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{"created":"2022-01-31T14:25:48.077710+00:00","id":"lit4511","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Richter, Raoul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 14: 242-338","fulltext":[{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\nYon\nRaoul Richter.\n(Schluss.)\nIL Der Wille im Menschen.\nA. In der Erkenntniss.\nDie Gleichung, mit welcher die menschliche Erkenntnisslehre des Spinoza steht und f\u00e4llt, ist der Zahl ihrer Glieder nach einfach genug: Die Seele ist die Vorstellung ihres K\u00f6rpers \u2014 mens = idea corporis. Dennoch bedarf gerade sie vor allem der Deutung aus ihrer Entwickelung. Zumal f\u00fcr die Willenstheorie. Aus dem Zusammenhang genommen und beurtheilt, weist sie von vornherein einen Supra-Intellectualismus auf, der doch im Vorhergehenden in dieser extremen Form noch nirgends anzutreffen war; sieht man n\u00e4her hin, so bleibt ein gut Theil davon bestehen, nur verst\u00e4ndlicher durch die Aufzeigung seiner Vorbedingungen, ein anderer Theil ruht auf ungenauer Ausdrucksweise. Nur h\u00f6chst vorsichtig und mit fast noch gr\u00f6\u00dferem Scharfsinn als gew\u00f6hnlich n\u00e4hert sich Spinoza der gewichtigen Formel. Der Weg, den er einzuschlagen hatte, wollte er der deductiven Methode und dem Sinne des Systems treu bleiben, ist klar. Ehe an das Verh\u00e4ltniss der menschlichen Seele zu ihrem Leibe gegangen wurde, musste die","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n243\nRelation zwischen Seele und K\u00f6rper in Gott1) festgelegt und daraus ihr Beziehungsgesetz in den einzelnen Modi, von ihm aus dasjenige im Menschen erschlossen werden. Etwa so:\nJedem K\u00f6rper entspricht ein Geistiges, oder (durch die kraft der repr\u00e4sentativen Bedeutung der \u00bbIdea\u00ab m\u00f6gliche Umsetzung von Metaphysik in Erkenntnisstheorie) jedem Gegenstand eine Vorstellung in Gott. Von allen Zust\u00e4nden dieses K\u00f6rperlichen muss Gott Kennt-niss haben, insofern er die Vorstellung dieses \u2014 aber auch nur dieses \u2014 Gegenstandes hat (Pr. IX). Insofern aber Gott die Vorstellung nur eines Gegenstandes hat, macht er die Seele dieses Gegenstandes aus. Da Gott als Tr\u00e4ger des unendlichen Attributs Bewusstsein von jedem Gegenstand eine Vorstellung haben muss, so folgt unmittelbar die Allbeseelung der Natur, und weiter, dass die Seele von allen Zust\u00e4nden ihres K\u00f6rpers Kenntniss haben muss. Da nun der menschliche Leib als endliches und begrenztes k\u00f6rperliches Wesen mit zu den \u00bbGegenst\u00e4nden\u00bb rechnet, kommt auch ihm eine Seele (als Vorstellung in Gott) nothwendig zu. Damit w\u00e4re dann die menschliche Seele auf eine Vorstellung in Gott, also auf eine Vorstellung zur\u00fcckgef\u00fchrt. Dass sie nun die Vorstellung ihres Leibes ist, beweist sich leicht daraus, dass wir thats\u00e4chlich und erfahrungsm\u00e4\u00dfig (nach Spinoza) Vorstellungen nur von den Zust\u00e4nden unseres K\u00f6rpers haben, und da zwischen Dingen und Vorstellungen der deckende Parallelismus der Reihen besteht, ist die menschliche Seele die Vorstellung ihres K\u00f6rpers. Mens humana = idea corporis humani.\nSo etwa m\u00fcsste Spinoza, wenn er auch hier die deductiv-synthe-tische Methode streng innegehalten h\u00e4tte, den Beweis gef\u00fchrt haben2). Aber er f\u00fchrt ihn anders. Nicht ohne Grund. Denn wenn er die Beschaffenheit der menschlichen Seele und ihr Verh\u00e4ltniss zum Leibe rein aus Principien ableiten will, so setzt er sich damit zum ersten\n1)\t\u00bbGott\u00ab nat\u00fcrlich im weitesten Sinne genommen; denn dass der Gott-' Substanz selbst kein Leib und keine Seele zukommt, ist selbstverst\u00e4ndlich; aber da Gott in allem und alles in Gott ist, muss auch alles auf ihn bezogen werden k\u00f6nnen und wird auf ihn bezogen.\n2)\tBezeichnender Weise haben denn auch Einige das System in dieser Reihen-folge dargestellt; so Kuno Fischer (Descartes und seine Schule, Bd. II, S. 398ff.). Feuerbach (Werke, Bd. IY, \u00a792); Rehmke (Gesch. d. Phil., S. 142\u2014143).","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nRaoul Richter.\nMale einer genauen Controlle durch die Erfahrung aus. Wir alle haben thats\u00e4chlich Bewusstsein, erleben selbst unsere inneren seelischen Vorg\u00e4nge, haben unmittelbare Kenntniss ihrer Beziehungen zum K\u00f6rper, und wir k\u00f6nnen auch auf die Beschaffenheit der Seelen anderer Gesch\u00f6pfe nur nach Analogie mit der eigenen Seele Schl\u00fcsse machen. Dieser Controlle durch die Erfahrung, die ein jeder am eigenen Seihst vornehmen kann, musste Spinoza Rechnung tragen, und daher sind seine Beweise auf diesem Punkte eine Verschlingung metaphysischer Ableitungen (wie sie etwa die obige Skizze gab) und empirischer Betrachtungen. Diese Verwehung wird erleichtert durch die uns schon von der Repr\u00e4sentation der Vorstellung her bekannte Erm\u00f6glichung einer Vertauschung psychophysischer und er-kenntnisstheoretischer Elemente.\nAus der unmittelbarsten Erfahrung erhebt sich gegen den Satz : \u00bbGott ist die Seele eines Dinges, insofern er die Vorstellung dieses Dinges hat\u00ab, wenn diese Definition nicht rein formal und als fingirte Wortcombination, sondern als Widerspiegelung des wirklichen Seelenbegriffs will aufgefasst sein, von selber die Frage: ist denn unsere Seele .(denn nur aus ihr k\u00f6nnen wir den Begriff der Seele abstrahiren) wirklich die Vorstellung eines Objects? Zur Beruhigung dieses aufsteigenden Zweifels und zur empirischen Zur\u00fcckf\u00fchrung der Seele auf eine solche Vorstellung streut Spinoza in den metaphysischen Beweis den empirischen ein in dem bedeutsamen XI. Lehrsatz, welcher besagt, dass das erste, was das wirkliche Sein der menschlichen Seele ausmache, nichts anderes sei, wie die Vorstellung eines wirklich existirenden Dinges; gelingt es ihm, das zu beweisen, so ist die menschliche Seele als \u00bbVorstellung\u00ab ein Theil des unendlichen Intellects, und Gott macht also, insofern er die Vorstellung eines Dinges hat, wirklich \u2014 zum Theil wenigstens \u2014 dessen Seele aus. Dass das Object der Seele der K\u00f6rper ist, ergibt dann die thats\u00e4chliche Erfahrung vom Vorstellen seiner Zust\u00e4nde bezogen auf den metaphysischen Satz des Parallelismus.\nDann droht dem metaphysischen neuen Resultate von der empirischen Pr\u00fcfung aus also keine Gefahr mehr. So kann denn auch weiter mit Bezugnahme auf das erfahrungsm\u00e4\u00dfig erwiesene Verh\u00e4lt-niss von menschlicher Seele zu menschlichem Leibe durch Analogie","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n245\nauf die Allbeseelung der Natur geschlossen werden *). Dies geschieht und die obige Darstellung ist der thats\u00e4chliche wesentliche Ideengang vom Corollar der IX. Prop, bis zum Schol. d. Prop. XTTT\nWill man in dem vorangeschickten metaphysischen Theil des Beweises von der Seele als K\u00f6rpervorstellung einer fortschreitenden Intellectualisirung nachsp\u00fcren, so gilt es, genau seinen Sinn zu ermitteln: \u00bbWas in einem einzelnen Gegenstand (in singulari objecto) irgend einer Vorstellung sich zutr\u00e4gt (contingit), davon hat Gott\n1) Dies hier empirisch gewonnene Ergebniss w\u00e4re schon Voraussetzung f\u00fcr die reine metaphysische Ableitung des Verh\u00e4ltnisses von Seele und Leib. Sondert man die bei Spinoza verkn\u00fcpften metaphysischen und empirischen F\u00e4den, so erh\u00e4lt man folgendes B\u00fcd:\nMetaphysischer Beweis.\tEmpirischer Beweis.\nPr\u00e4missen:\nPr\u00e4missen:\n1)\tOrdo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum.\n2)\tIn Deo dantur necessario ideae omnium rerum.\n3)\tQuidquid in cuiuscumque singulari objecti idea contingit, eius datur in Deo cognitio quatenus tantum eius-dem objecti ideam habet (1).\n4)\tDeus quatenus alicuius objecti ideam habet mentem eiusdem objecti construit.\nConsequenzen:\nc<j Omnia animata sunt (2, 4).\n\u00df) Homo animatus est (2, 4).\ny) Mens humana idea est (4).\nd'i Quidquid in objecto ideae humanam mentem constituentis contingit eius rei dabitur necessario in mente idea (2, 4).\n\u00a3j Objectum humanae mentis est corpus (1).\na)\tIdea est natura prior rejiquis modis cogitandi.\nb)\tMens humana modus cogitandi est.\nc)\tIdeas affectionum corporis habemus.\nConsequenzen:\n\u00ab[) Essentia humanae mentis est idea (a, b).\n\u00dfi) Objectum ideae humanam mentem constituentis est corpus (c).\nyi) Mens humana pars est intellectus infiniti (a).\ndj) Omnia animata sunt (/9p.\nEp Deus, quatenus alicuius objecti ideam habet, mentem objecti constituit\n(Di, n)-","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nRaoul Richter.\nI\nKenntniss (cognitio), sofern er nur die Vorstellung eben dieses Gegenstandes hat.\u00ab Zun\u00e4chst ein terminologisches Bedenken. Kenntniss (cognitio) gebraucht Spinoza hier, wie auch sonst oft, gleichbedeutend mit Vorstellung (idea). Im Beweise des Satzes steht in dem ersten Gliede \u00bbidea\u00ab, das durch ein \u00bbergo\u00ab vermittelte zweite setzt daf\u00fcr \u00bbcognitio\u00ab ein. Eigentlich und streng genommen anti-cipirt der Satz die Individuumslehre Spinoza\u2019s. Denn entkleidet man ihn seines theologischen Charakters und beh\u00e4lt nur das rein Metaphysische \u00fcbrig, so besagt er: was in einer Einheit dinglicher Elemente vor sich geht, dem m\u00fcssen in der entsprechenden geistigen Einheit Ver\u00e4nderungen entsprechen. Wie sollte sonst wohl in \u00bbGottes\u00ab Vorstellung eines Gegenstandes eine Vorstellung von dessen Zust\u00e4nden bestehen? Dazu muss doch diese erste Vorstellung ein Zusammengesetztes und ihr Gegenstand kraft des Parallelismus also gleichfalls ein Zusammengesetztes sein. Wirklich erkl\u00e4rt ja auch Spinoza an sp\u00e4terer Stelle, wie ein Compositum vieler K\u00f6rper dennoch ein Ding, oder, wie er sich ausdr\u00fcckt, ein Individuum genannt werden k\u00f6nne *), w\u00e4hrend er die entsprechenden Vorstellungs-complexe in gleicher Weise als Einheit behandelt, aber die Angabe des einenden Bandes vermissen l\u00e4sst. Dies vorausgesetzt, scheint das metaphysische St\u00fcck Beweis, das dem empirischen vorangeht, nichts zu sein, als die besondere Fassung des allgemeinen Paralleli-t\u00e4tsprincips; entsprachen sich dort Seelenindividuen und K\u00f6rperindividuen, so hier die in beiden vertretenen Elemente und deren Zust\u00e4nde. Erst war ja schon dort das Seelenindivid\u00fcum durch die repr\u00e4sentative K\u00f6lle der \u00bbIdee\u00ab als Vorstellungsindividuum auf-getreten, aber die in der reinen Principienlehre verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig harmlos scheinende erkenntnisstheoretische Schwankung wird nun in ihrer speciellen Anwendung auf erkennende Subjecte und erkannte Objecte verh\u00e4ngnissvoll. Denn soll es von allen Zust\u00e4nden eines Dinges in der entsprechenden Gesammtvorstellung Sondervorstellungen geben, so sind damit von vornherein alle k\u00f6rperlichen Zust\u00e4nde als theoretisch erkennbar gezeichnet, und es ist schwer abzusehen, was f\u00fcr welche den \u00bbreliqui modi cogitandi\u00ab sollen entsprechen k\u00f6nnen. Hier bricht der metaphysische Beweis pl\u00f6tzlich ab, und mit ihm seine\n1) Ethik II. K\u00f6rperlehre, Definitio. Ep. XXXII (olim XV).","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n247\nKritik. Man err\u00e4th nur, dass sich auf ihn die Beziehungen zwischen Seele und K\u00f6rper werden st\u00fctzen sollen, und dass somit die er-kenntnisstheoretische Tr\u00fcbung der Metaphysik nun auch in die Psychologie wird hineingetragen werden. Dazu brauchte es ja nur der Formulirung: \u00bbGott als Tr\u00e4ger der Vorstellung eines Dinges ist dessen Seele\u00ab. Aber Spinoza wagt rein aus Principien heraus den Schritt nicht; er umgeht es, die k\u00fchne Zauberformel hier schon zu sprechen; weder unter den Axiomen, noch unter den Definitionen, auch nicht als den Inhalt einer besonderen Prop, hat er den Satz untergebracht, der die metaphysische Sanction seiner gesammten Er-kenntnisslehre bildet1), er hat ihn einer empirisch - induetiven2) Beweiskette als Endglied angeh\u00e4ngt. Nicht weil Gott als Tr\u00e4ger der Vorstellung eines Objects dessen Seele ausmacht, ist die Seele eine Vorstellung, sondern weil die Seele eine Vorstellung ist, macht sie einen Theil des g\u00f6ttlichen Verstandes aus, \u2014 so l\u00e4uft die Bich-tungsschwenkung, welche Spinoza, vor der Erfahrung capitulirend, einschl\u00e4gt.\nAlso die menschliche Seele ist K\u00f6rpervorstellung. Dieser paradoxe Satz soll empirisch erh\u00e4rtet werden. Ueber die vorangesandten Bestimmungen: dass das Wesen des Menschen nicht \u00bbSubstanz\u00ab sei, dass er als endliches begrenztes Wesen nur ein Modus sein k\u00f6nne, ist als \u00fcber selbstverst\u00e4ndliche Folgerungen aus Spinoza-schen Grundbegriffen hinwegzugehen. Nun aber folgt der entscheidende Satz (Pr. XI.): \u00bbDas erste (primum), was das wirkliche Sein (esse) der menschlichen Seele ausmacht, ist nichts anderes als die Vorstellung (idea) irgend eines wirklich existirenden einzelnen Dinges.\u00ab Der Beweis musste sich nat\u00fcrlich, sollte er empirisch gef\u00fchrt werden, auf das Erfahrungsaxiom von der Priorit\u00e4t der Vorstellungen berufen: Da alle \u00fcbrigen Bewusstseinsweisen erst nach aufgetretener Vorstellung zur Stelle sind, so ist diese ihrer Natur nach fr\u00fcher (natura prior) als alle anderen und das erste in der menschlichen Seele (welche sich als Modus des Bewusstseins nur aus\n1)\tDenn er bildet den Kern in fast s\u00e4mmtlichen Beweisen zu den S\u00e4tzen \u00fcber zureichende und unzureichende Erkenntniss.\n2)\tSolche Bestimmungen sind nat\u00fcrlich, auf Spinoza angewandt, immer nur \u00bbrelativ\u00ab zu verstehen.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nRaoul Richter.\nBewusstseinsarten zusammensetzen kann) ist eine Vorstellung; und zwar eines wirklichen, d. h. zeitlich existirdnden Dinges, denn sonst k\u00e4me ihr selbst keine zeitliche Dauer zu \"und eines endlichen Einzeldinges, denn sonst w\u00e4re sie selber unendlich. Zwei Worte im Lehrsatz \u2014 die entscheidenden \u2014 bed\u00fcrfen der Erkl\u00e4rung: \u00bbprimum\u00ab und \u00bbesse.\u00ab Soweit dieses \u00bbexistentia\u00ab und jenes das zeitlich erste bedeutet, enth\u00e4lt der Satz nur eine folgerichtige Anwendung des Axioms von der Vorstellungspriorit\u00e4t auf den Menschen, aber keinen neuen Aufschluss f\u00fcr die Willenslehre. Aber bei dieser relativ harmlosen Bedeutung der Worte bleibt es nicht. Zur zeitlichen tritt stillschweigend die werthende Bestimmung hinzu ; das \u00bbprimum\u00ab wird auch der Art nach zum ersten, d. h. zum vorz\u00fcglichsten, und in innigster Verbindung damit das \u00bbesse\u00ab neben der \u00bbexistentia\u00ab zur \u00bb essentia.\u00ab Diese Umsetzung vollzieht sich, stillschweigend und beweislos, in den unmittelbar sich anschlie\u00dfenden S\u00e4tzen. Aus der Vorstellung, welche als erstes den Inhalt der menschlichen Seele ausmachte, wird kurzweg \u00bbdie Vorstellung, welche die menschliche Seele ausmacht\u00ab (idea humanam mentem constituens) und aus dem wirklichen Dasein der Seele, dem \u00bbactuate esse mentis\u00ab schon im an-geh\u00e4ngten Corollar die \u00bbessentia mentis\u00ab. Und somit ist die Gleichung gewonnen: Idea = essentia mentis humanae; dann aber werden auch verm\u00f6ge der bei Spinoza so beliebten Identification von Partiellem mit dem Ganzen die vorsichtigen Beschr\u00e4nkungen wie \u00bbWesen der Seele\u00ab oder die \u00bbVorstellung, welche die menschliche Seele ausmacht\u00ab fallen gelassen und das schlichte und einfache Wort \u00bbSeele\u00ab daf\u00fcr gesetzt. Diese Vertauschung findet sich durchg\u00e4ngig vom Corollar der behandelten Prop, an, besonders deutlich aber dreimal in dem Beweise zum 13. Lehrsatz, wo f\u00fcr das Object der die Seele ausmachenden \u00bbVorstellung\u00ab \u00bbdas Object der menschlichen Seele\u00ab eingesetzt wird. Um den Thathestand klar vor Augen zu haben, l\u00e4sst sich die stetige intellectualistische Umwandlung in der Gewinnung der psychologischen Grundformel etwa so darstellen:","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n249\n1)\tDas zeitlich erste, was das Dasein der menschlichen Seele ausmacht, ist eine Vorstellung.\n2)\tDas der Art nach erste, was das Wesen der menschlichen Seele ausmacht, ist eine Vorstellung.\n3)\tWas die menschliche Seele ausmacht, ist Vorstellung.\n4)\tDie menschliche Seele ist Vorstellung.\nBenutzung der Doppeldeutung von esse.\nBenutzung der Doppelbedeutung Ton primum.\nGleichsetzung von Wesen und Sache.\nSpinoza hat es sich nicht entgehen lassen, die metaphysische Nutzanwendung, zu deren Behuf der empirische Beweis ja eigentlich nur gef\u00fchrt wurde, auch wirklich zu machen. Gleich das Corollar des Lehrsatzes von dem \u00bbersten Element in der Seele\u00ab folgert, dass diese ein Theil des unendlichen Verstandes Gottes sei, w\u00e4hrend sie doch dem wirklich errungenen nach nur zum Theil (n\u00e4mlich in ihrem vorstellenden, den Spinoza doch besten Falls hier als den wesentlichen, aber nicht als den einzigen erwiesen hatte) unter den \u00bbunendlichen Intellect\u00ab fallen d\u00fcrfte; die \u00fcbrigen Bewusstseinserscheinungen, wie F\u00fchlen und Wollen, die doch \u2014 auch nach Spinoza \u2014 gleichfalls da sind, h\u00e4tten dann einem unendlichen Willen subsumirt werden m\u00fcssen, welcher aber \u2014 nicht vorhanden ist1). Die somit, trotz des empirischen Beweises von der \u00bbmens\u00ab als \u00bbidea\u00ab, willk\u00fcrliche Subsumtion der Seele in ihrer Totalit\u00e4t unter die ewige Modification des unendlichen Intellects enthebt nun Spinoza f\u00fcr alle Folge des empirischen Beweises f\u00fcr die Relationen zwischen Seele und Leib; denn wenn auch in dem angezogenen Corollar das Verh\u00e4ltniss von Gott, Seele und Vorstellung nur verbl\u00fcmt in der Form seiner unmittelbaren Anwendung auf zureichende und unzureichende Vorstellungen zu Tage tritt, so wird es ganz offen und unzweideutig im Beweis zur folgenden (XII.) Prop, ausgesprochen, dass Gott als Tr\u00e4ger der Vorstellung eines Dinges dessen Seele ausmacht. Es brauchten jetzt nur die Beziehungen zwischen Gott als \u00bbvorstellendem\u00ab\n1) Weniger vorsichtig schlie\u00dft die Ep. XXXII (olim XV) direct von der Seele als modus -cogitandi darauf, dass sie ein Theil des Intellectus infinitus sei.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nRaoul Richter.\nlind Gott als \u00bb ausgedehntem\u00ab auf die menschliche Seele und ihr k\u00f6rperliches Correlat angewandt zu werden und der Satz: \u00bbwas auch in dem Gegenstand der die menschliche Seele ausmachenden Vorstellung vor sich geht, davon pauss die Seele eine Vorstellung haben\u00ab war gewonnen. Wie sich der eigene Leib dann als dieses Object herausstellt, n\u00e4mlich verm\u00f6ge der Wahrnehmung als Erfahrungstatsache und des metaphysischen Princips des Parallelismus, wurde schon oben gezeigt1). Hier behauptet sich also die aus der Metaphysik her bekannte Bevorzugung des Erkenntnissstandpunktes auch in der Psychologie. Nur zeigt sich durch diese Specialanwendung der intellectualisirende Fortschritt entschiedener gef\u00f6rdert. Denn nun wird mit dem Grundsatz: dass von allen Zust\u00e4nden und Vorg\u00e4ngen im K\u00f6rperindividuum auch das Seelenindividuum Vorstellungen haben muss, durch Anwendung auf empirische Oh- und Subjecte \u2014 n\u00e4mlich auf menschliche Leiber und Seelen \u2014 Ernst gemacht.\nEs ist dies Doppelergebniss: die menschliche Seele ist eine Vorstellung (genauer ein einheitlicher Vorstellungscomplex) und von allen Zust\u00e4nden ihres Leibes hat sie Vorstellungen neben der sp\u00e4teren Gleichung: \u00bbWille und Verstand sind ein und dasselbe\u00ab zweifellos eine der intellectualistischsten Aeu\u00dferungen in Spinoza\u2019s System2).\n1)\tS. 243.\n2)\tIm \u00bbkurzen Tractat\u00ab, wo beide Lehren in dem vermuthlich auch zeitlich der \u00bbEthik\u00ab zun\u00e4chst liegenden Anhang II und der Anmerkung zur Vorrede von Theil II, sowie Cap. XX (Theil II) Anmerkg. 3 vorgetragen werden, scheinen sie mir weniger intellectualistisch gefasst als in der \u00bbEthik\u00ab. In der Anmerkung zur Vorrede hei\u00dft es stets: \u00bbdiese Erkenntniss, Idee, oder Weise des Bewusstseins\u00ab (Ch. Sigwart setzt f\u00fcr das zweifellos im lateinischen Urtext gestanden habende cogitatio: Denken), oder auch es wird ein Theil des letzteren mit \u00bbu. s. w. u. s. f. \u00ab nur angedeutet; so lautet der entscheidende Satz von der Seele als der Idee des K\u00f6rpers dort noch (6): \u00bbDiese Erkenntniss, Vorstellung, u. s. w. von jedem besonderen Dinge ist, sagen wir, die Seele eines jeden dieser besonderen Dinge\u00ab, und ausdr\u00fccklich wird die Ver\u00e4nderung im Leibe in der seelischen Widerspiegelung \u00bbGef\u00fchl\u00ab genannt. Im Anhang II, wo die Seele strenger nur die \u00bbIdee oder ein objectives Wesen\u00ab genannt wird (9), tritt auch in der Parallelit\u00e4t der Zust\u00e4nde das \u00bbGef\u00fchl\u00ab als Bewusstsein der leiblichen Ver\u00e4nderungen in den Vordergrund (15, 16). Dass der Wille nicht das Wesen der\nSeele sei, findet sich II, Cap. VI.(5). Sehr beachtenswerth ist der Versuch (II,\nCap. XX, Anmerkg. 3 (10), deren Echtheit Ch. Sigwart sehr wahrscheinlich gemacht hat), die metaphysische und erkenntnisstheoretische Bedeutung der \u00bbIdea\u00ab","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n251\nKeineswegs sind sie von den systematischen Voraussetzungen des I. Theils der \u00bbEthik\u00ab und dem Anfang des II. Theils logisch geforderte Folgerungen; im Gegentheil sind sie nur durch alogische Vergewaltigung dieses Vor auf gehenden erm\u00f6glicht; nur dass der erste Factor der Seele Vorstellung sei, und nur dass von allen Zust\u00e4nden des Leibes Bewusstsein in der Seele bestehen m\u00fcsse, erlaubten das Axiom von der Priorit\u00e4t der Vorstellung und die Parallelit\u00e4tshypothese zu erschlie\u00dfen* 1). Alles \u00fcbrige, die Umsetzung des \u00bbErsten\u00ab in das \u00bbWesen\u00ab, des Wesens in die Seele selber, sowie die daraus erwachsenden Folgerungen sind der strengen Ableitung fremde, willk\u00fcrliche Zuthaten. Es verschoben sich dem den Verstand vor dem Wollen von Haus aus bevorzugenden Denker wie von selbst und beg\u00fcnstigt durch die fr\u00fcheren Schwankungen auf dem systematischen Gange die Bedeutungen dieser Worte. Doch darf \u2014 will anders man den Sinn dieser beiden Ergebnisse recht verstehen \u20141 auch hier die Andersartigkeit der Vorstellung von Wollen und F\u00fchlen nicht fallen gelassen werden. Denn fasst man die Gleichung: die Seele sei Vorstellung etwa so, dass sie nichts anderes daneben sei, so l\u00e4uft das dem \u2014 nun einmal nicht hinwegzuleugnenden \u2014 Axiom III stracks zuwider. Dessen Au\u00dferachtlassen kann aber hier am allerwenigsten vorausgesetzt werden. Ist es doch gerade dieses Axiom, das den Hauptbeweis f\u00fcr die \u00bbVorstellung als erstes Seelenelement\u00ab erbringt!. Desgleichen darf der Satz, dass die Seele Vorstellungen von allen Zust\u00e4nden ihres K\u00f6rpers habe, nicht dahin\nals Seele und der \u00bbIdeae\u00ab in der Seele zu sondern; es hei\u00dft n\u00e4mlich von der Seele als Idee: \u00bbDoch ist zu bemerken, dass wir hier von solchen Ideen sprechen, die nothwendig aus der Existenz der Dinge zusammen mit ihrem Wesen in Gott entstehen, aber nicht von den Ideen, welche die Dinge, die jetzt wirklich sind, uns kund thun . . ., denn die Ideen in Gott entstehen nicht, wie die in uns aus einem oder mehreren Sinnen, sondern aus der Existenz und dem Wesen nach allem was sie sind.\u00ab In der \u00bbEthik\u00ab f\u00e4llt diese Trennung fort und die Seele als Idee ist ein Compositum ihrer gehabten Einzelvorstellungen.\n1) Bezeichnender Weise unterdr\u00fcckt daher K. Fischer in der Wiedergabe des XI. Lehrsatzes dieses st\u00f6rende \u00bbprimum\u00ab und schreibt (a. a. O. S. 460) : \u00bbDer menschliche Geist ist die Idee eines einzelnen wirklichen Dinges\u00ab, oder wie bei Spinoza diese allgemeinste und erste Erkl\u00e4rung lautet: \u00bbWas das wirkliche Wesen des menschlichen Geistes ausmacht, ist nichts anderes als die Idee eines einzelnen wirklich existirenden Dinges (Pr. XL)\u00ab, man vergl. dazu den wahren Wortlaut dieses Lehrsatzes.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nRaoul Richter.\nmissverstanden werden, als entspr\u00e4chen den f\u00fchlenden und wollenden Bewusstseinsweisen keine k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge; w\u00e4re dem so, dann w\u00e4re der Parallelismus von Ausdehnung und Bewusstsein durchbrochen, die Vorstellungen h\u00e4tten in ihm nicht nur repr\u00e4sentativ an erster Stelle gestanden, sondern es m\u00fcsste eine Verschmelzung aller Bewusstseinselemente oder eine Zur\u00fcckf\u00fchrung der f\u00fchlenden und wollenden auf die vorstellenden inzwischen vollzogen worden sein, der doch nirgends Erw\u00e4hnung geschah. Eben im Hinblick auf solche Einw\u00e4nde haben wir ja den stetigen aber langsamen intellectuellen Fortschritt in der Ableitung m\u00fchsam herauszusch\u00e4len gesucht. Ebenso energisch allerdings ist die Ansicht derer zur\u00fcckzuweisen, welche auch hier die \u00bbIdee\u00ab nur allgemein als Bewusstheit nehmen und damit alle Schwierigkeiten gehoben w\u00e4hnen. Diese modernisiren den Spinoza vielleicht, aber sie interpretiren ihn nicht. Es w\u00e4re doch eine der gr\u00f6\u00dften Widersinnigkeiten und ist der Widerlegung nicht werth, wenn Spinoza, um als erstes Element in der Seele die \u00bbBewusstheit\u00ab (idea) zu beweisen, sich darauf beriefe, die \u00bbIdee\u00ab ginge den \u00fcbrigen Bewusstseinsarten vorauf! Auf diesen Satz aber st\u00fctzt sich ja einzig und allein die Behauptung vom Wesen der Seele als \u00bbIdee\u00ab, dann von der Seele als \u00bbIdee\u00ab! Tr\u00e4gt man nun der zweifelsohne stattgehabten Intellectualisirung unter Vermeidung \u00fcbereiliger Consequenzen Rechnung, so ist zu sagen: die Seele ist Vorstellung, aber nicht nur Vorstellung, sie ist wesentlich Vorstellung; und: die Seele hat von allen ihren Leibeszust\u00e4nden Vorstellungen, aber insoweit sie Gef\u00fchle und Begehrungen besitzt, entsprechen auch diesen k\u00f6rperliche Erregungen (Affectionen). Mit anderen Worten: neben den Vorstellungen gibt es auch Gef\u00fchle und Willensregungen in der Seele; aber die Vorstellung pr\u00e4dominirt in ihr, ist der Zeit, wie der Art nach ihr \u00bballererstes\u00ab. Zu den \u00fcbrigen Bewusstseinsbestimmtheiten verh\u00e4lt sie sich wie das Ding zu seinen Eigenschaften, etwa in der Art, wie zu den Sinnesqualit\u00e4ten die r\u00e4umlichen Gebilde (K\u00f6rper), aber nicht z. B. wie zur Farbe, die allem R\u00e4umlichen zukommt, sondern etwa wie zum Geruch, der einigen K\u00f6rpern eignet, anderen fehlt1). Was den zweiten Theil, die Correspondenz aller Leibesvorg\u00e4nge mit Vorstel-\n1) Die erkenntnisstheoretische Kritik dieses \u00bbnaiven Realismus\u00ab bleibt hier au\u00dfer Betracht.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n253\nlungen betrifft, so entspricht zwar jeder Affection des K\u00f6rpers eine Vorstellung, aber auch den anderen Bewusstseinsmodi gehen K\u00f6rperver\u00e4nderungen gewisserma\u00dfen zur Seite. Dies ist dahin zu verstehen, dass z. B. der Vorstellung \u00bbBaum\u00ab ein bestimmter k\u00f6rperlicher Zustand parallel geht, ist aber diese Vorstellung lust- oder unlustvoll, so tritt eine andersartige (irgendwie verst\u00e4rkt oder geschw\u00e4cht zu denkende, in der Vorgefundenen Disposition des Leibes ihre Ursache habende) Erregung an die Stelle. So wird der \u00bbGef\u00fchlston\u00ab mit in sie aufgenommen, ohne von der Vorstellung oder ihrem k\u00f6rperlichen Gegenst\u00fcck abgetrennt zu werden. Die besondere Best\u00e4tigung dieser hier nur als Consequenzen der allgemeinen Seelentheorie auftretenden Ergebnisse erwarten wir von der Affectenlehre.\nEs muss noch Erw\u00e4hnung finden, dass der Satz von der Vorstellung als dem Wesen der Seele f\u00fcr den Spinoza nur mit dem Opfer eines systematischen Begriffs zu erkaufen war. Wesen n\u00e4mlich ist nach Spinoza \u2014 wie uns eine besondere Definition lehrt1)\u2014 \u00bbdas, ohne welches der Gegenstand und umgekehrt was ohne den Gegenstand nicht sein noch begriffen werden kann\u00ab. Die Nothwendigkeit gerade des zweiten Tb eil s dieser Erkl\u00e4rung wird \u2014 sonderbar genug \u2014 noch am Schl\u00fcsse des dem Lehrsatz von der Vorstellung als Wesen der Seele vorangehenden Scholions erh\u00e4rtet. Nun beweist sich doch aber die Vorstellung als Wesen der Seele daraus, dass sie allen \u00fcbrigen Modi des Bewusstseins vorangeht, darum das erste und wesentliche in der Seele ausmache. Das diesbez\u00fcgliche Axiom DL hatte aber besagt: die Vorstellung kann gegeben werden, obgleich kein anderer Bewusstseinszustand gegeben ist. Somit sind die der Willenssph\u00e4re an-geh\u00f6rigen Modi zwar nicht ohne Vorstellung, diese wohl aber ohne jene denkbar und der Begriff des Wesens passt nicht auf die Vorstellung in ihrem Verh\u00e4ltnis zu den Stiefbr\u00fcdern. Man hat nun nicht aus diesem \u2014 in der Litteratur scheinbar unbemerkt gebliebenen \u2014 Versto\u00df gegen die gegebene Wesensdefinition, sondern haupts\u00e4chlich von der Deutung der Dingwesenheiten als ewiger Modi aus, diese von Spinoza ausdr\u00fccklich eingesch\u00e4rfte Erkl\u00e4rung vom Wesen unbequem gefunden und sich mehr oder minder gl\u00fccklich mit ihr auseinander\n,1) Ethik H, Def. II.\nWandt, Philos. Studien. XIV.\n17","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nRaoul Richter.\ngesetzt; so sieht ein Bearbeiter dieser Specialfrage in dieser Wesensdefinition eine Inconsequenz gegen die andere Bedeutung des Begriffs als \u00bbeinseitiges Bedingtsein\u00ab (da die ewige Existenz der Einzeldinge ihr Wesen sei) und glaubt, diese Inconsequenz durch das Bem\u00fchen Spinoza\u2019s, das v\u00f6llige Hineinfallen der Dinge in Gott zu verh\u00fcten, entstanden1). Ohne auf eine gr\u00fcndliche Er\u00f6rterung dieser Streitfrage am Ort einzugehen, nur soviel: Spinoza\u2019s Wesensbegriff weist zweierlei Bedeutung auf. Einmal ist ihm Wesen \"der innerste Kern, der tiefste Grund der Dinge, das <bwas, durch das sie mit der Substanz Zusammenh\u00e4ngen, ihre Realit\u00e4t, oder auch ihr Werth; daneben aber ist ihm Wesen das Ureigenth\u00fcmliche irgend eines Einzeldings, die f\u00fcr es bezeichnendste Eigenschaft, mit der das Ding und die mit dem Dinge so verwachsen ist, dass eins ohne das andere nicht bestehen kann, oder: das individuelle Oharacteristicum des Dinges. Oftmals flie\u00dfen beide Auffassungen in eine zusammen und es ist kaum immer m\u00f6glich, sie reinlich zu scheiden. Anh\u00e4nger der ersten Deutung haben dann volles Recht, von einem \u00bbeinseitigen Bedingtsein\u00ab und von den \u00bbWesenheiten der Dinge als von ewigen Modi\u00ab (Camerer, Erdmann) zu reden, aber sie d\u00fcrfen die andere Bedeutung nicht \u00fcbersehen, welche vollkommen sicher gestellt ist durch die abgegebene Definition und den Beweis ihrer Nothwendigkeit2) sowie durch den Umstand, dass z. B. die ganze Lehre von der Selbsterhaltung auf ihr beruht3). In dem Problem von der Vorstellung als dem \u00bbWesen der Seele\u00ab kann nur die zweite \u2014 systematische \u2014 Fassung in Betracht kommen, an welcher der Satz zu pr\u00fcfen ist; denn hier sind wir ja ganz im Bereiche der endlichen Modi, wo einem \u00bbwechselseitigen Bedingtsein\u00ab nichts im Wege steht. Dennoch vermochte Spinoza es nicht, in diesem seinem Sinne, wie gezeigt, Wesen und Vorstellung sich decken zu lassen.\nIst somit bis jetzt der Wille aus Gott, aus den Attributen, den unendlichen Modi, und \u2014 unter den endlichen \u2014 aus dem Wesen der menschlichen Seele, ja aus dieser selbst principiell und allgemein\n1)\tBusse, Die Bedeutung der Begriffe essentia und existentia bei Spinoza.\n2)\tEthik II, Pr. XXX VII mit Dem.\n3)\tAuch geh\u00f6rt die Def. II. Pars. II gewisserma\u00dfen zum Inventar der Spi-nozischen Philosophie, wie aus Tract, brev. II. Vorrede (5) zu ersehen ist.