie die Vorstellungen unter dies Attribut, sind modi cogitandi. Eine Definition ihres Ober-Begriffes hat Spinoza in der \u00bbEthik\u00ab nicht gegeben2). Aber der aufgez\u00e4hlten Unterbegriffe halber ist es vorerst mit aller Vorsicht als \u00bbgeistiges Sein\u00ab oder allenfalls mit dem \u2014 vielleicht etwas zu engen \u2014 Bewusstsein3) zu \u00fcbersetzen. Spinoza', selbst w\u00fcrde zwar m\u00f6glicher Weise gegen eine Vertauschung von Bewusstsein mit Denken nichts einzuwenden haben, da ihm ja alle geistigen Seinsarten mehr oder minder zu Vorstellungen oder deren Eigenschaften werden, aber es ist dies doch eben ein Ergebniss, nicht die Voraussetzung seiner Untersuchungen, darf demnach auch nicht schon in die der Ableitung zu Grunde liegenden Begriffe mit hineingedacht werden. Also zun\u00e4chst sto\u00dfen die Attribute den Willen nicht so vollst\u00e4ndig von sich ab, wie es ihre Namen zu k\u00fcnden scheinen. An zahlreichen Stellen wird Wille wie Verstand gleichgeordnet ein \u00bbmodus cogitandi\u00ab ___________ \u2022\n1)\tEthik I, Pr. XXIX, Sch.\n2)\tDiejenige aus den Prineipia Cartesiana gilt aber (obwohl sonst die Schrift nur mit \u00e4u\u00dferster Vorsicht zur Erkl\u00e4rung der \u00bbEthik\u00ab ihres Mischcharakters yregen heranzuziehen ist) auch hier: Cogitationis nomine complector omne id, quod\n/in nobis est, ut cujus immediate conscii sumus.\n3)\tWindelband, Gesch. d. Ph. Freiburg 1892. S. 308.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n135\ngenannt und das allumfassende Attribut des Bewusstseins nimmt beide in sieb auf. Immerbin aber bleibt doch die Wahl des Namens, besser seine Uebernahme aus Descartes, f\u00fcr die Rangordnung von Wille und Verstand h\u00f6chst bezeichnend; denn dass es eben das Wort \u00bbcogitatio\u00ab ist, das eine k\u00fcnstliche Erweiterung erfahren muss, und noch \u00fcber die Willensseite des Bewusstseins ausgespannt wird, ist doch keine etwa nur durch Wortmangel erkl\u00e4rbare Thatsache. Und w\u00e4re sie dies, warum konnte nicht die entgegengesetzte terminologische Einseitigkeit begangen und das Attribut \u00bb voluntas\u00ab getauft werden? So weist denn, obwohl es nicht thunlich scheint, Cogitatio ohne weiteres mit Denken zu \u00fcbersetzen, doch die Wahl des Namens eine intellec-tualistische F\u00e4rbung der unmittelbaren Erfahrung auf und zeigt die Tonart an, in der gespielt wird. Von hier aus f\u00fchrt dann der Weg auch gleich in jenes Reich, in dem nun bewusste wie unbewusste Bevorzugung des Verstandes vor dem Willen ihre Freist\u00e4tte haben, zur \u00bbnatura naturata\u00ab.\nB. Der Wille in der natura naturata.\nDie Ausscheidung des Willens aus Gott und den Attributen weist dem Willen \u2014 wenn anders er \u00fcberhaupt ein Dasein haben soll \u2014 seine Stellung im Reiche des Bewirkten oder der modi von selber an, und wiederum hat dieser sein Platz als unmittelbare Folge den Ausschluss aus der gesammten \u00bbwirkenden Natur\u00ab. So sind denn auch beide Ergebnisse in denselben Lehrs\u00e4tzen abgehandelt, indem die auf Gott bez\u00fcglichen Folgen als die negativen Seiten der positiven Stellenanweisung des Willens in Corollarien sich angeh\u00e4ngt finden. Sie sind uns schon oben begegnet. Hier interessirt uns nur der Inhalt der Lehrs\u00e4tze selber, der einmal dem Willen seinen Platz im Welten-reicb, dann aber auch das ihn beherrschende Gesetz verk\u00fcndet. \u00bbDer Wille ist ein modus und geh\u00f6rt somit zur bewirkten Natur.\u00ab Der zweite Theil des Satzes folgt unmittelbar aus dem ersten; denn Reich der Modi und natura naturata sind Synonyma. Woraus aber folgt die Behauptung, der Wille sei ein Modus? Diese bedarf nach Spinoza keines Beweises; sie leuchtet von selbst ein; es hei\u00dft eben einfach: der Wille ist nur ein bestimmter modus des geistigen Seins wie der Verstand (voluntas certus tantum","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nRaoul Richter.\ncogitandi modus est sicuti intellectus)J) ; vom Verst\u00e4nde aber wird auch blo\u00df ausgesagt: \u00bbunter Verstand verstehe ich n\u00e4mlich nicht (wie von selber klar ist) das absolute geistige Sein, sondern nur einen bestimmten Modus dieses Bewusstseins\u00ab etc.1 2). \u2014 Ist aber der Wille einmal zum modus erniedrigt, so folgt von selbst, dass er dem sie alle beherrschenden Naturgesetz der Causalit\u00e4t unerbittlich unterworfen ist, und dass also \u2014 ganz allgemein gesprochen \u2014 von einem freien Willen nicht die Bede sein kann. \u00bbDer Wille kann nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern nur eine nothwendige\u00ab3). Wir haben schon oben erw\u00e4hnt, dass gar kein Grund vorliegt, den Willen hier in irgendwelcher Besonderheit, sei es als Bejahen oder Begehren, zu fassen, da der Beweis aus der Modalit\u00e4t f\u00fcr jede der beiden Seiten G\u00fcltigkeit hat. Wir haben hier vielmehr den allgemeinsten Beweis einer unbedingten Willensbestimmung vor uns; wie weit dieser f\u00fcr seine Unterbegriffe noch einmal im einzelnen gef\u00fchrt wird, und oh f\u00fcr jeden derselben, besch\u00e4ftigt uns sp\u00e4ter. Dem metaphysisch-systematischen Beweis gegen die Willensfreiheit kommt, nun noch nach der beliebten Methode Spinoza\u2019s die Aufdeckung der psychologischen Entstehung ihres Begriffs zu H\u00fclfe. Dies Argument \u2014 obwohl f\u00fcr die heutige Auffassung das bei weitem bindendere \u2014 findet sich dem metaphysischen Geiste des Systems gem\u00e4\u00df bezeichnender Weise nur in Anh\u00e4ngen und Scholien des Hauptwerks4) zerstreut, aus welchen heraus wir es an diesen, als den ihm zukommenden Platz versetzen wollen. Es geh\u00f6rt hierher, denn es bezieht sich auf den Willen ganz allgemein und soll f\u00fcr das Bejahen (Urtheilen) wie f\u00fcr das Begehren schl\u00fcssig sein5). Es gilt die Erkl\u00e4rung des Ereiheitsbewusstseins6). Dieses ist ein Vorurtheil\n1) Ethik I, Pr. XXXII, Dem.\t2) Ethik I, Pr. XXXT, Dem.\n3)\tEthik I, Pr. XXXEL\n4)\tEthik I, Appendix; II, Pr. XXXV, Sch.; Ill, Pr. II, Sch. Ygl. auch\nbesonders Ep. LVIII (olim LXII).\n5)\tHaupts\u00e4chlich angewandt findet es sich auf den Willen als Begehren, aber Eth. III, Pr. HI, Sch. (Schluss) wird es ausdr\u00fccklich auf den Willen im Urtheil bezogen.