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n255\nals etwas Selbst\u00e4ndiges ausgeschieden, so ist dadurch der Weg vorgezeichnet, den die Willenslehre des Spinoza weiterhin zu heschreiten hat. Denn da unter den inneren Erlebnissen des Menschen thats\u00e4ch-lich Vorg\u00e4nge eine Rolle spielen, die die gesammte popul\u00e4re Auffassung, wie ein gro\u00dfer Theil der bis dahin aufgestellten wissenschaftlich-philosophischen Systeme als Willensvorg\u00e4nge gefasst hatte, und Spinoza das Bestehen dieser Vorg\u00e4nge weder ableugnen konnte noch auch ableugnete, so wird er nun die Reducirung dieser Willensregungen im einzelnen auf intellectuelle Processe vornehmen, zuvor aber eine genaue Erkl\u00e4rung, was unter dem Willen \u00fcberhaupt1) zu verstehen sei, abgeben m\u00fcssen. Dies thut denn auch noch voll und ganz und in nicht misszuverstehender Deutlichkeit der Schluss des erkenntnisstheoretischen Theiles der \u00bbEthik\u00ab. Dass der Wille in dem Haupt- und Mittelst\u00fcck desselben2), welches die engere Erkenntniss-lehre vortr\u00e4gt (die Lehre von dem Selbstbewusstsein, der ad\u00e4quaten und inad\u00e4quaten Erkenntniss, dem Unterschiede der einzelnen Erkenntnisverm\u00f6gen), keine Rolle spielt, w\u00fcrde auch bei einem weniger rationalistischen Denker wie Spinoza nicht Wunder nehmen. Nur sei noch erw\u00e4hnt, dass es doch auch hier bezeichnend f\u00fcr seine Willenslehre bleibt, wo er das eine Mal in der rein erkenntnisstheoretischen Untersuchung den Willen erw\u00e4hnt und wo er ihn \u2014 nicht erw\u00e4hnt. Die Willk\u00fcr n\u00e4mlich wird innerhalb dieser Darlegung als erstes und haupts\u00e4chlichstes Beispiel f\u00fcr die Spinozische Theorie des Irrthums als einer \u00bbtheilweisen Unwissenheit\u00ab angef\u00fchrt3). Es wird hier nat\u00fcrlich nicht die Willensfreiheit systematisch abgewiesen, sondern nur beil\u00e4ufig in einem Scholion die psychologische Entstehung ihres Begriffs als erstes Beispiel f\u00fcr die Lehre vom Irrthum dargethan. Dagegen findet sich der Wille in die Erkl\u00e4rung des Irrthums\nlj Descartes batte bekanntlich den Willen auch einen \u00bbmodus cogitandi\u00ab genannt; aber er war als solcher das gleichberechtigte, ja unbeschr\u00e4nktere Seitenst\u00fcck zum Vorstellen gewesen. Princip. Cartes. I, Pr. XV, Sch. theilt Spinoza die modi nach Descartes\u2019 Vorb\u00fcd in die modi percipiendi (ut sentire, ima-ginari, et pure intelligere) et volendi (ut cupere, aversari, affirmare, negare et dubitare) ein und setzt erkl\u00e4rend hinzu: \u00bbNam omnes ad hos duos referri possunt\u00ab. Die Schwankungen in der Willenslehre des Descartes und somit ihre Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrftigkeit in einem folgenden System hat H. C. W. Sigwart (\u00dceber den Zusammenhang u. s. w., S. 38\u201445) eingehend dargestellt.\n2) Ethik II, Pr. XIV\u2014XLVH.\t3) Ethik II, Pr. XXXV, Sch.\n.......\"...17*","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nRaoul Richter.\nselbst nicht mit hineingezogen, und diese negative Seite, das Abweichen von Descartes in diesem Punkte ist nicht minder bezeichnend. Die Erkl\u00e4rung davon greift aber schon in die speciellen positiven Lehren von Willen und Willensfreiheit \u00fcber.\nDiese f\u00fcllen von der 48. Proposition an den Schluss des II. Theiles der \u00bbEthik\u00ab. Zun\u00e4chst ist es der Satz von der Willensdetermination, der unter neuen Gesichtspunkten hier wieder auf tritt; auch in engerer Fassung : denn in dem Scholion zu dem Lehrs\u00e4tze schr\u00e4nkt Spinoza das Wort \u00bbvoluntas\u00ab nur auf Bejahung (affirmatio) und Verneinung (negatio)), also auf das Urtheil ein und sondert das Begehren (cupiditas) von dem Willen ab: \u00bbdoch bevor ich fortfahre, bemerke ich hier, dass ich unter Willen nur das Verm\u00f6gen zu bejahen und zu verneinen, nicht aber das Begehren verstehe\u00ab und im Anfang des Scholion wird die G\u00fcltigkeit des Beweises der Willensgebundenheit auch auf das Begehren ausgedehnt; es kann dies somit nicht schon mitbegriffen gewesen sein. Diese Argumente, denen f\u00e4lschlicher Weise noch ein drittes pflegt beigegeben zu werden1), sind vollkommen bindend f\u00fcr die Behauptung: Spinoza handle im 48. Lehrsatz nur von der Urtheilsfreiheit, nicht von der Freiheit des Strebens und Begehrens. Aber es ist unn\u00fctz und irref\u00fchrend, irgend welchen Werth schon hier auf diese Willensspaltung zu legen, welche allerdings in der bald folgenden Gleichung von Wille und Verstand nicht gen\u00fcgend betont werden kann. Vielmehr ist neben dem Zugest\u00e4ndnis, dass die \u00bbvoluntas\u00ab nur Bejahungsverm\u00f6gen dem strengen Wortsinn nach im 48. Lehrsatz bedeuten kann, immer im Auge zu haben, dass der Beweis ja auch f\u00fcr Trieb und Begehren gelte; und da er f\u00fcr diese nicht noch einmal in den ihnen gewidmeten Theilen gef\u00fchrt wird, thut man gut, diese Ausdehnung nicht au\u00dfer Acht zu lassen2). Warum aber Spinoza hier den Beweis nur\n1)\tN\u00e4mlich dass die Freiheit des Willens als Streben und Begehren schon im ersten Theil abgethan und somit ihre Refutation hier eine \u00fcberfl\u00fcssige Wiederholung w\u00e4re; warum diese Ansicht nicht stichhaltig ist, siehe S. 121 ff., auch w\u00e4ren dann die Anfangsworte des Schol. h\u00f6chst sonderbar und b\u00e4rgen die gleiche Wiederholung, denn sie sagen nicht aus: ein unbedingtes Begehren sei schon im ersten Theile abgewiesen, sondern der n\u00e4mliche Beweis des 48. Lehrsatzes leiste dieses.\n2)\tSpinoza hat selbst die Einschr\u00e4nkung in den Schol. fallen gelassen; so wenn er sich im Schob zu Pr. 48 auf die psychologische Erkl\u00e4rung der Freiheits-","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n257\nf\u00fcr den besonderen Willensbegriff des Bejahens f\u00fchrte, ist aus dem Thema dieses zweiten Theils, das ein vorwiegend erkenntnisskritisches ist, leicht ersichtlich. Was er vom Willen speciell in ihm abzuhandeln hatte, konnte nur dem Willen in der Erkenntniss gelten; den \u00fcbrigen Willensarten waren die folgenden Theile Vorbehalten. Wir h\u00e4tten nun nicht betont, dass man sich der Ausdehnung des Beweises f\u00fcr die Urtheilsbestimmtheit auf Begehren und Affecte bewusst bleiben m\u00fcsse, wenn hier nur eine Wiederholung des fr\u00fcheren Determinationsbeweises (aus Theil I) und nicht vielmehr ein ganz neuer Gesichtspunkt vorl\u00e4ge. Die allgemeine Natur desselben l\u00e4sst sich ohne weiteres dem Orte, an welchem der Satz im System steht, entnehmen; sie wird etwas Individuelles, etwas specifisch Menschliches, etwas Psychologisches enthalten m\u00fcssen, was dem rein metaphysischen Thema des ersten Theiles noch fern bleiben musste. Freilich ist dieser neue Sinn aus dem 48. Lehrsatz selbst nicht ohne weiteres zu erkennen, aber das Schol., das ja auch \u00fcber die neue Bedeutung der \u00bb Voluntas \u00ab in der Prop. Aufschluss gab, deckt gemeinsam mit der Demonstratio denselben voll auf. \u00bbIn der Seele gibt es keinen unbedingten oder freien Willen (in mente nulla est absoluta sive libera voluntas) ; sondern die Seele wird dies oder jenes zu wollen von einer Ursache bestimmt, welche gleichfalls von einer anderen bestimmt worden ist, und diese wieder von einer anderen und so ins unendliche fort.\u00ab In den drei Zeilen der Prop, und den sechs der Demonstratio stecken mehr Schwierigkeiten und Sonderbarkeiten, als es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein hat. Zun\u00e4chst ist die Zweitheilung in dem Lehrsatz nicht zu \u00fcbersehen; in ihr spiegelt sich eine positive und eine negative Seite der Willk\u00fcrfrage: 1) es gibt keinen unbedingten oder freien Willen (negative Seite), 2) die einzelnen Willensacte sind streng necessitirt (positive Seite). Nun- scheint aus dem ersten das zweite und aus dem zweiten das erste so ohne alle Zwischenglieder zu folgen, dass sie unter einander identisch zu setzen sind; trotz-\nvorstellung beruft, welche f\u00fcr Bejahen wie Begehren gemeinsam gilt, am deutlichsten aber, wenn er unter den Einw\u00fcrfen gegen die hier vorgetragene Willenslehre in Pr. XLIX, Schol. auch den von Buridan\u2019s Esel er\u00f6rtert, ihn nicht etwa als nicht hergeh\u00f6rig ausscheidet, sondern neben den anderen streng deterministisch beantwortet.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nRaoul Richter.\ndem ist diese doppelte Betrachtungsweise in dem Lehrsatz keineswegs eine \u00fcberfl\u00fcssige Weitschweifigkeit (Spinoza ist in den Lehrs\u00e4tzen immer \u00e4u\u00dferst knapp und pr\u00e4cis!) und auch die getrennten Beweismittel der Demonstratio *) versch\u00e4rfen von vornherein die Wichtigkeit der Zweitheilung in der zu beweisenden Behauptung. Es zeigt sich denn auch in dem Beweise, dass in der \u00bbabsoluta et libera voluntas\u00ab \u00bblibera\u00ab bereits im Sinne des Spinozischen Freiheitsbegriffes steht1 2), und somit der Indeterminismus nicht als sein Gegentheil, der Determinismus nicht mit seiner Leugnung \u2014 der zweite Theil des Lehrsatzes nicht dtxrch den ersten gegeben ist. Denn die Leugnung der Spinozischen Freiheit, welche selbst ja blo\u00df eine vollst\u00e4ndige Determination innerhalb des betreffenden Subjects ist, und mit der Oausalit\u00e4t auf bestem Fu\u00dfe steht, weist noch keineswegs ein ursach-loses Handeln, als welches die gew\u00f6hnliche Auffassung ja doch das Gfeheimniss der Willensfreiheit fasst, als unm\u00f6glich ab. Dadurch bekommt die Zweitheilung des Lehrsatzes kurz folgenden Sinn: 1) Der Wille ist nicht frei im Spinozischen Sinne. 2) Der Wille ist nicht frei im gew\u00f6hnlichen Sinne. Somit macht die negative Bestimmung die erg\u00e4nzende positive zun\u00e4chst durchaus nicht \u00fcberfl\u00fcssig; sie ist vielmehr die wesentlichere; denn aus ihr gewinnt sich der neue Gesichtspunkt, auf den wir schon oben hinwiesen. Besteht n\u00e4mlich in der Seele ein solcher \u00bbfreier Wille\u00ab, d. h. ist die Seele die alleinige Ursache all\u2019 ihres Wollens, so besitzt sie das, was man ein Willensverm\u00f6gen nennt. Denn ein Verm\u00f6gen ist eine Kraft, welche die alleinige Ursache des Vermochten ist. Besitzt die Seele aber eine solche Freiheit nicht, so ist sie auch nicht im Besitze eines Willensverm\u00f6gens. So f\u00e4llt mit der \u00bblibera voluntas\u00ab auch die \u00bbfacultas volendi\u00ab und das einzige W\u00f6rtchen \u00bboder\u00ab kehrt diesen neuen bedeutsamen Gesichtspunkt zum ersten Male im Beweise hervor: \u00bbdie Seele kann nicht die freie Ursache ihrer Handlungen sein oder sie\n1)\tF\u00fcr den ersten Theil des Satzes beruft sich der Beweis auf pars I, Pr. XVII, Coroll. II, f\u00fcr den zweiten auf pars I, Pr. XXVIH. Die Verschiedenheit dieser Inhalte aber ist auf den ersten Blick erkenntlich.\n2)\tDer Beweis, dass die Seele nicht die \u00bbcausa libera suarum actionum\u00ab sein kann, beruft sich auf Coroll. 2, Pr. XVII, pars I; dort aber war Gott als die alleinige freie Ursache erkl\u00e4rt und also frei schon im Gegensatz zum Zwang und im Einklang mit der Nothwendigkeit gebraucht worden.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n259\nkann nicht die unbedingte F\u00e4higkeit zu wollen oder nicht zu wollen haben. \u00ab Dieser Gedanke wird dann im Schol. noch weiter ausgef\u00fchrt und damit gezeigt, dass wir in ihm den eigentlichen Kern des neuen Determinationsheweises zu suchen haben. Da er aber allgemein gelten soll, so ist durch ihn die Verm\u00f6genstheorie f\u00fcr das gesammte Seelenleben gest\u00fcrzt, und es gibt ebensowenig ein Verm\u00f6gen zu lieben, zu hegehren, und \u2014 wohl zu merken \u2014 zu erkennen, als es ein Verm\u00f6gen zu bejahen (urtheilen) gibt. Vielmehr sind all\u2019 diese Verm\u00f6gen nichts als Ahstractionen, von den einzelnen Willensregungen, Begehrungen, Liehesgef\u00fchlen u. s. w. abgezogene Allgemeinbegriffe, durch das menschliche Denken gebildete, real nicht bestehende \u00bbentia mctapliysica\u00ab, wie Spinoza \u2014 der Metaphysiker xaz e^oyjjv\\ \u2014 sie wegwerfend bezeichnet. Ja dieser Sturz der Seelenverm\u00f6gen ist so sehr ein selbst\u00e4ndiges Ergehniss dieses Lehrsatzes, dass es in anderen Aeu\u00dferungen des Philosophen nicht als Folge von der, sondern geradezu als Grund f\u00fcr die Willensdetermination auftreten kann1).\nJetzt aber, wo die allgemeine Ausdehnung des Beweises gegen ein Willensverm\u00f6gen genugsam* ber\u00fccksichtigt wurde, ist es an der Zeit, der Einschr\u00e4nkung des Willens auf das Bejahen zu gedenken, welche sich gleich in den folgenden S\u00e4tzen bedeutsam f\u00fchlbar macht. Zun\u00e4chst sei noch einmal betont, dass die 48. Prop, zwar dem Sinne nach auf alle Verm\u00f6gen geht, dem Wortlaut und dem unmittelbarsten Ziele nach aber nur auf Elimination eines Urtheilsverm\u00f6gens gerichtet ist; sodass die im Rechte sind, welche \u00fcbersetzen: \u00bbIn dem Geiste gibt es kein allgemeines oder freies Urtheilsverm\u00f6gen, sondern der Geist wird zu diesem oder jenem Urtheil determinirt u. s. w.\u00ab2). Gibt\n1)\tEp. II: Vokmtas differt ab hac et illa volitione eodem modo ac albedo ab hoc et illo albo, sive humanitas ab hoc et illo homine; adeo ut aeque impos-sibile sit concipere voluntatem causam esse huius ac illius volitionis, atque huma-nitatem esse causam Petri et Pauli. Tract, brev. H, Cap. XVI (4) weist von dem Willensverm\u00f6gen als unrealem Abstractum aus auf das Missverst\u00e4ndniss in der Problemstellung der Willensfreiheit hin: \u00bbund so meine ich auch, da wir gezeigt haben, dass der Wille'kein Ding in der Natur ist, sondern nur eine Erdichtung, braucht man nicht zu fragen, ob der Wille frei oder nicht frei ist\u00ab. Die Anmerkg. 2 besch\u00e4ftigt sich dann eingehend mit den Widersinnigkeiten, zu denen die Theorie von dem Willensverm\u00f6gen f\u00fchren muss.\n2)\tCamerer, a. a. O., S. 115.","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nRaoul Richter.\nes aber kein Urtheilsverm\u00f6gen und doch einzelne Urtheile, so ist der Wille aus der Erkenntniss eliminirt oder in sie aufgenommen. So erheben sich von selbst die Fragen: wie verhalten sich die Urtheils-acte zu den Vorstellungen, aus denen sie bestehen, wie die Bejahungen und Verneinungen zum Bejahten und Verneinten, wie \u2014 scholastisch gesprochen \u2014 die Wollungen zu den Ideen, wie der Wille zum Intellect? Spinoza stellt die Frage noch im n\u00e4mlichen Schol., welches das \u00bbfacit\u00ab vom Sturz der Verm\u00f6gen gezogen hatte, und beantwortet sie im folgenden Lehrsatz nebst Coroll. \u00bbIn der Seele gibt es kein Wollen (volitio), d. h. Bejahen und Verneinen, au\u00dfer demjenigen, welches die Vorstellung als Vorstellung in sich schlie\u00dft\u00ab r). Dass das Urtheilsverm\u00f6gen in seine einzelnen Urtheile oder der (engere) Wille in seine einzelnen Wollungen aufgel\u00f6st ist, wissen wir schon. Nun erfahren wir, dass diese Wollungen nichts sind, als \u2014 zun\u00e4chst \u2014 Eigenschaften der Vorstellungen. Den Beweis f\u00fchrt Spinoza an einer beliebig herausgegriffenen Aussage, dem Satz von der Winkelsumme im Dreieck: Diese schlie\u00dft noth-wendig den Begriff oder die Vorstellung \u00bbDreieck\u00ab ein, kann also auch nicht ohne diese auftreten (woAi sich Spinoza nicht erst auf das fragw\u00fcrdige Axiom von der Priorit\u00e4t der Vorstellungen h\u00e4tte berufen brauchen). Umgekehrt enth\u00e4lt die Gfesammtvorstellung \u00bbDreieck\u00ab nothwendig als Bestandtheil den Satz von der Winkelsumme. Somit bedingen sie sich gegenseitig, oder eines macht \u2014 nach der strengsten Definition des Spinoza vom Wesen \u2014 des andern Wesen aus; und ein echt Spinozischer stillschweigender Schluss vom Wesen auf die Identit\u00e4t setzt beide gleichbedeutend1 2). Da aber Wille = Summe der Willensacte, Verstand = Summe der Vorstellungen ist, Vorstellungen und Wollungen aber wesensgleich sind, so zieht das Coroll. die ber\u00fchmt-ber\u00fcchtigte Folgerung: Wille und Verstand sind ein und dasselbe (Voluntas et intellectus unum et idem sunt).\nSpinoza hat das Paradoxe, die Schwierigkeit und die Erkl\u00e4rungsbed\u00fcrftigkeit dieses Theils seiner Willenslehre wohl gemerkt und ist\n1)\tTract, de Intell. Emend. S. 11, Anm. 2 findet sich die gleiche Fassung.\n2)\tQuare et vice versa haec trianguli idea sine hac affirmatione nec esse nec concipi potest, adeoque haec affirmatio ad essentiam trianguli pertinet, nec aliud praeter ipsam est (Pr. XI/IX, Dem.).","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n261\nin dem Schlussschol. des 2. Theils den Haupteinw\u00e4nden mit gr\u00f6\u00dftem Scharfsinn begegnet; aus der Art ihrer Zur\u00fcckweisung f\u00e4llt aber wieder manch helles Licht auf die S\u00e4tze selbst zur\u00fcck, und ihrer Deutung muss die Ber\u00fccksichtigung der Entgegnungen vorhergehen. Die Einw\u00e4nde richten sich einmal gegen die Unfreiheit des Willens im Urtheil oder gegen die Unm\u00f6glichkeit einer Wahlentscheidung zwischen Zustimmung und Ablehnung, dann aber gegen die Gleichsetzung von Wille und Verstand oder die Identit\u00e4t von Vorstellung und Urtheil. Die Urtheilsgebundenheit scheint durch die M\u00f6glichkeit, unser Urtheil absichtlich zur\u00fcckzuhalten, abgewiesen. Eine solche M\u00f6glichkeit aber leugnet Spinoza. Jedes Zur\u00fcckhalten mit dem Urtheil ist selbst nur wieder ein Urtheil; wir urtheilen: dass wir den Gegenstand nicht zureichend erkannt haben. \u00bbEs ist also das Aufheben des Urtheils in Wahrheit eine Erkenntniss und kein freier Wille\u00ab. Auch eine psychologische Erkl\u00e4rung dieser irrigen Meinung von der Urtheilsfreiheit (der Willensfreiheit in der Erkenntniss) dient Spinoza zu ihrer Verwerfung. Man kann n\u00e4mlich \u2014 dem streng necessitirten Gef\u00fchl der Gewissheit oder Ungewissheit entgegen \u2014 mit blo\u00dfen Worten etwas bejahen oder verneinen. Diese Verwechselung von Wort und Sinn1) verf\u00fchrt zwar zur Annahme einer Urtheilsfreiheit, aber ber\u00fchrt in Wahrheit \u2014 da die Worte nur k\u00f6rperliche Bewegungen nach Spinoza sein sollen \u2014 das in Frage stehende Problem nicht einmal2). \u2014 Gegen die Identificirung von Urtheilen und Erkennen bot sich der ber\u00fchmte Satz des Descartes von selber dar: dass sich der Wille (den ja auch Descartes in dem Satze als Zustimmung und Ablehnung fasste) weiter erstrecke wie der Verstand; jener sei unendlich, dieser endlich. Diesen, seinem gro\u00dfen Lehrer entnommenen Einwand fertigt Spinoza kurz und bestimmt ab, indem\n1) Siehe S. 128, Anmerk. 3. Auch der \u00bbkurze Tractate II, Cap. XVI (6) weist schon den gleichen Einwand zur\u00fcck.\n2) Gegen die Willensfreiheit ganz allgemein richtet sich auch der Einwurf vom Esel des Buridan ; er ist nicht hierhergeh\u00f6rig, wo wir den Sinn der Identit\u00e4t von Urtheil und Vorstellung deuten wollen, da er das Begehren trifft; inwieweit er f\u00fcr die Auffassung des Satzes von der Urtheilsdetermination bezeichnend ist wurde S. 256 Anm. 2 erw\u00e4hnt. Der \u00bbkurze Tractat\u00ab weist alle auf das Begehren gehenden Einw\u00e4nde an der entsprechenden Stelle \u00fcbrigens ausdr\u00fccklich zur\u00fcck (EI, Cap. XVI (8).","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nRaoul Richter.\ner die unendliche Ausdehnung des Willens \u00fcber den Verstand hinaus leugnet: es ist ebenso gut m\u00f6glich, nacheinander unendlich viel vorzustellen, wie ihm zuzustimmen; gleichzeitig k\u00f6nnen wir weder Unendliches bejahen noch vorstellen. Auch hier zieht Spinoza, wie \u00fcblich, die psychologische Motivirung dieses Irrthums herbei: Er beruht auf der Annahme eines Willensverm\u00f6gens; fasst man einen solchen logischen Allgemeinbegriff als real Allgemeines, so erstreckt er sich nat\u00fcrlich \u00fcber unendlich vieles und dehnt sich \u00fcber alles aus; \u00bbdenn das logisch Allgemeine wird ebenso von dem einzelnen, wie von mehreren, und von unendlich vielen Individuen ausgesagt\u00ab1). Auch der Einwand, es g\u00e4be doch Vorstellungen ohne Urtheil und daher k\u00f6nnten beide nicht identisch sein, findet den Spinoza gewappnet: Jede Vorstellung enth\u00e4lt Urtheile, n\u00e4mlich die Bejahung ihrer Eigenschaften oder Bestandtheile, und wenn ich mir den Pegasus vorstelle, wissend, dass ein solches Wesen nicht existirt, ich also seine Existenz nicht bejahe, so sage ich doch allein dadurch, dass ich seine Vorstellung bilde, von ihm aus, er besitze Fl\u00fcgel oder ich bejahe das Fl\u00fcgelhaben an ihm. Zweifellos hat Spinoza mit dieser Entgegnung einen tiefen Blick in die Logik gethan und in gewissem Sinne die Lehre: alles Urtheilen sei nur analytisch, sei nur eine Zergliederung einer Gesammtvorstellung, ahnend vorausgesehen. \u2014 Der scholastische Einwand: die Vorstellungen bes\u00e4\u00dfen ihren Gegenst\u00e4nden entsprechend verschiedene \u00bbVollkommenheitsgrade\u00ab, w\u00e4hrend die Urtheile immer nur Bejahung und Verneinung ungraduirt enthielten, interessirt nur durch das Licht, das Spinoza\u2019s Antwort auf seine eigene Urtheilslehre wirft; er stellt n\u00e4mlich nur die allgemeinen abstracten Merkmale: Bejahung und Verneinung als allen Ideen gemeinsam hin, w\u00e4hrend ihre realen besonderen Arten sich genau so specificirt zeigen sollen, wie die Vorstellungen selber. Als einen Hauptgrund f\u00fcr das Missverst\u00e4ndnis dieser Lehren f\u00fchrt Spinoza aber ganz allgemein die falsche Auffassung der Vorstellung als eines stummen Gem\u00e4ldes an, von dem mithin jede Note Activit\u00e4t, jedes energetische oder potentielle Element, wie es doch das Urtheilen in\n1) Ethik II, Pr. XLIX Sch. Damit ist die Irrthumslehre des Descartes ohne Namensnennung zur\u00fcckgewiesen; eine ausdr\u00fcckliche, auf den n\u00e4mlichen Argumenten fu\u00dfende Polemik findet sich Ep. II gegen den Schluss.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n268\nsie hineintr\u00e4gt, \u00e4ngstlich m\u00fcsse ferngehalten werden; vielmehr sei die Vorstellung ein Product des Attributs Bewusstsein, nicht ein k\u00f6rperliches Abbild irgend eines Gegenstandes, und ausdr\u00fccklich verweist der Philosoph hierbei auf seine allgemeinste Definition der Idee1), welche das active Element betont und ein Bewirktwerden durch\u2019s Object zur\u00fcckgewiesen hatte.\nWir haben nun das Material beisammen, um den Sinn der Gleichung zwischen Wille und Verstand ohne Uebertreiben nach der einen oder anderen Seite hin zu deuten, sie auf ihre voluntaristische oder intellectualistische Tendenz zu pr\u00fcfen. An sich ist die Gleichung, wie alle derartigen, vieldeutig. Vollends heim Spinoza, der schon auf blo\u00dfe Verwandtschaften hin, auf ein \u00bbquatenus\u00ab, das er dem einen Begriffe anh\u00e4ngt, Gleichungen construirt, kann man \u00fcber deren Sinn nur klar werden, wenn man genau Acht hat, welche Seite der Gleichung auf die andere reducirt worden ist; erst dann n\u00e4mlich ist man im Stande, die Formel richtig und sinngem\u00e4\u00df zu accentuiren. Und so auch hier. \u00bbWille und Verstand sind ein und dasselbe\u00ab \u2014 hei\u00dft das: der Wille ist Verstand oder der Verstand ist Wille? besagt es, dass dieser in jenem, oder jener in diesem restlos auf geht? oder ist es am Ende nur eine geistreiche Verallgemeinerung einer bestehenden Abh\u00e4ngigkeit? Zun\u00e4chst ist die K\u00fchnheit gemildert und das Paradoxe geschw\u00e4cht, wenn wir im Auge behalten, dass die \u00bbVoluntas\u00ab hier nur Bejahung und Verneinung, nicht aber Begehren, Streben, W\u00fcnschen oder Handeln umfasst. Es ist zwar der Terminus nicht gl\u00fccklich gew\u00e4hlt, weil sp\u00e4ter das Begehren auch als \u00bbvoluntas\u00ab auftritt, und von ihm die Gleichung mit dem Intellect niemals ausgesagt wird; aber das darf nat\u00fcrlich zu keinem Missverst\u00e4ndniss verleiten. Nun ist aus der ganzen Entwickelung und Vorgeschichte der Gleichung im System ersichtlich, dass der Wille im Urtheilen hier in Vorstellungsprocesse, nicht aber das Vorstellen in ein Wollen aufgel\u00f6st wird. Wir haben ja die stetig fortschreitende Intellectua-lisirung im System von dem Attribut der \u00bbCogitatio\u00ab an, durch die unendlichen Modi, in denen der Wille fehlte, hindurch bis zur Repr\u00e4sentation der Vorstellung f\u00fcr alle Bewusstseinsarten und endlich\n1) Ethik II, Pr. XLVin, Sohol. gegen Schluss; vgl. II, Pr. XLIII, Schol., XLIX, Schol., Absatz 2.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nRaoul Richter.\nbis zu ihrer monarchischen Stellung in der menschlichen Seele nach-gewiesen, und so scheint es von vornherein ausgeschlossen, dass nun mit einem Male die Vorstellung entthront und ein anderer Modus des Bewusstseins ohne weiteres an ihre Stelle gesetzt werde: dass das Erkennen ein Wollen sei. Die ganze vorhergehende Intellectualisirung w\u00e4re damit unverst\u00e4ndlich, \u00fcberfl\u00fcssig, ja widersinnig gemacht. Zudem spricht die unmittelbare Entstehung des Satzes f\u00fcr eine vorwiegend theoretische Deutung. Das Urtheilsverm\u00f6gen oder der Wille in der Erkenntniss war gefallen; nun fragte es sich: was sind die einzelnen Urtheilsacte ? Sind sie noch etwas anderes au\u00dfer den Vorstellungen der Gegenst\u00e4nde? Dieses Problem warf das Schol. zur 48. Prop, auf; man denke sich die Frage umgekehrt, und es wird die unspinozische Fassung an ihr gleich offenbar; ebenso hatte es gehei\u00dfen: \u00bbin der Seele gibt es keinen Willen, d. h. kein Bejahen oder Verneinen au\u00dfer demjenigen, welches die Vorstellung als Vorstellung einschlie\u00dft\u00ab. Man denke sich auch diesen Satz in umgekehrter Fassung, wie sie zu einer rein voluntaristischen Deutung der Gleichung passen w\u00fcrde, um das g\u00e4nzliche Herausfallen aus dem Bahmen des Systems zu begreifen. Am ehesten noch k\u00f6nnte sich allerdings im Beweise zu diesem Lehrsatz ein Zweifel einstellen; denn dort wird ja geradezu die Zugeh\u00f6rigkeit der Bejahung zum Wesen der Vorstellung mit dem \u00bbvice versa\u00ab, dem wechselseitigen Bedingtsein begr\u00fcndet. Aber die Folgerung der Wesensgleichheit zeigt doch deutlich, was das aufgel\u00f6ste und welches das aufnehmende Element ist; hei\u00dft es doch: \u00bbdaher kann auch umgekehrt diese Vorstellung des Dreiecks ohne diese Bejahung weder sein noch begriffen werden und also geh\u00f6rt diese Bejahung zum Wesen der Dreiecksvorstellung und ist nichts au\u00dfer ihr1). Auf welche Seite der Gleichung der Accent zu legen ist, zeigt sich auch in der vorangestellten \u00bb Voluntas\u00ab als des auf den Intellect zur\u00fcckgef\u00fchrten Bestandteils2). Der Ausdruck \u00bbunum et idem\u00ab darf nicht zur Auffassung einer unterschiedslosen Einerleiheit verleiten. Sind wir doch durch Gleichungen wie zwischen Gott und Welt, Seele und K\u00f6rper-\n1)\tEthik II, Pr. XLIX Dem.\n2)\tEbenso in der Dem. zum Coroll., in welcher der Lehrsatz als \u00bbvolitio et idea unum et idem sunt\u00ab wiederholt wird.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\t265\nVorstellung schon gen\u00fcgend gewarnt. Was Spinoza hier meint, kann also nur dieses sein: Jede Vorstellung (das Wort im theoretisch weitesten Sinne genommen)1) schlie\u00dft die Bejahung der ihr zukommenden und die Verneinung der ihr nicht zukommenden2) Eigenschaften ein; je klarerund deutlicher die Vorstellung, je mehr Eigenschaften sind an ihr bekannt, je mehr lassen sich also auch von ihr aussagen (in je zahlreichere TJrtheile l\u00e4sst sie sich zergliedern); in einer vollkommen zureichenden Dreiecksvorstellung w\u00fcrde nicht nur der Satz von der Winkelsumme, sondern auch der vom Au\u00dfenwinkel u. a. enthalten sein. Bei dieser Analyse der Vorstellung in ihre Eigenschaften bedarf es nun nicht noch eines besonderen Willens, der etwa in Form der Aufmerksamkeit die einzelnen Eigenschaften heraushebt und zusammenstellt, sondern diese Analyse ist nur ein Zerfallen der Vorstellung in ihre Bestandtheile, wenn wir bewusst ein Urtheil \u00fcber die Zugeh\u00f6rigkeit dieser zu ihr abgehen. Damit ist der Wille als besonderes Element aus der Erkenntniss ausgeschieden; freilich in einem anderen Sinne auch in sie aufgenommen. Denn es w\u00e4re unm\u00f6glich, dass die Vorstellungen die Zustimmung zu ihren Eigenschaften enthielten, wenn sie stumme Abdr\u00fccke ihrer Gegenst\u00e4nde im Gehirn w\u00e4ren. Sie w\u00fcrden dann ebenso wenig \u00fcber ihre Eigenschaften zu urtheilen verm\u00f6gen, wie etwa die Bilder in einer Galerie etwas \u00fcber ihre Farben auszusagen verm\u00f6chten. Zustimmen und Ablehnen sind Th\u00e4tigkeiten und zwar Bewusstseins-Th\u00e4tigkeiten; nur wenn alles Erkennen Bewusstseins-Th\u00e4tigkeit ist, kann Urtheilen und Vorstellen zusammenfallen. Daher weist Spinoza f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss seiner Lehre vom Urtheil oder vom Willen in der Erkenntniss wiederholt auf diese th\u00e4tige und bewusste Seite im Vorstellen hin; ausdr\u00fccklich warnt er vor einer Verwechselung der Vorstellungen mit ihren physiologischen Bedingungen (z. B. dem Bild auf\n1)\tDer Satz Urtheilen = Vorstellen gilt ganz allgemein und bezieht sich eben so gut auf die \u00bbimaginationes\u00ab wie auf die \u00bbideae\u00ab im engeren Sinne: \u00bbich gebe zu, dass sich der Wille weiter erstrecke als der Verstand, wenn man unter Verstand nur die klaren und deutlichen Vorstellungen begreift, aber ich leugne, dass sich der Wille weiter erstrecke als die Vorstellungen \u00fcberhaupt oder das Auffassungsverm\u00f6gen\u00ab (Ethik H, Pr. XLIX Schol.).\n2)\tDen gro\u00dfen Unterschied zwischen den verneinenden und bejahenden Urtheilen hat Spinoza auf diesem Punkte ganz \u00fcbersehen.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nRaoul Richter.\nder Netzhaut) und h\u00e4lt gegen das \u00bbStumme\u00ab dieser Erregungen das \u00bbBewusste\u00ab der Ideen1). Ist somit hervorzuhehen, dass hei ihm die Vorstellung nicht als Tr\u00e4gerin ihrer Eigenschaften diesen zustimmt und \u00fcber sie urtheilt, sondern als Bewusstseins-Th\u00e4tigkeit, so muss andrerseits betont werden, dass diese Bewusstseins-Th\u00e4tigkeit nicht bewusste Th\u00e4tigkeit oder Willensth\u00e4tigkeit ist. Sie ist zun\u00e4chst nicht etwa durch die Urtheilslehre in des Spinoza Philosophie gekommen, sie ist vielmehr ein Theilst\u00fcck des energetischen Zuges, der dem ganzen Systeme eigen ist. Von der Substanz bis zum geringsten Modus herab ist alles Wirken und Activit\u00e4t: die Substanz bewirkt sich seihst und damit die Welt, die Attribute sind die wirkenden Kr\u00e4fte in ihren Bereichen, jeder endliche Modus ist wirkende Ursache eines anderen Einzeldings. So ist auch das Vorstellen und Erkennen als Modus der wirkenden Bewusstseinskraft bewusste Th\u00e4tigkeit, aber so wenig (und so viel) wie Gott\u2014 der alles wirkt \u2014 bei Spinoza wollend wirkt, so wenig (und so viel) kommt dem Vorstellen Wille zu. Bei Spinoza geht die intellectualisirende Tendenz neben dem Energismus friedlich einher, und so ist auch hier nicht etwa schon an jene apperceptive Th\u00e4tigkeit, an jenes Aufmerksamkeitsproblem der neueren Psychologie zu denken, wenn dem Erkennen eine Activit\u00e4t zugeschrieben wird. Es soll das nichts hei\u00dfen wie: Erkennen ist nicht beeindruckt sein, sondern bewusst sein.\nSo hoffen wir, auch in diesem fragw\u00fcrdigen Satze: Wille \u2014 Verstand die fortschreitende Intellectualisirung allerdings aufgedeckt, das Extreme und Paradoxe aber durch die stetig zu betonende Einschr\u00e4nkung auf das Urtheilen, sowie durch die Folgerungen, die sich aus der Aufl\u00f6sung des \u00bbWillens\u00ab in das Erkennen f\u00fcr dieses selbst ergeben, auf sein wahres und verst\u00e4ndliches Ma\u00df zur\u00fcckgef\u00fchrt zu haben.\nB. Der Wille als Trieb, Begehren, Gef\u00fchl und Handeln.\nWer auf die Lehre vom Willen hin das Hauptwerk des Spinoza zum ersten Male pr\u00fcfend durchliest, wird an einem bestimmten Punkte\n1) Ygl. oben S. 262.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n267\n\u00fcberrascht und verwirrt innehalten; es ist der Punkt, vor dem wir stehen, zu dem sich unsere Betrachtung jetzt wenden soll, es ist der Anfang der Affectenlehre. Hatte man bis dorthin ein fortschreitendes Zur\u00fcckdr\u00e4ngen aller Willenselemente von Gott bis zu den menschlichen Urtheilen herab bemerkt und war man nur im Zweifel, ob den nicht vorstellenden Bewusstseinsarten gar keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle im Seelenleben zukommen w\u00fcrde, so scheinen nun S\u00e4tze wie: \u00bbDas Wesen aller Dinge ist Streben\u00ab oder \u00bbDas Begehren ist die menschliche Natur selber\u00ab zu allen bisherigen nicht nur einen ganz neuen fremdartigen Gesichtspunkt hinzuzubringen, vielmehr mit ihnen geradezu unvereinbar zu sein. Wille und Gef\u00fchl waren gleichsam nur m\u00fchsam und k\u00fcnstlich untergetaucht worden, um, schon fast auf dem Grunde, den H\u00e4nden des Rationalisten zu entschl\u00fcpfen und mit doppeltem Schwung und an anderem Orte als Leidenschaft und Begehren wieder emporzuschnellen \u2014 die Alleinherrschaft auf dem wogenden Meere der Gem\u00fcthserregungen behauptend.\nLas man dann weiter in die eigentlichen ethischen Theile hinein, so zeigte der Wille sich zahmer und die Affecte stiller, aber ganz frei wurde man auch hierbei nicht von dem erlebten Bilde und selbst in die Lehre vom h\u00f6chsten Gut, als das nach den ersten Theilen die reine Erkenntniss Gottes zu erwarten stand, dr\u00e4ngte sich das neugewonnene Element in der Form der Liebe hinein und behielt so neben Metaphysik und Erkenntnisslehre seinen Platz. Nat\u00fcrlich, dass der Forscher bei einer solchen \u00bbfluctuatio animi\u00ab nicht stehen bleiben darf. In der That schwindet bei eingehender Pr\u00fcfung die principielle Andersartigkeit der Ergebnisse und die Kluft zwischen den zwei ersten und drei letzten Theilen der \u00bbEthik\u00ab schlie\u00dft sich in gleichem Yer-h\u00e4ltniss, wie man sich ihr n\u00e4hert. Was etwa an Widerspr\u00fcchen trotzdem bestehen bleibt, erkl\u00e4rt sich aus dem Unterschiede der The-mata und durch die Biegung, welche jedesmal die Erfahrung unter rein rationalistischen Gesichtspunkten oder diese bei der Einordnung in jene erleiden m\u00fcssen, zur Gen\u00fcge. Freilich erwartet diese so nat\u00fcrlich klingende Behauptung von der folgenden Darstellung ihre Best\u00e4tigung; denn es hat nicht an namhaften Forschern gefehlt, welche in gr\u00fcndlicher Untersuchung und keineswegs bei dem ersten Eindruck stehen bleibend, ein schroffes Auseinanderfallen der psychologischen","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nRaoul Richter.\nund erkenntnisstheoretischen Theile und eine ausgesprochene \u00bbZerrissenheit in den Tendenzen\u00ab behauptet haben1).\nUm aber den Gang unserer Betrachtung ruhig dem Vorigen anzuschlie\u00dfen und dadurch die enge F\u00fchlung, den einheitlichen Geist zwischen den einzelnen Theilen erweisen zu k\u00f6nnen, wird es gut sein, die bisherigen Ergebnisse in aller K\u00fcrze zusammenzufassen:\n1.\tAllgemein ausgeschieden worden war der Wille aus Gott oder der Substanz, den Attributen, den unendlichen Modi, mittelbaren wie unmittelbaren, unter den endlichen aus dem Wesen der menschlichen Seele und \u2014 als besonderes Element \u2014 aus den Urtheilen.\n2.\tEbenso allgemein aber war dabei ein gewisser Kraft-Ton, ein energetisches Moment stets miterklungen: Gott wirkte, die Attribute wirkten, die Modi wirkten, ja unter diesen waren auch die Vorstellungen th\u00e4tig, sie alle wirkten, aber sie wirkten nicht wollend.\n3.\tIn gleichem Ma\u00dfe als der Wille unterdr\u00fcckt, wurde der Verstand bevorzugt; das war die stetige Intellectualisirung in der systematischen Ableitung gewesen. Erschienen Wille und Verstand in Gott noch gewisserma\u00dfen gleichgeordnet, so zeigte schon das Attribut \u00bbCogitatio\u00ab in dem Kamen eine intellectuelle Bevorzugung an, die nun in der \u00bbGottesvorstellung\u00ab durch ihr sonderbares Schweben zwischen Attribut und unendlicher Modification, vollends aber in der Verk\u00fcndigung eines unendlichen Intellects, dem kein unendlicher Wille zur Seite ging, zum Durchbruch gelangte. Sie zeigte sich weiter in dem Axiom von der Priorit\u00e4t der Vorstellung vor den \u00fcbrigen Bewusstseinsmodi, welche bald zur Repr\u00e4sentation heranwuchs (in den allgemeinen Bestimmungsgesetzen zwischen den Modi getrennter Attribute, besonders in dem Satz von dem Parallelismus), f\u00fcr Metaphysisches Erkenntnisstheoretisches einsetzte, endlich der Vorstellung jenen beherrschenden Mittelpunkt in der menschlichen Seele einr\u00e4umte; das Wesen der Seele wurde zur Vorstellung, ihr Object ward der Leib und von allen Zust\u00e4nden des Leibes waren Vorstellungen in der Seele ; dies war dahin zu verstehen, dass die \u00fcbrigen Bewusst-\n1) Haupts\u00e4chlich T\u00f6nnies: Studie zur Entwickelungsgeschichte des Spinoza (Vierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftl. Philosophie, 7. Jahrg., Hft. H, S. 159ff., Hft. HI, S. 334ff.). \u2014 H\u00f6ffding hei der Darstellung des Spinoza\u2019schen Systems in seiner Geschichte der Philosophie.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n269\nSeinsbestimmtheiten zwar nicht verschwunden, auch nicht selbst theo-retisirt, sondern zu Eigenschaften der objectiven Erkenntniss gestempelt waren, und dass auch ihnen vermuthlich k\u00f6rperliche Affectionen ent-, sprachen, insofern eine lust- oder unlustvolle Vorstellung eine andere K\u00f6rpererregung voraussetzte, wie die n\u00e4mliche gef\u00fchlsfreie.\n4. Den Willensbegriff betreffend ward jede Willk\u00fcrbestimmung von ihm abgewiesen, die Willensfreiheit metaphysisch (wegen der modalen Natur des Willens) und psychologisch (unter Aufzeigung der Entstehung ihres Begriffs) als unhaltbar hingestellt, die strengste Determination unumschr\u00e4nkt eingef\u00fchrt; ein Willens verm\u00f6gen als solches musste fallen und wurde den abstracten, unrealen Gedanken-gebilden zugeteilt; endlich ward der Wille in Bejahung (Verneinung) und Neigung (Abneigung) gespalten, als ersterer in die einzelnen Vorstellungen aufgel\u00f6st und mit dem Verst\u00e4nde (unter Ber\u00fccksichtigung der n\u00f6thigen Einschr\u00e4nkungen) gleichgesetzt.\nEs erhebt sich die Erage: Ist Spinoza auf dem gezeichneten Wege der Willens-Elimination, der Intellectualisirung, der Willk\u00fcrverneinung u. s. w. fortgeschritten oder ist er nicht vielmehr in eine andere, diesen Gedanken fremde, Weltanschauung \u00fcbergesprungen und hat unter ihrem Einfl\u00fcsse \u2014 welcher dann nur der Hobbes\u2019sche sein k\u00f6nnte \u2014 die psychologischen und ethischen Probleme bearbeitet? Oder aber hat er mit ehrlichen und scharfen Augen die St\u00e4rke des Gegners, der seiner intellectualistischen Anschauung in den Begehrungen und Gef\u00fchlen erwuchs, erkannt, ihn mit allen Mitteln zu bek\u00e4mpfen, besser auf seine Seite zu bringen versucht, ihn aber nicht vollst\u00e4ndig zu \u00fcberw\u00e4ltigen vermocht? Wirklich scheint dies das thats\u00e4chliche Verh\u00e4ltniss zu sein, das wir sowohl denen gegen\u00fcber, die allen Widerspruch und jede Schwierigkeit hier leugnen oder umgehen, wie denen, die eine \u00bbrealistische Psychologie\u00ab vom HE. Theile der \u00bbEthik\u00ab aus annehmen, durchsetzt mit Ueberbleibseln einer intellectualistischen Periode, aufrecht zu erhalten gedenken1).\n1) Die Vernachl\u00e4ssigung des Widerspruchs zwischen der anscheinend rein voluntaristischen Grundanschauung des HL Theils und der supra-intellectualisti-schen der vorhergehenden begehen K. Fischer (Descartes und seine Schule, \u00aed. H), der in einem eigens der Lehre vom menschlichen Willen gewidmeten Capitel den Willen als Bejahung und als Begehren, die Gleichheit von Willen und Verstand und den Willen als Grundlage von Tugend und Erkenntniss Wundt, Philos. Studien. XIV.\tIS","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nRaoul Richter.\nMan vergegenw\u00e4rtige sich den Umfang und die Gr\u00f6\u00dfe der Aufgabe, was f\u00fcr den Spinoza es hie\u00df: das ganze Gebiet der Leidenschaften, der Gef\u00fchle, des Strebens, W\u00fcnschens, Begehrens und des auf ihnen sich aufbauenden ethischen Handelns in Einklang bringen mit den herrschenden Grunds\u00e4tzen des Systems, die eigentlich nur Seiendes und Logisches als (identisches) Material, Causalit\u00e4t und Rationalit\u00e4t als Gesetze enthielten. Dazu nehme man die Haupttendenz seiner Geistesart, alles auf ein Princip zur\u00fcckzuf\u00fchren, alles aus einer Quelle ahzuleiten; welche diese hier sein musste, dass sie nur im Willen liegen konnte, leuchtet ein. Auch darf man nicht vergessen, dass Spinoza die Rolle der Gem\u00fcthsbewegungen in der Seele zu untersch\u00e4tzen nicht der Mann war; hatte er doch selbst in jungen Jahren schwer unter ihnen zu leiden gehabt1) \u2014 man hat ein falsches Bild seines Charakters, fasst man ihn von vornherein als eine \u00bbrein theoretische Natur\u00ab \u2014 und wenn er auch verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig fr\u00fch sich von ihnen befreite und seine Instincte seinen Ueber-zeugungen folgten, so gerieth er doch eben dadurch nur um so tiefer in jene mystisch-religi\u00f6sen Bed\u00fcrfnisse, die ihm das subjective innere Lehen....der Seele als den im Grunde wirklichsten und werthvollsten\nunmittelbar, aber auch ganz unvermittelt, neben einander behandelt; auch in seiner Kritik der Lehre kommt er nicht wieder auf diesen Punkt zur\u00fcck. Desgleichen Erdmann (Glesch, d. Philosophie, Bd. II). Eine rein intellectualistische Darstellung ohne alle Ber\u00fccksichtigung des \u00bbConatus\u00ab und der \u00bbCupiditas\u00ab gibt -Beuerbach (Werke, Bd. IV, \u00bbGlesch, der neueren Ph\u00fcosophie\u00ab); der Wille als Bejahung und die Gleichung von Wille und Verstand wiederum findet keine Erw\u00e4hnung bei Rehmke (Grundriss der Gesch. d. Philosophie), der \u00fcberdies noch den Conatus aus einer unendlichen Willensmodification ableitet. Den Widerspruch in der W\u00fclenstheorie Spinoza\u2019s hebt aufs Eindringlichste T\u00f6nnies (Studie zur Entwickelungsgeschichte des Spinoza) hervor, dem H\u00f6ffding, den Standpunkt noch \u00fcbertreibend, folgt, indem er in der Darstellung der ethischen Theile die Tugend als Erkenntniss wie einen Rest der alten \u00bbintellectuellen Psychologie\u00ab behandelt und kaum mit erw\u00e4hnt. Camerer (Die Lehre Spinoza\u2019s) betont die Selbst\u00e4ndigkeit des Willens als Begehren, der keine Function des Verstandes sei, und der Stimmungen (Affecte), welche nicht objectiver Natur seien, auch deren engste Abh\u00e4ngigkeit von den Vorstellungen bei aller Andersartigkeit, vernachl\u00e4ssigt dagegen das Verh\u00e4ltniss vom Begehren zum Vorstellen. Ch. Sigwart (Erl\u00e4uterungen zum \u00bbkurzen Tractat\u00ab) weist auf die uneinheitliche Darstellung der Willenslehre in der \u00bb Ethik < allgemein hin und fasst, um die Br\u00fccke von der Voluntas-Affirmatio zur Voluntas-Cupiditas zu schlagen, die Zustimmung in den Urtheilen als Act des Selbsterhaltungstriebes.\n1) De Intellectus Emend. Tr. Anfang.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n271\nBestandteil aufzeigten. Dies alles vor Augen behaltend, wird man sich vielleicht eher \u00fcber den Scharfsinn wundem, der es vermochte, Begehren und Gef\u00fchl doch im Princip wenigstens noch so stark zu intellectualisiren, wie dar\u00fcber, dass ihm dies nicht ganz gelang; man wird dann auch vielleicht als treibendes Motiv in der Affectenlehre eher die L\u00f6sung des voluntaristischen Knotens wie seine Sch\u00fcrzung erblicken, mehr den rationalistischen Gegensto\u00df Spinoza\u2019s wie den f\u00f6rdernden Einfluss des Hobbes gewahr werden. Freilich darf dieser Einfluss darum nicht geleugnet werden. Dass Spinoza den Hahbes gelesen und gut gekannt hat, steht ja fest, und es ist gerade nach der Entwickelung seiner Willenslehre h\u00f6chst wahrscheinlich, dass die Wiehtigkeit des Problems der Selbsterhaltung in der Spinozischen Psychologie dem Studium des Hobbes zuzuschreiben ist. Aber die intellectualistische Grundtendenz ist weder in eine sensualistische noch voluntaristische umgeschlagen, sie hat sich nur \u00fcber sie au sgedehnt ').\nDoch zur\u00fcck zur \u00bbEthik. \u00ab Gleich die Einleitung des HI. Theils mit ihrem ehemen Klang und dem k\u00fchnen Schlusssatz zeigt an, dass\n1) Was f\u00fcr Einfl\u00fcsse man aber auch annehmen mag, wie viele und von welcher Art, so ist immer daran zu erinnern, dass die \u00bbEthik\u00ab des Spinoza als \u00bbein Werk aus einem Guss\u00ab anzusehen ist, soweit dies \u00fcberhaupt bei menschlichen Sch\u00f6pfungen m\u00f6glich ist. Mag man mit Avenarius, Sigwart, Busse u. A. den \u2014 neuerdings von Freudenthal durch die Um-datirung der \u00bbDialoge\u00ab wieder bestrittenen \u2014 Einfluss Bruno\u2019s in den ersten Phasen des Philosophen zugestehen, wird man stets Descartes\u2019 Lehre als diejenige bezeichnen, welche am meisten befruchtend auf die Spinozische Philosophie gewirkt hat, kann man ein starkes Hin\u00fcberwirken der Talmudischen Studien des J\u00fcnglings (wenn auch nicht im Umfange der Jo \u00f6l\u2019sehen Hypothese) bis in die letzten Werke hinein versp\u00fcren und endlich Hobbes\u2019 Einfluss auf die Staats- und Affectenlehre gelten lassen, immer doch macht das Eigenartige und Originelle dann neben den ganz neuen Ansichten des Philosophen gerade die Harmonie, das einheitliche Verschmelzen gegens\u00e4tzlicher Standpunkte aus und bei Werken, wie dem vorliegenden, ist die \u00bbharmojoisirende Tendenz\u00ab nicht nur \u00bbeine Tendenz neben vielen\u00ab, wie man behauptet hat (T\u00f6nnies, Studie u. s. w., H, S. 355), sondern die Grund- und Haupttendenz nicht neben-, sondern \u00fcbergeordnet: den Tendenzen, welche die Gedankenrichtungen fremder Autoren hinterlie\u00dfen. K. Fischer, der vielleicht in der Leugnung der Einfl\u00fcsse zu weit geht, hat aufs gl\u00e4nzendste diese Ansicht von der Lehre Spinoza\u2019s als \u00bbeines zusammengest\u00fcckelten, aus Entlehnungen entstandenen Flickwerks\u00ab zur\u00fcckgewiesen (Descartes und seine Schule, Bd. H, S. 256).\n18*","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nRaoul Richter.\nauch in diesem Theile unter der Voraussetzung der strengsten Determination die Untersuchungen stattfinden sollen, und also der systematische Beweis f\u00fcr die Leugnung der Willensfreiheit in Theil I wirklich ein allgemeiner gewesen ist. Ueber den Willen selbst auf dem neuen Gebiete erfahren wir vorl\u00e4ufig nichts; weder in den 3 Definitionen noch den 2 Postulaten, noch auch in den ersten Propositionen tritt er auf, wohl aber bewegen sich manche von ihnen in Begriffen, die eine strenge Erkl\u00e4rung des Willens, der nicht Bejahung ist, eigentlich voraussetzten; doch gerade in der Umformung dieser willens-durchtr\u00e4nkten Begriffe zu willensleeren besteht eben die Vorbereitung auf das Unwesentliche der specifischen Willenselemente in letzter tLinie auch in den ethischen Handlungen und der Erreichung des h\u00f6chsten Gutes. Handeln und Leiden, sowie die Affecte scheinen uns unfassbar ohne Willensvorg\u00e4nge, m\u00f6gen diese nun frei oder noch so streng necessitirt sein; aber^nach des Spinoza Definition1) hei\u00dft Handeln die totale und Leiden die partielle Ursache von Folgen sein, und weil der Accent nicht auf der Ursache, sondern der Totalit\u00e4t (Partialit\u00e4t) liegt, so ist in dieser Begriffsbestimmung jede Spur eines Willenselements gemieden. Da Spinoza nun die alleinige Ursache \u00bbcausa adaequata\u00ab nennt, so ahnen wir schon von hier die engen Beziehungen des Handelns zu den zureichenden Vorstellungen oder zur \u2014 Erkenntnisse \u00bbsoweit die Seele zureichende Vorstellungen hat, handelt sie nothwendig, soweit sie unzureichende hat, leidet sie noth-wendig\u00ab2). Ebenso sind die Affecte in ihrer ersten Definition zun\u00e4chst keine Willensvorg\u00e4nge, sondern \u00bbdie k\u00f6rperlichen Erregungen, durch welche die Macht des Leibes zu handeln vermehrt oder vermindert wird, und zugleich die Vorstellungen (ideae) dieser Erregungen\u00ab3). Hatte die \u00bbcausa adaequata\u00ab auf die Beziehungen des Handelns zu den zureichenden Vorstellungen gewiesen, so zeigt der Sitz der Affecte in Geist und K\u00f6rper, dass auch in diesem Theile streng an dem Parallelit\u00e4tsaxiom soll festgehalten werden. Dieser dynamische Parallelismus \u2014 wie man ihn nennen k\u00f6nnte, dem\n1)\tEthik m, Def. II.\n2)\tEthik HI, Pr. I u. HI ; man beachte im Beweise der letzteren die Berufung auf H, Pr. XI, welche den Satz von dem Wesen der Seele als Vorstellung vortrug. Cf. oben S. 155.\n3)\tEthik UI, Def. UI.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n273\ndie Pr. II eigens gewidmet ist*) \u2014 gibt aber Anlass, gleich von vornherein noch vor Einf\u00fchrung des neuen 'Willensbegriffs die Ansicht derer abzuweisen, die da glauben, der Wille habe seinen Sitz in der\u2019 Seele und der Leib sei nur das aus\u00fcbende Organ1 2 3). Mit solchen Vorurtheilen musste ger\u00e4umt werden, sollte auch die Affectenlehre den Grundvoraussetzungen des Systems sich f\u00fcgen.\nDiese Vorhestimmungen im Verein mit den fr\u00fcheren den Boden ebnenden Untersuchungen bef\u00e4higen uns, auch den dunkelsten Punkt in des Spinoza Willenslehre, die S\u00e4tze von der Selhsterhaltung in ihrer Fundirung widerspruchslos zu verstehen. Zun\u00e4chst scheint der bis jetzt k\u00fcnstlich zur\u00fcckgestaute Willensbegriff des gew\u00f6hnlichen Verstandes im folgenden mit der Einf\u00fchrung des \u00fcberraschend auftretenden \u00bbConatus\u00ab durchzubrechen. Nach Vorausschickung der S\u00e4tze, dass sich kein Ding seihst vernichten k\u00f6nne (Prop. IV), und die Dinge insoweit entgegengesetzter Natur seien, als sie sich vernichten k\u00f6nnen (Pr. V), tritt das Streben nach Selbsterhaltung, das jedes Ding beherrscht (conatus quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur), angeblich als Ableitung aus den vorigen S\u00e4tzen auf, und wird von nun an zu einem der Fundamentals\u00e4tze der \u00bbEthik\u00ab. Es scheint mit diesem Streben ein dem Spinozischen System, wie er es bis dahin entwickelt hatte, fremder und widersprechender Zug von Spontaneit\u00e4t, von unmittelbar empfundener Selbstth\u00e4tigkeit, die wir eben Willen nennen8), in den Menschen gekommen, w\u00e4hrend in den Affirmationen und Negationen der Urtheile zwar'Th\u00e4tigkeit, aber nicht unmittelbar empfundene, also Willens-\n1)\tEthik III, Pr. II, Sch. Ordo actionum et passionum corporis nostri simul est natura cum ordine actionum et passionum mentis.\n2)\tEthik III, Pr. II, Sch. Im Anschluss daran wird dann noch einmal eingehend die Willensfreiheit bestritten unter Heranziehung des bekannten psychologischen Beweises. Cf. oben S. 136 ff. In der Widerlegung kommt recht deutlich die f\u00fcr einen Rationalisten doppelt bewundernswerte Beachtung und Anerkennung der k\u00f6rperlichen Leistungen zur Geltung. Diese wurzelt nat\u00fcrlich in der Parallelit\u00e4tstheorie, welche folgerichtig dem Leib die n\u00e4mliche, ja, da sie etwas nach dem Materialismus neigt, eine gr\u00f6\u00dfere Bedeutung zuerkennen muss, wie der Seele; diese gedankliche Forderung durchzieht dann auch die ganze \u00bbEthik\u00ab, und es ist ein Verdienst Spinoza\u2019s, die Wichtigkeit der k\u00f6rperlichen Pflege und Uebung immer wieder und wieder betont zu haben. \u00bbEthik\u00ab IV, Appendix Cap. 27 und V Pr. 39, Sch.\n3)\tWundt, Essays, S. 295.","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nRaoul Richter.\nth\u00e4tigkeit, vorlag. Denn dieses \u00bbStreben\u00ab ist weder etwas rein Seiendes, wie die Objecte, noch rein Gedankliches, wie die Vorstellungen. Der eigentliche Wille scheint nun doch noch als eine dritte Weltseite zur Geltung kommen zu sollen. Wie man bald bemerkt hat, ist die Einf\u00fchrung des \u00bbConatus\u00ab im VI. Lehrsatz auf ein \u00bbopponitur\u00ab gegr\u00fcndet, das f\u00e4lschlich als in dem vorhergehenden Lehrsatz enthalten hingestellt wird. Dieser hatte besagt, dass die Dinge insoweit entgegengesetzter Natur seien, d. h. in demselben Gegenstand nicht bestehen k\u00f6nnten, als das eine das andere zerst\u00f6ren k\u00f6nne. Nun folgert der Beweis der n\u00e4chsten Prop., dass jedes Ding allem, was sein Dasein aufheben k\u00f6nne, sich widersetze, also, soweit es an ihm ist, in seinem Sein zu heharren strebe. Aus dem V. Lehrsatz konnte aber nur geschlossen werden: da Elemente, die sich gegenseitig vernichten, in einem Gegenst\u00e4nde aus logischen Gr\u00fcnden nicht Vorkommen k\u00f6nnen, so kommen sie auch thats\u00e4chlich nicht in ihm vor (nach des Spinoza Gleichungen logisch = real, Definition = Wesen); von einem eigenm\u00e4chtigen Widerstreben gegen \u00e4u\u00dfere Eindringlinge (negative Seite) und folglichem Beharrungsstreben im eigenen Selbst (positive Seite) scheint nichts darin enthalten. Da kommt uns in der n\u00e4chsten Prop, die \u00fcberraschende Aufkl\u00e4rung: das Streben nach Selhsterhaltung ist ' g\u00e4r kein principiell\nneuer..Eactor, es ist weiter nichts als das Wesen der Dinge\nselber: \u00bbDas Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren trachtet, ist nichts au\u00dfer dem wirklichen Wesen dieses Dinges\u00ab1). Dieses Streben, welches, da der Zerst\u00f6rungszeitpunkt eines Dinges nicht in seinem Wesen gegeben sein kann, auf unbegrenzte Zeit besteht (Prop. VIII), dehnt sich, wie auf alle Dinge, so auch auf die menschliche Seele aus, welche als Tr\u00e4gerin zureichender wie unzureichender Vorstellungen in ihrem Sein zu beharren strebt und sich dieses Strebens (da das Selbstbewusstsein von allen ihren Vorg\u00e4ngen der erkenntnisstheoretische Theil erwiesen hatte) auch bewusst ist (Pr. IX). Irif dieser Besonderung hei\u00dft es dann Wille (voluntas); da es aber verm\u00f6ge ^t\u00e8n auch auf diesem emotionalen Gebiete strengen Aufstellung des Parallelismus nicht nur in der\n1) Ethik HL, Pr. VH: Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare eonatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n275\nSeele, sondern in K\u00f6rper und Seele zugleich herrscht, so nennt es Spinoza, auf beide bezogen: Verlangen (appetitus); wird auf die bewusste Seite dieses Strebens der Ton gelegt, so soll es Begierde (cupiditas) hei\u00dfen1). Die F\u00f6rderung oder Hemmung dieses Strebens oder der Uebergang zu gr\u00f6\u00dferer (geringerer) Vollkommenheit (Realit\u00e4t) in der Seele wird Lust (laetitia) und Unlust (tristitia) genannt, in K\u00f6rper und Seele Fr\u00f6hbcbkeit (hilaritas) und Schmerz (dolor). Mit der Begierde zusammen bilden Lust und Unlust die drei Grund-affecte.\nIn diesen drei Propositionen und den zwei Scholien, in denen die Haupts\u00e4tze von dem neuen Willensbegriff und den Gef\u00fchlen niedergelegt werden, sind alle Cardinalprobleme zum Theil schon beantwortet eingeschlossen, welche in Betreff der Willenspsychologie des Spinoza noch k\u00f6nnen aufgeworfen werden:\n1)\tDas Verh\u00e4ltnis des Willens zum Wesen. (Scheinbar voluntaristische Grundtendenz \u2014 Willensmetaphysik \u2014).\n2)\tDas Verh\u00e4ltniss des Willens zu den Vorstellungen. (Scheinbarer psychologischer Widerspruch mit den intellectua-listischen Theorien des II. Theils).\n3)\tDas Verh\u00e4ltniss des Willens zum Handeln oder der Sitz des Willens. (Doppelter \u00bbConatus\u00ab \u2014 die In-consequenz).\n1) Gleich von vornherein muss erw\u00e4hnt werden, dass Spinoza in der Terminologie der Willensarten besonders ungenau verfahren ist, wenn auch die sachlichen Gr\u00fcnde zu einer Aufstellung verschiedener Benennungen klar vor Augen liegen. Die Worte werden oft durch einander gebraucht und an der urspr\u00fcnglichen Namengebung wird nicht weiter festgehalten. So bedeutet \u00bb cupiditas \u00ab vielfach etwas rein Seelisches und steht also f\u00fcr \u00bbvoluntas\u00ab (so generalis affectuum definitio), andrerseits werden die erst getrennten \u00bbappetitus\u00ab und \u00bbvoluntas\u00ab eintr\u00e4chtig durch ein \u00bbsive\u00ab verbunden, und das gerade an der bedeutsamen Stelle, in der von dem Doppelstreben, f\u00fcr welches der \u00bbConatus\u00ab zum \u00bbAppetitus\u00ab getauft ward, zum ersten Male Gebrauch gemacht wird (III, Pr. XXVII, Coroll. Ill, Sch.). Affect. Def. I, Expl. werden alle Willensbezeichnungen, wie conatus, appetitus, voluntas, impetus der \u00bbCupiditas\u00bb subsumirt, Def. VI, Expl. wird die \u00bbvoluntas\u00ab sogar als \u00bbacquiescentia\u00ab angesprochen. All diesen terminologischen Schwankungen gegen\u00fcber wollen wir an der in des Spinoza Anschauungen sachlich vollbegr\u00fcndeten urspr\u00fcnglichen Namengebung festhalten: danach hei\u00dft der allgemeine in K\u00f6rper und Seele bestehende Selbsterhaltungstrieb \u00bb Conatus \u00ab oder Streben; auf beide als Einheit bezogen, wird dieses Doppelstreben \u00bbappetitus\u00ab oder Verlangen, mit Bewusstsein versehen (ob rein seelisch, ob k\u00f6rperlich, ob beides zugleich), \u00bbcupiditas\u00ab oder Begierde genannt.","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nRaoul Richter.\n4)\tDas Verh\u00e4ltniss von Gef\u00fchl und Vorstellung. (Der Ausdruck affectus = idea, seine Ungenauigkeit und Berechtigung).\n5)\tDas Verh\u00e4ltniss von Gef\u00fchl und Wille: (wechselseitige Abh\u00e4ngigkeit\u2014Kl\u00e4rung des Widerspruchs zwischen den S\u00e4tzen: was wir erstreben, beurtheilen wir als gut und: was wir als gut beurtheilen, erstreben wir).\n6)\tDer Sitz der Gef\u00fchle (die gleichen Inconsequenzen wie unter 3).\nMit der L\u00f6sung dieser Fragen ist aber die Entscheidung \u00fcber die M\u00f6glichkeit einer Einordnung der Willensbestaridtheile der Affectenlehre in die bisher entwickelten Principien \u2014 wie ersichtlich \u2014 mit gegeben. Denn an der Bedeutung, mit der der Wille das Wesen des Menschen genannt wird, h\u00e4ngt die Vertr\u00e4glichkeit dieses Dogmas mit jenem intellectualistischen von der Vorstellung als dem Wesen der Seele, und an der Bedeutung der scheinbar selbst\u00e4ndigen Bolle der Gef\u00fchle die Auseinandersetzung mit der Priorit\u00e4t der theoretischen Bewusstseinsarten, an der Einsicht in die ge-sammte Natur des neuen Willenshegriffs aber die Einsicht in seine Beziehungen zu jenem fr\u00fcheren urtheilenden Willen oder der Bejahung.\nI. Jedes Ding strebt nach Selbsterhaltung und dieses Streben \u00a3st nichts anderes als das Wesen des Dinges. Was hei\u00dft das? L\u00e4sst man sich erhebende Fragen und auftauchende Schwierigkeiten unbeachtet, etwa folgendes: Jedes Einzelding dr\u00fcckt auf eine feste und bestimmte Art das Wesen der Substanz oder Gottes aus, und da nun aus Gottes Wesen unendliches auf unendliche Weise folgt, so folgt aus jedem Einzelding, das ein Dasein hat, eine Wirkung; diese ist aber nicht beliebig oder gar willk\u00fcrlich, sondern durch die eigenth\u00fcmliche Natur des Dinges selbst streng necessitirt: so liegt es im Wesen des Stickstoffes, eine Flamme zum Erl\u00f6schen zu bringen, w\u00e4hrend der Wasserstoff sich an ihr entz\u00fcndet.\nDiese Unm\u00f6glichkeit, die Bollen zu tauschen, diese Nothwendigkeit, dass alle Wirkungen, die ein Gegenstand hervorbringt, in der Natur oder dem Wesen desselben vorbereitet liegen, oder dass sein Verm\u00f6gen und seine Macht (potentia) nur in dem Ablauf dieser besteht, zu denen es gerade bestimmt ist, nennt nun Spinoza das","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegrifl' in der Lehre Spinoza\u2019s.\n277\nStreben nach Selbsterhaltung. Daher ist ihm dieses eigentlich mit der Urbestimmung der Dinge, gleichbedeutend; der scheinbar h\u00f6chste Gipfel freiester Selbstth\u00e4tigkeit und der unterste Grund bestimmender Oausalit\u00e4t fallen so in einen Punkt zusammen. Man kann diesen ebenso dunklen wie tiefen Satz in der Willenslehre Spinoza\u2019s, der den Willen zugleich zum Wesentlichsten macht und ihn eben dadurch wieder aufhebt, nicht besser erl\u00e4utern, als durch die Goethe\u2019schen Verse:\n\u00bbDa ist\u2019s denn wieder, wie die Sterne wollten,\nBedingung und Gesetz und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,\nUnd vor dem Willen schweigt die Willk\u00fcr stille.\u00ab\nf\nL\u00e4sst man die poetische Anticipation des Sinnes bei Seite, so sind es die beiden Beweise zur VI. und VH. Prop., welche unzweideutig das Streben nach Selbsterhaltung als den Ausdruck der durch die g\u00f6ttliche Oausalit\u00e4t den Dingen eingepr\u00e4gten Natur, als das Eintreten der durch ihr Wesen bedingten, als das Ausbleiben der ihnen fremden Wirkungen unter der Form von \u00bbZustreben\u00ab und \u00bbWiderstreben\u00ab gefasst enthalten. Der Selbsterhaltungstrieb ist also nichts als die Urbestimmung der Dinge. Diese zeigt sich aber an ihrem Wirken: \u00bbAus dem gegebenen Wesen irgend eines Dinges folgen nothwendig einige Wirkungen, und die Dinge verm\u00f6gen nur das, was aus ihrer bestimmten Natur nothwendig folgt; daher ist das Verm\u00f6gen oder das Streben (potentia sive conatus) jeglichen Dinges, durch das es selbst, allein oder mit anderen, irgend etwas wirkt, oder zu wirken strebt, d. h. das Verm\u00f6gen oder das Streben, in seinem Sein zu beharren, nur das gegebene oder wirkliche Wesen des Dinges selbst (Pr. VII, Dem.).\u00ab So hatte auch schon die Metaphysik des I. Theiles gelehrt1) und damit jenen Begriff von der Macht oder dem Verm\u00f6gen gebildet, welcher Activit\u00e4t und Energie umschloss und das Wollen bei Seite lie\u00df. In diesem Sinne verdankte Gott seine Allmacht nicht einem Willen, der ihm nicht zukam, sondern dem allumfassenden Wirken2); auch Gottes Allmacht war sein Wesen, d. h. der Abfluss all\u2019 seiner Wirkungen. Genau in dem gleichen Sinne nun haben die Einzeldinge Macht, wenn auch keine Allmacht,\n1) Ethik I, Pr. XXV-XXIX, Pr. XXXVI.\n2) Siehe oben S. 131 ff.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nRaoul Richter.\ndenn auch sie wirken, wenn auch nicht unendliches; genau in dem gleichen Sinne ist diese Macht ihr Wesen, das sich in dem Inbegriff ihrer Wirkungen offenbart. \u2014\nFreilich, von dem Verm\u00f6gen zum Streben, von der \u00bbpotentia\u00ab zum \u00bbconatus\u00ab scheint noch ein weiter Weg. Aber man darf sich durch den Reflex des Spontan-Bewussten, den dieser Beharrungstrieb von der sp\u00e4teren Anwendung auf das Seelenleben aus empf\u00e4ngt, nicht irre machen lassen. Hier bedeutet er vorl\u00e4ufig nichts wie Verm\u00f6gen, wenn man auf die in diesem Wort enthaltene Spannung achtet; man hat ihn darum auch ganz allgemein sehr treffend als den ,TJebergang vom Potentiellen ins Actuelle bezeichnet: eine gespannte Spiralfeder w\u00fcrde vielleicht am ehesten den Einschluss der einem Dinge eigenth\u00fcmlichen Wirkungen in sein Wesen und den \u00bbDrang\u00ab nach ihrer Realisirung veranschaulichen. Das Streben der Dinge ist die Ladung mit latenter Kraft. Somit steht metaphysisch der Selbsterhaltungsdrang jeglichen Dinges durchaus im Einklang mit den bisherigen Lehren, er ist nichts weiter als die Uebertragung des uns schon bekannten energetischen Zuges (auf das Wesen der Einzeldinge. Keineswegs aber wird dadurch nach der Absicht des Philosophen der Wille \u2014 etwa im Schopenhauer\u2019sehen Sinne \u2014 zum innersten Wesen der Welt gestempelt. Und hier ist es gut, zweierlei zu beachten : einmal, dass Wirken und Wollen bei Spinoza zwei v\u00f6llig getrennte Begriffe sind, dann aber auch, auf welche Seite der Gleichung conatus = essentia die Betonung f\u00e4llt, d. h. welcher Begriff auf den anderen zur\u00fcckgef\u00fchrt wird; ist es doch gerade das Streben, welches zum Wesen, nicht das Wesen, welches zum Streben gemacht wird. Wie wichtig solche Pr\u00fcfungen sind, hatte ja schon jene andere Formel Wille = Verstand ergeben1). Hier zeigt sich nun noch viel sch\u00e4rfer der Unterschied in der Accentuirung; denn nennt Spinoza wirklich das Wesen der Dinge hier- Streben, Trieb oder Drang, so ist er trotz der Einschr\u00e4nkung in Mer Bedeutung der Worte von einem radicalen Volun-tarismus nicht mehr fern ; f\u00fchrt er aber das Selbsterhaltungsstreben auf das Wesen der Dinge zur\u00fcck, so hei\u00dft dies vielmehr \u2014 bei seinem Wesensbegriff \u2014 der Versuch, den Willen in seinen\n1) Siehe oben S. 263.