\n6)\tE. H. Jacobi (Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Moses Mendelssohn) bringt die Erkl\u00e4rung Spinoza\u2019s auf die pr\u00e4cise Formel : ich denke was ich thue, aber ich thue nicht was ich denke (S. 29); \u00fcberaus' treffende Bemerkungen zur Willenslehre Spinoza\u2019s enth\u00e4lt der Brief an den holl\u00e4ndischen","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n137\nund ein Irrthum. Es muss aber notbwendig in den Menschen bestehen, da sie ihrer Willenshandlungen sich bewusst sind, und die Ursachen und Motive, welche sie dazu bestimmten, ihnen verborgen bleiben. So w\u00fcrde auch der fallende Stein \u2014 h\u00e4tte er Bewusstsein \u2014 aus eigenem Antrieb zu fliegen meinen; das Kind glaubt freiwillig die Milch zu begehren, der Zornige die Bache, der Feige die Flucht u. s. w. Descartes hatte bekanntlich seinen Freiheitsbeweis auch psychologisch gef\u00fchrt und sich eben auf dieses Freiheitsbewusstsein gest\u00fctzt. Nun analysirt Spinoza dieses selbst auf seine Beweiskr\u00e4ftigkeit hin: Ist nicht die Freiheitsgewissheit vielmehr ein Freiheitswahn? Und er fand, dass dem so w\u00e4re. Am interessantesten wird diese Argumentation im Schol. zur II. Prop, des III. Theils der \u00bbEthik\u00ab beleuchtet; dort n\u00e4mlich wird die psychologische Thatsache einer doppelten Willensauffassung bei den Menschen, der deterministischen und indeterministischen, als nothwendiges Gegenst\u00fcck zur seelisch-k\u00f6rperlichen Natur aufgezeigt. Was unter dem Attribut des Geistes gefasst: Entschluss, hei\u00dft unter dem Attribut der Ausdehnung betrachtet: Bestimmung. Diese Gegens\u00e4tze zwischen Physischem und Psychischem vers\u00f6hnen-sich erst in der metaphysischen \u2014 nach Spinoza einzig wahren \u2014 Weltbetrachtung, welche die Attribute und somit auch die Gegens\u00e4tze ihrer Modi in eine h\u00f6here Einheit \u00e4ufgehen l\u00e4sst. Beide Ergebnisse aber, sowohl die Erfassung der \u00bb Voluntas \u00ab als modus, wie ihre strenge Necessitirung, sind, aus der Lehre Spinoza\u2019s heraus beurtheilt, ein-\nPopular-Philosophen Hemsterhuys in der n\u00e4mlichen Schrift. Das Bestehen eines Freiheitsbewusstseins hat von namhafteren Denkern wohl blo\u00df Schopenhauer zu leugnen versucht; nach ihm sagt uns unser Selbstbewusstsein nur: \u00bbdu kannst was du willst\u00ab, nicht aber, \u00bbdu kannst wollen was du willst\u00ab, hier\u00fcber gibt er uns gar keine Auskunft. Hingegen f\u00fchrt er seinerseits einen empirischpsychologischen Beweis gegen, die Freiheit des Willens an: der Mensch rechne im praktischen Leben streng und dauernd mit der Necessitirung des Willens bei seinen Mitmenschen (Grundprobleme der Ethik. Frauenst\u00e4dt, IV. Aufl., S. 14 ff. und S. 41). Umgekehrt haben gerade die St\u00e4rke des Freiheitsbewusstseins und ihr Conflict mit der Ca\u00fcsalit\u00e4t vielleicht ihren sch\u00e4rfsten Ausdruck in einem Aphorismus Lichtenberg\u2019s erfahren: \u00bbWir wissen mit weit mehr Deutlichkeit, dass unser Wille frei ist, als dass alles was geschieht eine Ursache haben m\u00fcsse. K\u00f6nnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsere Begriffe von Ursache und Wirkung m\u00fcssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht frei sein k\u00f6nnte, wenn sie richtig w\u00e4ren?\u00ab (Lichtenberg: Vermischte Schriften. G\u00f6ttingen 1867. Bd. I, S. 70.)","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nRaoul Richter.\nwandsfrei. Denn obgleich f\u00fcr die modale Natur kein Beweis erbracht wird und nur ein \u00bbut per se notum\u00ab die Thatsache feststellt, so ist diese doch ein unmittelbarer Abfluss aus den Grundbegriffen des Systems. War einmal ein allgemeines, unendliches geistiges Sein als Attribut, d. h. als reale geistige Kraft, nicht als abstracter Oberbegriff vorangestellt, so mussten allerdings nothwendig Wille und Verstand als Daseinsarten oder Theilst\u00fccke dieses unendlichen Bewusstseins gedacht werden. Und ebenso mussten \u2014 war einmal f\u00fcr das gesammte Reich der Modi die Causalkette als Princip gefordert \u2014 Willk\u00fcr und freier Wille von selber fallen.\nGanz anders aber steht es mit einer stillschweigenden Bevorzugung des Verstandes vor dem \u201cWollen in der Behandlung von S\u00e4tzen und Beweisen, welche Bevorzugung keineswegs eine Folge der systematischen Voraussetzungen ist. In der 31. Proposition (Theil I), welche den Willen als einen Theil der \u00bbnatura naturata\u00ab erkl\u00e4rt, findet sowohl in dem Lehrsatz selber, wie besonders aber im Beweis und im Scholion ein noch unberechtigter, weil unerwiesener Vortritt des Verstandes*vor dem Willen statt. Hei\u00dft es doch: \u00bbder wirkliche Verstand, sei er nun endlich oder unendlich, wie auch Wille, Begehren, Liebe u. s. w. m\u00fcssen zur bewirkten, nicht zur wirkenden Natur gerechnet werden\u00ab, und dann folgt der ganze Beweis f\u00fcr diese Eingliederung nur vom Verst\u00e4nde; der Wille ist hier blo\u00df durch den Zusatz \u00bbwie auch die \u00fcbrigen Modi des Bewusstseins\u00ab mit aufgenommen. Das ganze Scholion aber handelt gleichfalls allein vom Verst\u00e4nde, warum er \u00bbactu\u00ab genannt w\u00e4re, Wille und Gef\u00fchl ganz bei Seite lassend. Wesentlicheren Aufschluss oder besser Fingerzeig zum Aufschluss ergibt eine genauere vergleichende Durchforschung des Determinationsbeweises mit dem vorhergehenden Lehrsatz. Die Einordnung des Verstandes und Willens in die \u00bbnatura naturata\u00ab n\u00e4mlich hatte die Unendlichkeit des ersteren vorsichtig bejahend, die des Willens au\u00dfer Acht lassend, behandelt: der wirkliche Verstand, mag er nun endlich oder unendlich sein, sowie Wille u. s. w. Bestimmtes ausgesagt ist zwar damit noch nicht, aber man err\u00e4th doch leicht, zumal wenn man den vorhergehenden Lehrsatz hinzunimmt, dass Spinoza jedenfalls einen unendlichen Verstand anerkennt, ist aber sehr im Zweifel, ob er auch einen unendlichen Willen wird zulassen wollen. Auf diesen spielt nun der Beweis der","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n139\nallgemeinen Willensnecessitirung allerdings an, indem er auch einen angenommenen unendlichen Willen der Nothwendigkeit, besser dem Zwange unterwirft. Der entscheidende Ausdruck lautet: \u00bbWird auch der Wille als unendlich angenommen u. s. w. (quod si voluntas infinita supponatur)\u00ab und: \u00bbwie immer er aber auch, als endlich oder unendlich, vorgestellt wird (quocumque igitur modo, sive finita sive infinita concipiatur), so erheischt er eine Ursache, von der er zum Dasein und Handeln bestimmt wird\u00ab. Man sieht: etwas gewisses l\u00e4sst sich \u00fcber den \u00bbunendlichen Willen\u00ab hier nicht ausmachen, da nur ein \u00bbangenommener\u00ab als necessitirt erwiesen wird. Damit aber richtet sich Spinoza offenbar gegen diejenigen Philosophen, welche, wie Descartes, ein unbegrenzte^ freies Wollen aufgestellt hatten. Auch das zweite Corollar hat diese leicht polemische Ader. Aber es zielt auf die Vertheidiger der g\u00f6ttlichen Willk\u00fcr in jeder Gestalt ah. Es wird hier Wille und Verstand in das gleiche Yerh\u00e4ltniss wie Ruhe und Bewegung zu Gott gesetzt, und da diese bekanntlich nach Spinoza unendlich sind, so k\u00f6nnte man aus dieser Prop, auch auf einen unendlichen Willen schlie\u00dfen. Aber das w\u00e4re \u00fcbereilt. Denn es werden hier neben Ruhe und Bewegung zun\u00e4chst auch noch die \u00fcbrigen endlichen Dinge in der Natur (reliqua naturalia) genannt, dann aber ist es auch aus dem Sinn des Scholion ersichtlich, dass hier nur von einem supponirten unendlichen Willen die Rede zu sein braucht: \u00bbUnd wenn auch aus einem gegebenen Willen oder Verst\u00e4nde unendliches folgt, so kann dennoch deswegen nicht mehr gesagt werden, Gott handle aus Willk\u00fcr, als wegen der Folgen aus Bewegung und Ruhe (denn auch aus ihnen folgt unendlich vieles) gesagt werden kann, er handle aus Freiheit der Bewegung oder der Ruhe\u00ab. Es erhellt von selbst, dass der Nachdruck auf der negativen Seite der Folges\u00e4tze, nicht auf der positiven Annahme des hypothetischen Vordersatzes hegt. \u00bbGott handelt unter keinen Umst\u00e4nden aus Willk\u00fcr, selbst nicht unter Annahme eines unendlichen Willens\u00ab \u2014 das ist der einfache Sinn dieser S\u00e4tze.