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n279\ntiefsten Wurzeln zu intellectualisiren. Denn das Wesen eines Gegenstandes ist nach Spinoza seine Definition, und seine Wirkungen gleich den aus ihr flie\u00dfenden Folgerungen; und es ist diese logische Erfassung der Oausalit\u00e4t gewiss noch bezeichnender f\u00fcr das Spinozische System, als die neben ihr einhergehende dynamische. Demgem\u00e4\u00df w\u00fcrde an Stelle der gespannten Spiralfeder in unserm Vergleich jetzt etwa ein Kreis oder ein Dreieck zu treten haben, die ja (nach Spinoza) alle mathematischen S\u00e4tze \u00fcber sich implicite enthalten m\u00fcssen; und dieses \u00bbEnthaltensein\u00ab, diese \u00bbAnsammlung\u00ab, dies logische Abflie\u00dfenm\u00fcssen der Folges\u00e4tze w\u00e4re dann der Selbsterhaltungstrieb eines Gegenstandes. Von welcher Seite man ihn also betrachten m\u00f6ge, \u00fcber das Wirkende (Beispiel mit der Spiralfeder) oder Logische (Beispiel mit dem Dreieck) schreitet er nicht hinaus; und so darf man wohl sagen, dass an dieser Stelle gerade jedes in der tiefsten Anlage der Dinge etwa schlummernde specifische Willenselement von dem Spinoza in reale oder logische Nothwendigkeit aufzul\u00f6sen versucht worden sei.\nAber der metaphysische Einklang schlie\u00dft einen psychologischen Widerspruch nicht aus. Der Uebergang zur psychologischen Anwendung des zun\u00e4chst rein metaphysischen1) Selbsterhaltungstriebes hegt in dem Wesensbegriff. Seine Doppelfassung und der Mangel an reinlicher Sonderung in den Bedeutungen ist schon erw\u00e4hnt worden2). Hier erweist sich nun diese Einsicht als fruchtbares Erkl\u00e4rungsprincip. Es erhebt sich n\u00e4mlich die Frage: Ist das Wesen der Dinge, dem der \u00bbOonatus\u00ab zukommt, ja mit dem er identisch ist, generell oder individuell, ein ewiger oder endlicher Modus? Die meisten der Erkl\u00e4rer sind an dieser wichtigen Frage achtlos vor\u00fcbergegangen; die sie behandelten, haben sich zumeist f\u00fcr die ewige Modalit\u00e4t des W esensbegriff es entschieden3). Wie uns\n1)\tMetaphysisch ist ja eigentlich alles in der \u00bbEthik\u00ab. Es kann sich also dabei nur um Gradunterschiede handeln; diese messen sich an der Unmittelbarkeit der Beziehungen zum Substanzhegriff, an der Ann\u00e4herung zu, der Entfernung von ihm.\n2)\tSiehe oben S. 253 ff.\n3)\tSo Busse {die Begriffe essentia und existentia); Camerer (a. a. O. S. 292, 298); Salinger (Spinoza\u2019s Lehre von der Selbsterhaltung. Berlin 1881. I.-D., S. 15 ff.).","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nRaoul Richter.\nscheint, mit Unrecht. Eichtig ist die Betonung des Zusammenhangs der Energie im Selbsterhaltungstrieb mit der Activit\u00e4t der Substanz, falsch aber die einseitige Anwendung auf den Wesenshegriff. Es ist gerade das volle und ganze, auch zeitlich dauernde Wesen der Einzeldinge, von dem hier dieser Trieb behauptet wird, nicht nur ihr \u00bbbesserer Theil\u00ab. Dies geht aufs deutlichste aus der Anwendung auf die menschliche Seele hervor, von der ein eigener Lehrsatz behauptet, sie strebe sowohl in ihren zureichenden, als in ihren unzureichenden Vorstellungen in ihrem Sein zu beharren; was damit begr\u00fcndet wird: das Wesen der Seele setze sich aus zureichenden wie unzureichenden Vorstellungen zusammen1). Hierauf aber wiederum beruht sozusagen die M\u00f6glichkeit der ge-sammten Affectenlehre, wie sie sich im UL Theil der \u00bbEthik\u00ab darstellt, als die Lehre von den Leidenschaften, welche ja nichts anderes sind, wie die Selbstbehauptungen der verworrenen und unklaren Vorstellungen und der ihnen anhaftenden Gef\u00fchlst\u00f6ne (Lust und Unlust) ; nur diese Verworrenheit erm\u00f6glicht ja auch die aufgestellte Verschiedenheit der Leidenschaften unter den einzelnen und in einzelnen Menschen: \u00bbJedwede Leidenschaft eines Individuums (!) unterscheidet sich von der Leidenschaft eines anderen um so viel, wie das Wesen des einen vom Wesen des anderen verschieden ist\u00ab2), und der Beweis f\u00fchrt zu diesem Zwecke alle Gef\u00fchle auf Modificationen des Selbsterhaltungstriebes zur\u00fcck, der ja eben dieses Wesen sei. Mit diesen fundamentalen S\u00e4tzen der Spinozischen Psychologie ist die Ansicht unvereinbar, als handle es sich bei dem \u00bbSelbsterhaltungstrieb als Wesen\u00ab nicht um das Individuum und nur \u2014 sozusagen \u2014 um seinen Unendlichkeitsantheil an der Substanz3).\nMit der individuellen Auffassung vertr\u00e4gt sich dagegen sehr wohl auch die Ableitung des Krafttons des Oonatus aus der Sub-\n1) Ethik in, Pr. IX mit Dem.\t2) Ethik III, Pr. LYII.\n3) Es sind daher die Vertreter des einseitig ewigen Wesensbegriffs gezwungen, die obigen S\u00e4tze einfach mit ihrem Princip unvereint zu lassen oder nur sehr gezwungene Erkl\u00e4rungen f\u00fcr sie zu versuchen, so Camerer a. a. 0. S. 292. Ebenfalls kann III, Pr. VIII von der unbegrenzten Dauer des \u00bbConatus\u00ab der Einzeldinge nur f\u00fcr unsere Ansicht zeugen, da es sich nicht um ein tempus infinitum, sondern indefinitum handelt. Dies hat z. B. Salinger (a. a. O. S. 16) \u00fcbersehen und gerade diesen Satz f\u00fcr seine Ansicht anziehen zu d\u00fcrfen vermeint.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n281\nstanz. Denn dieser wirkt in allem, in den ewigen Modi genau so wie in den begrenzten, in den zureichenden Vorstellungen genau so wie in den unzureichenden, auch das \u00bbimaginari\u00ab ist ja Th\u00e4tigkeit1); die Kehrseite davon ist die M\u00f6glichkeit, auch das Verworrene und Unklare in Gott zu denken, alswo es dann deutlich und klar erscheint2). Denn das Falsche und der Irrthum ist ja nichts Positives, und was in einer falschen Vorstellung positiv ist, ist nicht irrth\u00fcm-lich3). Die Anschauung irrt darum in sich nie, erst das Fehlen der Einsicht, dass sie eben nur Anschauung und nicht vern\u00fcnftiger Gedanke sei, ihrem Gegenstand also auch kein reales Dasein in der angeschauten Weise zuk\u00e4me, bringt sie dazu4). Es ist somit durchaus kein Widerspruch, wenn die Energie der Substanz auch in den unzureichenden Vorstellungen, auch in dem individuellen Wesen der Dinge als Trieb zur Selbsterhaltung sich darstellt. So unzweifelhaft uns nun dies die Meinung des Spinoza zu sein scheint, so sicher findet doch auch jene andere Seite des Wesensbegriffs, die wir die werthende oder die generelle genannt hatten, hier ihre Stelle. Das Wesen der Dinge und insonderheit des Menschen ist irdischg\u00f6ttlich, ewig-modal, beides vereint, und gerade in der Art dieser Vereinigung \u2014 in dem Mischungsverh\u00e4ltnis der Elemente \u2014 beruht seme specifische Natur ; aber das ewige Element ist, wenn auch nicht wesenhafter (mehr zum Wesen geh\u00f6rig), so doch wesentlicher, das \u00bbeigentliche\u00ab Wesen ist nicht das \u00bbeigene\u00ab, vielmehr gerade sein Verlust, sein Opfer, es ist der Antheil am Allgemeinen, an der Substanz; das ist der \u00bbbessere Theil\u00ab des Menschen und darum f\u00fchrt der wohlverstandene (durch Deflexion der Vernunft gedeutete) Selbsterhaltungstrieb, das Selbstverst\u00e4ndniss desselben, paradoxer Weise zur Aufl\u00f6sung, wenigstens zur Spaltung des Selbst, zum Aufgehen in die Unendlichkeit; so siegt das Generelle \u00fcber das Individuelle, der eine Selbsterhaltungstrieb \u00fcber den anderen, der Intellect \u00fcber die Imagination. In gleichem Sinne hatte Spinoza einmal im \u00bbkurzen Tractat\u00ab gesagt, dass \u2014 streng genommen \u2014 nur Gott\n1)\tEthik II, Pr. XLIX, Sch., auch Camerer (a. a. O. S. 74), cf. oben S. 133 f.\n2)\tEthik II, Pr. XXXH.\t3) Ethik II, Pr. XXXV.\n4) Ethik II, Pr. XVII Sch., XXXV Sch., XLIX Sch. De Intel! Em. Tr.\nS. 24\u201425.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nRaoul Richter.\nWesen zuk\u00e4me. Am allerbesten aber verdeutlicht diese sonderbare Doppelbedeutung des Wesens in ihrer Anwendung auf die Selbsterhaltung jene eigent\u00fcmliche Trennung in der n\u00e4mlichen Schrift zwischen allgemeiner und besonderer Vorsehung. Dort n\u00e4mlich tritt der Selbsterhaltungstrieb als \u00bbVorsehung\u00ab auf, was, der theologischen Ausdrucksweise des Werkes entsprechend, dasselbe wie sp\u00e4ter in der \u00bbEthik\u00ab die Vorherbestimmung der Dinge besagt. \u00bbDie allgemeine Vorsehung ist diejenige, durch welche jedes Ding hervorgebracht und erhalten wird, sofern es ein Theil der ganzen Natur ist; die besondere Vorsehung ist das Streben, das jedes besondere Ding hat, sein eigenes Dasein zu erhalten, sofern es nicht als ein Theil der Natur, sondern als ein Ganzes betrachtet wird1).\u00ab Diese nicht weiter ausgef\u00fchrte Lehre deckt sich aber, abgesehen von der Ausdrucksweise, vollst\u00e4ndig mit der von dem generellen und individuellen, dem \u00bbwerthvollen\u00ab und dem \u00bbeigenth\u00fcmlichen\u00ab Wesen in der \u00bbEthik\u00ab, nur dass diese hier nicht so reinlich und klar gesondert erscheinen, wie die providentia universalis und particularis. Die Beachtung dieser Doppelrolle hebt manche sonst und vorz\u00fcglich an unserer Stelle entstehenden Schwierigkeiten: So in erster Linie den Widerspruch zwischen dem Erkenntnisstrieb als der einzig wirklichen Beth\u00e4tigung des Selbsterhaltungstriebes und dem sich \u00fcber die s\u00e4mmtlichen Elemente der Seele ausdehnenden \u00bbConatus\u00ab, also zwischen \u00bbEthik\u00ab m, Pr. VI und IX, und IV, Pr. XXVI, der nun nicht, wie man gemeint hat2), durch die durchgehende Disharmonie voluntaristischer und intellectualistischer, realistischer und idealistischer Tendenzen, sondern in der Zwiesp\u00e4ltigkeit des Wesensbegriffs seine Erkl\u00e4rung findet.\nII. Das eigentlich psychologische Problem im Selbsterhaltungsdrange beginnt erst mit dessen Uebertragung auf die Seele und dem Hinzukommen einer Bewusstheit. Beide Bestimmungen bringt der IX. Lehrsatz (Theil HI), und in dieser seelischen Eigenschaft hei\u00dft der \u00bbConatus\u00ab: Wille, in der bewussten : Begierde. Diese Begierde, die schon der Schluss des II. Theils neben dem Urtheil als die \u00bbandere\u00ab Seite des Willens verk\u00fcndet hatte, ist der Seele Wesen.\n1)\tKurz. Tract. I, Cap. V.\n2)\tT\u00f6nnies: Studie zur Entwickelungsgesch. des Spinoza","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n283\nDamit scheint der psychologische Widerspruch er\u00f6ffnet: Erst waren die Vorstellungen das Wesentliche in der Seele, und nun ist es die Begierde? Zur L\u00f6sung des Knotens ist es erforderlich, an die Ableitung der Begierde zur\u00fcckzudenken; wie eng sie mit den rein cau-salen und logischen Elementen des Systems verkettet ist, wie sie eigentlich nichts ist, als die in der Entladung begriffene Ursache. Erst durch das Pr\u00e4dicat \u00bbBewusstsein\u00ab erh\u00e4lt sie jene mit der Priorit\u00e4t der Vorstellungen scheinbar unvereinbare Stellung. Aber in Wirklichkeit steht die Antithese weniger einfach. \u00bbDie Begierde als Wesen\u00ab verdr\u00e4ngt nicht \u00bbdie Vorstellungen als Wesen\u00ab; sie ist vielmehr deren Wesen; eng an sie gebunden, undenkbar ohne sie, immer nur an ihnen und mit ihnen tritt sie auf. Sie ist nicht etwa eine neue Macht, eine Kraft der Seele, welche Vorstellungen \u00bbhervorrufen\u00ab, die Causalit\u00e4t der intellectuellen Vorg\u00e4nge durch eine spontane Action sprengen k\u00f6nnte, sie ist vielmehr der bewusste Ausdruck dieser Vorg\u00e4nge, dieser Causalit\u00e4t seihst. Sie ist die Tendenz eines Gedankens zum folgenden. Diese Determination, die sie nient aus\u00fcbt, sondern vermittelt, zeigt sich auch in dem Pehlen eines besonderen Necessitirungsbeweises f\u00fcr die Begierde1). \u00bbDer Mensch strebt oder begehrt nichts zu thun, was nicht aus seiner gegebenen Natur folgen kann\u00ab2) und \u2014 sehr bemerkenswerth f\u00fcr das Verh\u00e4lt-niss von Wollen und Vorstellen \u2014 auch umgekehrt: solange er sich vorstellt, dies oder jenes nicht zu k\u00f6nnen, solange ist er nicht bestimmt es zu thun, und folglich ist es solange unm\u00f6glich, dass er es thut3).\u00ab Es ist eben diese sonderbare Erfassung des Begehrens als\n1)\tDer \u00bbkurze Tractat\u00ab dagegen, in welchem die Natur der Begierde noch nicht entdeckt ist, sondern nur mit Neigung, Gel\u00fcste, Verlangen u. s. w. umschrieben wird, bringt daher auch zwei besondere Beweise f\u00fcr ihre causale Bedingtheit: 1) die Begierde ist nicht \u00bbfrei\u00ab, denn sie entsteht stets aus dem Gef\u00fchlston einer Vorstellung (Beispiel mit dem Gl\u00f6ckchen). 2) Die Begierde ist nicht \u00bbfrei\u00ab, denn sie ist kein Verm\u00f6gen und kann also als Abstraction nicht die Ursache von etwas Realem sein (K. Tract. II, Cap. XVII (4) (5)). Zum ersten Beweise ist zu bemerken, dass derselbe f\u00fcr die \u00bbEthik\u00ab nicht mehr bindend w\u00e4re, da dort nicht nur aus den Gef\u00fchlen die Begierden, sondern auch jene aus diesen entspringen; der 2. Beweis ist ein Analogon zu jener S. 259 erw\u00e4hnten Briefstelle \u00fcber den Willen als Irrthumsursache.\n2)\tEthik m, Pr. LV, Schol. Coroll. Dem.\n3)\tEthik III, affect. Def. XXVIII, Expl.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nRaoul Richter.\nbewusster Ausdruck einer augenblicklichen Bestimmung, welche selbst wiederum nur der Ausdruck der TJrbestimmung oder des Wesens ist, die eines besonderen Determinationsbeweises nicht ben\u00f6thigt. Der Begriff selbst ist hier der Beweis.\nEs sind also die Vorstellungen das Material f\u00fcr den Willen oder die Begierde, deren Spannungszust\u00e4nde \u2014 wenn man sich so ausdr\u00fccken darf \u2014 diese ins Bewusstsein erheben. Immer nur sind sie an und mit den Vorstellungen da; es gibt daher in der Seele nur begehrende und begehrte Vorstellungen; denn es ist schlechterdings auch in der \u00bbrealen\u00ab Psychologie Spinoza\u2019s nichts in der Seele au\u00dfer den Vorstellungen und ihren Eigenschaften, und so ist das Begehren auch unbedenkhch in Spinoza\u2019s Sinne als eine Eigenschaft der Vorstellungen anzusprechen. Die Vorstellung ist Subject und Object des seelischen Begehrens. Es bilden das stets Gegenw\u00e4rtige, Inhaltliche der Seele die Vorstellungen; nicht unter dem Gesichtspunkt ihres materialen Inhalts, sondern unter dem Gesichtspunkt ihres formalen auf die Zukunft gerichteten Wirkens hat die Seele ein Begehren, welches daher nur an diesem Inhalt zur Geltung kommen kann. Das erhellt aus allen S\u00e4tzen, welche in der \u00bbEthik\u00ab diesem Begehren gewidmet sind; wenn wir \u00bbdiesem\u00ab sagen, so meinen wir das Begehren \u00bbin der Seele\u00ab, welches wohl zu unterscheiden ist von dem uns sp\u00e4ter besch\u00e4ftigenden Doppelstreben in K\u00f6rper und Geist. Es ist nat\u00fcrlich unm\u00f6glich, alle Stellen aufzuz\u00e4hlen, welche die obige Behauptung belegen. Kur auf diejenigen, welche von dem \u00bbOonatus\u00ab der Seele im m. Theil der \u00bbEthik\u00ab handeln, weisen wir hin: Sie alle handeln von dem Streben, sich Angenehmes f\u00fcr Leib oder Seele vorzustellen (imaginari), d. h. lustvolle Vorstellungen zu erwerben. Die Beweise nun all\u2019 dieser S\u00e4tze gr\u00fcnden sich wiederum direct oder auf Umwegen auf jene IX. Prop., welche besagt hatte, dass die Seele in allen ihren Vorstellungen in ihrem Sein zu beharren strebt, weil in eben diesen Vorstellungen ihr Wesen besteht. Das hei\u00dft aber nichts anderes wie: Das Begehrende ist Vorstellung; denn es wird ja das Begehren mit dem Selbsterhaltungstrieb der Vorstellungen begr\u00fcndet; der Inhalt der Prop, aber, welche das \u00bbImaginari\u00ab als Object dieses Begehrens verk\u00fcnden, sagt aus, dass auch das Begehrte nur Vorstellung sei: so Pr. XD und XIII, welche sich in den Beweisen direct auf","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n285\nden IX. Lehrsatz, Pr. XXV und XXVI, welche sich auf Pr. XII u. Xm, also indirect auf Pr. IX berufen ; der Beweis der LTV Prop, endlich st\u00fctzt sich auf den (VTI.) Lehrsatz von der Selbsterhaltung als dem Wesen der Dinge, dessen besondere Uehertragung auf die Seele den Lehrsatz IX ergab. Es sind dies aber s\u00e4mmtliche S\u00e4tze, welche in dem rein psychologischen (Hl.) Theile der \u00bbEthik\u00ab von dem Streben der Seele, oder dem seelischen Willen, der nicht \u00bbBejahung\u00ab ist, handeln. Hierher geh\u00f6rt dann noch die \u00bbgeneralis affectuum definitio\u00ab, welche aufs deutlichste die Begierde als Richtungsbestimmung der Gedanken erkl\u00e4rt : \u00bbDer Affect, welcher eine Leidenschaft des G-em\u00fcthes hei\u00dft, ist eine verworrene Vorstellung, durch welche die Seele eine gr\u00f6\u00dfere oder geringere Daseinskraft ihres Leibes oder irgend eines Theiles desselben wie vorher bejaht, und durch welche die Seele selber eher dieses als jenes zu denken bestimmt wird.\u00ab Die letzten Worte enthalten die Definition der Begierde, wie dann noch ausdr\u00fccklich der Schluss der \u00bbExplicatio\u00ab zum Ueherfluss hervorhebt.\nDass es aber stets eine jeweilige Disposition der Seele ist, welcher die Begierde entspringt, genauer, welcher die Begierde entspricht, oder \u2014 mit anderen Worten \u2014 dass auch der UL Theil der \u00bbEthik\u00ab kein neues Verm\u00f6gen einf\u00fchrt, geht daraus hervor, dass es ebensoviele Begierden, wie Objecte der Vorstellungen geben soll1). Die Begierde ist ja n\u00e4mlich eigentlich nichts anderes, als die Vorstellung von einer bestimmten Seite, n\u00e4mlich in der Richtung auf die folgende Vorstellung betrachtet. Jede Vorstellung aber enth\u00e4lt \u2014 so hatte die Erkenntnistheorie gelehrt \u2014 die Natur des afficirenden und afficirten K\u00f6rpers in sich. Also gibt es genau so viele Begierden, als es lust- (unlust-) volle Vorstellungen gibt, d. h. unz\u00e4hlige. Diese Unzahl ist es, welche die Natur der Begierde nicht als ein neues, auf verschiedene Objecte gerichtetes, gleichartiges Verm\u00f6gen, sondern als die Abstraction aus den einzelnen wirklichen Begehrungen zu fassen zwingt2).\nBlickt man von diesen Orientirungen aus auf die Forderungen, welche der U. Theil an eine Psychologie der nicht vorstellenden\n1)\tEthik m, Pr. LYI.\n2)\tDies betont schon der Tr. brev. II, Cap. XYH (5).\nWundt, Philos. Studien. XIV.\n19","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nRaoul Richter.\nBewusstseinszust\u00e4nde durch seine Dogmen gestellt hatte, so muss man sie in den Principien erf\u00fcllt, ja staunend erf\u00fcllt sehen. Der Satz von der Priorit\u00e4t der Vorstellungen ist auch f\u00fcr die besondere Behandlung der Willenslehre bindend geblieben. Immer noch ist es das Vorstellen, welches das \u00bberste\u00ab in der Seele ausmacht, denn alle Begierde und aller Wille ist nichts wie die Selbstbehauptung dieser Vorstellungen. Aber, was sich selbst behaupten soll, muss wohl erst da sein, ehe es dazu schreitet1). Freilich, meint man, \u00bbdie Ausf\u00fchrungen des EL Theils betrachteten die Ideen als ausschlie\u00dflichen Inhalt des Geistes\u00ab2), so muss nun der HL Theil, der nur von den Gef\u00fchlen und Begierden handelt, im schroffsten Widerspruch zu den vorhergehenden erscheinen. Aber diesen Widerspruch aufdecken, hei\u00dft ihn erzeugen; denn bisher war nur gelehrt worden, dass die objectiven Elemente, die Vorstellungen und das Erkennen das Prim\u00e4re, nicht aber das Einzige in der Seele seien. Nur so war die Priorit\u00e4t der Vorstellung zu verstehen3), und nur so steht die neue \u00bbrealistische\u00ab Psychologie mit ihr im Einklang. Der zweite gro\u00dfe Schritt war die Verdr\u00e4ngung des Willens aus dem Wesen der Seele gewesen, in deren Mittelpunkt die Vorstellung getreten war. Auch daran \u00e4ndert sich nichts, wenn nun das Streben zum Wesen der Dinge gemacht wird. Denn soweit es noch nicht bewusst und blo\u00df der allen Dingen zukommende Ausdruck des energetischen Grundtons der Substanz, der \u00bbConatus\u00ab also nur wirkendes Verm\u00f6gen oder = \u00bbpotentia\u00ab ist, kann es nur zu den metaphysischen, nicht aber den psychologischen Voraussetzungen in Widerspruch gerathen \u2014 was es nicht thut. Erst auf die Seele bezogen kann es zu diesen in Gegensatz treten. Doch wurde seine Vertr\u00e4glichkeit auch mit ihnen dargelegt. Denn idea = essentia mentis und conatus = essentia mentis widersprechen sich insofern nicht mehr, als es immer noch die Vorstellungen und nur die Vorstellungen bleiben, welche der Seele Wesen constituiren, jetzt mit dem neuen Merkmal des \u00bbSicherhalten-\n1)\tTr. brev. Anbg. TT (6) hei\u00dft es: \u00bb dass die Liebe, die in jeder Sache ist, ihren K\u00f6rper zu erhalten, keinen anderen Ursprung haben kann, als von der Idee oder dem objectiven Wesen, das von einem solchen K\u00f6rper in der denkenden Eigenschaft ist\u00ab.\n2)\tT\u00f6nnies: Studie zuf Entwickelungsgesch. des Spinoza.\n3)\tSiehe oben S. 261.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n287\nwollens\u00ab versehen. Dieses Merkmal ist ihr Wesen, und, da sie das Wesen der Seele sind, der Seele Wesen. Zum Ueber-fluss sei zur Erl\u00e4uterung die eigene Meinung des Spinoza hier\u00fcber angef\u00fchrt, welcher einen Gegensatz zwischen den beiden S\u00e4tzen nicht zu finden vermochte und sie eintr\u00e4chtig und in engste Wechselbeziehung nebeneinander stellte: \u00bbda (wegen Pr. XI, XTTT Theil II) das erste was das Wesen der Seele ausmacht, die Vorstellung eines wirklich existirenden K\u00f6rpers ist, so ist das erste und Wesentliche unserer Seele (wegen Pr. VH, Theil III) das Streben, das Dasein unseres K\u00f6rpers zu bejahen\u00abJ). Es sind hier die Lehrs\u00e4tze, auf die sich Vordersatz und Nachsatz berufen, bei jenem das Dogma von der Vorstellung, bei diesem das von dem Streben als dem Wesen der Seele, und beide stehen hier nicht nur in einem Satze dicht nebeneinander, sondern in dem Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss von Grund und Folge! Es ist kaum m\u00f6glich, klarer und pr\u00e4ciser die Meinung Spinoza\u2019s auf diesem Punkte herauszuarbeiten, als er es selber durch obiges Document gethan hat. So ist es denn auch nicht ang\u00e4ngig, den angeblichen Gegensatz zu den fr\u00fcheren intellectualistischeren Theilen damit zu begr\u00fcnden, \u00bbdort sei das Denken die prim\u00e4re Function des Geistes, hier das Begehren1 2)\u00ab, sondern immer bleibt das Vorstellen der wesentliche und haupts\u00e4chliche Inhalt der Seele, dessen auf sein Wirken hin betrachtetes Wesen das Begehren ist.\nDass die bisher vorgetragene Lehre von dem Willen als Begehren die Bedingungen erf\u00fcllt, welche der zweite Theil mit dem Sturze der Seelenverm\u00f6gen und dem Determinationsbeweise f\u00fcr alle Willensarten gestellt hatte, braucht wohl nicht mehr erw\u00e4hnt zu werden. Beide sind durch die Unzahl der \u00bbBegierden\u00ab und durch die Erfassung dieser als bewusster Ausdruck bestimmender Oausalit\u00e4t gen\u00fcgend verb\u00fcrgt. Noch weniger aber, sollte man meinen, erw\u00fcchse aus der Schlussgleichung der Erkenntnistheorie zwischen Wille und Verstand irgendwelche Schwierigkeit. Denn, da dieselbe nur f\u00fcr den Willen im Urtheil, f\u00fcr Zustimmung und Ablehnung, g\u00fcltig, diese aber von der Begierde als verschieden verk\u00fcndet waren, so sei das reine Aufgehen der \u00bbvolitiones\u00ab in die \u00bbideae\u00ab nicht auch f\u00fcr eine entsprechende Gleichsetzung von Begierden und Vorstellungen, von Begehren und\n1) Ethik III, Pr. X, Dem.\t2) T\u00f6nnies, Studie u. s. w.\n19*","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nRaoul Richter.\nVerstand ma\u00dfgebend. In der That sieht man sich sonst zu behaupten gezwungen: \u00bbDie Schlusss\u00e4tze des zweiten Theiles h\u00e4tten die Bedeutung, allen anderen Inhalt neben den Vorstellungen von der Seele auszuschlie\u00dfen\u00ab. Zu diesem Zwecke allerdings wird die Trennung des Willens in Begehren und Bejahen \u00bbals ein verlorener Zwischensatz, der ganz und gar wie ein eingeschohener aussieht\u00ab *), angesprochen, so dass dann auch die Gleichung von Wille und Verstand sich \u00fcber das ganze Willensgebiet urspr\u00fcnglich habe erstrecken sollen2). Die Willk\u00fcrlichkeit dieser Behauptungen springt in die Augen, wenn man den \u00bbkurzen Tractat\u00ab zu Rathe zieht, der jedenfalls die urspr\u00fcnglichere Ansicht des Spinoza enthalten m\u00fcsste, und dies umsomehr, als gerade die erste Zweitheilung der \u00bbEthik\u00ab als Ausf\u00fchrung der Zweitheilung im \u00bbkurzen Tractat\u00ab von dieser Seite aus hingestellt wird3). Dennoch wird die n\u00e4mliche Trennung von Begehren und Bejahen im Tractat eher entschiedener eingesch\u00e4rft als in der \u00bbEthik\u00ab. Auch auf die rein intellectualistische Erfassung der Affecte im \u00bbTractat\u00ab, die zur Construction einer \u00bb\u00e4lteren Psychologie\u00ab, welche bis zum Schluss des zweiten Theils der \u00bbEthik\u00ab reiche, verwerthet wird, beruft man sich mit Unrecht. Im \u00bbTractat\u00ab sind vielmehr die Grundz\u00fcge der Affectenlehre noch gar nicht rein herausgebildet und voll gereift. Braucht man in ihm auch nicht ein \u00bbunreifes Jugendwerk\u00ab zu sehen, so ist er doch zweifellos die \u00e4lteste Schrift des Philosophen und an vielen Punkten bricht nicht nur der \u00bbunfertige Entwurf\u00ab4), sondern auch ein unfertiges Denken hindurch. Nicht zum mindesten in der Willenslehre. Das Begehren und die Affecte m\u00f6gen ihrem Urspr\u00fcnge nach hier, wenn man will, intellec-tualistischer gefasst sein, als in der \u00bbEthik\u00ab, weil alles Begehren aus yoraufgegangenen Schl\u00fcssen, alle Leidenschaften aus gewissen Er-kenntnissarten entspringen5), der Art und Natur nach scheinen sie\n1) T\u00f6nnies, Studie etc.\t2) T\u00f6nnies, ebenda.\n3)\tK. Tr. H, Cap. XVI, XVII.\n4)\tFreudenthal: Spinozastudien I, S. 241.\n5)\tSo wird die Begierde eigentlich nur durch Synonyma erkl\u00e4rt. Sie sei die Neigung oder das Verlangen, das zu erhalten, was man entbehrt (k. Tr. II, Cap. m (9) ) oder \u00bbdie Neigung der Seele zu etwas, was sie als gut erw\u00e4hlt\u00ab und die Liebe ist \u00bbnichts anderes als eine Sache genie\u00dfen und damit vereinigt werden\u00ab (k. Tr. II, Cap. V (1)). Den intellectualistischen Ursprung zugleich mit dem","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n289\nvoluntaristischer gefasst; denn es wird nirgends der Versuch gemacht,* sie in ihrem Wesen zu den vorstellenden oder seienden Theilen der\nvoluntaristischen \"Wesen zeigt am deutlichsten der Passus II, Cap. 16 (8): \u00bbDie Begierde aber ist eine Gestalt in der Seele, um etwas zu erlangen oder zu thun, mit R\u00fccksicht auf das Gute und Schlechte, was darin gesehen wird: so dass die Begierde selbst nach der Bejahung oder Verneinung, die wir hinsichtlich einer Sache vollzogen haben, noch bleibt; n\u00e4mlich nachdem wir gefunden oder bejaht haben, dass ein Ding gut ist, was nach ihrem Sagen Sache des Willens ist; und die Begierde ist die Neigung, die man erst hernach bekommt, das zu bef\u00f6rdern\u00ab. Die Begierde ist Neigung, die Begierde ist Verlangen \u2014 in solchen Ausdr\u00fccken einer irreduciblen neuen Willens-Gr\u00f6\u00dfe bewegt sich der \u00bbTract.\u00ab; wieviel intelleetualistischer klingt da ihre Erkl\u00e4rung in der \u00bbgen. Aff. Def.\u00ab: die Begierde ist die Richtung der Gedanken! Auch hat T\u00f6n ni es Unrecht, wenn er sich auf die zuf\u00e4llige Aeu\u00dferung im \u00bbTract.\u00ab st\u00fctzt, \u00bbAmor\u00ab und \u00bbCupiditas\u00ab w\u00fcrden daselbst ausdr\u00fccklicher Weise als \u00bbVolitionis Modi\u00ab bezeichnet, und deshalb glaubt, Spinoza habe auch in der \u00bbEthik\u00ab die Begierde urspr\u00fcnglich mit der Bejahung zur \u00bbVoluntas \u00ab gerechnet und beide dem Verst\u00e4nde gleich gesetzt; wir hoben ja schon hervor, dass im \u00bbTract.\u00ab fast noch sch\u00e4rfer der Unterschied zwischen Begehren und Bejahen hervorgekehrt wird, wie in der \u00bbEthik\u00ab (k. Tr. II, Cap. 16, 17), und was die angezogene Stelle betrifft, deren laxe Ausdrucksweise dem ganzen Charakter des Werkes gem\u00e4\u00df nicht Wunder nimmt, so halten wir ihr jene andere entgegen, welche besagt: \u00bballe die Wirkungen dann, wovon wir eben gesprochen haben (n\u00e4mlich von den Leidenschaften), k\u00f6nnen einzig unter der Neigung der Seele, welche man Begierde nennt, und keineswegs (als ganz uneigentlich!) unter der Benennung Wollen begriffen werden\u00ab. Dass \u00fcbrigens dieses eigentliche Wollen, das Bejahen, sowie die gesammte Erkennt-nisstheorie des k. Tract, materialistischer (sensualistischer) gefasst sei, als in der \u00bbEthik\u00ab, ist nicht zu leugnen. Denn die Gegenst\u00e4nde beeindrucken den Verstand, der sich rein leidend verh\u00e4lt, und bejahen (verneinen) in ihm etwas von sich (II, Cap. XVI (5)). Diesen schon von Ch. Sigwart nachdr\u00fccklich hervorgehobenen Unterschied der beiden Schriften hat neuerdings Ereudenthal (Spinozastudien I, S. 249), aber, wie uns scheint, vergeblich, hinwegzuleugnen versucht. Uebrigens darf man mit der materialistischen Tendenz die intellectualistische sich nicht unbedingt verschwistem lassen, wie T\u00f6nnies und H\u00f6ffding thun. Denn wie sich Begehren und Affecte zu ihren physischen Bedingungen verhalten, kl\u00e4rt der k. Tract., auch hierin gegen die \u00bbEthik\u00ab unreif, nicht auf. In der \u00bbEthik\u00ab selbst ist ja durch den aufgestellten Parallelismus die Sache im Princip wenigstens ins Reine gebracht. Nur walten materialistische wie spiritualistische Betrachtungen in den einzelnen Theilen vor. So der Materialismus in Theil II, wenn es hei\u00dft: ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio causarum (II, Pr. IX, Dem., Pr. XIX, Dem.,' Pr. XX, Dem.; De Inteil. Em. Tr. S. 10, Anm. 1); dagegen die Umkehrung in der Anwendung von II, Pr. VII, sodass von dem seelischen auf das k\u00f6rperliche Verhalten geschlossen wird: UI, Pr. II, Sch., Pr. XU, Dem., Pr. XXVIII, Dem. Die ausdr\u00fcckliche Doppelfassung von U, Pr. VU mit dem \u00bbvice versa\u00ab findet sich V, Pr. I, Dem. Innerhalb der Affecten-lehre \u00fcberwiegt wieder in der Lehre von den \u00bbpassiones\u00ab die materialisirende, in","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nRaoul Richter.\nSeele in Beziehung zu setzen; sie bleiben unerkl\u00e4rte, ganz neue Be-wusstseinsmodi.\nEs bleibt noch die Frage zur\u00fcck: Wenn die Voluntas sich zwar in Urtheilen und Begehren spaltet, beide aber doch mit demselben Namen zusammengefasst werden, in welchem Verh\u00e4ltniss stehen sie zu einander? Bekanntlich hat Spinoza dieses Bedenken unbeantwortet gelassen, \u00bbwas um so auffallender ist, da das fr\u00fcher behauptete l) Verh\u00e4ltniss des Willens zur Begierde von seihst diese Frage nahe legen musste\u00ab2). Oh. Sigwart, welcher diese L\u00fccke auf solche Weise hervorhebt, hat sie auch durch die Bemerkung auszuf\u00fcllen gesucht, dass die einzelnen Urtheile nur Ausdruck des \u00bbconatus suum esse conservandi\u00ab seien. Diese Bemerkung, welche zweifellos in einer Hinsicht das nichtige trifft, ist nur noch durch eine andere zu erg\u00e4nzen: dass der \u00bbconatus suum esse conservandi\u00ab hei Spinoza selbst gelegentlich als ein Urtheil, als eine Zustimmung zum eigenen Wesen erscheint, was nicht nur aus der allgemeinen Tendenz Spinoza\u2019s, jedes Verh\u00e4ltniss in ein logisches umzuwandeln, sondern durch bestimmte Ausspr\u00fcche nahe gelegt wird. So Ethik HI, Pr. LIV Dem.: \u00bbDas Streben oder die Macht der Seele ist das Wesen der Seele selbst: der Seele Wesen (wie von selbst erhellt) aber bejaht (affirm\u00e2t) nur das was die Seele ist und kann\u00ab. Danach w\u00e4re, wie der Wille im Urtheil eine Bejahung der Eigenschaften der Vorstellungen, so der Wille als Selbsterhaltungsstreben eine Art Bejahung der eigenen Existenz derselben; genau im gleichen Sinne sprechen wir ja noch heute von Lebensbejahung und -Verneinung. Andererseits w\u00e4re das Selbsterhaltungsstreben der Seele (die Begierde) ganz allgemein das Streben, sein ganzes Selbst, die Zustimmung in den Urtheilen nur ein Theilst\u00fcck davon, das Streben, die Pr\u00e4dicate ihrer Vorstellungen zu erhalten (nach Sigwart). Aber beidemal sind diese Beziehungen nur als Uebertragungen zu verstehen, die ein v\u00f6lliges Auseinanderklaffen3), ebenso wie ein v\u00f6lliges sich Decken von \u00bbaffirmatio\u00ab und \u00bbcupiditas\u00ab ausschlie\u00dfen. Die Begierde ist als\nder von den \u00bbactiones\u00ab die spiritualisirende Tendenz (Salinger, Spinoza\u2019s Lehre von der Selbsterhaltung, S. 73).\n1) N\u00e4mlich im k. Tract.\n3) Siehe oben S. 122.\n2) K Tr. Erltrg. S. 208.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n291\nbewusste Tendenz eben noch etwas anderes wie die theoretische Bejahung, und diese als Ausdruck der Selbsterhaltung wieder von jener, geschieden, da sie eben nur ihr thats\u00e4chlicher, nicht der bewusst auf sie bezogene Ausdruck ist: Es ist also der Selbsterhaltungstrieb, logisch ausgedr\u00fcckt, Bejahung und die Bejahung biologisch Selbsterhaltungstrieb, psychologisch aber bleiben beide etwas Besonderes und Getrenntes.\nSo hat alles in allem die fortschreitende Intellectualisirung auch den neuen Willensbegriff, das Streben und Begehren in der Seele, in ihr Bereich gezogen, indem das Begehren als ein Act der Vorstellungen, Subject und Object des Begehrens aber seihst nur als Vorstellungen, wenn auch, wie wir gleich sehen werden, als lust- oder unlustvolle, erkl\u00e4rt werden. Die K\u00fchnheit und Folgerichtigkeit dieses rein intellectualistischen Vorgehens ist ebenso gro\u00df, wie die Gewissheit von der Unm\u00f6glichkeit seines Gelingens. Denn es ist nun und nimmermehr einzusehen, wie die Bestimmung eines Dinges, zu wirken, in seinem Bewusstsein sich als Streben spiegeln soll. Man mag ja ruhig in Form eines Vergleichs diese Bestimmung: Macht, Verm\u00f6gen, ja Streben nennen, aber thats\u00e4chlich kommt doch dadurch kein neues, spontaneres Element in die Dinge hinein. Als es des Spinoza Meinung zu erl\u00e4utern, nicht zu kritisiren galt, hatten wir der Anschaulichkeit halber von den Spannungszust\u00e4nden eines wirkensollenden Dinges geredet1); hier aber ist der Ort, das Uneigentliche und die vergleichende Natur eines solchen Ausdrucks hervorzuhehen; vollends nun aber das Bewusstsein dieses Strebens, der Wille oder das Begehren, ist aus dieser reinen, in den Dingen \u00bbschlummernden\u00ab Oausalit\u00e4t nicht zu erschlie\u00dfen. Es wird versucht, wie bei Spinoza, alles Bewusstsein im Menschen durch die Bewusstheit von k\u00f6rperlichen Affectionen zu erhalten2), aber wie eine k\u00f6rperliche Disposition die n\u00e4chste Wirkung als Tendenz leiblich enthalten soll, ist nicht einzusehen und darum ebensowenig wie diese in\u2019s Bewusstsein soll fallen k\u00f6nnen. Vollends aber das Widerstreben bleibt dabei v\u00f6llig unverst\u00e4ndlich und unerkl\u00e4rt. Es will dem Spinoza hier immer nur\n1)\tSiehe oben S. 278.\n2)\tEthik in, Pr. IX, Dem. : Cum autem mens per ideas affectionum corporis neeessario sui sit conscia, est ergo mens sui conatus conscia.","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nRaoul Richter.\ngelingen, das psychologische Moment (das Begehren) als Seitenst\u00fcck des Metaphysischen (des pr\u00e4destinirten Wirkens) zu beleuchten, aber nicht es in ihm aufgehen zu lassen. Damit aber ist, wenn man die Folgen zieht, der Wille\" durch die Verallgemeinerung einer metaphysischen Hypothese, welche seine Ausrottung bezweckte, etwa im Sinne Schopenhauer\u2019s \u00fcber alles ausgedehnt, Ur- und Grundprincip der Welt und also auch der Seele geworden. Nur ist dieser als Folgerung eines Gedankens des Systems sich ergebende Voluntarismus durchaus nicht in die Sehweite des Autors zu legen1). luv Gegentheil; es kehrt hier einmal die sonderbare, aber in der Geschichte der Philosophie nicht seltene Erscheinung wieder, dass die st\u00e4rksten, auf einen Eili^kt gerichteten Bem\u00fchungen hin\u00fcberweisen zu ihrem Gegenpol, und von den Nachfolgern in diesem Sinne weitergef\u00fchrt werden2). Spinoza wollte den \u00bbWillen\u00ab mit der Wurzel ausrotten, und darum setzte er ihn seinem logisch-causalen, mathematisch-realen \u00bbWesen\u00ab der Dinge gleich. Aber er ahnte nicht, dass jenseits des Rahmens des Systems die in-tellectualistische Ansicht voluntaristische Folgen haben k\u00f6nne \u2014 so sehr, dass manchem die unbewussten Folgen als bewusste Zwecke erschienen3).\nHL Aber noch mehr von einer anderen Seite scheitert dieser Intellectualismus an der Erfahrung, d. h. es zeigt der Wille als Begehren seine Beziehungslosigkeit zu den Vorstellungen und zwar innerhalb des Systems selbst. War es Spinoza schon nicht gelungen, in dem Begehren bestimmter Vorstellungen die Natur dieses Begehrens als eine Eigenschaft des Vorstellens auf gehen zu lassen, so fehlt nun jede Parallele zu den anderen Bewusstseinszust\u00e4nden, wo es sich um die gemischte psychophysische Seite des Willens handelt. Urspr\u00fcnglich war ja das Streben (conatus) in K\u00f6rper und Seele zugleich, und nur als seelisches betrachtet, hatte es Spinoza Willen (voluntas), als seelisch-k\u00f6rperliches : Verlangen (appetitus)\n1)\tSiehe oben S. 278 f.\n2)\tMan denke nur an Kant\u2019s Streben, der Au\u00dfenwelt durch den transcen-dentalen Idealismus Objectivit\u00e4t zu sichern, und an die Verfl\u00fcchtigung der letzteren in den Systemen seiner \u00bbSch\u00fcler\u00ab.\n3)\tT\u00f6nnies, a. a. 0., H\u00f6ffding, a. a. 0. sind beide diesem Irrthum verfallen.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n293\ngenannt. Zum ersten Male wird von dieser Doppelseite des Willens, welche schon die besprochenen Definitionen im Schol. des IX. Lehrsatzes hervorgekehrt hatten, Gebrauch gemacht im .3. Coroll. des XXVn. Lehrsatzes (Theil DI); dort n\u00e4mlich hei\u00dft es: \u00bbDen Gegenstand, der unser Mitleid erregt, werden wir nach Kr\u00e4ften von seinem Elend zu befreien suchen\u00ab. Mit diesem Entschluss des Willens zur That tritt nun aber etwas ganz Neues zum Willen hinzu. Der Beweis sucht dies zwar zu verbergen, indem er die Identit\u00e4t als H\u00fclfs-princip herbeiholt und sich auf die Erkl\u00e4rung des Verlangens als etwas Psycho-physischen beruft. Zun\u00e4chst folgert er ganz im bisherigen Sinne: \u00bbdass wir uns dessen, was das Dasein eines Gegenstandes auf hebt oder den Gegenstand zerst\u00f6rt, zu erinnern streben werden\u00ab, dies aber wandelt er unter Hinweis auf Pr. IX. Sch., also auf die Nominaldefinition vom psycho-physischen \u00bbappetitus\u00ab durch ein \u00bbd. h.\u00ab um in: \u00bbwir werden es zu zerst\u00f6ren verlangen oder werden zu seiner Zerst\u00f6rung bestimmt sein\u00ab. Bei dieser scheinbaren Gleichsetzung von \u00bb voluntas\u00ab und \u00bbappetitus\u00ab entgeht aber doch keinem aufmerksamen Leser das neugewonnene Ergebniss. Denn es bleibt ja nicht bei der blo\u00dfen Parallelit\u00e4t von Geistigem und K\u00f6rperlichem, so dass nur dem Wollen in der Seele auch ein leibliches (allerdings unfassliches) Wollen entspr\u00e4che, sondern der Doppelwille ist zu einer Einheit geworden, welche allererst die That m\u00f6glich macht. Auch bei allen fr\u00fcheren S\u00e4tzen, die nur von dem Begehren f\u00f6rdernder oder hemmender Vorstellungen handelten, mussten ja die k\u00f6rperlichen Begierden den seelischen zur Seite gegangen sein. Warum wurde dies niemals erw\u00e4hnt bei den Pr. xn, xm, XXV, XXVI? Warum dann die vollst\u00e4ndige Wiederholung identischer und noch dazu wichtigster S\u00e4tze ? Denn wenn wirklich die Gleichung des Beweises g\u00fcltig ist, und es sich also um keinen, specifisch neuen Begriff in der Willenslehre handelt, so ist z. B. Pr. XD mit Pr. XXVHI (erste H\u00e4lfte) und Pr. XHI mit Pr. XXVHI (zweite H\u00e4lfte) v\u00f6llig gleichbedeutend. Dass dies aber nur eine missbrauchte Identit\u00e4t ist, und dass es sich hier vielmehr nm das ganz neue Problem des Handelns oder der That dreht, zeigt gleich der Anfang des dem erw\u00e4hnten Coroll. angeh\u00e4ngten Schol.: \u00bbHaec voluntas sive1) appetitus benefaciendi\u00ab.\n1) Siehe oben S. 275, Anmerkg. 1.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nRaoul Richter.\nNoch deutlicher und unverholener aber tritt diese thg\u00fcge oder handelnde Seite des Willens oder die unmittelbare Verbindung von k\u00f6rperlich-geistigem Wollen in der nun folgenden, entscheidenden Prop, hervor: \u00bbAlles was nach unserer Vorstellung zur Lust f\u00fchrt, dessen Verwirklichung streben wir zu f\u00f6rdern, was sich aber nach unserer Vorstellung diesem widersetzt oder zur Unlust f\u00fchrt, streben wir zu entfernen oder zu zerst\u00f6ren\u00ab. Dies \u00bbpromovere ut fiat\u00ab wie das \u00bbdestruere\u00ab und \u00bbamovere\u00ab lassen keinen Zweifel dar\u00fcber, dass dieser doppelseitige \u00bbconatus\u00ab eben nichts anderes ist, als der Wille, dessen Product die Verwirklichung des Entschlusses oder die That ist. So bricht hier der gew\u00f6hnliche Sinn des \u00bbHandelns\u00ab sich Bahn und f\u00fcr ihn, der in der Erfahrung wurzelt, reicht ein Wille, der nur an der Erkenntniss klebt, als Erkl\u00e4rung nicht aus. Sehr bezeichnend f\u00fcr diese Unzul\u00e4nglichkeit ist nun der Beweis f\u00fcr die Nothwendigkeit eines solchen Handelns: \u00bbWas nach unserer Vorstellung zur Lust f\u00fchrt, streben wir nach Kr\u00e4ften vorzustellen, d. h. wir werden nach M\u00f6glichkeit danach trachten, es als gegenw\u00e4rtig oder wirklich daseiend anzusehen; aber das Streben der Seele oder das Verm\u00f6gen im Bewusstsein ist von Natur gleich und zugleich mit dem Streben des K\u00f6rpers oder dem Verm\u00f6gen zu wirken. Wir erstreben daher absolut sein Dasein, d. h. wir verlangen und bezwecken es (ergo ut id exist\u00e2t, absolute conamur sive appetimus et inten-dimus)\u00ab Der Beweisgang f\u00fcr die Zerst\u00f6rung des Gegenstandes ist nat\u00fcrlich der entsprechende.\nDurch diese Demonstratio kl\u00e4rt sich manches in der Willenslehre Spinoza\u2019s. Zun\u00e4chst verstehen wir erst jetzt v\u00f6llig die Trennung der Willensvorg\u00e4nge in seelische und seelisch-k\u00f6rperliche; die scheinbar gleichen Bezeichnungen wie \u00bb voluntas\u00ab und \u00bbappetitus\u00ab, noch dazu terminologisch im Verlauf nie streng gesondert, offenbaren erst hier ihren wahren Unterschied. Um das thatkr\u00e4ftige Handeln im Menschen zu erkl\u00e4ren, brauchte es mehr wie des seelischen und k\u00f6rperlichen Strebens, es bedurfte eines beide umfassenden Begriffs, der eben zur Scheidung des \u00bbappetitus\u00ab von der \u00bbvoluntas\u00ab f\u00fchrte. Diese Zusammenfassung des Doppelstrebens in ein \u00bbabsolute conari\u00ab findet sein Motiv in der weit augenf\u00e4lligeren Verbindung von Leib und\n1) Ethik ZU, Pr. XXVIII, Dem.","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n295\ngeele in den Willenshandlungen wie in den Vorstellungen. Und dieser engen Abh\u00e4ngigkeit von Seele und Leib, die im Handeln besteht, d. h. auf der h\u00f6chsten Stufe des Wollens (wenn es nicht blo\u00df Trieb oder \"Wunsch bleiben soll) gen\u00fcgt die Parallelit\u00e4tserkl\u00e4rung nicht mehr. Spinoza hat das dunkel gef\u00fchlt, und wenn er auch principiell eine Wechselwirkung von Geist und K\u00f6rper deutlich genug selbst in diesem Theile ablehnt, so spricht sich doch in dem Aufgehen einer getrennten Behandlungsweise beider, wie in der Formulirung eines beide umfassenden Begriffs innerhalb des Individuums und nicht im metaphysischen Reiche, die Ahnung aus von der Unzul\u00e4nglichkeit der Parallelit\u00e4tshypothese an dieser Stelle, sowie von der Andersartigkeit jedes Willensvorgangs von den Erkenntnissarten. Denn es ist streng zu beachten, dass der leibliche und seelische \u00bbconatus\u00ab nicht im Metaphysisch-Au\u00dferzeithehen, sondern im Endlich-Zeitlichen, ja im n\u00e4mlichen Gegenst\u00e4nde in eins verflie\u00dfen. Wo aber w\u00e4re bei den Vorstellungen und ihren Objecten dies der Fall?') F\u00fcr diese gibt es innerhalb der Welt der Modi niemals einen Oberbegriff, f\u00fcr sie gibt es nur eine Vereinigung in der Substanz. Ein \u00bbabsolute imaginari\u00ab oder ein \u00bbabsolute movere\u00ab kann es nach Spinoza niemals geben. Der neugewonnene Begriff nun des \u00bbabsolute conari\u00ab erstreckt sich \u00fcber eine Reihe von Lehrs\u00e4tzen, welche in jene andere Reihe rein psychischen Begehrens im HL Theile folgenderma\u00dfen sich eingliedert: Vom rein psychischen Streben, dem \u00bbconatus mentis\u00ab oder der \u00bb voluntas\u00ab handeln: Pr. XTT, XIH, XXV, XXVI und Gen. aff. def. (Schluss); vom seelisch-k\u00f6rperlichen, dem \u00bbabsolute conari\u00ab oder dem \u00bbappetitus\u00ab handeln: Pr. XXVH, Coroll. UE, Pr. XXVIII, Pr. XXIX, XXXI Coroll., XXXII, XXXIH, XXXVI, XXXIX, XL Coroll. n, XLI Schol. Affect. Def. I (zum Theil).\nWurde so der Wille rein seelisch und seelisch-k\u00f6rperlich, dem Gange des Systems folgend, betrachtet, so vereinigen sich beide Seiten gemeinsam mit jener dritten, nirgends ausgef\u00fchrten, rein leiblichen in der Definition der Begierde als erster unter den Aff. Def.: \u00bbDie\n1) Die von Erdmann aufgebrachte Sufej\u00ebfitiviroig der Attribute als einer Art Kategorien wird wohl von Niemandem mehr aufrecht erhalten und kann als \u00fcberwunden gelten; h\u00f6chstens darf man zugestehen, dass Spinoza selbst im Ausdruck manchmal zu einer solchen Auffassung Anlass gegeben hat.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nRaoul Richter.\nBegierde ist das \"Wesen des Menschen selbst, insofern es durch irgend eine gegebene Erregung als bestimmt gedacht wird, etwas zu wirken\u00ab. Und die Explicatio will unter dieser Begierde \u00bballes Streben der menschlichen Natur\u00ab, das wir mit \u00bbVerlangen, Wille, Begierde oder Impuls bezeichnen\u00ab, zusammenfassen; zugleich soll es gleichg\u00fcltig sein, oh diese Erregung dabei nur \u00bbdurch das Attribut Bewusstsein oder Ausdehnung vorgestellt oder schlie\u00dflich auf beide bezogen wird\u00ab. An dieser Definition, die alle uns schon bekannten Willenselemente vereinigt, ist zweierlei von Interesse: einmal dass das, zwar unter sie fallende, rein leibliche Begehren nirgends eine Ausf\u00fchrung erfahren hat, zweitens, dass diese Definition, die alle \u00bbBestrebungen\u00ab, wie sie seihst angek\u00fcndigt, befasst, nicht die letzte bleibt, sondern von jener \u00bballgemeinen Definition der Affecte\u00ab am Schluss des HL Theils abgel\u00f6st wird, die wir schon kennen, und welche wieder die rein psychische Seite heraussch\u00e4lend, bedeutsam auf den eigentlich ethischen Willen hin\u00fcberweist. Dieser Umstand gemeinsam mit der einleitenden Erkl\u00e4rung des \u00bbHandelnden\u00ab als Totalursache, der Affecte als Vorstellungen, deren Beziehungen zwischen \u00bbagere\u00ab und \u00bbintelligere\u00ab, \u00bbpati\u00ab und \u00bbimaginari\u00ab, zeigen auch das \u00bbrealistischere\u00ab Mittelst\u00fcck des Ul. Theils, das zwar im Princip den Willen seiner selbst\u00e4ndigen Eigenartigkeit beraubte, in der Durchf\u00fchrung aber doch an dem Widerstande der Erfahrung manches Mal scheitern musste, umrahmt von so rein intellectualistischen Anschauungen und Begriffen, dass wohl \u00fcber die eigentliche Absicht des Philosophen auch an dieser Stelle kein Zweifel mehr bleiben kann.\nIV. Eine vollst\u00e4ndige Uebersicht \u00fcber die Spinozische Willenslehre aber erh\u00e4lt man erst, wenn man die Gef\u00fchle mit in die Betrachtung zieht. Denn sie sind so eng mit Trieb und Begehren verbunden, dass nur eine wechselseitige Abh\u00e4ngigkeit als richtiger Ausdruck f\u00fcr dies Verh\u00e4ltniss erscheint.\nHaupts\u00e4chlich sind es die den HX Theil einschlie\u00dfenden Definitionen der Gef\u00fchle und das erste Postulat, welche den vollen Aufschluss \u00fcber die allgemeine Natur und Stellung der Gef\u00fchle im Seelenleben, damit also \u00fcber ihr Verh\u00e4ltniss zu den Vorstellungen ertheilen, w\u00e4hrend in den beiden mittleren Erkl\u00e4rungen ihre Besonderheit, d. h. ihr Verh\u00e4ltniss zum Willen, sich niedergelegt","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n297\nfindet. \u00bbUnter Affect1) verstehe ich die k\u00f6rperlichen Affectionen, durch welche die Wirkungskraft des K\u00f6rpers vermehrt oder vermindert, gef\u00f6rdert oder gehemmt wird, und zugleich die Vorstellungen dieser Affectionen (et simul harum affectionum ideas) \u00ab \u2014 so lautet die erste Definition, und die erg\u00e4nzende nur auf die seelischen Leidenschaften bezogene Schlusserkl\u00e4rung des Gef\u00fchls besagt: \u00bbDer Affect ist eine verworrene Vorstellung (confusa idea), durch welche die Seele eine gr\u00f6\u00dfere oder geringere Daseinskraft ihres Leibes oder eines seiner Theile wie vorher bejaht.;...\u00ab Das anzuziehende Postulat endlich erkl\u00e4rt: \u00bbDer menschliche Leib kann auf viele Weisen erregt werden, durch welche seine Wirkungsmacht gesteigert oder gemindert wird und wieder auch auf andere, welche seine Wirkungskraft weder vergr\u00f6\u00dfern noch verringern\u00ab. Das erste, was uns an den Definitionen in die Augen springt, ist: dass die intellectualistischen Forderungen der fr\u00fcheren Theile nicht so sehr eingel\u00f6st, wie \u00fcberhoten scheinen. Das Gef\u00fchl ist Vorstellung \u2014 das hatte das Axiom von der Priorit\u00e4t der Vorstellung nirgends verlangt; indem es die Ueber-ordnung dieser \u00fcber die anderen Bewusstseinsarten erkl\u00e4rte, verk\u00fcndete es ja eben dadurch gerade eine Verschiedenheit2). Und hier sollen objectives und emotionales Bewusstsein in eins zusammenfallen? Der Zwiespalt hegt nur an der Oberfl\u00e4che und es ist die Formel affectus = idea von mancher Seite \u00fcber Geb\u00fchr ausgenutzt worden. Denn hei eingehender Analyse der Definition zeigt sich hier aufs deutlichste, dass das Ganze f\u00fcr den Theil, die Vorstellung f\u00fcr ein zwar nur an und mit ihr vorkommendes, aber in seiner Natur anderst artiges Seelenelement gesetzt ward. Denn die Definitionen sprechen immer von Vorstellungen und K\u00f6rpererregungen, die eine Steigerung oder Minderung der Lebenskraft zum Ausdruck bringen. Nun stellt aber jede Vorstellung etwas vor, und gerade nach Spinoza\u2019s Er-\n1)\tSpinoza begreift mit dem Wort \u00bbaffectus\u00ab Gef\u00fchle und Leidenschaften gemeinsam. Daher wird die Uebersetzung sich nach dem jeweiligen Zusammenhang, in dem sie den Ausdruck antrifft, zu richten haben. \u00bbAffectus\u00ab andauernd mit \u00bbStimmung\u00ab wiederzugeben, wie Camerer thut, scheint nicht r\u00e4thlich. Spinoza\u2019s Trennung in \u00bbpassiones\u00ab und \u00bbactiones\u00ab ist im Deutschen nur ebenso k\u00fcnstlich zu bewerkstelligen wie im Lateinischen. Das Wort \u00bbLeidenschaften\u00ab, eigentlich nur der ad\u00e4quate Ausdruck f\u00fcr die \u00bbpassiones\u00ab, umfasst ja beide Gruppen.\n2)\tSiehe oben S. 148.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nRaoul Richter.\nkenntnisslehre enth\u00e4lt sie die Natur des \u00e4u\u00dferen Erregers neben der Reactionsweise des vorstellenden Individuums, also stets ein gegenst\u00e4ndliches Moment; dies wird ganz hei Seite gelassen und nur auf den jede Vorstellung begleitenden eigenen Leibes- oder Seelenzustand reflectirt. Damit aber h\u00f6rt die Vorstellung auf, eigentliche Vorstellung im theoretisch-ohjectiven Sinne zu sein1); ist nun die Empfindung dieses rein subjectiven Zustandes Gef\u00fchl und Leidenschaft, so kann das Wort \u00bbidea\u00ab hier eben nur ganz uneigentlich stehen und seine Berechtigung nur dem Umstand entnehmen, dass nach Spinoza jeder subjective Zustand an ein objectives Erkennen, jedes Gef\u00fchl an eine Vorstellung gebunden, und also im Ausdruck diese f\u00fcr jene getreten ist. Dem entspricht auch die weitere Bearbeitung der Gef\u00fchlslehre. Schon dass es nur zwei Grundgef\u00fchle \u00bbLust und Unlust\u00ab gibt, aus deren Modificationen \u2014 je nach den verschiedenen Vorstellungen, an denen sie haften \u2014 und durch deren Combination mit der Begierde das ganze Reich der Leidenschaften sich aufbaut, beweist ihre Andersartigkeit von den Vorstellungen als solchen, welche wesentlich durch die Verschiedenheit der Objecte bestimmt werden sollen. Aber m\u00f6glich wird die Fassung des Gef\u00fchls als \u00bbidea\u00ab wiederum nur dadurch, dass es, genau wie der Wille, nur an und mit den Vorstellungen auf tritt; darauf weist ja schon der Ausdruck \u00bbaffectus\u00ab, der sogar \u00f6fters mit \u00bbaffectio\u00ab durcheinander gebraucht2), jedenfalls an den entscheidendsten Stellen (so gleich in der ersten der besprochenen Definitionen) durch ihn erkl\u00e4rt wird; jeder k\u00f6rperlichen Erregung entspricht aber, wie wir wissen, eine Vorstellung und zwar in dem ganz reinen Sinne einer theoretisch-objectiven Erkenntniss3); somit hat, was das Gef\u00fchl zum Ausdruck bringt, immer nur an dieser Erkenntniss statt, tritt zugleich mit ihr auf und verschwindet mit ihr.\nDie Priorit\u00e4t der Vorstellung bleibt gleichfalls in vollem Einklang mit den fr\u00fcheren Lehren gewahrt; denn das Postulat hatte ausgesagt, dass nur gewisse Affectionen, also auch nur deren Vor-\n1)\tCamerer, a. a. O. S. 147.\n2)\tZ. B. Ethik IH, Pr. XY, Dem.: \u00bbponatur mens duobus affectibus simul affici, uno sc\u00fcicet, qui eius agendi potentiam neque \u00e4uget neque minuit etc.\u00ab; es steht also augenscheinlich \u00bbaffectus\u00ab f\u00fcr \u00bbaffectio\u00ab, da ein Affect, der die Daseinskraft weder mindert noch mehrt, nach Spinoza undenkbar ist.\n3)\tSiehe oben S. 252.","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n299\nStellungen eine Kraftsteigerung resp. -minderung hervorzubringen verm\u00f6chten, und also es wohl Vorstellungen ohne Gef\u00fchl, nie aber Gef\u00fchl ohne Vorstellung geben k\u00f6nne. Dieser Satz ist nichts weiter, wie das begr\u00fcndende Fundament jenes 3. Axioms Theil II, das die Herrschaft der Vorstellung \u00fcber alle \u00fcbrigen Bewusstseinsarten als unmittelbar einleuchtende Wahrheit \u2014 eben als Axiom \u2014 ausgesprochen hatte. Daher nennt es Spinoza auch \u00bbhoc postulatum seu axioma\u00ab und er sieht seine Begr\u00fcndung in denjenigen S\u00e4tzen der K\u00f6rperlehre, welche von dem Beibehalten der individuellen Gestalt bei gewissen Erregungen gehandelt hatten: es ver\u00e4ndert sich n\u00e4mlich die Gestalt eines Individuums nicht, wenn die Proportion von Buhe und Bewegung und die Anzahl seiner Elemente die gleiche bleiben; da dies aber hei manchen Affectionen der Fall ist (so etwa m\u00fcssen wir weiter schlie\u00dfen, um zu der Priorit\u00e4t der Vorstellung zu gelangen), die Daseinskraft hei gleichbleibender Gesammtgestalt die gleiche sein muss, Gef\u00fchl und Leidenschaft wiederum nur Aenderungen dieser Daseinskraft angehen, so sind Affectionen ohne Gef\u00fchl und darum auch Vorstellungen ohne Gef\u00fchl nicht nur m\u00f6glich, sondern noth-wendig. Darauf weist auch die vergleichende Natur der Gef\u00fchle: \u00bbder Affect bejaht eine gr\u00f6\u00dfere oder geringere Daseinskraft wie vorher (gener. aff. def.)\u00ab ; dies wird in der Expl. dahin erkl\u00e4rt, dass es sich nicht um eine reflectirende Vergleichung, sondern lediglich um den subjectiven, im Affect niedergelegten wirklichen Zuwachs (Abnahme) an \u00bbRealit\u00e4t\u00ab dabei handelt: \u00bbaber es ist zu beachten, dass, wenn ich sage gr\u00f6\u00dfere oder geringere Daseinskraft wie vorher, ich darunter nicht verstehe, die Seele vergleiche die gegenw\u00e4rtige Leihesconstitution mit der vorigen, sondern dass die Vorstellung, welche die Form des Affects ausmacht, etwas vom K\u00f6rper bejaht, was mehr oder weniger Realit\u00e4t wie vorher enth\u00e4lt\u00ab. Ist dem so, dann kann auch niemals das Gef\u00fchl den ersten Seelenaugenblick ausmachen, denn nur durch Vergleichung mit vorangegangenen Momenten wird es erst erm\u00f6glicht, und die Vorstellung ist wirklich \u00bbdas erste, was das Sein der menschlichen Seele ausmacht\u00ab. \u2014 So findet sich auch die Lehre von der Herrschaft der Vorstellung \u00fcber das Gef\u00fchl gemeinsam mit jener anderen von ihrer Unterschiedlichkeit trotz des missverst\u00e4ndlichen Ausdrucks affectus = idea so sehr im Einklang mit dem, was dar\u00fcber","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nRaoul Richter.\nbehauptet wurde, dass dies sogar ein gut Theil seiner Begr\u00fcndung erst durch die Analyse der Affecte erf\u00e4hrt.\nWeit deutlicher noch, als aus den Definitionen und Postulaten, ist aus der Bearbeitung der Gef\u00fchle und ihrer Gesetze im einzelnen die enge Gebundenheit an die Vorstellung zugleich mit den unterscheidenden Merkmalen herauszulesen. In erster Linie ist es das Associationsgesetz der Gef\u00fchle, welches hier in Betracht kommt. Es besagt: \u00bbWenn die Seele einmal von zwei Gef\u00fchlen erregt war, so wird sie bei einer sp\u00e4teren Erregung durch eins von beiden auch von dem anderen wieder erregt werden\u00ab *). Bewiesen aber wird das Gesetz lediglich mit der Association und Reproduction der Vorstellungen, wie sie der erkenntnisstheoretische (II.) Theil vorgetragen hatte, angewandt auf das f\u00fcr das erkennende, gegenst\u00e4ndliche Wesen oder die eigentliche Vorstellung unwesentliche Moment der eigenen Kraftdisposition: \u00bbWenn der menschliche Leib von zwei K\u00f6rpern einmal zugleich erregt war, wird die Seele, wenn sie sp\u00e4ter einmal einen der beiden sich vorstellt, sogleich sich auch an den anderen erinnern; aber die Vorstellungen der Seele zeigen mehr die Erregungen unseres Leibes als die Natur \u00e4u\u00dferer K\u00f6rper an, also \u2014\u00ab. Wenn man den Gang dieses Beweises neben jenen anderen \u00fcber die Association der Vorstellungen stellt2), welcher gerade auf das Bild \u00e4u\u00dferer K\u00f6rper abzielt, so hat man den tiefsten Grund erschaut, warum Spinoza die Gef\u00fchle Vorstellungen nennen und doch ihre Andersartigkeit behaupten konnte. Sie sind ihm gewisserma\u00dfen die subjective Innenseite an den Vorstellungen, deren objective Au\u00dfenseite eben der erkennende Theil ist. Einzig und allein auf letzteren aber passt das Wort Vorstellung; der Missbrauch, es auch auf die f\u00fchlende Seele auszudehnen, erkl\u00e4rt sich aus der Einheit des gleichsam nur von zwei Seiten betrachteten Bewusstseinsvorgangs. Dieses Associationsgesetz der Gef\u00fchle, welches den Einblick in die eigentliche Denkweise Spinoza\u2019s auf dem fraglichen Punkte gestattet, eignet sich um so mehr zur Erl\u00e4uterung, als es keinen hingeworfenen Gedanken, sondern ein wesentliches Princip in seiner Affectenlehre bildet. Von ihm leiten sich ab: Pr. XV Corollar und Pr. XVI (Theil HI), welche die sonderbaren Erscheinungen der Sympathie und\n1) Ethik III, Pr. XIV.\n2) Ethik II, Pr. XVIII Dem.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n301\nAntipathie sehr scharfsinnig, aber wohl nur mit dem Opfer des gew\u00f6hnlichen, hier einmal tieferen Wortsinns, auf associirte Gef\u00fchle zur\u00fcckzuf\u00fchren suchen, ferner Pr. XVII mit Schol., welche die so wichtigen \u00bbfluctuationes animi\u00ab behandeln, die Pr. XXXVI mit Co-rollar und Schob mit der Erkl\u00e4rung der Sehnsucht, dann die bedeutsame Pr. XLVI mit der Psychologie des Classen- und Nationalit\u00e4tshasses, die Pr. L, welche die Bedeutung des Aberglaubens an \u00bbomina\u00ab, endlich Pr. LH, deren Scholien die Bewunderung und Verachtung associativ zu erkl\u00e4ren unternehmen. Wenn wir oben Spinoza die subjective Seite an den Vorstellungen als die Gef\u00fchle erkl\u00e4ren lie\u00dfen, und uns dabei durch ein \u00bbgleichsam\u00ab und \u00bbgewisserma\u00dfen\u00ab deckten, so geschah es, um dem Einwand zu begegnen, als w\u00fcrde die ganze in dem vorstellenden Individuum statthabende Erregung, soweit sie dessen Zust\u00e4nde spiegelt, in das Gef\u00fchl aufgel\u00f6st; das aber ist nicht der Pall: nur die durch sie bewirkte Modification der Lebenskraft f\u00e4llt als Gef\u00fchl ins Bewusstsein ; soweit die leibliche Erregung kein solches foment aufweist, geht sie in die Vorstellung und zwar als tr\u00fcbendes Element, als Hemmungsursache f\u00fcr eine reine, ad\u00e4quate Auffassung der Au\u00dfenwelt mit ein.\nVWDies f\u00fchrt nun unmittelbar zur Pr\u00e4ge nach der besonderen Natur der Gef\u00fchle, welche mit jener anderen: nach ihrem Verh\u00e4ltnis\u00bb zum Willen in eine zusammenf\u00e4llt.\nWeit enger n\u00e4mlich, wie an die Vorstellung, ist das Gef\u00fchl an den Willen in der Porm der Selbsterhaltung, des Strebens oder der Begierde gebunden. An die Stelle der einseitigen tritt hier eine wechselseitige Abh\u00e4ngigkeit; gab es kein Gef\u00fchl ohne Vorstellung, so gab es doch Vorstellungen ohne Gef\u00fchle. Begierde und Gef\u00fchl dagegen sind ohne einander unm\u00f6glich, sie sind im strengsten Sinne der Spinoza\u2019schen Wesensdefinition Wesensbestandtheile von einander. Ihrer engen Zueinandergeh\u00f6rigkeit wegen werden sie bekanntlich als die drei Grundaffecte von Spinoza zusammengefasst. Es ist das Missverst\u00e4ndliche daran schon von mancher Seite hervorgehoben1): als handle es sich um drei gleichgeordnete Elemente, die beiden Grundgef\u00fchle und das Begehren. Die Ausf\u00fchrungen Spinoza\u2019s aber lassen keinen Zweifel dar\u00fcber, dass eine gegenseitige Abh\u00e4ngig-\n1) Camerer, a. a. O. S. 134, Salinger, a. a. O. S. 38\u201439.\nWundt, Philos. Studien. XIV.\n20","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nRaoul Richter.\nkeit und nicht eine Gleichordnung der richtige Ausdruck dieses Verh\u00e4ltnisses ist: Die Gef\u00fchle sind Voraussetzung und Producte des Willens, der Wille ist Voraussetzung und Product der Gef\u00fchle.\nDas eine kommt in S\u00e4tzen zur Geltung wie: \u00bbdie Begierde, welche aus Lust oder Unlust, Hass oder Liebe entsteht\u00ab *), das andere in Wendungen wie: \u00bbLust und Unlust ist das Begehren oder Verlangen selbst, soweit es von \u00e4u\u00dferen Ursachen gemehrt oder gemindert, befriedigt oder gehemmt wird\u00ab1 2). Beide Gesichtspunkte vereint aber auf\u2019s klarste die gen. aff. def., welche erkl\u00e4rt, in den Gef\u00fchlen k\u00e4me die Steigerung (Minderung) der Daseinskraft zur Geltung, und durch die Gef\u00fchle werde die Seele dies oder jenes zu denken bestimmt. Da aber Daseinskraft = Selbsterhaltungstrieb, und Bestimmung der Gedankenrichtung (laut der Expl.) das n\u00e4mliche besagt, so sind hier die Gef\u00fchle zuerst als Producte des Willens und dann wieder als Bedingung des sich aus ihnen entwickelnden Wollens hingestellt. Was aber hei\u00dft das? Ein Beispiel mag es erl\u00e4utern. Das erste, was in einer individuellen Seele auftritt, muss nach Spinoza Vorstellung sein. Diese taucht mit der Tendenz, sich zu behaupten (Willensmoment), auf; best\u00e4tigt nun die n\u00e4chste Vorstellung ih\u00e4FDasein und n\u00e4hrt somit den Selbsterhaltungsdrang der vorigen, so entsteht Lust (Gef\u00fchlsmoment), indem eben dieser Uebergang zu gehobener Daseinsmacht in Leib und Seele \u00bbgef\u00fchlt\u00ab wird; diese lustvolle Vorstellung \u2014 da sie ja auf der Bahn des Selbsterhaltungstriebes als. seine Steigerung noch \u00fcber den normalen Gleichgewichtszustand hinausliegt \u2014 wird sich ihrerseits nach M\u00f6glichkeit zu erhalten streben, d. h. ihr entstr\u00f6mt ein Wille; dieser gebiert, befriedigt, wieder Lust u. s. w. Genau das Umgekehrte findet bei Hemmung des Selbsterhaltungsdranges statt, als wo nur f\u00fcr Lust Unlust und f\u00fcr Erstreben Widerstreben zu setzen ist.\nEs steht nun im engsten Zusammenh\u00e4nge mit diesem Verh\u00e4ltniss von Lust und Begehren der scheinbare Widerspruch zweier S\u00e4tze der \u00bbEthik\u00ab, welcher von einigen als Mittelpunkt des Beweises f\u00fcr die Disharmonie zweier Tendenzen, der intellectualistischen und\n1)\tEthik HI. Pr. xxxvn.\n2)\tEthik HI, Pr. LYH, Dem.