\nSo erhebt sich schon von der allgemeinen Versetzung des Willens unter die modi die Frage nach seinem besonderen Platz unter ihnen. Spinoza kennt ja bekanntlich unendlich-ewige und endlich-zeitliche Modi. Zu welchen von beiden geh\u00f6rt der Wille oder geh\u00f6rt er \u2014 wie der Verstand \u2014 zu beiden? Gibt es einen unendlichen und","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nRaoul Richter.\nendlichen Willen oder nur einen endlichen? Die Antwort, die uns die S\u00e4tze von dem Willen als modus und seiner strengen Determination mit ihren Beweisen kaum andeutungsweise geben konnten, erwarten wir von der Lehre \u00fcber die unendlichen Mo-dificationen selbst. Steigt man auf der Leiter spinozischer metaphysischer Begriffe von den Attributen um eine Stufe herunter, so gelangt man auf die gespaltene Sprosse (unmittelbarer und mittelbarer) unendlich-ewiger Modificationen. Sie bilden die geheimnissvolle Vermittelung der Einzeldinge mit ihren Attributen, geheimnissvoll \u2014 denn es ist aus dem gesammten Hauptwerk schlechterdings nicht zu ersehen, was Spinoza unter diesen unendlichen Modificationen eigentlich verstanden wissen wollte, und noch weniger, welche Begriffe durch die Zweitheilung bedingt w\u00e4ren. Trotzdem sind wir durch andere Ausspr\u00fcche des Philosophen dar\u00fcber voll orientirt. Sch\u00fcler des Spinoza vermissten mit Recht irgendwelche Aufkl\u00e4rung des fraglichen Punktes in der \u00bbEthik\u00ab seihst und wandten sich direct an den Meister mit der Bitte um Beispiele. Dieser antwortet denn auch ganz unzweideutig: \u00bbBeispiele f\u00fcr die unendlich-ewigen Modificationen, welche unmittelbar aus einem Attribut abfl\u00f6ssen, seien im geistigen Sein der absolut unendliche Verstand (intellectus absolute infi-nitus), in der Ausdehnung Bewegung und Ruhe, mittelbar-ewige Modificationen, welche aus einer unmittelbaren entspr\u00e4ngen, sei die stets unver\u00e4nderliche Gestalt des Universums (facies totius universi) \u00ab1 ). Wie man sich auch diese Antwort deuten mag, vom Willen steht nichts darin. Im Reiche der unendlichen Modificationen, der mittelbaren, wie der unmittelbaren, findet er keine Stelle. Wohl aber der Verstand. Und genau damit \u00fchereinkommend ist denn nicht nur jene Stelle im \u00bbkurzen Tractat\u00ab, wo gleichfalls nur Verstand und Bewegung als unendliche modi genannt werden2), sondern auch der ganze Verlauf des Hauptwerks. Denn wohl ist in ihm dem unendlichen Verst\u00e4nde eine bedeutende Rolle zugedacht, ein unendlicher Wille als Thatsache aber tritt nirgends mehr auf. Und so best\u00e4tigt sich hier unsere Vermuthung, die von dem angenommenen unendlichen Willen aus angestellt worden.\nZwei Einw\u00e4nden jedoch muss hier begegnet werden. Der erste\n1) Ep. LXIII (olim LXV).\n2) Tract, brev. I, Cap. IX (1).","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n141\nist ein terminologischer. Man k\u00f6nnte n\u00e4mlich die Frage aufwerfen, ob nicht Spinoza den \u00bbIntellectus\u00ab, \u00e4hnlich wie es bei der \u00bb Cogitation der Fall war, rein als Bewusstseinsbestimmtheit und ohne Sonderung des Vorstellenden vom wollenden Theile der Seele genommen habe. Doch ist dem nicht so. Ein solcher Gebrauch dieses Wortes ist hei seinen Vorg\u00e4ngern, denen er Wort und Bedeutung von \u00bbcogitatio\u00ab entlehnte, nicht zu finden; erkannte doch Descartes ausdr\u00fccklich Wille und Verstand als zwei getrennte Verm\u00f6gen an! So h\u00e4tte diese neue Terminologie irgend einer Rechtfertigung etwa in einer Definition dringend bedurft. Dann aber auch widerspricht dieser Annahme der gesammte Sprachgebrauch in Spinoza\u2019s Schriften, wo ja \u00fcberall der Intellect die theoretische objective Seite des Seelenlebens bedeutet. Ein zweiter Einwand entnimmt sich der sp\u00e4teren Gleichung zwischen Wille und Verstand: Ist Wille und Verstand das Gleiche, so trifft eben alles vom Verstand Gesagte auch den Willen mit, von einer Bevorzugung des einen vor dem anderen kann nirgends die Rede sein; und ist z. B. der Verstand ein unendlicher Modus, so ist es auch der Wille. Diese Argumentation machte allerdings unsere ganze bisherige Untersuchung wie alle folgenden dieses Gebiets \u00fcberfl\u00fcssig. Aber es ist gerade die ungeheure Vieldeutigkeit der in Frage stehenden Gleichung, welche den Hauptgrund f\u00fcr solche Untersuchungen abgibt. Wie sp\u00e4ter erhellen wird, kann z. B. Spinoza von den beiden Hauptdeutungsm\u00f6glichkeiten: der g\u00e4nzlichen Intellectualisirung des Willens oder der g\u00e4nzlichen Voluntarisirung des Verstandes keine gemeint haben! Somit ist an eine Erkl\u00e4rung des Satzes nur h\u00f6chst vorsichtig und nur unter genauester Kenntniss seiner Entwickelung heranzugehen. Eben deshalb hat ihn ja auch Spinoza \u2014wohl nicht zuf\u00e4llig \u2014 an den Schluss der metaphysisch-erkenntnisstheoretischen Theile gestellt. Deckten sich f\u00fcr ihn Wille und Intellect, wie etwa Reich der modi und natura naturata, oder wie zwei gleichbedeutende Worte verschiedener Sprachen, so h\u00e4tte er dies in den Axiomen oder Definitionen zum Ausdruck gebracht, nicht aber den Verstand in den zwei ersten Theilen als etwas von den \u00fcbrigen modi des Bewusstseins, wie \u00bbWille, Begierde, Liebe\u00ab u. s. w. v\u00f6llig getrenntes behandelt1). Es tr\u00e4fe also der gegen uns gerichtete\n1) Ethik I, Pr. XXXT mit Dem.; II, Axiom III, Pr. XI mit Dem. u. a. m.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nRaoul Richter.\nVorwurf den Spinoza selbst und zwar \u2014 wenn man genau hinsieht \u2014 s\u00e4mmtliche Hauptbegriffe des Systems. So \u2014 um nur den wichtigsten heraus zu greifen \u2014 scheint der Ausdruck Deus sive Natura oder die Gleichung von Gott und Welt alle Trennung und somit jede Ausf\u00fchrung dieses Verh\u00e4ltnisses \u00fcberfl\u00fcssig zu machen. Die Wahrheit ist, dass gerade die Hauptgleichungen in Spinoza nur durch ihre Ableitung, d. h. nur als Ergebniss, nicht als Voraussetzung verst\u00e4ndlich werden. Spinoza ist mit dem Gleichheitszeichen schon bei geringer Verwandtschaft der Dinge schnell bei der Hand und es bedarf der sorgf\u00e4ltigen Aufdeckung dieser Verwandtschaft, um aus der pantheistischen Verschmelzungstendenz Gesondertes und Selbiges herauszusch\u00e4len.\nSo bleibt bestehen, dass Spinoza den Willen nicht, wohl aber den Verstand zu den unendlichen Modificationen rechnet, welche unmittelbare Ergebnisse des Attributs \u00bbcogitatio\u00ab sind.\nAus Principien heraus ist bei der bisherigen grunds\u00e4tzlichen Gleichordnung mit dem Verst\u00e4nde kein Grund daf\u00fcr zu entnehmen und insofern stehen wir hier vor einer \u2014 im strengsten Sinne des Systems \u2014 unbewiesenen Annahme. Es muss dies um so ausdr\u00fccklicher betont werden, als gerade neuerdings ein unendlicher Wille als ewige Modification in die Darstellung des Spinozischen Systems Eingang gefunden hat und sogar der menschliche Wille seine Ableitung aus dem \u00bbunendlichen Willen\u00ab erf\u00e4hrt \u2014 wovon aber bei Spinoza nichts zu lesen steht. Bezeichnend genug wird denn auch das Verh\u00e4ltniss von Verstand und Wille in dieser 18 Seiten befassenden Wiedergabe mit keinem Worte1) erw\u00e4hnt.