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n303\nvoluntaristischen, hingestellt worden ist1). Im Schol. der IX. Pr. (Theil m) findet sich der Satz: \u00bbnach alledem [n\u00e4mlich den S\u00e4tzen \u00fcber die Selbsterhaltung] steht fest, dass wir nichts erstreben, wollen, verlangen, noch begehren, weil wir urtheilen es sei gut, sondern dass wir im Gegentheil urtheilen, etwas sei gut, weil wir es erstreben, wollen, verlangen und hegehren\u00ab. Der XIX. Lehrsatz des IV. Theils aber besagt: \u00bbDas erstrebt oder verabscheut ein jeder nothwendig aus den Gesetzen seiner Natur, wovon er urtheilt, es sei gut oder schlecht\u00ab. Zun\u00e4chst ist ganz allgemein darauf aufmerksam zu machen, dass je nach den Themen der einzelnen Theile die n\u00e4mlichen Dinge in den verschiedenen Beleuchtungen ein anderes oft gegens\u00e4tzliches Bild ergehen, dessen Vereinigung mit dem contr\u00e4ren erst die volle Meinung des Philosophen erschlie\u00dft, Oft hat er seihst diese vereinigende Erkl\u00e4rung gegeben ; so f\u00fcr den Widerspruch in den S\u00e4tzen : \u00bbin der Natur gibt es keinen Zufall\u00ab2) und : \u00bballe Einzeldinge sind zuf\u00e4llig\u00ab3), oder: der Mensch wird durch das Bild eines vergangenen oder zuk\u00fcnftigen Gegenstandes von dem n\u00e4mlichen Gef\u00fchl der Lust oder Unlust erregt, wie von dem Bilde eines gegenw\u00e4rtigen\u00ab4) und: \u00bbdas Gef\u00fchl, dessen Ursache wir als gegenw\u00e4rtig anwesend vorstellen, ist st\u00e4rker, wie wenn wir ihre Anwesenheit nicht vorstellen\u00ab5). Die M\u00f6glichkeit solcher contr\u00e4ren Behauptungen und die Aufl\u00f6sung des Widerspruchs durch den Philosophen seihst treibt uns, auch da, wo eine authentische Erkl\u00e4rung nicht vorliegt, aus dem verschiedenen Zusammenhang und dem besonderen Gesichtspunkte, unter den jeder der fragw\u00fcrdigen S\u00e4tze f\u00e4llt, eine sinngem\u00e4\u00dfe Interpretation zu versuchen. So hatten sich scheinbar ganz entgegengesetzte Dogmen wie: das Wesen der Seele ist Vorstellung und: das Wesen der Seele ist Wille, als vollst\u00e4ndig vereinbar erwiesen. Nicht als sollte auf diese Weise eine Ausl\u00f6schung oder Vertuschung wirklicher Widerspr\u00fcche anempfohlen werden; nur einem unn\u00fctzen Aufbauschen von Scheingegens\u00e4tzen zwischen grundlegenden Principien eines Systems zu wirklichen Widerspr\u00fcchen soll man entgegentreten. Hier aber handelt\n1)\tT\u00f6nnies, Studie u. s. w. IL, S. 334 ff. H\u00f6ffding, Gfesch. d. Phil. I S. 360.\n2)\tEthik I, Pr. XXTX.\t3) Ethik II, Pr. XXXT, Coroll.\n4) Ethik m, Pr. XVIII.\t5) Ethik IV, Pr. IX.\n20*","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nRaoul Richter.\nes sich nun augenscheinlich allerdings um einen solchen, da das eine Mal ein Einfluss der Gedanken auf den Willen geleugnet, das andere Mal als wesentlich behauptet wird.\nEs hat nun Camerer') die psychologische L\u00f6sung der Antithese schon angedeutet, wenn er den Sinn durch Hinzuf\u00fcgung eines: \u00bbindem es uns mit Freude erf\u00fcllt\u00ab dem Yerst\u00e4ndniss n\u00e4her zu bringen sucht. Es lautete dann der erste Satz: \u00bbwir erstreben nichts, weil wir es f\u00fcr gut halten, sondern wir halten es f\u00fcr gut, weil wir es als etwas lustvolles erstreben\u00ab. Dass dieser Zusatz kein willk\u00fcrlicher ist, sichert die Erkl\u00e4rung des n\u00e4mlichen Gesetzes in der 39. Prop., wo seiner genaueren Ausf\u00fchrung durch Beispiele die Bemerkung vorangeht: \u00bbunter gut verstehe ich hier jede Art der Lust und alles was zu ihr f\u00fchrt\u00ab ; wir k\u00f6nnen also direct f\u00fcr gut \u00bblustbringend\u00ab einsetzen (es nicht nur zu ihm hinzusetzen) und erhalten dann: \u00bbwir erstreben nichts, weil wir es f\u00fcr lustvoll halten, sondern wir halten es f\u00fcr lustvoll, weil wir es erstreben\u00ab und mit der n\u00e4m-Hchen Vertauschung (welche in dem betreffenden Beweise selbst statt hat, also auch zweifellos hier berechtigt ist): \u00bbJeder erstrebt noth-wendig, was er f\u00fcr lustvoll h\u00e4lt\u00ab. Nun offenbart sich aber sehr bald der auf die Spitze getriebene Widerspruch als eine Stufenfolge an der gleichen Leiter, und das Verh\u00e4ltniss der beiden Lehrs\u00e4tze ist dem zwischen den beiden sie Vortragenden Theilen direct proportional: die vorgeschrittenere Untersuchung erm\u00f6glicht die vorgeschrittenere Fassung. Denn im HL Theil kam es dem Spinoza darauf an, die Natur der Leidenschaften festzustellen, und von ihr aus f\u00e4llt das Licht auf die \u00fcbrigen Seelenelemente, im IY. Theil hingegen, wo es sich um Ohnmacht und Macht der Erkenntniss \u00fcber die Affecte handelt, fallen Streiflichter von jener auf diese. Mit anderen Worten, der Sinn des ersten Satzes besagt: unser Urtheil \u00fcber Lust und Unlust entsteht aus der befriedigten (unbefriedigten) Begierde, nicht aus unserer Erkenntniss; wir erfahren \u00fcber Lust und Unlust, also auch \u00fcber gut und schlecht erst durch unsem Willen, nicht durch unser Denken. Dies stimmt vollst\u00e4ndig mit den Principien der Spinoza-schen Psychologie ; denn nur die F\u00f6rderung oder Hemmung des Selbsterhaltungstriebes gibt uns ja in der Form des Gef\u00fchls \u00fcber\n1) 0 am er er, a. a. O. S. 209 ff.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n305\nLust und Unlust Auskunft; nicht aber verm\u00f6gen wir dieses Erlebniss aus einer vorhergehenden Reflexion zu sch\u00f6pfen; dass der Wille selbst nur an die Vorstellungen gebunden vorkommt, ist dabei ohne Belang. Nun aber \u2014 und darin liegt der Fortschritt im Gesichtspunkt \u2014 verbindet sich mit dieser Erfahrung nothwendig allm\u00e4hlich ein Wissen verm\u00f6ge des Selbstbewusstseins; so kann uns kein Urtheil vorher dar\u00fcber belehren, oh uns ein kaltes Bad etwa Lust oder Unlust erregt; erst wenn wir es genommen haben, zeigt die befriedigte gier unbefriedigte Disposition von Leih und Seele (also eben der \u00bbWille\u00ab Spinoza\u2019s) an, wie es uns ber\u00fchrt. Machen wir die Erfahrung \u00f6fters, so schlie\u00dfen wir verm\u00f6ge des Selbstbewusstseins von unseren Gef\u00fchlen und der M\u00f6glichkeit ihrer Reproduction, d. h. wir urtheilen: Kalte B\u00e4der sind mir gut oder bringen mir Lust. Auf diese Stufe nun stellt sich die Betrachtung des IV. Theils und behauptet: was wir so als gut (lustvoll) beurtheilen, erstreben wir nothwendig. Es st\u00e4nde das nur noch insofern in Widerspruch mit dem Fr\u00fcheren, als eine Begierde ja doch nur aus gef\u00fchlsbetonten Vorstellungen (oder Affectcn), nicht aus reiner Erkenntniss entspringen kann1); aber auch dieser Ansto\u00df ist v\u00f6llig beseitigt, da Spinoza ausdr\u00fccklich in dem Beweise des fraglichen Satzes auf jenen anderen sich beruft, welcher die Erkenntniss von gut und schlecht eben lediglich als das Bewusstsein des Gef\u00fchls Lust (Unlust) verm\u00f6ge der \u00bbidea ideae\u00ab erkl\u00e4rt hatte2).; Dieses Bewusstsein nun ist mit den Gef\u00fchlen so eng verbunden, wie Seele und K\u00f6rper, also st\u00e4ndig; es gibt keine Erkenntniss von Lust und Unlust, gut und schlecht, die nicht diese Gef\u00fchle seihst einschl\u00f6sse; und da und insoweit sie das thut, entspringt aus ihr die Begierde nach Erf\u00fcllung und Verwirklichung ihres Inhalts. So ist \u2014 um hei dem alten Beispiel zu bleiben \u2014 das Urtheil \u00bbkalt Baden ist mir gut\u00ab unmittelbar und nothwendig mit demselben Gef\u00fchlston der Lust verbunden, welche die damalige Erfahrung des Bades begleitete, aber diesmal nur in der Vorstellung, und darum werde ich die Verwirklichung dieses Urtheils nach dem Gesetz vom Begehren alles Lustbringenden sehnlichst erw\u00fcnschen3).\n1) Ethik IV, Pr. VH.\t2) thik IY, Pr. VHE mit Dem.\n3) Diese Auffassung muss Spinoza so selbstverst\u00e4ndlich gefunden haben, dass er in einer \u2014 bei der Er\u00f6rterung der Frage in der Litteratur scheinbar","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nRaoul Richter.\nZum Ueberfluss wollen wir noch, da die Verfechter der Ansicht von den contradictorischen Tendenzen sich zumeist auf den besprochenen Gegensatz berufen, und sie sich mit keiner \u00bbder versuchten L\u00f6sungen befriedigt erkl\u00e4ren, auf den ethischen Gehalt der beiden S\u00e4tze vergleichend hinweisen. Was der Satz: \u00bbwir urtheilen, etwas sei gut, weil wir es erstreben\u00ab ethisch zu bedeuten habe, erhellt vollst\u00e4ndig aus seiner n\u00e4heren Ausf\u00fchrung im XXXIX. Lehrsatz des Hl. Theils, wo als wesentlichste Folgerung die individuelle Verschiedenheit aller Werthungen gezogen wird: \u00bbdaher urtheilt und sch\u00e4tzt ein jeder nach seinem Gef\u00fchl, was gut, was schlecht, was besser, was schlechter, was schlie\u00dflich das Beste, was das Schlechteste sei\u00ab, und dann folgen eine Menge Beispiele, dass jeder etwas anderes f\u00fcr gut halte, der Geizige das Geld, der Schadenfrohe das Ungl\u00fcck Andrer etc. So ist die Relativit\u00e4t der Werthe, die im ersten Theil nur aus metaphysischen Erw\u00e4gungen gestreift wurde1), der Gef\u00fchlslehre Ergehniss, und \u00bbwas wir erstreben, halten wir f\u00fcr gut\u00ab hei\u00dft ethisch gesprochen: nicht absoluten Werthen, die wir erkannten, entnehmen wir unsre Begriffe \u00fcber gut und schlecht, sondern der befriedigte oder unbefriedigte Wille ist es, der sie stempelt und bei jedem Menschen gem\u00e4\u00df seiner von Anderen verschiedenen Natur individuell stempelt; also ist auch ihre Geltung keine absolute, sondern eine relative. Ganz anders der IV. Theil.\nunbeachtet gebliebenen \u2014 Stelle die beiden gegens\u00e4tzlichen Lehren dicht neben einander stellt: \u00bbEs existirt ein jeder aus dem h\u00f6chsten Recht der Natur und folglich wirkt ein jeder aus dem h\u00f6chsten Recht der Natur, was aus der Noth-wendigkeit seiner Natur folgt, und daher urtheilt ein jeder aus dem h\u00f6chsten Recht der Natur was gut und was schlecht ist, und sorgt nach seinem Urtheil f\u00fcr seinen Nutzen\u00ab (Ethik IV, Pr. XXXVII, Sch. II). Diese Art der Zusammenstellung zeigt doch deutlich, dass hier nicht zwei widerstrebende Tendenzen unvereinbar, sondern sich aus einander ergebende S\u00e4tze im Einklang stehen. Die gleiche Zusammenstellung findet sich in dem ber\u00fchmten Cap. XVI des theol.-polit. Tract., das ja nach T\u00f6nnies zum ersten Mal in augenf\u00e4lliger Weise den Einfluss des Hobbes bekunden soll: nachdem das nat\u00fcrliche Recht lediglich als Begierde und Macht in den krassesten Earben geschildert ist (also doch jedenfalls ein Ausfluss jener \u00bbj\u00fcngeren Gedankenkette\u00ab), lesen wir den Satz: \u00bbdas allgemeine Gesetz der Natur ist, dass Niemand das, was er f\u00fcr gut h\u00e4lt, vernachl\u00e4ssigt, und dieses Gesetz ist so fest der menschlichen Natur eingepr\u00e4gt, dass es zu den ewigen Wahrheiten gerechnet werden muss, die Jedermann wei\u00df\u00ab.\n1) Ethik I, Appendix.","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n307\nBr \u00fcbernimmt schon dies Ergebniss des vorhergehenden, es in seiner Einleitung mit logischen Erw\u00e4gungen st\u00fctzend, und von diesem gesicherten moralischen Standpunkt aus darf er unmissverst\u00e4ndlich verk\u00fcnden : \u00bbwas ein jeder f\u00fcr gut h\u00e4lt, erstrebt er\u00ab ; denn die Entstehung dieser Werthe und ihre nur subjective G\u00fcltigkeit war ja schon festgestellt; in Gedanken k\u00f6nnen wir hier bereits hinzusetzen: er h\u00e4lt es aber nur f\u00fcr gut, lediglich aus den ihm auf dem Wege des Gef\u00fchls gekommenen Anzeigen seines Willens. So ist es auch hier die h\u00f6here Stufe, welche die scheinbare Gegens\u00e4tzlichkeit hervorruft; denn es ist bereits der Begriff bearbeitet, der im vorhergehenden erst erzeugt werden musste.\nVI. Combinirt man die enge Abh\u00e4ngigkeit von Gef\u00fchl und Wille mit jener anderen von Gef\u00fchl und Vorstellung, so erh\u00e4lt man auf indirectem Wege den Beweis, dass auch der Wille als Begehren bei Spinoza nichts Selbst\u00e4ndiges unabh\u00e4ngig von den Vorstellungen sein kann. Aber genau wie beim Willen r\u00e4cht sich auch bei den Gef\u00fchlen jener starre Intellectualismus in der Durchbrechung der strengen Parallelit\u00e4tsauffassung und damit in der Einf\u00fchrung einer zu den Vorstellungen v\u00f6llig beziehungslosen Eigenschaft der Gef\u00fchle. Denn auch ihnen wird ein Sitz in Leib und Seele zugeschrieben, welches \u00bbund\u00ab aber alsbald, analog dem \u00bbabsolute conari\u00ab, sozusagen statt einer mechanischen eine chemische Verbindung zum Ausdruck bringt. Spinoza kennt rein k\u00f6rperliche Gef\u00fchle, die er als nebens\u00e4chlich keiner Behandlung w\u00fcrdigt, sie aber an mehreren Stellen der \u00bbEthik\u00ab ausdr\u00fccklich erw\u00e4hnt; zu ihnen z\u00e4hlen: Ueherdruss, Ekel, Zittern, Erblassen, Schluchzen, Lachen u. s. w.1 ) ; ob ihr Au\u00dferachtlassen, wie bei der Begierde, deshalb geschieht, weil ein rein k\u00f6rperliches Gef\u00fchl in diesem Sinne'2) ein unfassbarer Gedanke ist, mag dahingestellt bleiben. Den rein seelischen Gef\u00fchlen dagegen wird die gr\u00f6\u00dfte Aufmerksamkeit geschenkt, aber auch die seelisch-k\u00f6rperlichen (affectus ad mentem et corpus simul relati) entpuppen sich als eine untrennbare Einheit innerhalb des Individuums, die nur in der\n1)\tEthik III, Pr. LIX Sch., Tr. brev. II, Cap. XI (2).\n2)\tEein k\u00f6rperliche Gef\u00fchle sind bei Spinoza nicht etwa, was die moderne Psychologie \u00bbsinnliche Gef\u00fchle\u00ab nennt, sondern ein rein innerhalb des K\u00f6rpers und au\u00dferhalb des Bewusstseins bleibender Zustand.","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nRaoul Richter.\nmetaphysischen Vereinigung von Vorstellung und G-egcnstand. durch die Substanz ihr Analogon findet. Das diesbez\u00fcglich \u00fcber den Willen an fr\u00fcherer Stelle Gesagte1) gilt auch hier. Solche seelisch-k\u00f6rperlichen Gef\u00fchle sollen z. B. Kitzel und Heiterkeit, Schmerz und Melancholie sein. Dagegen sehr wohl vereinbar mit einer Eigenschaft an den Vorstellungen ist das Erfassen der Gef\u00fchle als ein Uebergang zu gr\u00f6\u00dferer oder geringerer Vollkommenheit2). Denn wie wir bei der Lehre vom Urtheil gesehen, waren auch die Vorstellungen keine starren beharrlichen Zust\u00e4nde, sondern flie\u00dfende, sich ereignende Vorg\u00e4nge; ein solcher Vorgang ist nun auch durchaus das Gef\u00fchl: \u00bbdas Gef\u00fchl der Unlust ist ein Vorgang (actus), welcher daher kein anderer sein kann, wie der Uebergang zu geringerer Vollkommenheit\u00ab. Auch er ist, wie das den Vorstellungen immanente Urtheil, ein Ausfluss jenes als Modus der urs\u00e4chlichen Substanz stets wirkenden und th\u00e4tigen Bewusstseins\nEs er\u00fcbrigt noch am Schl\u00fcsse der Betrachtungen \u00fcber den Willen im Menschen, soweit er noch nicht gewerthet ist, einen Blick zu werfen auf jene drei Seitenbegriffe: Freiheit, Handeln und Macht, deren Umdeutungen uns schon bei der Frage nach einem g\u00f6ttlichen und substantiellen Willen besch\u00e4ftigt und interessirt hatten3).\nGenau wie in Gott kann nat\u00fcrlich auch im Menschen von einpr eigentlichen Willensfreiheit im gew\u00f6hnlichen Sinne, einem liberum arbitrium indifferentiae nicht die Rede sein. War doch auf mehrfache Weise, metaphysisch wie psychologisch, eine strenge ausnahmslose Determination bewiesen worden. So wird hier wie dort, soll anders die Freiheit gerettet werden, diese nicht in einen Gegensatz zu dem allbeherrschenden Causalgesetze treten d\u00fcrfen. Eine noth-wendige Freiheit wird auch hier einer freien Nothwendigkeit Platz machen m\u00fcssen. Und was diese sei, das hatte die Freiheit des Weltgrundes, die causa libera, bereits dargethan. Damit ist zugleich eine bedeutsame Einschr\u00e4nkung f\u00fcr den Menschen in doppelter Weise gegeben4). Denn wenn frei sein \u00bbdie alleinige Ursache seiner Exi-\n1) Siehe oben S. 292 ff.\t2) Ethik HI, Aff Def. III, Expl.\n3)\tSiehe oben S. 128 ff.\n4)\tDiese Verbindung von Freiheit und Noth wendigkeit im Menschen und die Seltenheit ihrer Erkenntniss ist eine der Grundideen, welche Goethe mit Spinoza verbinden; es sei nur hingewiesen auf S\u00e4tze wie: \u00bbwie wenige m\u00f6gen","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n309\nstenz und seiner Wirkungen sein\u00ab bedeutet, so ist eben im strengsten Sinne frei nur die Gottsubstanz; nur sie existirt und wirkt aus eigener innerer Nothwendigkeit *). Des Menschen Natur aber schlie\u00dft nicht nothwendig sein Dasein ein* 1 2) \u2014 das ist die erste Einschr\u00e4nkung. Dann aber auch kann er verm\u00f6ge seines modalen Wesens niemals v\u00f6llig die einzige Ursache aller seiner Wirkungen sein. Sein individuelles Wesen zwingt ihn als \u00bbTheil der Natur\u00ab zur Unfreiheit: \u00bbEs ist unm\u00f6glich, dass der Mensch kein Theil der Natur sei, und dass er nur Ver\u00e4nderungen erleide, welche allein aus seinem Wesen begriffen werden k\u00f6nnen, und deren zureichende Ursache nur er ist\u00ab 3). Nirgends zeigt sich der individuelle Wesensbegriff vielleicht so deutlich ausgepr\u00e4gt wie in diesem Lehrsatz. Es kann also die \u00bblibertas humana\u00ab nie schlechthin mit \u00bblibertas\u00ab gleichbedeutend werden, und immer nur vermag sie einen Ann\u00e4herungswerth an das Ideal zu erreichen4). Dies geschieht, wenn der Mensch aus dem individuellen Wesen dem generellen zustrebt, den substantiellen, ewigen und \u00bbbesseren\u00ab Theil seines Selbst, die Vemunfterkenntniss pflegt5), die ihn dann jener h\u00f6chsten Intuition zuf\u00fchrt, welche ihn Gott in allem und alles in Gott sehen und verstehen lehrt. So formulirt Spinoza in einem der sch\u00f6nsten Paradoxe, welche menschlicher Tiefsinn ersonnen, in edelster Einfachheit: Die h\u00f6chste Freiheit ist die Knechtschaft unter Gott : summa libertas est Dei servitus6).\nAuf den Begriff des Handelns musste schon einmal im Vor\u00fcbergehen eingegangen werden, weil sich an ihm der Widerstand der Erfahrung gegen den reinen Intellectualismus geltend gemacht hatte ;\nfreiwillig das zugestehen, was sie zuletzt doch m\u00fcssen\u00ab. Zugleich ist diese Schlichtung im Streite zwischen Determinismus und Indeterminismus zweifellos einer der fruchtbarsten Gedanken der Spinoza\u2019schen Philosophie; er hat bis in unsere Zeit m\u00e4chtig hin\u00fcbergewirkt und wer noch so sehr gegen die \u00bbNeo-Spinozisten\u00ab polemisirt, ist in seiner Freiheitslehre, wenn auch uneingestanden, oft ein strenger \u25a0Onhanger des Spinoza. So z. B. Rehmke (allgem. Psychologie), dessen Willenslehre \u00fcberhaupt, besonders aber seine Freiheitslehre, auffallend mit der des Spinoza zusammenf\u00e4llt.\n1)\tSiehe oben S. 130.\n2)\tEthik II, axioma I : Hominis essentia non involvit necessariam existentiam.\n3)\tEthik IV, Pr. IV.\n4)\tEthik IV, Appendix Caput XXXII, V, Pr. XX, Sch.\n5)\tEthik H, Pr. XLIX, Schol. (Schluss).\n6)\tEthik H, Pr. XLIX, Schol. Vgl. Tract, brev. II, Cap. VIII (2). j]","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nRaoul Richter.\ndas war das Handeln \u00bbim gew\u00f6hnlichen Sinne\u00ab gewesen, im Sinne einer Verwirklichung des W\u00fcnschens und Begehrens oder des seelischen Wollens. Von der k\u00f6rperlosen Substanz ohne Verstand und Wille war nat\u00fcrlich ein solches Handeln ausgeschlossen gewesen. So bedeutsam aber dieses Ergebniss f\u00fcr die Einsicht in die nothwendigen Inconsequenzen hei einer Ueberspannung des rationalistischen Prin-cips gewesen war, so l\u00e4sst Spinoza doch den Begriff in diesem Sinne in den Grundgedanken ganz hei Seite, um jenen anderen systematischeren gegen Schluss des Werkes immer mehr in den Vordergrund zu stellen. Diesen gewann er, indem er Th\u00e4tigkeit nicht im Gegensatz zur Unth\u00e4tigkeit, sondern zum Erleiden fasste. Das Erleiden aber ist ihm ein Eindruck von au\u00dfen, welches in dem Erkennen die Tr\u00fcbung der Vorstellungen zu Einbildungen, in dem Gem\u00fcth den Herd der Leidenschaften gen\u00e4hrt hatte, und welches zu \u00fcberwinden und ahzulehnen also die Hauptaufgabe des zur Freiheit sich durchringenden Menschen sein musste. So l\u00e4sst Spinoza den psychologischen Begriff des thatkr\u00e4ftigen Wirkens fallen, mit dem er die Br\u00fccke zum ethischen Handeln nicht zu schlagen verm\u00f6chte ;\ni\ndies leistet dagegen aufs trefflichste jener neue Gewinn der \u00bbcausa adaequata\u00ab. So ist das \u00bbHandeln\u00ab seihst nur der zweite Theil jenes Freiheitshegriffs, also nur der Theil, welcher f\u00fcr den Menschen in Betracht kommt. In Gott war agere = esse1). Da aber seinem Sein alle m\u00f6glichen Folgen, d. h. die ganze Welt, entstr\u00f6mten, so hatte Spinoza diesen sp\u00e4teren Begriff des Handelns dort noch nicht vonn\u00f6then. Des Menschen Sein schlie\u00dft aber ganz ebenso gut erlittene , wie aus sich bewirkte Folgen ein ; sein Sein ist ebenso gut ein \u00bbLeiden\u00ab wie ein \u00bbHandeln\u00ab.\nIm Einklang mit der Freiheit und im Gegensatz zum Handeln ist die Macht (potentia) des Menschen analog der Macht der Substanz; nat\u00fcrlich mit der geb\u00fchrenden Einschr\u00e4nkung; beidemal ist die Macht gleich dem Wesen, aber in Gott ist dieses Wesen eine Allmacht2), heim Menschen hat sie nur einen sehr geringen Umfang. In ihm sind Macht, Wesen und Selbsterhaltungstrieb Wechselbegriffe3), aber: \u00bbdie Macht, mit welcher der Mensch in seinem Sein\n1) Siehe oben S. 131.\t2) Siehe oben S. 132.\n3) Die Gleichheit der drei Begriffe potentia, essentia, eonatus erhellt am deutlichsten aus Ethik III, Pr. VH, Dem., IV, Pr. XX, Dem.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n311\nbeharrt, ist begrenzt und wird durch die Macht der \u00e4u\u00dferen Ursachen unendlich \u00fcbertroffen\u00ab \u2019). In dem Begriff der Macht sto\u00dfen Willenselimination und Betonung der in allem wehenden Energie vielleicht am sch\u00e4rfsten zusammen. Sie bedeutet kein Verm\u00f6gen, durch das Gott in den Lauf der Welten, der Mensch in das eigene Geschick oder das der anderen willk\u00fcrlich eingreifen k\u00f6nnte, sie bedeutet nur den Ablauf der in jedem von beiden schlummernden Wirkungsf\u00e4higkeit. In Gott, der alles wirkt, ist diese daher sein Sein und eine Allmacht, im Menschen die Ausspinnung der in sein Wesen (durch Gott) eingeschlossenen Folgen, die Erf\u00fcllung seiner Bestimmung, seines Schicksals.\nFassen wir die Ergebnisse dieses Abschnitts noch einmal kurz zusammen :\n1. Zun\u00e4chst galt es, den tr\u00fcgenden Schein zu zerstreuen, welcher einer Gleichsetzung des Strehens oder Selbsterhaltungstriebes mit dem Wesen aller Dinge entfloss. Metaphysisch kl\u00e4rte sich dieser neue und das Verst\u00e4ndniss aller bisherigen Lehren tr\u00fcbende Voluntarismus, als sich herausstellte, dass nicht das Wesen zum Willen, sondern der Wille zum Wesen gemacht wurde, oder mit anderen Worten: dass der Selbsterhaltungstrieb eins war mit der Urbestim-mung der Dinge, mit dem Abfluss aller in der Dinge Wesen eingeschlossenen Wirkungen. Warum Spinoza dieses \u00bbTrieb\u00ab oder \u00bbDrang\u00ab nennen konnte, hatten wir uns an dem Bilde einer gespannten Spiralfeder, nach deren Analogie jedes \u00bbCausalit\u00e4tsgeladene\u00ab zu denken ist, zu veranschaulichen gesucht. Dieser energetische Zug war aber durchaus mit jenem urspr\u00fcnglichen in der allwirkenden Substanz in Einklang befunden. Und da Wirken und Wollen bei Spinoza metaphysisch zwei v\u00f6llig getrennte Begriffe sind, konnte die Einf\u00fchrung des \u00bbConatus\u00ab nicht die Verk\u00fcndigung eines allbeherrschenden Urwillens bedeuten. Vielmehr erschien in ihm der allerk\u00fchnste Versuch, auch die jedem Rationalismus widerstrebendsten Elemente, Trieb und Begehren, an ihrer tiefsten Wurzel zu intel-lectualisiren. Denn war das Verh\u00e4ltnis des Alls zur Substanz, und der Modi untereinander ein dynamisch-causales, so nicht minder\n1) Ethik IV, Pr. in.","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nRaoul Richter.\n(verm\u00f6ge der dem Spinoza so eigenth\u00fcmlichen Gleichsetzung von ratio und causa, essentia und definitio) ein mathematisch-logisches.\n2.\tDer Uebergang von dem scheinbaren metaphysischen zu dem weit bedenklicheren psychologischen Widerspruch f\u00fchrte auf die Doppeldeutigkeit des Wesens in der Gleichung essentia = eonatus; es wurde nachzuweisen gesucht, dass es in erster Linie das individuelle Wesen ist, also auch der inad\u00e4quaten Vorstellungen Summe, welches sich zu erhalten strebt, dass aber das generelle Wesen insoweit seine Rechnung findet, als es die obere Stufe der Selbsterhaltung bildet: das eigenste Wesen ist nicht das eigentliche; nur mit einem Opfer dieses wird jenes erkauft.\n3.\tNun erst konnte die psychologische Antithese von dem Willen und der Vorstellung als der Seele Wesen behandelt werden. Es ergab sich, dass nicht ein neues Seelenwesen eingef\u00fchrt worden, sondern immer noch die Vorstellungen das allen anderen psychischen Elementen zu Grunde liegende Material bildeten, dass es gewisserma\u00dfen ihre Spannungszust\u00e4nde waren, welche der bewusste Trieb oder das Begehren zum Ausdruck brachten. Wesen der Seele aber konnte dieses hei\u00dfen, da es das Wesen jeglichen Dinges in Bezug auf sein Wirken, nicht seinen Inhalt war, also auch das Wesen der Vorstellungen und somit \u2014 der Seele Wesen. Begehrendes wie Begehrtes waren Vorstellungen. Hierauf gest\u00fctzt konnte den Ausf\u00fchrungen derer entgegengetreten werden, welche gerade in diesen S\u00e4tzen von ' der Selbsterhaltung den unverh\u00fcllbaren Riss zwischen den ideal-intellectualistischen und real-voluntaristischen Theilen entdeckten. Im Gegentheil schien sowohl der Satz von der Vorstellung als dem Wesen der Seele, wie der von ihrem Vorrang vor und ihrer Andersartigkeit von allen anderen Bewusstseinselementen voll gewahrt.\n4.\tDer Blick auf das Verh\u00e4ltniss der einzelnen Theile der \u00bbEthik\u00ab legte die Frage nahe nach dem Verh\u00e4ltniss von dem Willen als Urtheil und dem Willen als Begehren, welche Spinoza unbeantwortet gelassen. Mit Ch. Sigwart war anzunehmen, dass das Urtheil ein Act der Selbsterhaltung sei, da die Zustimmung zu den in der Vorstellung enthaltenen Eigenschaften eine Selbstbehauptung dieser in sich birgt (biologischer Gesichtspunkt). Aber ebenso konnte man umgekehrt das Streben als ein Urtheil, den \u00bbeonatus\u00ab als \u00bbaffirmatio\u00ab fassen, wie denn dieser Ausdruck auch","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n313\nthats\u00e4chlich von Spinoza f\u00fcr ihn gebraucht worden ist (logischer Gesichtspunkt). Endlich blieb auch die Verschiedenheit der Willensbegriffe als seelischer Factoren zu Recht bestehen (psychologischer Gesichtspunkt).\n5.\tSo entschieden die Ansicht zur\u00fcckzuweisen war, als sei in des Spinoza Seelentheorie in den ersten zwei Theilen des Hauptwerks alles Vorstellung, in dem folgenden alles Wille, so musste andererseits der Widerspr\u00fcche, welche durch die einer consequenten Intellectualisirung widerstehenden Erfahrungen entstanden, gedacht werden. Da war es zun\u00e4chst das Scheitern des Versuchs, die metaphysische Annahme eines \u00bbGeladenseins\u00ab mit Wirkungsf\u00e4higkeit auch auf das Bewusstsein auszudehnen, und das Begehren nur den Ausdruck einer substantiellen Bestimmung sein zu lassen.. Das Psychologische konnte hierin wohl vergleichsweise der Metaphysik zur Seite gestellt, aber nicht in sie aufgel\u00f6st werden. St\u00e4rker noch aber brach die Beziehungslosigkeit des Willens zu den Vorstellungen in der Nothwendigkeit hindurch, zur Erkl\u00e4rung des gew\u00f6hnlichen Handelns als thatkr\u00e4ftigen Wirkens jenen Seelisches und K\u00f6rperliches umschlingenden einheitlichen Begriff des absoluten Wollens oder des Verlangens zu bilden; als Einheit von Leib und Seele innerhalb der Modi wies er jede Relation zu der nur in der Substanz gedachten Identit\u00e4t von Vorstellung und Object zur\u00fcck.\n6.\tMit den Gef\u00fchlen konnte die Darstellung sich k\u00fcrzer befassen und nur auch bei ihnen die principielle Gebundenheit an die Vorstellung und die Priorit\u00e4t dieser \u00fcber jene betonen. Der anst\u00f6\u00dfige Ausdruck affectus = idea fand seine Motivirung in der Reflexion auf die rein subjectiven Vorg\u00e4nge bei der Vorstellung. Die v\u00f6llige Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von der Vorstellung kam in dem Associationsgesetz der Affecte am klarsten zur Geltung. Im \u00fcbrigen blieb in den seelisch-k\u00f6rperlichen Gef\u00fchlen der n\u00e4mliche Widerspruch wie im \u00bbVerlangen\u00ab.\n7.\tGef\u00fchl und Wille standen in dem st\u00e4ndigen Verh\u00e4lt-niss gegenseitiger Abh\u00e4ngigkeit. Das Gef\u00fchl war Voraussetzung und Product des Begehrens, wie dieses Product und Voraussetzung des Gef\u00fchls. Der scheinbare Widerspruch zwischen * den S\u00e4tzen: \u00bbunser Urtheil (\u00fcber gut und schlecht) richtet sich nach","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nRaoul Richter.\nnnsp.rm Begehren\u00ab und \u00bbunser Begehren richtet sich nach unserem Urtheil\u00ab l\u00f6ste sich durch die Einschiehung des Lustmotivs, mit Zu-h\u00fclfenahme der Stufenfolge, in der die S\u00e4tze zu einander stehen.\n8. Endlich ward auf die drei dem Willen verwandten Begriffe: Freiheit, Handeln und Macht eingegangen, die Analogie von ersterer und letzterer unter der geb\u00fchrenden Einschr\u00e4nkung mit den gleichen Eigenschaften in der Substanz, die Andersartigkeit des mittleren mit jenen hervorgehoben und begr\u00fcndet.\n0. Der ethische Wille.\nMan bekommt oft zu h\u00f6ren, dass die Ethik Spinoza\u2019s nur ganz uneigentlich diesen Titel f\u00fchre, dass er seine Berechtigung nur dem Inhalte der beiden letzten Theile verdanke. In Wahrheit aber ist diese Benennung die strenge Folge von der eigenth\u00fcmlichen Weltanschauung des Philosophen. Nicht gemeint ist hiermit die unverkennbare und wohl auch immer mehr erkannte Tendenz des Werkes; dass diese vorwiegend eine ethisch-religi\u00f6se ist, steht au\u00dfer Zweifel; der Mann, welcher den gro\u00dfen Gedanken fasste, alle Wissenschaften nur einem Ziele unterzuordnen: der Erreichung des h\u00f6chsten Guts1), ging selber in der Philosophie durch die That voran. Aber dieser Wunsch und diese Absicht allein verm\u00f6chten niemals die Sanction abzugehen, auch die Behandlung der Vorstufen, der Metaphysik, Erkenntnisstheorie und Psychologie mit dem Namen dieses Zieles, also als \u00bbethische\u00ab Wissenschaften zu bedenken. Vielmehr hegt diese Berechtigung hei Spinoza in der v\u00f6lligen Elimination absoluter moralischer Werthe2), verm\u00f6ge deren er\n1-) Tract, de Int. Em. S. 6: .Finis in scientiis est unicus, ad quem omnes sunt dirigendae.\n2) Dieser Gedanke von der Relativit\u00e4t aller Werthe ist mit seltener Folgerichtigkeit durchgef\u00fchrt : Ethik I, Appendix ; IY, Praef. ; Pr. XXXVII. Sch. II, Pr. LEX, Dem. II, Pr. EXIL Schol., Pr. LXVIII; V, Praef., Epist. XIX (olim XXXII) ; es ist einer der tiefsten und werthvollsten Z\u00fcge der \u00bbEthik\u00ab, trotz dieser \u00e4u\u00dfersten Folgerichtigkeit niemals in den moralischen Skepticismus oder in einen verzweifelten Pessimismus, wie etwa Spinoza\u2019s franz\u00f6sische Zeitgenossen, verfallen zu sein. Auch die menschliche Schw\u00e4che und Schlechtigkeit ist St\u00e4rke und G\u00fcte der Natur \u2014 dieser Gedanke steht bei ihm vom Tract, brev. (I, Cap. VI (9)) an unersch\u00fctterlich fest.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n315\n\u25a0wirklich, wahr und gut durch Gleichheitszeichen bindet, sie mit einander anwachsen und abnehmen l\u00e4sst. Es ist immer nur Anwendung, nie Neubegr\u00fcndung, welche von einem dieser Begriffe zum andern f\u00fchrt. So ist hier die Metaphysik ebenso gut \u00bbEthik\u00ab wie Erkenntnistheorie und Psychologie. So sehr aber diese pantheistische Urtheilsweise : alles ist gut, was den ihm m\u00f6ghchen Grad von \u00dfealit\u00e4t erreicht, auf religi\u00f6se Gef\u00fchle und mystische Bed\u00fcrfnisse in letzter Instanz mag zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, die Ableitung der ethischen Prin-cipien selber wird allen Stimmungen wie allen logischen Erw\u00e4gungen \u00fcber die Natur des Guten gleich fern stehen m\u00fcssen. Einzig und allein von der vorangehenden Wirklichkeitsanalyse durch Metaphysik, Erkenntniskritik und Psychologie erwarten wir die neuen Ergebnisse als selbst\u00e4ndige Folgen und sehen uns nicht get\u00e4uscht. Daher aber geh\u00f6ren die n\u00e4heren moralischen Er\u00f6rterungen nicht mehr in eine Abhandlung \u00fcber die allgemeine Willenslehre Spinoza\u2019s; nur die dieser entsprie\u00dfenden allgemeinen Gesichtspunkte m\u00f6gen in K\u00fcrze angedeutet werden. Denn es existirt ja hier nicht, wie etwa bei Kant, ein specifisch \u00bbethischer Wille\u00ab neben und \u00fcber dem empirischen, sondern dieser ist jener und jener dieser. Damit ist das Fundament aller Tugend und Moral gegeben: \u00bbder Selbsterhaltungstrieb ist die erste und einzige Grundlage aller Tugend\u00ab 1J. Tugend aber ist gleichbedeutend mit \u00bbder Macht oder dem Wesen des Menschen, soweit er das Verm\u00f6gen hat, etwas zu bewirken, was allein aus den Gesetzen seiner Natur begriffen werden kann\u00ab2). Dieses \u00bballein\u00ab bildet nun den bequemen Uebergang zur Substituirung des generellen Wesensbegriffs f\u00fcr den individuellen. Durch diesen Gesichtspunkt der \u00bballeinigen Ursache\u00ab findet Spinoza den Weg zur intellectuellen Tugend, welche ihm allein Tugend ist. Denn die ad\u00e4quate oder alleinige Ursache sind wir nur in den ad\u00e4quaten Ideen, diese aber haben wir wiederum nur als vernunftbegabte Wesen. Die Vernunft ist \u2014 wie wir schon wissen \u2014 durch ihr enges Band mit der Substanz (als Betrachtung sub specie aetemitatis) unser \u00bbeigentliches\u00ab oder \u00bbbesseres\u00ab Wesen. Also nur in ihm beth\u00e4tigen wir uns allein. So versucht Spinoza.den Sprung vom Individuellen\n1)\tEthik IV, Pr. xxn, Sch., vgl. Pr. XX, XVI, XVm, Sch.\n2)\tEthik IV, Def. vin","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nRaoul Richter.\nins Allgemeine durch die Einschiebung der zureichenden oder alleinigen Ursache. Nat\u00fcrlich gelingt es ihm nicht, die versteckte Werthung und rationalistische Bevorzugung1) ganz zu verschleiern. Denn das \u00bbLeiden\u00ab so gut wie das \u00bbHandeln\u00ab geh\u00f6rt zu unserem (modalen) Wesen, oder etwas zugespitzter formulirt: wir sind genau so gut \u00bbwir\u00ab, wenn wir totale wie partielle Ursache unserer Wirkungen sind; die Combination beider M\u00f6glichkeiten in einem Individuum macht eben nach Spinoza sein individuelles Wesen aus; aber da ihm die \u00bbpassio\u00ab zu einer \u00bbnegatio\u00ab wird2) und diese eine \u00bbimpotentia\u00ab3) anzeigt, so bietet sich hier leicht der Ausweg, dass nur das \u00bbHandeln\u00ab der eigentlichen positiven Seite unseres Wesens gen\u00fcgt. Handeln aber ist ihm nur das zureichende Erkennen und sein k\u00f6rperlicher Begleitzustand. Dieser Gedanke ist nicht ganz leicht verst\u00e4ndlich, die Beweise, die den Umweg \u00fcber Gott nehmen4), sind nicht geeignet, ihn fasslicher zu machen. Er ist etwa dahin zu verstehen: alles Begehren und alle Gef\u00fchle sind an Vorstellungen gebunden; die eigenste Selbstbet\u00e4tigung, die \u00bbactio\u00ab, genau so gut wie das Zusammenwirken mit \u00e4u\u00dferen Ursachen, die \u00bbpassio\u00ab ; nun fragt es sich: welches sind die selbstth\u00e4tigen, welches die partiell t\u00e4tigen (leidenden) Vorstellungen, als deren Begleiterscheinungen dann die F\u00f6rderung oder Hemmung der Daseinskraft (actiones et passiones) gef\u00fchlt werden, welche als Gef\u00fchl wiederum Streben oder Widerstreben aus sich erzeugen? Selbstt\u00e4tig k\u00f6nnen die \u00bbImagi-nationes\u00ab nicht sein, denn sie beruhen ja auf der Einwirkung \u00e4u\u00dferer Objecte, auf deren getr\u00fcbter Vorstellung in unserer Seele. Aber auch den zureichenden Vorstellungen hegt doch \u2014 wie allen Vorstellungen \u2014 eine \u00e4u\u00dfere Affection zu Grunde ? Das muss zugegeben\n1)\tHier muss zwischen Rationalismus und Intellectualismus geschieden werden ; ersterer hat seinen Gegensatz im Sensualismus, letzterer im Voluntarismus. Dieser zweite Gegensatz wird aber hier gar nicht ber\u00fchrt; es handelt sich nicht darum, ob Vorstellung oder Wille der Seele Wesen ist, sondern ob Wahrnehmung (ima-ginatio = ideae inadaequatae) oder Vemunfterkenntniss (ratio = ideae adaequatae) gemeinsam mit dem an ihnen in der Form der passiones und actiones haftenden Willen den Kern des Menschen ausmachen. Dies ist der Deutung von T\u00f6nnies gegen\u00fcber zu erinnern, der auch den vorliegenden Fall zum Beweise der Doppeltendenz zu verwerthen unternimmt.\n2)\tEthik HT, Pr. DI, Sch.\n4) Ethik DI, Pr. I, Dem.\n3) Ethik TV, Appendix, Cap. H.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n317\nwerden; und doch ist in ihnen der Mensch allein selbstth\u00e4tig, soweit er es \u00fcberhaupt vermag; denn in ihnen kommen nur Af-fectionen zum Ausdruck, deren Inhalt das \u00bbAllgemeinsame\u00ab bildet. Dieses aber ist nat\u00fcrlich kein anderes in den afficirenden \u00e4u\u00dferen K\u00f6rpern, aus denen es auf den afficirten hin\u00fcberwirkt, wie in diesen selbst. So kann an Stelle der \u00e4u\u00dferen Affection, was die Qualit\u00e4t betrifft, ganz ebenso gut in der Idee auch eine Selbstaffection treten, denn uns wird nichts durch jene \u00fcbermittelt, was nicht auch wir schon bes\u00e4\u00dfen. Und so ist nur die zureichende Vorstellung m\u00f6glichste Selbstth\u00e4tigkeit; nur der an ihr auftretende Wille, der zugleich ein Wille zu ihr sein muss, ist also der reinste Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes1); nur der Wille zur Erkenntnis ist der wahrhaft ethische Wille ; er ist zwar der gleiche, wie der Wille \u00fcberhaupt, aber er wird hier auf seiner obersten Stufe, d. h. in vollstem Drang nach h\u00f6chster Verwirklichung gezeigt; so tritt er auf, wenn er sein eigenstes Selbstverst\u00e4ndniss gewonnen hat. Wir sind auf diesem Punkte etwas ausf\u00fchrlicher gewesen, weil es wichtig schien, zwischen den beiden Gedankenketten die (in der \u00bbEthik\u00ab nicht klar herausgearbeitete) Verbindung herzustellen: nur in der causa adaequata, in der Totalursache findet die Selbsterhaltung ihre vollst\u00e4ndige Erf\u00fcllung und : nur in der zureichenden Erkenntniss sorgt der Mensch wahrhaft f\u00fcr sein Wold; es galt also, aus der Natur der zureichenden Erkenntniss, wie sie der II. Theil entwickelt hatte, die Ableitung von der zureichenden Ursache zu versuchen; wichtig aber erscheint dies deshalb, weil auf beiden Begriffen gewisserma\u00dfen die Br\u00fccke zwischen der Erkenntnisslehre und der Morallehre des Spinoza schwebt.\nAlles \u00fcbrige ergibt sich dann leicht aus dem Gesagten. Ist die Sorge f\u00fcr die Selbsterhaltung das treibende ethische Motiv, so ist die F\u00f6rderung dieses Triebes naturgem\u00e4\u00df: gut, die Hemmung: schlecht; d. h. aber nichts anderes wie: gut und schlecht sind subjectiv - psychologisch = lustvoll undunlustvoll2); objectiv-hiologisch = n\u00fctzlich und sch\u00e4dlich3). Das h\u00f6chste Ziel aber muss, \u25a0wenn anders Wille zur Erkenntniss die h\u00f6chste Tugend ist, der Wille\n1)\tEthik IV, Pr. XXIV, XXVI, XXVII.\n2)\tEthik IV, Pr. XLI.\t3) Ethik IV, Def. I, H.\nWundt, Philos. Studien. XIY.\n21","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nRaoul Richter.\nzur ad\u00e4quaten Welterkenntniss1) und das h\u00f6chste Gut also ihre Verwirklichung die Gotteserkenntniss sein2).\nIst damit Ziel und Grundlage aller Moral gewonnen, so ist zugleich die ethische Aufgabe (welcher Ausdruck aber nur ganz uneigentlich hier zu verstehen ist) gestellt, auf diesem Fundament zu dem gesteckten Ziel, zur Erreichung des h\u00f6chsten Guts zu gelangen. Es wird siph darum handeln, vom Individuellen zum Generellen, vom Negativen zum Positiven, von den \u00bbImaginationes\u00ab und den \u00bbPas-siones\u00ab zur \u00bbratio\u00ab und den \u00bbactiones\u00ab aufzusteigen; auf welchem Gipfel angelangt der Mensch gewisserma\u00dfen f\u00fcr ein neues Organ, f\u00fcr eine neue Erkenntnissmethode, f\u00fcr die Intuition empf\u00e4nglich wird: sie allein erschlie\u00dft alles h\u00f6chste Wissen, verb\u00fcrgt alle wahre Gl\u00fcckseligkeit3). Dass hier aber thats\u00e4chlich eine Aufgabe, besser eine Entwickelung vorhegt, dass Gl\u00fcck und Tugend trotz aller Zur\u00fcckf\u00fchrung auf blo\u00dfe Wirklichkeitshegriffe uns nicht in der Wiege schon mitgegeben werden, das eben zeigt die Natur unseres individuellen Wesens; zu ihm geh\u00f6rt ja Irdisches und G\u00f6ttliches, Modales und Substantielles zusammen, und es erfordert einen dauernden Kampf, sich aus jenem in dieses hin\u00fcberzuretten; da wir aber schon sahen, dass auch im g\u00fcnstigsten Falle es sich immer nur um eine approximative Ann\u00e4herung an das Ideal handeln konnte, so f\u00fchrt der Kampf erst zum Siege mit dem Tode, mit dem Aufh\u00f6ren der individuellen Essenz, mit der Unsterblichkeit des Intellects. Von einer Unsterblichkeit des Willens aber verlautet nichts. Es w\u00e4re auch im \u00bbJenseits\u00ab keine Beth\u00e4tigung f\u00fcr ihn vorhanden; denn da er nur als Selbsterhaltungstrieb (in der Erkenntniss war er ganz in diese aufgel\u00f6st worden) im Menschen eine gewisse Selbst\u00e4ndigkeit gewann, und dieser ein Wollen f\u00f6rdernder, einen Widerwillen gegen hemmende Einfl\u00fcsse begriff, die Vollkommenheitssph\u00e4re der Ewigkeit aber Steigerung wie Schw\u00e4chung g\u00e4nzlich ausschlie\u00dft, so ist f\u00fcr ihn hier weder Kaum noch Bed\u00fcrfniss vorhanden. Das weist einmal zur\u00fcck auf die Thatsache, dass unter den unendlichen Modi der Verstand vertreten war, und der Wille fehlte, dann aber auch setzt es den Intellectualismus, der in Erkenntnisslehre und Psychologie des sterb-\n1 ) Ethik IY, Appendix, Cap. IV.\n2) Ethik Y, Pr. XXVII.\n3) Ethik rv, Pr. xxvm.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n319\nliehen Menschen gewaltet, \u00fcber dessen Tod in sein unsterbliches Theil fort, den Kreis, der mit dem Ursprung aus der ewigen Gottsubstanz begonnen, mit der R\u00fcckkehr in dieselbe schlie\u00dfend. Auf Erden jedoch findet der Wille seine h\u00f6chste und letzte Befriedigung in der Gotteserkenntniss, uiid so erzeugt er am Endpunkte seiner Entwickelung den amor intellectualis Dei. Dass dieser Begriff den Gipfel der \u00bbEthik\u00ab bildet, ist kein Zufall, sondern eine sch\u00f6ne Noth-wendigkeit. In ihm verschlingen sich die Ergebnisse aller Theile zu einer harmonischen, freilich mystischen Einheit. Die Metaphysik liefert darin den Gottesbegriff, die Erkenntnisslehre den des Intellects, die Affectenpsychologie den der Liebe. In ihrem innigen Verein aber hegt \u00bball unser Heil oder Seligkeit oder Freiheit; und diese Liebe oder Seligkeit hei\u00dft in der heihgen Schrift Herrlichkeit und wahrlich mit Recht\u00ab '). Aus ihr \u2014 wenn wir auch diesen mystischen Ausklang auf den Willen hin analysiren \u2014 kann kein Begehren mehr entspringen; denn sie st\u00f6\u00dft auf keinen der Selbsterhaltung sch\u00e4dhchen Widerstand in der Erfahrung: \u00bbIn der Natur gibt es nichts, was dieser intellectuellen Liebe entgegengesetzt sein oder dieselbe auf heben k\u00f6nnte\u00ab2). So ist die h\u00f6chste Beth\u00e4tigung des Willens zugleich auch seine Selbstaufhebung, und es bleibt nur eine friedsame Versenkung der Seele in die Erkenntniss von Gott und Welt zur\u00fcck \u2014 friedsam, weil sie allein das einzige Gef\u00fchl begleitet, das kein Begehren mehr zur Folge hat.\nSo sind Grundlage, Ziel und Aufgabe der Moral festgelegt, und die Ausf\u00fchrungen besch\u00e4ftigen sich: mit der Werthung der Affecte, an diesen dreien gemessen, mit den n\u00e4heren Bestimmungen von Ziel und Grundlage, mit den Mitteln zur Durchf\u00fchrung der Aufgabe.\nWas die n\u00e4here Fundamentirung betrifft, so zieht der wohlverstandene Selbsterhaltungstrieb nicht nur aus der eigenen Person, sondern auch aus anderen seinen Vortheil. \u00bbAlles, was mit unserer Natur \u00fcbereinstimmt, ist uns n\u00fctzlich\u00ab3); also zun\u00e4chst alle nach der Vernunft lebenden Menschen. Auf diesem rein egoistischen Triebe bauen sich f\u00fcr Spinoza die so altruistisch klingenden Begriffe der Religion und Fr\u00f6mmigkeit auf. Dagegen ist f\u00fcr den gegenseitigen\n1) Ethik Y, Pr. XXXYI, Schol.\t2) Ethik Y, Pr. XXXYH.\n3) Ethik IV, Pr. XXXVII, Sch. II. Tract, theol.-polit. Cap. XYI.\n21*","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nRaoul Richter.\nSchutz der nicht nach der Vernunft, sondern unter der Herrschaft der Affecte lebenden der Staat vonn\u00f6then. Er stellt kraft der ihm \u00fcbertragenen Autorit\u00e4t absolute Werthe auf, an denen er Schuld, Verdienst, Recht und Unrecht misst. Und hier tritt nun das von der Willenslehre aufs engste abh\u00e4ngige Schuldproblem auf, dessen L\u00f6sung eigentlich mit der Anerkennung oder Leugnung einer Willensfreiheit gegeben ist. Mit \u00e4u\u00dferster Consequenz verbannt denn Spinoza auch alle moralische Schuld aus den Handlungen der Menschen; nur als Ungehorsam gegen die vom Staat gepr\u00e4gten Werthe haben sie ihm, einen Sinn; der Begriff der Verantwortlichkeit aber bleibt seinem Systeme v\u00f6llig fremd. Nirgends macht er eine ernstere Concession oder den Versuch, auch bei strengster Willens-necessitirung der Verantwortlichkeit und Schuld in irgend einem metaphysischen Sinne einen Platz anzuweisen; das subjective Schuldgef\u00fchl oder aber die Reue und ihre Heftigkeit erkl\u00e4rt Spinoza vielmehr wiederum durch den Ereiheitswahnl) und verwirft sie als auf einer irrth\u00fcmlichen Begriffsbildung beruhend, zudem die Lebenskraft hemmend, als unn\u00fctz und schlecht2). Selbst den zahlreichen Einw\u00e4nden seiner Freunde gegen\u00fcber, welche an diesen amoralischen Folgerungen seiner Willenslehre heftigsten Ansto\u00df nahmen, h\u00e4lt er an der Entschuldbarkeit jeder Handlung und der Leugnung jedweder Verantwortlichkeit fest; die schlimmen Folgen der gew\u00f6hnlich \u00bbb\u00f6se\u00ab genannten Handlungen sind ihm nicht moralische Strafen, sondern nur nothwendige Wirkungen ; denn das Pferd hat keine Schuld, dass es ein Pferd und kein Mensch ist, und wer durch den Hundsbiss toll wird, ist zwar ohne Schuld, aber wird doch mit Recht get\u00f6dtet, und wer seine Begierden nicht regeln und durch die Furcht vor dem Gesetz nicht z\u00fcgeln kann, ist zwar wegen seiner Schw\u00e4che zu entschuldigen, aber er kann sich nicht der Erkenntniss und der Liebe Gottes erfreuen, sondern geht nothwendig zu Grunde\u00ab3). Dementsprechend tr\u00e4gt die Ethik Spinoza\u2019s einen durchaus descriptiven Charakter. Dass er in einem Schol. gelegentlich das Wort \u00bbPflicht\u00ab unterflie\u00dfen l\u00e4sst oder in einer Vorrede ein Musterbild des Menschen auf-\n1) Ethik III, Pr. XLIX; LI. Sch.\t2) Ethik IV, Pr. LIV.\n3) Epist. LXXVIII (olim XXV); cf. Ep. LXXV (olim XXIII); XXIII olim XXXVI) ; LVIII (olim LXII).","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n321\nstellt, vermag nichts daran zu \u00e4ndern. Weiter aber ist f\u00fcr die wohlverstandene Selbsterhaltung die R\u00fccksicht auf den gesammten Menschen, Leih1) und Seele, vonn\u00f6then; daher d\u00fcrfen auch lebenf\u00f6rdernde Reize, wenn sie nur einen Theil des Individuums treffen, nicht \u00fcbertrieben, die Wahrung wohlthuender Harmonie niemals \u00fcbersehen werden.\nDamit sind die Gesichtspunkte f\u00fcr die Werthung der Affecte gegeben. Lust muss gut, Unlust schlecht sein. Dies Princip, auf die Derivate der Grundaffecte angewandt, ergibt, dass Hass, Rache, aber auch Reue, Mitleid etc. schlecht, Gunst, Selbstzufriedenheit etc. gut und n\u00fctzlich sind. Nur sind gem\u00e4\u00df dem Postulat von der Harmonie auch die Lustgef\u00fchle vom Uebel, wenn sie ein Ueberma\u00df erreichen, und die Unlustgef\u00fchle von Vortheil, soweit sie diesem Ueberma\u00df das Gleichgewicht halten. Dadurch treten dann in den Grundwerthungen einige Verschiebungen ein2).\nDie n\u00e4heren Er\u00f6rterungen \u00fcber das ethische Ziel, der Hymnus auf die Intuition, werfen auf die Willenslehre kein neues Licht.\nDie Hauptmittel zur Ueherwindung und Z\u00e4hmung der Leidenschaften stellt das Schol. zu V, Pr. XX zusammen.\nIII. Die Entwickelung der Willenslehre.\nEs er\u00fcbrigt noch einen Blick zu werfen auf die Entwickelung der Spinoza\u2019schen Willenslehre. In der \u00bbEthik\u00ab liegt sie uns abgeschlossen vor. Der \u00bbkurze Tractat\u00ab zeigt sie in einer noch ungekl\u00e4rten, \u00fcber sich hinausweisenden Phase. Zwischen beide Werke f\u00e4llt keine Schrift des Spinoza, welche den Uebergang von der unfertigen zur fertigen Form, vom Entwurf zur systematischen Durchbildung\n1)\tNat\u00fcrlich z\u00e4hlt Spinoza die einzelnen Mittel der K\u00f6rperpflege nicht weiter auf; er begn\u00fcgt sich damit, ihre Bedeutung wiederholt zu erw\u00e4hnen (Ethik IV, Appendix, Cap. XXVII, V, Pr. XXXIX, Schol.), ihre Beschreibung weist er der Medicin zu (Ethik V, Praef.), deren hohe Wichtigkeit f\u00fcr die Philosophie anerkannt wird (De Int. Em. Tr. S. 6).\n2)\tEthik IV, Pr. XLI\u2014XLIV, LX, LXI.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nRaoul Richter.\ndieses Punktes gen\u00fcgend aufzeigte. Die einzigen beiden in Betracht kommenden Schriften, die \u00bbPrincipien des Des cart es\u00ab mit dem Anhang der \u00bbCogitata metaphysica\u00ab und der \u00bbTractat \u00fcber die Verbesserung des Verstandes\u00bb leisten dies nicht; erstere nicht, weil sie ihrem Zwecke nach des Descartes und nicht des Spinoza Ansicht wiedergibt, und die zwischen den Zeilen zu lesenden Abweichungen nur gr\u00f6\u00dftentheils schon im \u00bbkurzen Tractat\u00ab Erworbenes einf\u00fchren1), letzterer nicht, weil sein Thema ein methodologisches, seine Probleme rein intellectuale sind.\nSo ist denn der \u00bbkurze Tractat\u00ab die haupts\u00e4chlichste Quelle, aus der sich die Kenntniss der noch in der Entwickelung befindlichen Willenslehre des Spinoza sch\u00f6pfen l\u00e4sst. Unwesentlich daf\u00fcr bleibt die Stellung der beiden Dialoge innerhalb des Tractats2);\n1)\tDass die \u00bbPrincipia Cartesiana\u00ab mit dem Anh\u00e4nge sp\u00e4ter verfasst seien wie der \u00bbkurze Tract.\u00ab, wird fast einstimmig anerkannt; so Trendelenburg, Ch. Sigwart, Avenarius, Kuno Fischer, Heinze-Ueberweg, Freudenthal. Ihnen allen entgegen steht Busse\u2019s Ansicht, der die Abfassung des II. Theils der \u00bbPrincipia\u00ab \u2014 die Abfassungszeit des ersten steht ja auf 1663 fest \u2014 und der .\u00bbcogitata\u00ab zwischen die Dialoge und den \u00bbk. Tract.\u00ab, also vor diesem einschiebt. Seine ausf\u00fchrlich dargelegten Gr\u00fcnde (Zeitschrift f\u00fcr Phil, und phil. Krit., Bd. 90 S. 30 ff., Bd. 92 S. 213 ff.) haben mich indes nicht zu \u00fcberzeugen vermocht. Sowohl die Epist. XIII (olim IX), wie die Vorrede zu dem in Frage stehenden Werke m\u00fcssen sehr gewaltsam umgedeutet werden, und der sachliche Inhalt der \u00bbCogitata\u00ab, ihr Schwanken zwischen Descartes und der eigenen Philosophie ist ebensowohl verst\u00e4ndlich als die Aufstellung metaphysischer Grundgedanken mit dem eigenen System im Kopfe absichtlich von Descartes\u2019 Gesichtspunkten aus entworfen, wie als getreues Abbild einer eigenen inneren Unklarheit. Zudem sprechen manche innere und alle \u00e4u\u00dferen Gr\u00fcnde gegen eine so fr\u00fche Entstehung der Schrift. So die gr\u00f6\u00dfere Klarheit und Reife in der Entwickelung der Gedankenreihen, besonders aber die Umwandlung der noch im\njjf \u00bbkurz. Tract.\u00ab behaupteten Passivit\u00e4t des Erkennens in reine Activit\u00e4t. Zudem aber schie\u00dft die von Spinoza sanctionirte Vorrede vielleicht im Wortlaut etwas \u00fcber das Ziel hinaus, wenn sie von einer \u00bbreinen Wiedergabe der Ansichten Descartes\u2019\u00ab spricht, aber im wesentlichen trifft sie doch den Sinn. Die Schrift ist, wie von Kirchmann treffend sagt \u00bbzu einem Gemisch von Philosophie des Descartes\u2019 und des Spinoza geworden, welche ihren Werth f\u00fcr die Wissenschaft an sich erheblich herabdr\u00fcckt und sie zu einer unzuverl\u00e4ssigen Quelle f\u00fcr beide Systeme macht\u00ab. Aus diesem Grunde nehmen wir in diesem kurzen Abriss einer Entwickelungsgeschichte der Willenslehre ihren Inhalt nicht in den Text mit auf.\n2)\tNachdem durch Avenarius\u2019 Arbeit und die Nachfolgerschaft Ch. Sig\" wart\u2019s mit andern Forschem die Dialoge \u2014 wenigstens der erste \u2014 als Vorl\u00e4ufer","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n323\nsie bieten der erste zu geringe, der zweite gar keine Ausbeute f\u00fcr die Willenslehre; die schlechte Rolle, die die \u00bbBegierde\u00ab im ersten Gespr\u00e4che spielt, kann nichts beweisen, da es \u00bbdie Begehrlichkeit\u00ab und nicht der \u00bbbewusste\u00ab Selbsterhaltungstrieb der \u00bbEthik\u00ab ist, welche hier gemeint ist* 1). Eher noch k\u00f6nnte die Anrede der Liebe an den Verstand \u00bbich sehe, Bruder, dass mein Wesen und meine Vollkommenheit ganz und gar von deiner Vollkommenheit abh\u00e4ngt\u00ab etc. schon auf die intellectualistische Tendenz in der \u00bbnaturalistischen Phase\u00ab hinweisen, falls solche bestanden haben sollte; im anderen Falle \u2014 wenn man die Dialoge als Anh\u00e4ngsel zum \u00bbTractate\u00ab fasst \u2014 steht nat\u00fcrlich die Bemerkung \u00fcber das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss von Liebe und Intellect nicht dawider.\nGeht man den Tractat selber der Reihe nach auf die Probleme hin durch, welche die Willenslehre der \u00bbEthik\u00ab gestellt und gel\u00f6st hatte, so ist vor allem von dem Gottesbegriff hervorzuheben, dass er in allen wesentlichen Z\u00fcgen mit dem des Hauptwerks \u00fcbereinstimmt2). Auch im Tractat schon ist Gott alles in allem, ist die unter der Ewigkeit begriffene Natur selbst. So nimmt es nicht Wunder, dass auch hier Gott keine Pers\u00f6nlichkeit zukommt, dass ihm, ganz wie sp\u00e4ter, Verstand und Wille abgesprochen werden. Gott kommen keine, \u00bbWeisen des Denkens\u00ab3) zu \u2014 damit ist der Wille als Modus von vornherein von ihm ausgeschlossen. Man h\u00e4tte es nicht den f\u00fcr die Unfertigkeit des Tractats bezeichnenden Widerspr\u00fcchen zurechnen sollen, dass dennoch hier und dort Ausdr\u00fccke wie \u00bbG\u00fcte Gottes\u00ab4 *), die \u00bbEinfachheit seines Willens\u00ab6), \u00bballes Heil sein Wille\u00ab6) sich vorfinden. Bringen doch auch die Schoben der \u00bbEthik\u00ab \u00e4hnliche symbolische Redewendungen, und in dem theolog-pobt. Tractat, der doch zweifellos mit den Grundanschauungen der \u00bbEthik\u00ab \u00fcbereinkommt, bedient sich Spinoza in noch weit h\u00f6herem\ndes \u00bb Tractats \u00ab fast allgemein angesehen wurden, hat die neuere Untersuchung \u00bb Freudenthal\u2019s (Spinozastudien) eine starke Bresche in diese Auffassung geschlagen; den Schluss, dass damit auch die aus den Dialogen construite \u00bbnaturalistische Phase\u00ab falle, hat Freudenthal schon selbst gezogen.\n1)\tFreudenthal, a. a. O. Il, S. 1, Anmerkg. 1.\n2)\tTract, brev. I, Cap. II (17), Anhang I, Lehrsatz IV (Coroll.).\n'3) Tract, brev. I, Cap. VH (7), II, Cap. XXIV (2).\n4) Tract, brev. I, Cap. II (5).\t5) Tract, brev. I, Cap. II (11).\n6) Tract, brev. I, Cap. IV (4).","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"\n324\nRaoul Richter.\nGrade theologischer Formulirungen. Somit kann nat\u00fcrlich auch von einer Freiheit des Willens im Sinne der Willk\u00fcr in Gott keine Rede sein. Die Ueberschrift des IY. Cap. Theil I lautet denn auch: \u00bbYon Gottes nothwendigem Wirken\u00ab. Ja, der Mangel einer solchen Nothwendigkeit wird geradezu dem Mangel an Vollkommenheit gleichgesetzt \u2014 ein Gedanke, der uns in \u00e4hnlicher Form bereits als der \u00bbEthik\u00ab geh\u00f6rig besch\u00e4ftigt hatte1). Und auch der dynamische Grundton, der so seltsam neben der rein logischen Abh\u00e4ngigkeit in das Verh\u00e4ltniss von Gott und Welt hineinerklungen war2), fehlt im Tractate nicht. Denn Gott ist th\u00e4tige und wirkende Ursache, ist causa activa3) und als Vorsehung ist er durch das Selbsterhaltungsstreben der Dinge, das allgemeine wie besondere repr\u00e4sentirt4 *). Die Seitenbegriffe Allmacht und Handeln sind hier wohl schon dem Sinne nach der \u00bbEthik\u00ab gleich, aber noch sind sie nicht auf die Formeln von Wesen und Sein gebracht. Die Freiheit Gottes dagegen wird auch hier bereits' nur im Gegensatz zum Zwange der \u00e4u\u00dferen Bestimmungen gesehen, und auch hier bereits ist Gott allein die freie Ursache6). Eine Zur\u00fcckweisung der Zweckbegriffe aber findet noch nicht ausdr\u00fccklich statt, und nur vor\u00fcbergehend wird die Vorstellung, Gott handle \u00bbsub ratione boni\u00ab, als unbrauchbar abgelehnt6).\nDass die Attribute des Bewusstseins und der Ausdehnung auch im Tractat neben den unz\u00e4hligen anderen als die allein erkennbaren gelten, bedarf keiner Erw\u00e4hnung, wohl aber, dass der zwischen Substanz, Attribut und unendlichem Modus eingeklemmten Gottesidee (idea Dei) das n\u00e4mliche Fragezeichen anhaftet, wie in der \u00bbEthik\u00ab. Hier wie dort bleibt man im Unklaren, ob sie der wirkenden oder bewirkten Natur soll zugetheilt werden, oder mit anderen Worten: ob die reine Intellectualisirung schon am Gottesbegriff oder erst an der \u00bbgeschaffenen\u00ab Welt statt hat. Gerade dieses Gottesbewusstsein oder der unendliche Intellect ist mit gro\u00dfer Sch\u00e4rfe von Busse einer Analyse unterworfen worden7); aber die Spaltung in eine \u00bbewige\n1) Siehe oben S. 131 ff.\n3) Tract, brev. I, Cap. III (2).\n5) Tract, brev. I, Cap. IY (5).\n7) Beitrg. z. Entwickelgsgesch. des\n2) Siehe oben S. 133 f.\n4) Tract, brev. I, Cap. V.\n6) Tract, brev. I, Cap. TV (6). Spinoza, Y, S. 218\u2014219.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n325\nIdee\u00ab der Essenzen und das \u00bbvollkommene Denken\u00ab als Summe der Ideen der Existenzen ist gewiss ein l\u00f6bliches Verdienst f\u00fcr die Kl\u00e4rung der Spinoza\u2019schen Gedankenreihen \u2014 deren Wiedergabe aber ist sie nicht. So schwankend nun des Spinoza Meinung \u00fcber die Stellung des Gottesbewusstseins ist1), so fest und bestimmt fasst er dessen Natur, ganz analog der \u00bbEthik\u00ab, rein theoretisch unter Ausschluss von Gef\u00fchl und Wille. Aus den diesbez\u00fcglichen Stellen im Tractat2) geht unzweifelhaft diese vom Philosophen systematisch unmotivirt gelassene (wenn auch durch die Grundanschauung in ihrer Entstehung verst\u00e4ndliche) Intellectualisirung des Begriffs hervor. Noch deutlicher wird diese, wenn man die Gottesidee nach ihrer modalen Seite betrachtet, auf welcher sie mit dem unendlichen Verst\u00e4nde als unendlichem Modus identisch ist. Auch der Tractat n\u00e4mlich kennt keinen unendlichen Willensmodus, wohl aber unendliche Bewegung und einen unendlichen Verstand3). Diese Bevorzugung springt um so mehr in die Augen, wenn man die fast \u00fcberschw\u00e4ngliche Erkl\u00e4rung dieses unendlichen Intellects zu lesen bekommt; er ist: \u00bbein Sohn, Werk oder unmittelbares Gesch\u00f6pf von Gott, von aller Ewigkeit von ihm geschaffen, und in alle Ewigkeit unver\u00e4nderlich bleibend. Dessen Eigenschaft ist nur eine, n\u00e4mlich alles klar und deutlich zu allen Zeiten zu verstehen\u00ab4). So wird auch hier der Wille aus den unendlichen Modificationen verbannt und in das Beich der endlichen Modi verwiesen. Hier erf\u00e4hrt er ganz allgemein die strengste Necessitirung, welche ja unmittelbar aus seiner modalen Natur, aus seiner Zu-\n1)\tDiese Verwirrung im Tractat ist ebensowenig binwegzuleugnen wie in der \u00bbEthik\u00ab. H\u00e4tte Busse Recht, so k\u00f6nnten sich Vorrede zu TheilH, Anmerkg. 5 nnd H, Cap. XX, Anmerkg. 3 (10) nicht gegen\u00fcberstehen. Denn dort hei\u00dft es von der Gottesidee, sie sei eine Erkenntniss von den Essenzen ohne ihre Existenz, hier, sie sei eine Erkenntniss von Essenz wie Existenz. Da beide Anmerkungen h\u00f6chst wahrscheinlich von Spinoza selbst herr\u00fchren, muss auch das Schwanken in diesem zwischen Gott und Welt der Modi schwebenden Begriff offen bekannt werden.\n2)\tTract, brev. I, Cap. IX (3), Anhang II (4) (10). Nur die Anmerkg. 5 zur Vorrede von Theil II spricht von dem Gottesbewusstsein als von einer \u00bbErkenntniss, Idee u. s. f.\u00ab, wobei \u00bbu. s. f.\u00ab nur \u00bbsonstiger Modus des Bewusstseins\u00ab bedeuten kann. Aber dieser Ausdruck ist blo\u00df durch Uebertragung von der menschlichen Seele (siehe oben S. 250 Anmerk. 2) entstanden, wie aus dem Zusammenhang der Stelle gleich ersichtlich ist.\n3)\tTract, brev. I, Cap. IX (1).\n4) Tract, brev. I, Cap. IX (3).","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nRaoul Richter.\ngeh\u00f6rigkeit zu einem Reiche mit dem obersten Gesetz: \u00bbCausalit\u00e4t\u00ab erkl\u00e4rlich ist. Diesen allgemeinen metaphysischen Beweis f\u00fcr die Willensbedingtheit hat der Tractat mit der \u00bbEthik\u00ab gemein1); den v weiteren, psychologischen, aus der Irrth\u00fcmlichkeit des Ereiheitsbe-wusstseins gef\u00fchrten, kennt nur diese.\nJe weiter der Tractat in die Kreise der empirischen Wirklichkeit hinabsteigt, um so unfertiger erscheint er, um so mehr contr\u00e4re v Anschauungen finden sich \u2014 oft kampflos \u2014 neben einander. Zun\u00e4chst ist es unzweifelhaft, dass die n\u00e4mliche Verdr\u00e4ngung des Willens in der Erfahrungswelt auch schon hier insoweit statt hat, als es unbedingt die Vorstellung ist, der die f\u00fchrende Rolle im Seelenleben zukommt; die Priorit\u00e4t der Vorstellung vor allen \u00fcbrigen Bewusstseinsmodi \u2014 der Inhalt des bekannten Axioms der \u00bbEthik\u00ab \u2014 gilt so gut f\u00fcr den Tractat wie f\u00fcr das Hauptwerk. Unter allen \u2018Modi des Bewusstseins ist \u00bbder vornehmste\u00ab derselben eine Vorstellung von Dingen2); die allerunmittelbarste Modification des Bewusstseins ist Vorstellung2); die Vorstellung ruft erst alle anderen Bewusstseinsarten wie Liebe und Begehren hervor3), aus den verschiedenen Vorstellungsarten, d. h. aus den besonderen Stufen der Erkenntniss, entspringen alle Leidenschaften, gute wie schlechte2). Von einer repr\u00e4sentativen Bedeutung der Vorstellung, wie sie in der \u00bbEthik\u00ab hei den allgemeinen Beziehungsgesetzen zwischen den Modi getrennter Attribute auftrat, kann allerdings hier wegen des mur erst an einzelnen Stellen durchbrechenden Gedankens des Paral-* lelismus nicht wohl die Rede sein.\nDen Willen im Menschen betreffend, tritt dann in den der \u00bbEthik\u00ab zun\u00e4chst liegenden Partien schon die Seele als Vorstellung ihres K\u00f6rpers auf4); aber doch noch nicht mit der unumschr\u00e4nkten Machtstellung wie in der \u00bbEthik\u00ab. Es finden sich meist bedeutsame Zus\u00e4tze zu dem rein theoretischen Wesen der Seele wie: \u00bbdiese Erkenntniss, Idee u. s. w. von jedem besonderen Ding ist, sagen wir, die Seele eines jeden besonderen Dinges\u00ab5) \u2014 wobei unter\n'\u20221) Tract, brev. I, Cap. VT (5).\t2) Tract, brev., Anhang II (7).\n3)\tTract, brev. H, Cap. II (3).\n4)\tTract, brev. Vorrede zu Theil H, Anmerkg. 1 (6) (9), II, Cap. XX, Anm. (10), Anhang II (9).\n5)\tVorrede zu Theil II, Zusatz 1 (6). Dieses \u00bbu. s. w.\u00ab wird sogar mit Hartn\u00e4ckigkeit festgehalten, so Zusatz 1 (5) (9) (10) (11). Dagegen steht im gleichen","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n327\ndem \u00bbu. s. w.\u00ab nat\u00fcrlich nur andere Bewusstseinsarten wie Gef\u00fchl und Willensregungen verstanden werden k\u00f6nnen. Dementsprechend werden die Ver\u00e4nderungen des Leihes auch nicht durchaus stets als \u00bbVorstellungen\u00ab wahrgenommen, sondern ebenso als Gef\u00fchle. All die Gedanken, die mit einer streng psychologischen Durchf\u00fchrung des logischen Axioms von der Priorit\u00e4t der Vorstellung Zusammenh\u00e4ngen, sind im Tractat noch nicht v\u00f6llig ins Reine gebracht. Bald besteht das Wesen\u2019der Seele allein darin, \u00bbdass eine Idee oder ein objectives Wesen in der denkenden Sache ist\u00ab *), bald sind es die Gef\u00fchle: allein, durch welche die Seele von einer Ver\u00e4nderung des Leibes Kenntniss nimmt* 1 2). Das unsichere Schwanken und Tasten in solchen Wendungen ist nur der Ausdruck davon, dass dem Spinoza zwar schon die principielle Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00fchls von den Vorstellungen feststand, er aber die Art dieser Abh\u00e4ngigkeit, die Modificirung des jeder Vorstellung einwohnenden Selbsterhaltungstriebes noch nicht entdeckt hatte.