\nUeber die Natur des unendlichen Verstandes erhalten wir nirgends ganz reine Auskunft. Zwar hei\u00dft es einmal: \u00bbder wirkliche endliche oder unendliche Verstand muss Gottes Attribute und Gottes\n1) Reliinke: Grundriss der Gesch. d. Phil., S. 146: \u00bbNeben dem Erkennen hat der Mensch als endliches Bewusstsein oder denkendes Wesen das Streben oder Wollen, denn er muss als modus des unendlichen Denkens, welches als unendliche modi das unendliche Erkennen und Wollen hat, eben das Gleiche haben, nur in der Beschr\u00e4nkung, d. h. in endlicher Weise\u00ab (vgl auch S. 140, 143).","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n143\nAffectionen begreifen und weiter nichts\u00ab, aber damit ist speciell f\u00fcr den unendlichen Verstand kein n\u00e4heres Kriterium gewonnen. Wir werden ihn nun \u2014 unter Ber\u00fccksichtigung einer sp\u00e4teren Stelle im 5. Theil \u2014 aufzufassen haben als die Summe all der ewigen Einzelintellecte. Alle Wesenheiten der Dinge sind ja nach Spinoza in gewissem Sinne au\u00dferzeitlich, d. h. ewig, und man hat insofern ein Recht, die Wesenheiten der Dinge im Sinne Spinoza\u2019s zu den ewigen Modificationen zu rechnen1). Dann w\u00fcrde die Summe dieser ewigen mittelbaren Verstandesmodi eben den unendlichen Verstand ergeben; so nimmt denn Spinoza auch wirklich auf den ersten Lehrsatz von den unendlich-ewigen Modificationen Bezug, wenn er gegen den Schluss des Hauptwerks schreibt: \u00bbhieraus und zugleich aus der 21. Proposition des 1. Theils (in der eben von den unendlichen Modificationen die Rede ist) und anderen erhellt, dass unsere Seele, soweit sie erkennt, ein ewiger Modus des Bewusstseins ist, der von einem anderen ewigen Modus des Bewusstseins bestimmt wird, und der wiederum von einem anderen, und so ins unendliche fort, sodass alle zusammen den ewigen und unendlichen Verstand Gottes ausmachen\u00ab2). Diese unendliche Summe kann aber nun nichts anderes sein, als was Spinoza sonst auch wohl \u00bbdie Vorstellung, die Gott von sich selber hat\u00ab, nennt. \u00bbIn Gott gibt es nothwendig eine Vorstellung (idea) sowohl von seinem Wesen, wie von dem, was aus seinem Wesen nothwendig folgt3).\u00ab Diese ist einzig, da Gott einzig ist4). Aus der nothwen-digen Beschaffenheit dieser Vorstellung erhellt aber unmittelbar ihre rein theoretische Natur und somit auch der Ausschluss aller Willenselemente aus dem unendlichen Verst\u00e4nde und damit aus den unendlichen und ewigen Modificationen \u00fcberhaupt. Denn trotz aller Vorsicht, mit der wir diese \u00bbIdea\u00ab als unmittelbare Ableitung aus dem allgemeinen Bewusstsein mit \u00bbBewusstseinsbestimmtheit\u00ab wiedergeben m\u00f6gen, so folgt doch ihre Auffassung rein als Vorstellung im streng Spinozischen Sinne aus zweierlei Gr\u00fcnden: Sie kann den Willen nicht einmal als\n1)\tC amer er: Die Lehre Spinoza\u2019s, S. 26 ff.\n2)\tEthik Y, Pr. XL, Sch.\t3) Ethik H, Pr. HI.\n4) Ethik II, Pr. IV.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nRaoul Richter.\n\u00bbBejahung\u00ab enthalten (wie es sonst alle endlichen Vorstellungen thun), denn sie ist einzig und hat keine Eigenschaften, die sie bejahen k\u00f6nnte, und da sie als Selbstvorstellung Gottes Vollkommenheits-Vorstellung ist, kann sie weder einen Gef\u00fchlston, der einen \u00bbUeber-gang\u00ab, noch ein Begehren, das ein Entbehren voraussetzt, von sich gelten lassen. Man hat in dieser subjectiven Gottesvorstellung eine b\u00f6se Inconsequenz zu der Lehre gesehen: Gott komme kein Verstand noch Wille zu; und auch der unendliche Verstand war ja von Spinoza ausdr\u00fccklich dem Reiche der Modi zugetheilt worden. Nun ist der blo\u00dfe Ausdruck \u00bbIdea Dei\u00ab noch kein Gegenbeweis; denn der Spinozische Gott ist ja eben die alleine Substanz mit ihren beiden gegens\u00e4tzlich-vereinten Seiten: \u00bbder eine\u00ab und \u00bbdas all\u00ab, und so tritt er auch terminologisch in beiden getrennten Rollen unter demselben Namen auf. Aber allerdings legt die Aufstellung der Gottesvorstellung als einer einzigen, unter Berufung auf die Einzigkeit Gottes und das der Ableitung der \u00bbIdea Dei\u00ab unmittelbar folgende polemische Scholion, das ganz mit dem (engeren) substantiellen Gottesbegriff des 1. Theiles der \u00bbEthik\u00ab arbeitet, die Ver-muthung nahe, Spinoza habe hier \u2014 fr\u00fcheren Verwahrungen entgegen \u2014 die Gottesvorstellung, also auch den unendlichen Verstand in die \u00bbnatura naturans\u00ab gewiesen. Diese Auffassung findet ihren festesten Anhalt an dem 8. Lehrsatz des 2. Theils und seinem Co-rollar, die noch an anderen Stellen uns begegnen werden1). Auch scheint die Einzigkeit dieser \u00bbIdea\u00ab nicht recht mit der behaupteten Zusammensetzung des unendlichen Verstandes aus den ewigen Wesenheiten endlicher Intellecte in Einklang zu stehen. Man m\u00fcsste denn schon zu der freilich gleich r\u00e4thselhaften Spaltung der Substanz in unendliche Attribute bei voller Wahrung ihrer Einheit als Analogie Zuflucht nehmen. Sieht man aber in dieser Gottesvorstellung eine Inconsequenz, so hat dies f\u00fcr die Willenslehre den Gewinn, dass sich dann die strengen Consequenzen der Verstandes- wie Willensnegation von Gott wohl auf jener, nicht aber auf dieser Seite durchbrochen zeigen und somit diese Inconsequenz dem Verst\u00e4nde und nicht dem Willen zu Liebe geschehen sei. Immerhin begeht man dabei den Fehler, natura naturans und naturata wie durch eine\n1) Siehe unten S. 152.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n145\nMauer getrennte Beiche zu behandeln; in Wahrheit verflie\u00dfen ihre Grenzen und die unendlich-ewigen Modificationen stehen noch mit einem Fu\u00dfe in der wirkenden Natur! Sind sie doch das vornehmste Product der Attribute, welche das Wesen Gottes sind, von ihnen unmittelbar hervorgetrieben. Aber dieses Hervortreiben ist doch mehr stetig-begrifflich und nicht \u00bbwie aus der Pistole geschossen\u00ab zu fassen1).\nWie man sich aber auch zu der Lehre von den unendlichen Modificationen stellen, oh man sie als \u00bbKr\u00e4fte\u00ab wie die Attribute : oder als blo\u00dfe unendliche Summe des Endlichen fassen, ob man die Wesenheiten der Dinge in ihnen begreifen m\u00f6ge oder nicht, und wie man auch ihre Schwierigkeiten im Einzelnen zu l\u00f6sen versuche, Thatsache bleibt, dass der Wille nicht zu ihnen geh\u00f6rt. Und hierin liegt, da das Spinozische System, wissenschaftlich gefasst, doch eine strenge Ableitung aus obersten, von selbst einleuchtenden Gesetzen und Begriffen sein will, eine ganz ungerechtfertigte Bevorzugung des Verstandes, eine bewusste oder unbewusste intellectuelle Verf\u00e4rbung, da die unendlichen Modificationen aus dem alles \u00bbBewusstsein\u00ab (principiell) befassenden Attribut der \u00bbCogitatio\u00ab genau so gut dem Willen wie dem Verst\u00e4nde offen stehen. So macht sich die Einseitigkeit des Namens bereits hier dem Sinne nach in dem vornehmsten Erzeugniss dieses Attributes geltend. Den Einwand von der Gleichheit von Wille und Verstand konnten wir aus principiellen Gr\u00fcnden als nicht hergeh\u00f6rig zur\u00fcckweisen, ja die nothwendig zu denkende Elimination des Willens aus der \u00bbIdea Dei\u00ab oder dem\n1) Busse (Zeitschrift f\u00fcr Phil, und phil. Kritik, Bd. 96, Beitr\u00e4ge zur Entwickelungsgeschichte Spinoza\u2019s) sucht die gleiche Schwierigkeit im \u00bbkurzen Tractat\u00ab zu heben, indem er zwischen \u00bbewiger Idee der Essenzen\u00ab und \u00bbvollkommenem Denken der Existenzen\u00ab unterscheidet. Diese Ansicht, so sehr sie eine klare Weiterf\u00fchrung im Sinne Spinoza\u2019s sein mag, kann nicht f\u00fcr die \u00bbEthik\u00ab Geltung haben. Denn der intellectus infinitus ist nach Y, Pr. XL, Sch. durchaus die Summe ewiger Essenzen, nicht endlicher Vorstellungen. Dadurch, dass er aber ausdr\u00fccklich in dieser Eigenschaft infinitus intellectus Dei genannt wird, f\u00e4llt er mit dem Selbstbewusstsein Gottes zusammen. Der Knoten besteht in Spinoza\u2019s System und ihn aufl\u00f6sen hei\u00dft dieses weiterbilden, aber nicht wiedergeben. Ereudenthal (Zeitschrift f\u00fcr Phil. u. phil. Kritik, Bd. 108, Hft. II, Spinozastudien, S. 248) verneint alle Schwierigkeit, indem er die ewige Vorstellung Gottes nicht als \u00bbsubstanziale Bestimmung\u00ab ansieht, wohl Ethik I, Pr. XXXI, nicht aber auch II, Pr. III mit Schol. herbeiziehend.\nWundt, Ph\u00fcos. Studien. XIV.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nRaoul Richter.\n\u00bbintellectus infinitus\u00ab aufzeigen. So schlie\u00dfen sachlich-allgemeine wie sachlich-besondere Gr\u00fcnde, vorz\u00fcglich aber auch der Wortlaut der Antwort Spinoza\u2019s auf die Tschirnhausen\u2019sche Frage hier allen Zweifel aus.\nSteigt man von den unendlichen Modificationen, unter denen der Wille vergeblich gesucht wurde, um eine Stufe herab, so gelangt man wieder auf festen Boden \u2014 aus dem Himmel transcendenter Wesenheiten in das Reich der immanenten Dinge und geistigen Erlebnisse. Zwar wird der Eintritt nur mit zunehmender Entfernung von der Gottsubstanz erkauft, aber daf\u00fcr ein zuverl\u00e4ssigerer Freund \u2014 die Erfahrung -\u2014 gewonnen. Hier trifft man keine selbstbewirkte, frei-nothwendige Ursache an, keine Attribute ohne Inhalt, keine reine Bewegung ohne Bewegtes, keinen ewigen Intellect, der nur ruhendes, einziges Selbstbewusstsein sei. Hier treten an Stelle der leeren nur als Kraft gedachten Ausdehnung ihre Verk\u00f6rperungen, an Stelle des allgemeinen Bewusstseins die besonderen Bewusstseinsformen.\nF\u00fcr die Stellung des Willens in der Erfahrungswelt (Welt der endlichen modi) sind gleich die ersten S\u00e4tze des erkennt-nisstheoretischen Theils von wesentlicher, ja grundlegender Bedeutung. Dass trotz der Ueberschrift \u00bb\u00fcber die Natur und den Ursprung der Seele\u00ab der Wille keinen Platz unter den vorangeschickten Definitionen erhielt, fand schon in den einleitenden Worten (oben S. 119) Erw\u00e4hnung; und doch umfasst die \u00bbjjjgfts\u00ab des Spinoza neben den Vorstellungen auch Begehrungen und Gef\u00fchle. Darum geben wir sie auch von vornherein \u2014 ebenso vorsichtig wie die \u00bbcogitatio\u00ab als \u00bbBewusstsein\u00ab \u2014 mit \u00bbSe\u00a3l\u00df\u00ab wieder, weil das Wort Geist f\u00fcr manche bereits eine intellectualistische Schattirung aufweist. Verwickelter steht es mit der \u00bbIdeenlehre\u00ab. Gerade bei dem Terminus \u00bbidea\u00ab hat man in Deutung und Uebersetzung \u00e4u\u00dferst vorsichtig zu sein; wohl in mindestens f\u00fcnf verschiedenen Bedeutungen1) tritt dies Wort im Verlauf der \u00bbEthik\u00ab auf und gibt so wegen der Wichtigkeit seiner Begriffe Anlass zu den \u00e4rgsten Missverst\u00e4ndnissen.\n1) Idee: 1) als Bewusstseinsbestimmtheit, 2) als Vorstellung im weiteren Sinne (die imaginationes mit befassend), 3) als Vorstellung im engeren Sinne, 4) als Seele, 5) als Grottesselbstvorstellung\\","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n147\nUnter ihre allgemeinste Definition lassen sich freilich all die schwankenden Bedeutungen allenfalls unterbringen ; denn nach ihr d\u00fcrfte man, wie \u00bb Cogitation mit Bewusstsein und \u00bbmens\u00ab mit Seele, auch \u00bbidea\u00ab mit Bewusstseinsbestimmtheit wiedergehen. \u00bbUnter Idee verstehe ich die Auffassung der Seele (conceptus mentis), welche die Seele als bewusstes Ding (res cogitans) bildet. Ich sage lieber Auffassung (conceptus) wie Wahrnehmung (perceptio), weil das Wort Wahrnehmung ein Leiden der Seele durch das Object anzuzeigen scheint; aber Auffassung scheint eine Th\u00e4tigkeit der Seele (actio mentis) auszudr\u00fccken\u00ab '). Sie steht somit von vornherein Willens- und Verstandeselementen noch gleich unparteiisch gegen\u00fcber: denn mag das Wort \u00bbconceptus\u00ab auch stark nach \u00bbBegrifflichem\u00ab schmecken, und somit als eine \u00bbtheoretische\u00ab Auffassung erscheinen, so kommt durch die angeh\u00e4ngte Erkl\u00e4rung, in welcher sie als actives Element gegen die passive \u00bbperceptio\u00ab ausgespielt wird, ein energetisch-volun-taristischer Zug in sie hinein. Doch ist nicht zu \u00fcbersehen, dass dieser Zug nicht verm\u00f6ge der unmittelbar gef\u00fchlten Willensth\u00e4tigkeit heim Denken (etwa der heutigen Apperception), sondern durch die Polemik gegen eine Wechselwirkung von Geist und K\u00f6rper, also nur als Ausfluss der wirkenden Kraft des Attributs Bewusstsein der \u00bbIdea\u00ab beigelegt wird. Aber trotz aller Vorsicht, mit der man an dieser Stelle den Spinoza interpretiren mag, um ihn ja nicht einer \u00bbpetitio principii\u00ab zu beschuldigen, wo er sie nicht begeht, bricht sich die theoretische Bedeutung der \u00bbIdea\u00ab immer kr\u00e4ftiger Bahn. Gleich die folgende Definition, welche von der \u00bbzureichenden Idee\u00ab handelt und diese als die innerlich bestimmte \u00bbwahre\u00ab (d. h. mit dem Object \u00fcbereinstimmende) erkl\u00e4rt, l\u00e4sst durch den Hinweis auf diese Uebereinstimmung mit dem Object keinen Zweifel, dass hier unter \u00bbIdea\u00ab Vorstellung gemeint ist. Vollends aber schl\u00e4gt das 3. Axiom alle Bedenken nieder; denn es trennt die \u00bbIdea\u00ab von den f\u00fchlenden und wollenden Zust\u00e4nden der Seele \u2014 wie immer man sie auch bezeichnen mag \u2014 ausdr\u00fccklich\n1) Ethik II, Def. III mit Explic. cf. Principia Cartesiana (Pars I, Def. II), wo \u00bbIdea\u00ab als unmittelbares Bewusstsein definirt wird: Ideae nomine intelligo cuiuslibet cogitationis formam illam, per cuius immediatam perceptionem ipsius eiusdem cogitationis conscius sum.\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nRaoul Richter.\nab und legt ihr Verh\u00e4ltniss zu diesen fest: \u00bbDie Bewusstseinszust\u00e4nde wie Liebe, Begehren oder welche sonst noch mit dem Namen Gem\u00fcthsaffecte bezeichnet werden, gibt es nur, wenn in demselben Individuum die Idee des geliebten, ersehnten u. s. w. Gegenstandes besteht. Aber die Idee kann bestehen, wenn auch kein anderer Bewusstseinszustand gegeben ist.