\nIn der speciellen Anwendung der allgemeinen S\u00e4tze der Willenstheorie im Tractate zeigt sich mindestens ebenso deutlich wie in diesen seihst das Unabgeschlossene und Kl\u00e4rungsbed\u00fcrftige seiner Anschauungen. Gemeinsam mit der \u00bbEthik\u00ab grenzt der Tractat den Willen in der Erkenntniss als \u00bbvoluntas\u00ab von dem Willen als Begehren, der \u00bbcupiditas\u00ab ab, und fasst jenen rein und ausschlie\u00dflich als Bejahung und Verneinung, als positives oder negatives Urtheil3). Aber w\u00e4hrend in der \u00bbEthik\u00ab die Urtheilsdetermination als Entgegnung auf die Verm\u00f6genstheorie eine Rolle spielte, wird hier vielmehr jene aus dem Sturz dieser bewiesen4 5), diese selbst aber aus den absurden Folgerungen, zu denen die Annahme verschiedener Seelenverm\u00f6gen nothwendig f\u00fchren m\u00fcsse6). Doch das Ergehniss bleibt das gleiche; jeder Willensact, d. h. jedes besondere Urtheil\nZusammenhang blo\u00df die Vorstellung als Gegenbild des Objects II, Cap. XX, Anmerkg 3 (6) (9) 10); Anmerkg. 9.\n1)\tTract, brev. Anhang II (9).\n2)\tTract, brev. Anhang II (15) (16); Vorrede zu Theil II, Anmerkg. 1113).\n3)\tTract, brev. Cap. XVI (2) (8).\n4)\tTract, brev. H, Cap. XVI (4). Es beruht danach die Frage nach der Willensfreiheit auf einer falschen Problemstellung.\n5)\tTract, brev. II, Cap. XVI, Anmerkg. 2.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nRaoul Richter.\nsteht streng in die psychische Causalkette als unverr\u00fcckbares Glied eingereiht, und ein Urtheilsverm\u00f6gen ist so gut wie der Gattungsbegriff \u00bbMensch\u00ab nichts Wirkliches, nur eine allgemeine Abstraction ohne Realit\u00e4t, eine \u00bbErdichtung\u00ab. Sehr \u2022 beachtenswerth aber ist jener andere \u2014 in der \u00bbEthik\u00ab nicht mehr aus begreiflichen Gr\u00fcnden statthabende \u2014 Beweis f\u00fcr die Willensdetermination aus der passiven Natur des Erkennens: Nicht wir sind es, welche etwas \u00fcber den Gegenstand aussagen, sondern der Gegenstand ist es, welcher in uns \u00fcber sich etwas aussagt. Genau so, wie wir ihn nicht aus uns heraus erzeugen, sondern er seine Spuren uns auf dr\u00fcckt, genau fso gibt er sich uns auch in seinen guten und schlechten Eigenschaften, ; \u00fcber die wir das Urtheil zu f\u00e4llen meinen, zu erkennen1). Dann kann nat\u00fcrlich von einer Freiheit des Urtheils keine Rede sein; aber ebenso wenig von einem Parallelismus der Attribute ohne Wechselwirkung. So musste dieser Beweis in der \u00bbEthik\u00ab mit dem Erwerb der neuen Anschauung fallen und ein energetischerer Zug in das Urtheil kommen, der dieser Passivit\u00e4tslehre des Tractats fremd geblieben war. Da es ja aber noch die Entwickelung im Tractate selber ist, zumal in den sp\u00e4ter eingef\u00fcgten Stellen, welche die Parallelismustheorie theils streift, theils vor\u00fcbergehend erfasst, so hat man mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass auch hier \u2014 in dem unfertigen Werke \u2014 zwei Str\u00f6mungen neben einander laufen, und besonders gegen das Ende der Abhandlung ein gewisser Zug von Spontaneit\u00e4t wieder in das Erkennen hineinkomme2).\nSo wenig also auch in diesem Punkte die Willenslehre des Tractats zu einem abschlie\u00dfenden Endergebnis kommen kann, so vermag sie auch noch nicht die sp\u00e4tere erl\u00f6sende Formel f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis von Urtheilen und Erkennen, von Willensact und Vorstellung zu finden: die Gleichung zwischen Wille und Intellect3). Dem Sinne nach zwar muss diese schon in der Passivit\u00e4t\n1)\tTract, brev. II, Cap. XVI (5).\n2)\tBusse: Zur Entwiekelungsgesch. Spinoza\u2019s V, S. 192ff.\n3)\tDiese Formel stand dagegen schon zur Abfassungszeit der Principia Car-tesiana und des Tract, de Intell. Emend, fest: \u00bbex qua defmitione non difficile demonstrate esse putat voluntatem ab intelleetu non distipgui\u00ab (Vorrede zu den Princ. Cartes.) und: \u00bbnota quod hic non inquirimus, quoniam prima essentia objectiva nobis innata sit, nam id pertinet ad investigationem naturae, ubi haec","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n329\ndes Erkennens enthalten sein; denn dann muss wahmehmen und urtheilen insofern g\u00e4nzlich zusammenfallen, als der Gegenstand ja beides zugleich bewirkt: sich als Gegenstand zu offenbaren und \u00fcber seine Eigenschaften .Auskunft zu geben. Im anderen Falle aber, wenn wir auf die sp\u00e4tere Selbstth\u00e4tigkeit des Erkennens unser Augenmerk richten, bleiben wir im Unklaren, ob das Urtheil mit der Wahrnehmung zugleich eintritt, oder ihr nachfolgt, und oh es in allen F\u00e4llen oder nur in einigen \u00fcberhaupt statt hat '). Unter den Einw\u00e4nden gegen die Urtheilsdetermination sind einige mit in die \u00bbEthik\u00ab hin\u00fcbergewandert, so vor allem die Aufstellung eines Unterschiedes zwischen Zustimmung aus Ueberzeugung und Zustimmung mit Worten * 1 2) ; dagegen werden hier die dem Problem der Begehrensbestimmt\u2014 heit entnommenen Beispiele im Gegensatz zur \u00bbEthik\u00ab (wo der Esel des Buridan am falschen Platze auftrat) als nicht in eine Behandlung der Urtheilsfreiheit geh\u00f6rig abgewiesen3).\nDie st\u00e4rksten Abweichungen von der sp\u00e4teren Lehre und die gr\u00f6\u00dften L\u00fccken zwischen \u00bbEthik\u00ab und Tractat bietet aber unzweifelhaft das \u00fcber den Willen als Trieb und Begehren, sowie \u00fcber die Gef\u00fchle Vorgetragene. Die Begierde wird zwar anerkannt, aber ihre Natur nicht erkl\u00e4rt; eine Zur\u00fcckf\u00fchrung auf den Selbsterhaltungstrieb findet nicht statt; nur einige Mal leuchtet der Gedanke vom \u00bbGonatus\u00ab im Tractate hindurch, dann aber auch \u00fcber die \u00bbEthik\u00ab Licht verbreitend: einmal als Vorsehung Gottes, deren beide Seiten (providentia particularis und universalis) den Wesensbegriff uns erkl\u00e4ren halfen4), und in dem Selbsterhaltungstrieb als Folge von der \u00bbVorstellung als Seele des K\u00f6rpers\u00ab \u2014 welche Auffassung den sp\u00e4teren Versuch, auch das Begehren zu intellectualisiren, uns deutete. Dieser Versuch selbst findet aber im Tractate noch nicht statt. Das Streben wird nicht erkl\u00e4rt, sondern umschrieben; es ist\nfosius explioatur et simul ostenditur, quod praeter ideam nulla datur affirmatio Deque negatio neque ulla voluntas\u00ab.\n1)\tDieser Zweifel entstellt n\u00e4mlich dadurch, dass im Tractat durch die vorwiegend ethische F\u00e4rbung auch aller intellectuellen Proc\u00e8sse der \"Wille nur \u00fcber das Gute und Schlechte, nicht \u00fcber alle Eigenschaften des Gegenstandes aussagt.\n2)\tTract, brev. II, Cap. XVI (6).\t3) Tract, brev. H, Cap. XVI (8).\n4) Siehe oben S. 282.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nRaoul Richter.\nnicht wie in der \u00bbEthik\u00ab die bewusste Tendenz einer Ursache zu ihrer-Wirkung, es ist \u00bbdie Neigung der Seele zu etwas, was sie als gut erw\u00e4hlt\u00ab, d. h. die Begierde ist \u2014 Begierde. Sie ist ein neues voluntaristisches, nicht weiter aufl\u00f6sbares oder zur\u00fcckzuf\u00fchrendes Element. Sie ist auch noch nicht, wie sp\u00e4ter, die Richtung der Gedanken ; der gro\u00dfe Entschluss, sie und den Selbsterhaltungstrieb systematisch zu intellectualisiren, fehlt noch. Dies ist das wesentlichst Neue, was in der \u2019Willenslehre die \u00bbEthik\u00ab dem Tractate hinzuf\u00fcgt. Deshalb scheint auch die Hypothese T\u00f6nnies\u20191), zwischen den Ahfassungszeiten beider Werke den Einfluss des Hobbes wirken zu lassen, an sich \u00e4u\u00dferst wahrscheinlich; wahrscheinlicher als die daraus gezogenen Folgerungen. Denn aus den Werken seines englischen Zeitgenossen lernte Spinoza wohl auf die Wichtigkeit des Selbsterhaltungstriebes f\u00fcr Psychologie und Ethik streng aufmerksam werden, aber er war zu selbst\u00e4ndig, seine Geistesart zu verschieden von der des sensualistischen Materialisten, um ein diesem entlehntes voluntaristisches Princip mehr oder minder unvermittelt in seine intellectualistischen Grundanschauungen aufzunehmen. Er ordnete es vielmehr diesen ein, indem er es, soweit dies m\u00f6glich, an seinen tiefsten Wurzeln zum logischen Reflex causaler Bestimmungen stempelte. Wie er das that, wurde schon ausf\u00fchrlich dar-gethan. Ebenso wurde schon der Gedanke gestreift, dass die Natur der Begierde im Tractate voluntaristischer gefasst sei wie in der \u00bbEthik\u00ab. Die schlagendste Stelle daf\u00fcr hatte eine Anmerkung unter dem Texte bereits w\u00f6rtlich angef\u00fchrt2), und sie soll nicht noch einmal . wiederholt werden. Der Ursprung des Begehrens im Tractate allerdings ist ein rein intellectualistischer. Es entspringt einem vorhergegangenen Schluss \u00fcber das Gute und Schlechte in den Dingen, die man danach begehrt oder verabscheut3). In der \u00bbEthik\u00ab entsteht es unmittelbar aus den Gef\u00fchlen, also mittelbar aus den Vorstellungen, hier aber unmittelbar aus diesen. Insofern kann man sagen, dass seine Entstehung in der \u00bbEthik\u00ab weniger intellectualistisch gef\u00e4rbt sei. Da die Begierde im Tractate ein gewisserma\u00dfen in der Luft schwebender Begriff, und noch keine blo\u00dfe Spielart des mit der\n1)\tStudie zur Entwickelungsgesch. u. s. w.\n2)\tSiehe oben S. 250, Anmerk. 2.\t3) Tract, brev. II, Cap. XVI (8).","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n331\nstrengen Urbestimmung gleichbedeutenden Selbsterhaltungstriebes ist, fallen auch alle sp\u00e4teren Schwierigkeiten zwischen den Gleichungen: conatus = essentia rerum und idea = essentia mentis hier hinweg. Dagegen \u00fcberhebt das Bestehen eben dieser ersten Gleichung die \u00bbEthik\u00ab jedes weiteren Beweises f\u00fcr die Determination der Begierde, w\u00e4hrend umgekehrt der Tractat zu einem solchen verpflichtet ist. Er f\u00fchrt ihn einmal psychologisch-empirisch, indem zu zeigen versucht \u25a0wird, dass ein Begehren so lange fortbesteht, bis es durch ein anderes abgel\u00f6st wird1), und logisch-apriorisch aus der TJndenkbarkeit eines Begehrungsverm\u00f6gens, welches sich selbst bestimmte2). Dabei wird auf das mangelnde Urtheilsverm\u00f6gen hingewiesen, aber eine weitere Verwandtschaft in der Natur der zwei \u00bbWillen\u00ab nicht aufgedeckt; wie in der \u00bbEthik\u00ab ist auch hier die Frage von der \u00bbvoluntas\u00ab zur \u00bbcupiditas\u00ab offen gelassen, aber es wird wenigstens eine zeitliche Abh\u00e4ngigkeit auf gestellt, nach welcher das Urtheil der Begierde vorangehen muss, welche Bestimmung unter den ge\u00e4nderten Gesichtspunkten der \u00bbEthik\u00ab nat\u00fcrlich wiederum fortf\u00e4llt. Doch neue Gesichtspunkte schaffen auch neue Probleme. So besteht f\u00fcr den kurzen Tractat gar keine Schwierigkeit, den Begriff des gew\u00f6hnlichen Handelns \u2014 das \u00bbabsolute conari\u00ab der \u00bbEthik\u00ab \u2014 zu gewinnen. Denn da diese nur aus der strengen Durchf\u00fchrung des Parallelismus, welche im Tractat wohl als Gedankenblitz, aber nicht als systematische Forderung auftritt, erwachsen, k\u00f6nnen Ausdr\u00fccke wie \u00bbbewirken\u00ab, \u00bbf\u00f6rdern\u00ab, \u00bbvollbringen\u00ab u. s. w., mit einem Worte psycho-physische Ausdr\u00fccke, auf den Menschen angewandt, einwandfrei gebraucht werden. Nur mit jener schw\u00e4cheren Gegenstr\u00f6mung, welche diese Wechselwirkung von Leib und Seele leugnen und letzterer eine Activit\u00e4t zugestehen m\u00f6chte, gerathen sie auch schon im Tractate selbst in Widerspruch.\nWie das Begehren einem Erkenntnissact, dem logischen Schl\u00fcsse, so entspringen die Gef\u00fchle den Erkenntnissstufen \u00bbWahn\u00ab, \u00bbGlauben\u00ab, \u00bbwahrer Erkenntniss\u00ab. Dem Satz von der Priorit\u00e4t der Vorstellungen treu, bleiben also die Gef\u00fchle abh\u00e4ngig von diesen. Ihr Wesen aber wird \u2014 da sie noch nicht wie sp\u00e4ter in ein st\u00e4ndiges\n1)\tTract, brev. II, Cap. XVII (3) (4).\n2)\tTract, brev. II, Cap. XVII (5).","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nRaoul Richter.\n/Verh\u00e4ltniss zum Selbsterhaltungstrieb treten1) \u2014 auch wie bei der Begierde mit Worten umschrieben, aber nicht erkl\u00e4rt. Auch werden dem aufgestellten Programm entgegen nur die aus dem \u00bbWahn\u00ab entspringenden Affecte er\u00f6rtert; der \u00bbGlaube\u00ab liefert nur Einsicht in die G\u00fcte und Schlechtigkeit der Leidenschaften, aber selbst keinen Affect2). Dennoch blitzen auch in der Affectenlehre des Tractats \u00fcberall Gedanken der \u00bbEthik\u00ab vorwegnehmende, unvollendete, von dieser erst zu Ende gedachte Einsichten auf, so: dass Liebe stets \u00bbSt\u00e4rkung und Vermehrung, was Vollkommenheit ist\u00ab3), Hass \u00bbSchw\u00e4chung und Vernichtung, was Unvollkommenheit ist\u00ab4) wirke, dass Traurigkeit und Unlust als schlecht zu verwerfen, ihre Entstehung nur dem Wahne, oder der Imagination zuzurechnen sei4). Im allgemeinen aber ist es mehr auf eine Werthung wie Erkl\u00e4rung der Leidenschaften abgesehen, was gleichfalls darin liegt, dass S pirn oz a das Wesen des Gef\u00fchls, seine Beziehung zum Willen noch \"\u2022nicht entdeckt hatte; da diese aber den Grundzug des gesammten HI. Theiles der \u00bbEthik\u00ab ausmacht, so ist es erkl\u00e4rlich, dass dieser Theil fast ganz im Tractate fehlt, w\u00e4hrend die \u00fcbrigen vier in ihren Skeletten wenigstens hier schon enthalten sind. So l\u00e4sst sich auch \u00fcber die Beziehungen zwischen Gef\u00fchl und Begehren vom Standpunkt des Tractats aus nichts aussagen: dieses wie jenes entspringt ja direct aus den Erkenntnissen, und so trifft hier den Spinoza mit weit gr\u00f6\u00dferem Hechte der Vorwurf einer unberechtigten xCoordination von Gef\u00fchl und Wille als in der \u00bbEthik\u00ab; besteht sie in der \u00bbEthik\u00ab zwar in den Worten, so doch nicht dem Sinne nach6), im Tractate dagegen, wenn auch unausgesprochen, gerade dem Sinne nach. Daher auch werden die \u00bbbegehrenden\u00ab Leidenschaften und die rein \u00bbf\u00fchlenden\u00ab, wie sie sp\u00e4ter die \u00bbEthik\u00ab trennt, im Tractate noch ganz durcheinandergeworfen, ja oft in verschiedenen Definitionen des n\u00e4mlichen Affects vermengt. So ist der Hass einmal \u00bbeine Neigung, dasjenige von sich abzuwehren, was uns irgend ein Leid oder einen Schaden verursacht hat\u00ab6), \u2014 also ein Wollen, und zugleich\n1)\tYgl. die Def. der Liebe Tract, brev. II, Cap. Y (1) und die des Hasses 11, Cap. YT (1).\n2)\tTract, brev. H, Cap. IV.\t3) Tract, brev. II, Cap. VI (8).\n4) Tract, brev. H, Cap. YH (2).\t5) Siehe oben S. 301 f.\n6) Tract, brev. II, Cap. VT (1).","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n333\n\u00bbeine Erregung der Seele gegen jemand, der uns Uebles gethan hat mit Wissen und Willen\u00ab \u201c) \u2014 also ein Gef\u00fchl. Andere Definitionen wieder \u2014 so die der Hoffnung2) \u2014 kommen mit denen der \u00bbEthik\u00ab fast w\u00f6rtlich \u00fcberein. Aus dem Sitz der Gef\u00fchle entstehen im Tractate ebenso wenig wie aus der k\u00f6rperlich-seehschen Natur der Begierde des unausgebildeten Parallelismus wegen irgendwelche Schwierigkeiten. Auch hier trennt Spinoza rein k\u00f6rperliche und rein seelische Gef\u00fchle. So wird das Lachen lediglich als Wirkung der Lebensgeister hingestellt, und seine Behandlung (wie auch in der \u00bbEthik\u00ab) als nicht zum Thema geh\u00f6rig abgelehnt3). \u2014 Von den drei Seitenbegriffen ist es ausschlie\u00dflich die Freiheit, welche im Tractate eine Rolle spielt. Sie deckt sich ziemlich mit der sp\u00e4teren, nur sch\u00e4rfer pr\u00e4cisirten Begriffsbestimmung. Dem sch\u00f6nen Satze \u00bbDei servitus summa libertas\u00ab steht hier jener anderslautende gleich-gesinnte zur Seite : \u00bbunsere wahre Freiheit ist, dass wir mit den lieblichen Ketten der Gotteshebe gebunden sind und bleiben\u00ab4 5); die philosophisch-systematische Definition der Freiheit, etwas schwerf\u00e4lliger wie in der \u00bbEthik\u00ab, aber dem Sinne nach die gleiche, lautet: \u00bbDie Freiheit ist eine feste Wirklichkeit, welche unser Verstand durch seine unmittelbare Vereinigung mit Gott erh\u00e4lt, um in sich Ideen und au\u00dfer sich Wirkungen hervorzubringen, die mit seiner Natur wohl \u00dcbereinkommen, ohne dass seine Ideen noch seine Wirkungen irgend einer \u00e4u\u00dferen Ursache unterworfen sind, durch welche sie ver\u00e4ndert oder verwandelt werden k\u00f6nnten\u00ab8).\nDie Erreichung dieser Freiheit aber beruht rein auf einem Er-kenntnissprocess; einen eigentlich ethischen Willen \u2014 und sei es auch blo\u00df der Wille zum Leben mit einer moralisirenden Etiquette versehen \u2014 kennt der Tractat nicht, kann ihn nicht kennen. Denn wenn auch die Erhaltung und F\u00f6rderung des eigenen Nutzens vor\u00fcbergehend einmal als \u00bballeiniger ethischer Grundsatz\u00ab6 *) auf tritt, so ist doch der Quell aller Leidenschaften klare oder unklare Erkenntniss, und damit ist es diese, welche nothgedrungen das Fundament aller\n1)\tTract,\tbrev.\tII,\tCap.\tVI (4).\t2)\tTract,\tbrev.\tII,\tCap.\tIX\t(3).\n3)\tTract,\tbrev.\tII,\tCap.\tXI (2).\t4)\tTract,\tbrev.\tII,\tCap.\tXXVI (5).\n5)\tTract.\tfbrev.\tII,\tCap.\tXXVT\t(9) ; vgl. Zusatz 1.\n6)\tTract,\tbrev.\tII,\tCap.\tXXVI\t(5).\nWundt, Philos. Studien. XIY.\n22","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nRaoul Richter.\nMoral wird ausmachen m\u00fcssen. Die Tugend aber beruht eirm'g und allein auf der h\u00f6chsten, der intuitiven Erkenntnissart1). Denn ihr\u2014 und ihr allein \u2014, so sch\u00e4rft der Tractat wiederholt und eindringlich ein, entspringt jenes letzte ethische Ziel, die Liebe zu Gott, welche ein unmittelbares Ergehniss seiner Erkenntniss ist2). Damit aber ist als ethische Aufgabe gestellt: in der Erkenntniss h\u00f6her und h\u00f6her bis zur Intuition aufzusteigen. Die Werthung der Affecte geschieht nicht ganz folgerichtig nicht nur an den Erkenntnissarten. Zwar wird dieser Ma\u00dfstab verk\u00fcndet und auch an die dem Wahne entspringenden Leidenschaften angelegt3), aber im weiteren Verlaufe macht er einem neuen in der Passivit\u00e4t des Erkennens begr\u00fcndeten Platz: dem Werth oder Unwerth der Objecte4). Nur ganz vor\u00fcbergehend werden die Affecte dann auch am Selbsterhaltungstrieb gemessen5). Von allen drei Ma\u00dfst\u00e4ben aber wird hei der Sch\u00e4tzung der Affecte in den zehn diesbez\u00fcglichen Capiteln6) durcheinander Gebrauch gemacht.\nFassen wir das Ergebniss der kurzen der Entwicklung geltenden Vergleichung zwischen \u00bbTractat\u00ab und \u00bbEthik\u00ab zusammen: Im allgemeinen trennt auch in der Willenslehre die fr\u00fcheste urkundlich bezeugte Phase von der sp\u00e4teren in sich abgeschlossenen das was die beiden \u00fcberhaupt von einander trennt: nicht so sehr die principiellen Unterschiede, gro\u00dfe, sich vollziehende Umw\u00e4lzungen, \u00e4u\u00dferste Widerspr\u00fcche \u2014 vielmehr Grade der Reife, der Vertiefung, des Umfangs in der Durchf\u00fchrung und Anwendung der leitenden Grundgedanken. Besonders was den Willen in Gott und die damit zusammenh\u00e4ngenden Fragen angeht, so sind es fast lediglich Pr\u00e4cisionsunterschiede in den Begriffen, Ausdehnungsunterschiede in ihrer Anwendung, welche den Tractat als unfertige, aber in gerader Linie auf die \u00bbEthik\u00ab f\u00fchrende Schnft erscheinen lassen. In der Grundanschauung stimmt, hier alles \u00fcberein. Auch die Schw\u00e4chen in der Aufstellung eines \u00bbGottesbewusstseins\u00ab theilt die sp\u00e4tere Schrift mit der fr\u00fcheren.\n1)\tTract, brev. H, Cap. XXII.\n2)\tTract, brev. n, Cap. Y (11) (12), Cap. XYHI (2) (8).\n3)\tTract, brev. II, Cap. II (3) Cap. m\n4)\tTract, brev. II, Cap. V.\n5)\tTract, brev. II, Cap. VI (8), Cap. VII (2).\n6)\tTract, brev. II, Cap. V\u2014XV.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza's.\n335\nEbenso hat in beiden die bezeichnende Intellectualisirung der ewigen Modi, die Anerkennung eines unendlichen Verstandes, und die Aberkennung eines unendlichen Willens gleichm\u00e4\u00dfig statt. Aber in der Deutung empirischer Wirklichkeiten, der Psychologie des Menschen insonderheit, trennen sich die Werke. Begreiflicher Weise \u2014 denn all dieses, so sehr es dem empirischen und inductiven Denker obenan steht, ist der rationalistischen und deductiven G-eistesart Spinoza\u2019s eigentlich nur Anwendung. Die Principien stehen ihm zuerst fest. Nun gilt es ihre Ausf\u00fchrung in dem ganzen Reich der Erfahrung. Es ist erkl\u00e4rlich, dass diese in einer ersten Schrift des jungen Philosophen nur in Umrissen mit vielen Verzeichnungen, manchen Unklarheiten gegeben werden konnte. Es brauchte jahrelangen Nachdenkens, um den vollendeten Ausbau zu bewerkstelligen, der, auf den ersten Blick ein scheinbar l\u00fcckenloser, die Welt auf Jahrhunderte hinaus in starres Erstaunen setzen sollte. Aber auch alle metaphysischen Anschauungen stehen im Tractat noch nicht fest. Und besonders aus ihrer Unfertigkeit erkl\u00e4ren sich die zwei gewichtigsten Unterschiede zwischen der Willenslehre in der \u00bbgro\u00dfen\u00ab und \u00bbkleinen\u00ab Ethik: Es ist der Mangel in der Durchf\u00fchrung des Parallelismus, welcher die Activit\u00e4t des Willens in der Erkenntniss, im * Urtheil in reine Passivit\u00e4t umformt, und es ist das Pehlen des Aper\u00e7u von der Identit\u00e4t von Wille und Wesen, Causalit\u00e4t und Tendenz, Selbsterhaltungstrieb und Urbestimmung der Dinge, welche die Abweichungen in der Entstehung der Affecte, in den Beziehungen von Gef\u00fchl und Begehren, in der beiderseitigen ethischen Werfhung in erster Linie bedingt. Neben den Trennungspunkten d\u00fcrfen die gemeinsamen nicht unerw\u00e4hnt bleiben: Zun\u00e4chst ist es die Priorit\u00e4t des Intellects \u00fcber den Willen, der Vorstellung vor Gef\u00fchl und Begehren, welche der gesammten Willenslehre des Spinoza von der ersten Stufe an, wo der Wille ein \u00bbLeiden\u00ab, bis zur letzten, wo er das \u00bbWesen\u00ab bedeutet, durchaus gemeinsam ist. Dann aber auch ist es die eng mit den tiefsten Punkten seiner Metaphysik zusammenh\u00e4ngende Determination alles Wollens, des im Urtheil so gut Wie im Begehren, und wo kein Wille ist, alles Wirkens, auch des g\u00f6ttlichen, welches niemals auch nur die geringste Schwankung im Geiste des Philosophen seit seiner ersten Schrift erfahren hat1); der\n1) Eine solche Schwankung, besser Schwenkung hat Schopenhauer auf\n22*","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nRaoul Richter.\nSturz eines besonderen Willensverm\u00f6gens, auch ein all\u2019 seinen die eigene Lehre Vortragenden Werken gemeinsamer Zug, ist dann nur eine durch die nominalistische Auffassung vielleicht erleichtert aufgefundene Consequ\u00e8nz d\u00e8s Determinismus. F\u00fcr die Entwickelung der beiden nicht von vornherein festliegenden Anschauungen: des Parallelismus und der Selbsterhaltung als des Wesens der Dinge bietet zun\u00e4chst f\u00fcr erstere der Tractat selbst zahlreiche Anhaltspunkte. Die unabweisbaren Folgerungen aus der Annahme einer Substanz und zweier erkennbarer Attribute dr\u00e4ngen schrittweise noch innerhalb des Werkes selbst zu einem Zusammenfallen dieser in die Substanz, lind damit zur Correspondenz ihrer Modificationsreihen, d. h. zum Ausschluss aller Wechselwirkung und zur Verk\u00fcndigung einer beiden Reihen eigenen Activit\u00e4t1). F\u00fcr die n\u00e4here Bestimmung des Selbst-\nGrund der Princ. Cart, behauptet und Spinoza mit Voltaire und Priestley zu den \u00bbBekehrten\u00ab gez\u00e4hlt, die erst sp\u00e4t die indeterministische Ansicht der deterministischen geopfert h\u00e4tten; dieses Versehen konnte ihm nur durch ein Au\u00dferachtlassen der Vorrede des Werkes unterlaufen (vgl. K. Fischer, Descartes und seine Schule, Bd. II, S. 284).\n1) In dieser durchaus schon feststehenden Activit\u00e4t des Erkennens oder in der Einsicht, dass jedes Denken ein Urtheilen ist, sehe ich den einzigen Fortschritt der W\u00fclenslehre in den \u00bbCogitata metaphysica\u00ab zur \u00bbEthik\u00ab hin; dort n\u00e4mlich hei\u00dft es bereits, in deutlichem Gegensatz zu der Passivit\u00e4tstheorie des ;'\u00bbkurzen Tractats\u00ab: \u00bbMentem humanam diximus esse rem cogitantem; unde se-quitur illam ex sola sua natura, in se sola spectata aliquid agere posse, videlicet cogitare, hoc est affirmare et negare.\u00ab (Cogit. metaph. S. 230); hierdurch ist also die Formel voluntas = intellectus, im Sinne der \u00bbEthik\u00ab verstanden, bereits aufgefunden. Im \u00fcbrigen aber sind die schon erworbenen, in der Schrift \u00fcber Descartes (oder in der Vorrede L. Meyer\u2019s) aber nur zwischen den Zeilen zu lesenden Ergebnisse seiner W\u00fclensphilosophie noch die n\u00e4mlichen wie im \u00bbkurzen Tractat\u00ab. So erfahren wir die gr\u00f6bsten Abweichungen der eigenen Ueberzeugungen von den vorgetragenen ja gleich aus der Vorrede: das Schob zum XV. Lehrsatz des I. Theils der \u00bbPrincipia\u00ab sowie das XII. Capitel des H. Theils der \u00bbCogitata\u00ab enthielten nicht Spinoza\u2019s Ansicht, \u00bbobgleich sie mit gro\u00dfer Anstrengung und Zur\u00fcstung bewiesen werden\u00ab. Das Gek\u00fcnstelte und Unnat\u00fcrliche im Ausdruck, was jede Aufgabe, fremde Anschauungen zu beweisen, mit sich bringt, wird denn auch jeder leicht an diesen Stellen hindurchf\u00fchlen. In beiden F\u00e4llen handelt es sich in erster Linie um die Willensfreiheit. Strengste Determination war aber schon eines der Grunddogmen des \u00bbkurz. Tract.\u00ab gewesen. Weiter lehrt uns die Vorrede, dass nach Spinoza\u2019s Ansicht der Wille vom Verst\u00e4nde nicht verschieden sei \u2014 wie wir schon an der unbedingten Activit\u00e4t des Erkennens gesehen hatten \u00bbja sein Verm\u00f6gen zu bejahen und verneinen sei nur eingebildet; das Bejahen und Verneinen sei nichts au\u00dfer den Vorstellungen; und die \u00fcbrigen Verm\u00f6gen, wie der Verstand, die Begierde u. s. w. m\u00fcssten unter die Einbildungen","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\n337\nerhaltungstriebes mag der Einfluss des Hobbes in dem Sinne ma\u00dfgebend gewesen sein, dass er den Spinoza den verzweifelten Versuch\noder jene Begriffe gerechnet werden, welche die Menschen durch Abstraction gebildet, wie Menschheit Steinheit und andere der Art\u00ab. Den Sturz der Seelenverm\u00f6gen hatte nun schon zweifellos in voller Sch\u00e4rfe der \u00bbkurze Tract.\u00ab verk\u00fcndet. \u2014 Geht man die ganze Schrift der \u00bbPrinc. Cart.\u00ab nebst dem Anh\u00e4nge auf die Willenslehre hin durch, so findet sich daf\u00fcr Material nur im ersten Theil der \u00bbPrincipia\u00ab und im Anhang. So steht gleich die XI. Prop, fin ersten Theil in einem lehrreichen Gegensatz zur \u00bbEthik\u00ab; sie schreibt Gott einen Intellect zu und zwar aus den n\u00e4mlichen Gr\u00fcnden, aus denen die \u00bbEthik\u00ab (I, Pr. XVII, Sch.) ihn ihm abgesprochen hatte. Freilich weist das Schol. gleich auf die freiere, schon Spinozischere Behandlungsweise der Frage im \u00bbAnh\u00e4nge\u00ab hin; dort bekommen wir auch zu h\u00f6ren, dass Gottes Wille, seine Macht und Verstand gleichbedeutend w\u00e4ren (vgl. auch Princ. Cart. I, Pr. XVII, Corollar), d. h. wir lesen zwischen den Zeilen den Gottesbegriff des \u00bbkurz. Tract.\u00ab und der \u00bbEthik\u00ab heraus, auch in Bezug auf seinen Willen und die Noth Wendigkeit seines Wirkens. Echt cartesianisch nat\u00fcrlich musste dem Zwecke der Schrift gem\u00e4\u00df die Erkl\u00e4rung des Irrthums ausfafien (Princ. Cart. I, Pr. XV, Sch.). Hier wird mit den Beweismitteln Descartes\u2019 die Freiheit des menschlichen Willens behauptet; beachtenswerte bleibt dabei die Einteilung der Willensarten in Begehren, Verabscheuen, Bejahen, Verneinen, Zweifeln, von denen die ersten zwei Doppelglieder die systematischen Schriften Spinoza\u2019s als getrennte Grundarten beibehalten, den Zweifel aber nur als Derivat gelten lassen. Das Begehren und Verabscheuen wird dann, dem Thema der Irrthumserkl\u00e4rung entsprechend, in der weiteren Behandlung bei Seite gelassen. Der vorgestellte Pegasus, der in der \u00bbEthik\u00ab als Beispiel galt, dass auch die Vorstellungen, deren realer Existenz ich nicht zustimme, Urtheilsacte enthalten (Ethik II, Pr. XLIX Schol.) tritt hier als Zeuge auf f\u00fcr die gegenteilige Auffassung, als Beispiel einer urtheils-, also willens-, also irrthumslosen Vorstellung. Selbstverst\u00e4ndlich ist dann auch hier zur (Rechtfertigung der Willensfreiheit der Cartesianische, in der \u00bbEthik\u00ab aufs sch\u00e4rfste bek\u00e4mpfte Satz von der Unendlichkeit des Willens und der Endlichkeit des Intellects zur Stelle. Doch leitet das sich aus den Cartesianischen Anschauungen von selbst ergebende Problem der nothwendigen Zustimmung zu den klaren Vorstellungen in seiner Unvertr\u00e4glichkeit mit der Freiheit von selbst zu der auch hier ausgesprochenen Spinozischen Ansicht hin\u00fcber, dass Selbstbestimmung Freiheit sei: \u00bbverum si ad modos volendi prout ab invicem diff\u00e9rant, attendamus, alios aliis perfectiores inveniemus, prout alii aliis voluntatem minus indifferentem, hoc est magis liberam reddunt\u00ab. Im Anhang \u2014 den cogitata metaphysica \u2014 schwankt der Gottesbegriff zwischen dem transcendenten Descartes\u2019 und dem pantheistischen Spinoza\u2019s; aber er neigt doch mehr zu letzterem her\u00fcber. Zwar finden sich ausdr\u00fccklich zwei Capitel Gottes Verstand und Willen gewidmet, aber schon in den vorangehenden war eine Ver\u00e4nderlichkeit selbst von innen heraus, also auch des Willens Gottes, ausgeschlossen worden (Cap. IV;, Gottes Verstand aber wird in eine Vorstellung, sein Wille in den Verstand, beide in sein unver\u00e4nderliches Wesen aufgel\u00f6st (Cap. VIII, X), und obwohl hier und da von einer M\u00f6glichkeit Gottes, die Welt anders haben schaffen zu k\u00f6nnen,","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nRaoul Richter, Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2019s.\nwagen lie\u00df, auch in seinem tiefsten Keime den Willen dem Verst\u00e4nde nicht nur unterzuordnen, sondern ihn, soweit dies \u00fcberhaupt auch nur gedanklich m\u00f6glich, zu intellectualisiren.\nund von einem Eingriff in die geschaffene die Rede ist, bricht doch der Gedanke vom nothwendigen Abfluss der Welt aus Gott aus allen Verh\u00fcllungen hindurch. Es tritt anch hier die im Tractate nur dem Sinne nach noch nicht in den Worten gefundene Formel auf: Gottes Macht = Gottes Wesen. Die n\u00e4mlichen Schwankungen im Gottesbewusstsein, die wir in Tractat und \u00bbEthik\u00ab kennen lernten, bestehen auch hier (Cap. VU, Schluss). Die gleiche allgemeine Doppeldeutigkeit der ganzen Schrift erstreckt sich auf die Willenslehre beim Menschen. Einmal werden ausf\u00fchrliche Beweise f\u00fcr den Indeterminismus gegeben und dann wieder soll die Vereinigung der Allmacht Gottes mit der menschlichen Freiheit \u00bbunsere Fassungskraft \u00fcbersteigen\u00ab (Cap. XI; diesen Ausdruck weist die Vorrede als un-spinozisch zur\u00fcck). Interessant ist es, wie einer der Indeterminationsbeweise wieder gerade mit dem sp\u00e4ter deterministisch verwendeten Satze: \u00bbErkennen ist Urtheilen\u00ab operirt. Dieser Satz bedeutet sp\u00e4ter die Aufl\u00f6sung eines Willensverm\u00f6gens; hier, um mit Descartes F\u00fchlung zu behalten, wird die Seele als \u00bbUrsache solcher Th\u00e4tigkeiten\u00ab zum Willensverm\u00f6gen gestempelt. Im Einklang mit der \u00bbEthik\u00ab und im Gegensatz zum \u00bbTractat\u00ab wird dann noch ein vom Begehren entlehntes Beispiel (Esel des Buridan) hineingezogen, freilich nur, um mit einer Verlegenheitsphrase entschieden zu werden. Um so sonderbarer wirkt danach der Vorwurf, den Spinoza seinen Gegnern macht, sie vermengten in ihren Einw\u00e4nden Freiheit des Urtheilens und Begehrens! Nach alledem wird man zugeben, dass der wahre Fortschritt in dieser Schrift betreffs der Willenslehre nur in der reineren Darstellung der Activit\u00e4t des Erkennens und der sch\u00e4rferen Pr\u00e4-cisirung der Gleichung zwischen Urtheilen und Vorstellen zu suchen ist.","page":338}],"identifier":"lit4511","issued":"1898","language":"de","pages":"242-338","startpages":"242","title":"Der Willensbegriff in der Lehre Spinoza\u2018s, Schluss","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:25:48.077715+00:00"}