\u00ab\nZweierlei lehrt uns der Satz: die Abtrennung der \u00bbIdea\u00ab von den wollenden und f\u00fchlenden Zust\u00e4nden der Seele als Vorstellung, und die principielle Unabh\u00e4ngigkeit dieser von jenen, wie die stete Gebundenheit jener an diese. Damit ist aber die Priorit\u00e4t der Vorstellung vor Gef\u00fchl und Wille aufgestellt1). Wo immer nun Spinoza den Ausdruck \u00bbidea\u00ab f\u00fcr die gesammten oder f\u00fcr nicht gegenst\u00e4ndliche Bewusstseinszust\u00e4nde gebraucht, da wird bei der Deutung an dies Axiom zu erinnern sein. Wir sagten nur: hier werde der Satz von der Priorit\u00e4t der Vorstellungen aufgestellt; begr\u00fcndet wird er nicht. Es ist dies um so sonderbarer, als gerade von ihm aus die gesammte Stellung des Willens im Seelenleben zu beurtheilen ist. Denn wie sich noch zeigen wird, bleibt es ja nicht bei der \u00bbPriorit\u00e4t\u00ab der Vorstellungen. Auch kein Schein von Apriorit\u00e4t kann dem Satze diese Stellung als Axiom verschaffen, denn er ist ein reiner Erfahrungssatz ohne Beimischung logischer oder realer Grundgesetze. Wenn ich den Satz: Jede Ver\u00e4nderung hat eine Ursache oder den Satz der Identit\u00e4t als Axiom f\u00fcr die Erfahrungswelt unbewiesen voraussetze, so mag das angehen ; wenn ich aber mit dem v\u00f6llig nur der Erfahrung zu entlehnenden: \u00bbkein Gef\u00fchl und keine Willensregung ohne Vorstellung, wohl aber Vorstellung ohne Willen und Gef\u00fchl\u00ab das Gleiche thue, so ist dies einfach eine unbewiesene Behauptung. Es steht also die empirische Willenslehre Spinoza\u2019s von vornherein auf einem zweifel-\n1) Vgl. die Lehre von der Priorit\u00e4t der Vorstellung im \u00bbTract, brev.\u00ab, wo die Vorstellung die \u00bbvornehmste Wirkung des Bewusstseins\u00ab und die \u00bballerunmittelbarste Modification des Bewusstseins\u00ab genannt wird (II, Cap. XIX [10], Anhang II [5]). Auch H. C. W. Sigwart (Der Spinozismus historisch und philosophisch erl\u00e4utert, T\u00fcbingen 1839) h\u00e4lt das obige Axiom f\u00fcr einen f\u00fcr die ganze Psychologie und Ethik des Spinoza entscheidenden Satz.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s,\t149\nhaften, h\u00f6chst anfechtbaren und unbewiesenen Erfahrungssatz.\nDoch da es sich zun\u00e4chst um die richtige Auffassung, nicht die Kritik desselben handelt, darf ein kleiner bezeichnender Zug nicht \u00fcbergangen werden. Es finden sich unter den gegen die Vorstellungen als secund\u00e4r abgewertheten Bewusstseinsarten wohl das Begehren (cupiditas) und die Affecte; der Wille als Bejahung, die eigentliche \u00bb voluntas\u00ab, fehlt. Es ist dies anzumerken, und findet seinen Grund in der Unanwendbarkeit des Axioms auf diese; sie n\u00e4mlich ist \u2014 wie sich sp\u00e4ter herausstellt \u2014 gar kein selbst\u00e4ndiger Modus neben der Vorstellung, sondern mit ihr wesensgleich ;\u25a0 f\u00fcr sie gilt daher nicht der Satz, dass Vorstellungen best\u00fcnden, ohne dass sie zugleich mitgegeben w\u00e4re. So lehrreich, freilich auch beanstandbar, nun das fragliche 3. Axiom f\u00fcr die Willenslehre des Spinoza ist, so wenig ist aus den anderen beiden auf das Bewusstsein bez\u00fcglichen Nutzen zu ziehen. Der Satz: der Mensch hat Bewusstsein (homo cogit\u00e2t) und die Uebertragung der Zweitheilung der Attribute auf die Modi in K\u00f6rper und Bewusstseinsarten sind: das erste ein unangreifbares Erfahrungsaxiom, das zweite eine folgerichtige Conclusion aus den Grundbegriffen. Freilich bleibt diese Gegen\u00fcberstellung von K\u00f6rper- und Bewusstseinszust\u00e4nden nicht rein gewahrt.\nSchon die Definitionsauswahl, welche von den endlichen Modi der Ausdehnung den ihnen allen gemeinsamen des K\u00f6rpers, von denen des Bewusstseins nur die der \u00bbIdea\u00ab bringt, l\u00e4sst vermuthen, auf welche Seite innerhalb des Seelenlebens die Wagschale in diesem Theile sich neigen wird. Vollends begr\u00fcndet aber wird die Ver-muthung aus den allgemeinen Beziehungsgesetzen zwischen den Modi der einzelnen Attribute. In ihnen, ihrem Hauptgesetz, seinen Vor- und Nachl\u00e4ufern, macht sich eine unumschr\u00e4nkte, systematisch unbegr\u00fcndete Herrschaft intellectueller Elemente-^ vor den \u00fcbrigen Bewusstseinszust\u00e4nden geltend. Gleich die einleitenden S\u00e4tze zu der ber\u00fchmten Proposition vom psychophysischen Parallelismus stellen \u00bbideae\u00ab und \u00bbideata\u00ab im Sinne von \u00bbmodi cogi-tandi\u00ab und \u00bbres quae modi non sunt cogitandi\u00ab gegen\u00fcber. Der eine (Pr. 5) stellt jedes Causalverh\u00e4ltniss von Vorstellung und Vorgestelltem in Abrede, w\u00e4hrend doch in dieser allgemeinen Passung","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nRaoul Richter.\nK\u00f6rperliches und Geistiges oder Seelisches zu stehen h\u00e4tte; der andere (Pr. 6) bringt die positive Kehrseite und weist jedem Modus seine Ursache innerhalb des Bereichs seines Attributs an; das Co-rollar aber folgert in intellectualistischer Umdeutung, dass das wirkliche Dasein der Dinge, welche nicht Bewusstseinsbestimmtheiten sind (quae modi non sunt cogitandi) nicht deshalb aus der Natur Gottes folge, weil er die Dinge fr\u00fcher erkannt hat, \u00bbsondern (verm\u00f6ge der Umsetzung von \u00bbmodi cogitandi\u00bb in \u00bbideae\u00ab und \u00bbres quae modi non sunt cogitandi\u00ab in ideata) auf gleiche Weise und mit derselben Noth-weadigkeit f\u00fchren und werden erschlossen die vorgestellten Dinge (res ideata) aus ihren Attributen, wie nach meiner Erkl\u00e4rung die Vorstellungen (ideae) aus dem Attribute Bewusstsein folgen. \u00ab Wir haben den Satz in aller Ausf\u00fchrlichkeit wiedergegeben, weil er wie kein anderer diese stillschweigende Bevorzugung intellectueller Elemente in der Form logisch richtiger, aber die Werthung still verschiebender Einsetzungen von Speciellerem f\u00fcr Allgemeines darzuthun geeignet ist1). Und nun folgt der ber\u00fchmte Satz vom Parallelismus: \u00bbdie Ordnung und Verbindung der Vorstellungen ist die gleiche wie die Ordnung und Verbindung der Dinge\u00ab. Es stehen sich also gegen\u00fcber \u00bbideae\u00ab und \u00bbres\u00ab oder, wenn wir ihre metaphysischen Formeln einmal einsetzen, gewisse Modi des Bewusstseins und alle Modi der Ausdehnung2). Der Beweis st\u00fctzt sich auf das im Bereiche beider Attribute herrschende Gesetz der Causalit\u00e4t3) und auf das Zusammenfallen beider Attribute in der einen Substanz. Aber es gilt ja eben das Causalgesetz (nach I, Pr. 28) f\u00fcr alle Modi \u00fcberhaupt, also f\u00fcr die vorstellenden Bewusstseinsmodi ebenso gut wie f\u00fcr die wollenden und f\u00fchlenden; und das Geltungsgebiet des zweiten Beweises erstreckt sich doch erst\n1)\tDass auch die umgekehrte unlogische Vertauschung von Speciellem mit Allgemeinem bei der Behandlung vorliegender Br\u00e4gen von Spinoza begangen wird, wird sich sp\u00e4ter zeigen.\n2)\tEs ist klar, dass hier unter \u00bbres\u00ab alles K\u00f6rperliche verstanden ist, da die Ideen, die sonst manchmal mit unter diesen Terminus fallen, hier nat\u00fcrlich nicht gemeint sein k\u00f6nnen.\n3)\tDass dieser Beweis \u00fcbrigens nichts beweist, hat v. Kirchmann (Erltrg. S. 53\u201454) bereits richtig hervorgehoben; denn das gleiche Gesetz in beiden Reichen beweist nichts f\u00fcr die Deckung ihrer einzelnen Glieder.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n151\nrecht \u00fcber alle Bewusstseinsarten, denn Begehrungen und Affecte fallen laut ausdr\u00fccklichen und wiederholten Erkl\u00e4rungen unter das Attribut: Bewusstsein. Diese einseitige Beschr\u00e4nkung bei der Aufstellung der Correspondenz erhellt nun noch deutlicher aus dem Scholion, aus welchem aufs evidenteste die Proportion zu entnehmen ist: substantia cogitans: substantia extensa = modus extensionis: ideafi. modi, und es nimmt somit unvermerkt das von vornherein nur dem Namen nach intellectuelle Attribut allm\u00e4hlich und ohne zwingende systematische Gr\u00fcnde einen vorwiegend theoretischen Inhalt an. Auch der die allgemeinen Beziehungen der attributverschiedenen Modi abschlie\u00dfende und sich dem besprochenen Scholion eng anschlie\u00dfende Lehrsatz beh\u00e4lt die Gegen\u00fcberstellung von Dingen und Vorstellungen in gleicher Weise hei; er tr\u00e4gt, wollen wir aus der dunklen Passung einen klaren Sinn heraussch\u00e4len, den Gedanken vor: dass das Verh\u00e4ltniss der Vorstellungen zu ihrem Attribut (dem unendlichen geistigen Sein) analog sei dem Verh\u00e4ltniss der einzelnen k\u00f6rperlichen Dinge zu ihrem Attribute (der Ausdehnung); daraus wird im Corollar gefolgert: dass einem wirklich dauernden Sein eines Gegenstandes auch ein wirklich dauerndes Sein der entsprechenden Vorstellung und der blo\u00df begrifflichen Dauer eines Dinges (insofern es als m\u00f6glicher Modus der Ausdehnung gefasst ist) eine blo\u00df begriffliche Realit\u00e4t der Vorstellung (insofern sie nur ein m\u00f6glicher Modus des geistigen Seins ist) zur Seite gehe1).\n1) Spinoza kennt bekanntlich zwei Arten der Existenz: die zeitliche Dauer und das ewige zeitlose Sein. Es k\u00f6nnte nach der angef\u00fchrten Prop, nun fast den Anschein haben, als ob zur Dauerexistenz noch etwas besonderes zu der blo\u00df begrifflichen hinzuk\u00e4me, sie gleichsam etwas vor ihr voraushahe. Das ist aber nicht Spinoza\u2019s Ansicht. Dauer ist vielmehr eine Einschr\u00e4nkung des ewigen Seins, eine \u00bb determinatio \u00ab, und man hat sie sogar etwas \u00fcbertrieben, aber nicht unzutreffend, \u00bbeine besondere, gleichsam verzerrte und karrikirte Form der absoluten ewigen Existenz\u00ab genannt (Busse: Die Begriffe essentia und exi-stentia bei Spinoza, Vierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftl. Phil., Bd. X). Sie kommt den endlichen Modi, das ewige Sein Attributen und Substanz zu. Als Organ in der menschlichen Erkenntniss entspricht der Dauer die \u00bbimaginatio\u00ab, dem ewigen Sein die \u00bbratio\u00ab und die \u00bbscientia intuitiva\u00ab. Feuerbach (Werke, Bd. IV, Gfesch. der neueren Phil., \u00a7 91) glaubt daher den endlichen Dingen \u00fcberhaupt die Existenz ahsprechen zu d\u00fcrfen (\u00bbdenn die wahre Existenz ist erst Existenz\u00ab) und begr\u00fcndet darauf seine eigenth\u00fcmliche Auffassung vom Wesen des Endlichen, worin er mit Sigwart (Ueber den Zusammenhang des Spinozismus mit der Cartes. Phil.,","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nRaoul Richter.\nBezeichnender Weise aber ist f\u00fcr das Attribut des Bewusstseins hier die unendliche Idee Gottes gesetzt, die in der Summe aller endlichen Vorstellungen weit eher restlos aufgeht als das geistige Sein oder die \u00bbCogitatio\u00ab; hier findet auch die Auffassung: die Gottesvorstellung zur natura naturans zu rechnen, ihre festeste St\u00fctze1). Das Beispiel im Scholion aber, das zur Erl\u00e4uterung des Satzes die unendlich vielen im Kreis implicite enthaltenen Beeilt ecke und ihre Ideen zweien wirklich eingezeichneten und deren Vorstellungen gegen\u00fcberstellt, l\u00e4sst den theoretischen Gebrauch des Terminus \u00bbidea\u00ab an diesen Stellen au\u00dfer Zweifel. . Zu dieser noch ungerechtfertigten Intellectualisirung der Bewusstseinsvorg\u00e4nge geh\u00f6rt auch die Correlation der Worte \u00bbformaliter\u00ab und \u00bbobjective\u00ab (z. B. Pr. 7, Coroll.), wo letzteres von rechtswegen alles, was wir subjectiv nennen, umfassen sollte und umfasst, in seinem Ursprung aber doch zu deutlich auf ein gegenst\u00e4ndliches Erkennen in vorstellender Form hinweist.\nEs erhebt sich die Frage: wie ist diese willk\u00fcrliche, durch die subjective Tendenz des Autors bedingte Intellectualisirung der vorliegenden Stufe (gesetzm\u00e4\u00dfiger Beziehungen zwischen den Modi getrennter Attribute) klar und bestimmt, aber doch vorsichtig und dem Sinne des Systems gem\u00e4\u00df zu formuliren? Einfach der Gegen\u00fcberstellung aller Ausdehnungsbesonderheiten und einer Bewusstseinsart zu entnehmen: alle Gef\u00fchle und Willensregungen w\u00e4ren \u2014 ohne dass ein Wort davon gefallen \u2014 in Verstandesth\u00e4tigkeiten rein aufgel\u00f6st, geht nicht an. Eine solche gewaltsame und unbewiesene Identificirung \u00bbauf einen Hieb\u00ab ist von vornherein hei des Philosophen Denkart auszuschlie\u00dfen. Ebensowenig l\u00e4sst sich aber an der Thatsache der Vernachl\u00e4ssigung von Wille und Gef\u00fchl und zwar einer vom bis dahin vorgetragenen System ungeforderten, achtlos vor\u00fcbergehen. Es wird hier einmal, was keineswegs stets der Fall, die\nS. 127 ff.) und Erdmann (Die Grundbegriffe des Spinozismus, S. 132 ff.), alle drei aber mit F. H. Jacobi (Ueber die Lehre des Spinozismus in Briefen an Mos. Mendelssohn, S. 14) \u00dcbereinkommen. Camerer (Die Lehre Spinoza\u2019s, S. 31 ff.) spricht auch den Wesenheiten der Einzeldinge die uneingeschr\u00e4nkt ewige Existenz zu, desgleichen Busse in der erw\u00e4hnten Abhandlung. Spinoza selbst gibt \u00fcber die verschiedenen Daseinsarten ausdr\u00fcckliche Auskunft: Ethik I, Def. VIII, II Pr. Vin, Coroll. u. Schol., Pr. XLV, Schol. Epist. XII (olim XXIX).\n1) Siehe oben S. 144 ff.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n153\nWahrheit in der Mitte liegen, und der gethane Schritt etwa so zu fassen sein: aus der unbewiesenen, aber immerhin als Axiom aufgestellten Priorit\u00e4t der Vorstellung vor Gef\u00fchl und Wille ist ebenso unbewiesen aber stillschweigend eine Repr\u00e4sentation der Vorstellung f\u00fcr s\u00e4mmtliche Bewusstseinszust\u00e4nde geworden.\nSo bleibt der Einklang mit dem Axiom durch die ber\u00fccksichtigte Trennung von Vorstellung und Wille \u2014 Gef\u00fchl gewahrt, zugleich aber ist die auch dort behauptete Gemeinsamkeit beider um einen Schritt bestimmter geworden und weiter gef\u00fchrt. Denn die Erfassung von der Vorstellung als der Stellvertreterin aller \u00fcbrigen Bewusstseinsarten mag zun\u00e4chst als harmloses \u00bbpars pro toto\u00ab erscheinen, gibt aber ihre Bedeutung durch die nachsichziehen-den Folgen bald zu erkennen.\nZwei Einw\u00e4nden aber ist hier zu begegnen. Der erste gibt uns zu, dass die S\u00e4tze \u00fcber die allgemeinsten Beziehungen zwischen den Modi durchaus f\u00fcr alle Modi des Bewusstseins wie der Ausdehnung zu gelten h\u00e4tten, aber er leugnet jedwede Beschr\u00e4nkung in den S\u00e4tzen: man m\u00fcsse nur das Wort \u00bbidea\u00ab nicht mit \u00bbVorstellung\u00ab wiedergehen, sondern mit \u00bbBewusstheit\u00ab oder \u00bbgeistigem\u00ab, oder \u00bbseelischem Zustand\u00ab; dann g\u00e4be es dort weder stillschweigende Intellectualisirung noch sonst irgendwelche Schwierigkeit; die Prop. 7 in diesem Sinne \u00fcbersetzt lautet dann etwa: Die Ordnung und Verbindung geistiger und k\u00f6rperlicher Zust\u00e4nde ist die gleiche. So wird alle Zuflucht zu einer Stellvertretungsauslegung \u00fcberfl\u00fcssig gemacht. Auch der Sprachgebrauch an sp\u00e4teren Stellen spreche daf\u00fcr; nenne doch Spinoza die Affecte einigemale, ja das Begehren seihst eine Idee! \u2014 Der Einwand hat Recht, wenn er die metaphysische G\u00fcltigkeit des Parallelismus neben der erkenntnisstheoretischen betont; thats\u00e4chlich entsprechen ja bei Spinoza im Princip k\u00f6rperliche und geistige Vorg\u00e4nge sich durchg\u00e4ngig, und jedem Affect und jedem Begehren geht ebensogut eine k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderung zur Seite, wie den Vorstellungen; gerade weil dies der Fall ist, hatten wir ja auch die Vorstellung hier nicht als die \u2014 durch Identit\u00e4t \u2014 alle \u00fcbrigen Bewusstseinsmodi befassende, sondern nur als die Stellvertreterin der \u00fcbrigen erkl\u00e4rt ; aber Unrecht hat der Einwand, wenn er auch von solcher Stellvertretung nichts wissen will, vielmehr die","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nRaoul Richter.\nGegen\u00fcberstellung von Ideen und dem Inbegriff aller ausgedehnten Modi ganz nat\u00fcrlich findet. Denn \u00bbIdee\u00ab hier mit \u00bbBewusstheit\u00ab wiederzugeben, geht deshalb nicht an, weil ihre Andersartigkeit von Wille und Gef\u00fchl in Axiom 3 ausdr\u00fccklich betont war, und es doch wahrlich mehr wie eine Laxheit der Terminologie voraussetzen hie\u00dfe, Spinoza habe den Inhalt dieses Axioms in S\u00e4tzen, welche eine Seite sp\u00e4ter auf dieses folgen, bereits vergessen! Noch weniger stichhaltig ist der andere Grund, welcher auf eine bisweilige Terminologie an sp\u00e4terem Orte hinweist, als wo die Leidenschaften gelegentlich als \u00bbIdeen\u00ab auftreten; denn es scheint immer bedenklich, in einem synthetisch aufgebauten Systeme von dem erworbenen Gebrauch eines Terminus auf die Deutung des Wortes an fr\u00fcheren Stellen zur\u00fcckzuschlie\u00dfen. WicT...die wir dazu halten, dass gerade die\u2014systematische Entwickelung der Begriffe in Spinoza\u2019s Ethik diese-Begriffe selbst am hellsten erleuchtet, hoffen tiefer in den Ausdruck Affeci-Idee vom erkenntnisstheoretischen Theile aus, wie in die \u00bbIdeen\u00ab dieses von jenem Ausdrucke aus zu dringen. Im allgemeinen betonen wir aber hier gleich noch ' einmal ') : nimmt man die Gleichungen in Spinoza\u2019s Werken alle w\u00f6rtlich und als con-gruirende Begriffe, so ist jede wissenschaftliche Besprechung des Systems unm\u00f6glich gemacht. Die Ansicht der Gegner hat aber noch die Schwierigkeit, dass sie die pl\u00f6tzliche Umformung des metaphysischen Parallelismus zum, .erkenntnisstheoretischen noch r\u00e4thselhafter macht, als sie schon ist. Darin ist sie das Gegenst\u00fcck eines zweiten Bedenkens, welches das \u00bbProblem\u00ab gleichfalls umgehen zu k\u00f6nnen meint.\nEs fasst \u2014 dem vorigen entgegen \u2014 die Ideen durchaus nicht allgemein als Bewusstseinsbestimmtheiten, sondern schlechthin als rein intellectuelle Processe, eben als Vorstellungen; dies kann n\u00e4mlich geschehen und alle Schwierigkeiten sind gehoben, wenn man den fraglichen S\u00e4tzen einen ausschlie\u00dflich erkenntnisstheoretischen Inhalt unterlegt ; sind sie doch gleichsam die allgemeinsten erkenntnisstheoretischen Reflexionen, welche zu dem specielleren, menschlichen Erkenntnissproblem hin\u00fcberleiten! In einem Punkte hat auch diese Meinung Recht. Es\u2019 gelten diese S\u00e4tze auch, aber nicht nur\n1) Siehe S. 144 u. 145.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n155\nerkenntnisstheoretisch. So weist das erl\u00e4uternde Beispiel vom Kreise und seiner Vorstellung als ein und desselben unter verschiedenen Attributen begriffenen Dinges im Scholion zum 7. Lehrsatz zweifellos auf eine erkenntnisstheoretische Fassung hin. Ueberdies bildet der Satz ja die Grundlage der gesammten Spinozischen Erkenntniss-lehre. Die rein erkenntnisstheoretische Deutung des Parallelismus jedoch scheitert an seinen Beweisen; diese greifen weit \u00fcber das erkenntnisskritische Gebiet hinaus und in das metaphysische hinein. Ja, man darf sagen: gerade die dem System wesentlichsten metaphysischen Grundvoraussetzungen vermitteln den Beweis. Steht und f\u00e4llt doch der gesammte Bau mit dem Causalgesetz und dem Substanzbegriff. Und eben diese sind es wiederum, welche den Parallelismus begr\u00fcnden. Dass die nach r\u00fcck- und vorw\u00e4rts den 7. Lehrsatz einschlie\u00dfenden Propositionen gleichfalls rein erkenntnisstheoretische Reflexionen \u00fcbersteigen, ist offenbar. Auch die unmittelbare Ableitung des Corollars aus dem 7. Lehrsatz, welches die Bewusstseinsmacht Gottes = seiner wirkenden Kraft folgert, weist jede rein erkenntnisstheoretische Auffassung von sich. Vollends unerkl\u00e4rlich w\u00e4re dann auch die Berufung Spinoza\u2019s bei der Ableitung des dyn amischen Parallelismus (Kraftsteigerung im K\u00f6rper = Kraftsteigerung in der Seele) auf diesen 7. Lehrsatz1). Es hilft auch nichts, den metaphysischen Sinn als eine Consequenz des Systems zuzugeben, aber den rein erkenntnisskritischen Zweck zu betonen. Denn es ist zwar die n\u00e4chste Absicht des Lehrsatzes, eine Grundlegung f\u00fcr das Verh\u00e4ltniss von K\u00f6rperlichem und Geistigem im Menschen zu schaffen, aber dieses webt sich ebenfalls aus erkennt-nisstheoretischen und metaphysischen F\u00e4den zusammen. \u00bbDer Leib ist das Vorstellungsobject der Seele\u00ab (erkenntnisstheoretische Seite) und: \u00bbdie Vorstellung des Leibes ist seine Seele\u00ab (metaphysische Seite) sind beides Folges\u00e4tze des Parallelismus.\nVereinigt man das Richtige beider Anschauungen, einmal, dass der Parallelismus auch metaphysisch, und dann, dass er auch erkenntnisstheoretisch gefasst sein will, so findet sich die psychologische Erkl\u00e4rung dieses sonderbaren Verh\u00e4ltnisses eben nur in der Wahl der Vorstellung als Stellvertreterin aller Bewusstseinsmodi;\n1) Ethik: Pars III, Pr. II. Sch.","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\tRaoul Richter. Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\ndenn so r\u00fcckte sie von selbst immer mehr in den Vordergrund und es konnte nun auch Erkenntnisstheoretisches als Repr\u00e4sentation f\u00fcr Metaphysisches treten. Durch diese Willens- und Gef\u00fchlsvemachl\u00e4ssigung und intellectualistische Willk\u00fcr kam es mit zu jener kaum entwirrharen Verschlingung metaphysischer und er-kenntmsstheoretischer Elemente, welche nicht nur das Verst\u00e4ndniss, sondern auch die eindeutige Klarheit der Spinozischen Erkenntniss-lehre so schwer gesch\u00e4digt hat1). D&nit aber weist die allgemeine Stellung des Willens in der \u00bbnatura naturata\u00ab schon in die menschliche Erkenntnisslehre hin\u00fcber.\n1) Vgl. H\u00f6ffding: Gesch. der Phil., Bd. I, S. 348 und 579. Auch H\u00f6ff-ding sieht hier eine Vermengung \u00bbpsychophysischer und erkenntnisstheoretischer Identit\u00e4t\u00ab ; wenn er aber behauptet, diese werde durch den Ausdruck der Seele als \u00bbidea corporis\u00ab beg\u00fcnstigt, so ist hinzuzuf\u00fcgen, dass dieser Ausdruck selbst schon ein Product dieser Verwechselung sei.\n(Schluss folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":156}],"identifier":"lit4509","issued":"1898","language":"de","pages":"119-156","startpages":"119","title":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2018s","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:22:29.557066+00:00"}