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{"created":"2022-01-31T14:23:57.676599+00:00","id":"lit4515","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Schulze, Rudolf","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 14: 471-489","fulltext":[{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse1).\nYon\nRudolf Schulze\nLeipzig.\nLassen wir auf unser Geh\u00f6rorgan einen Ton einwirken, der physikalisch durch eine Sinusschwingung dargestellt wird, so ist die diesem physikalischen Vorg\u00e4nge entsprechende Empfindung eine einfache. Wirken dagegen zwei oder mehrere Sinusschwingungen ein, so sind die Verh\u00e4ltnisse in der Empfindung wesentlich andere. Nicht allein, dass man die entstehende Empfindung als ihrem Wesen nach verschieden auffasst von allen solchen, die durch einfache Sinusschwingungen hervorgerufen werden, sondern man ist auch im Stande, die Empfindung nachzuweisen als die Summe mehrerer Empfindungen, also zu analysiren.\nNachdem Helmholtz in den mitschwingenden Theilen des mem-hran\u00f6sen Geh\u00f6rorgans ein physiologisches Oorrelat f\u00fcr die F\u00e4higkeit gefunden hatte, zusammengesetzte Kl\u00e4nge zu analysiren, hat die M\u00f6glichkeit der Analyse von simultanen Geh\u00f6rsempfindungen ihre prohlematische Natur verloren. Hat man aber einmal das Geh\u00f6rorgan mit der F\u00e4higkeit ausgestattet, gleichzeitig gegebene Eindr\u00fccke\n1) Die hier beschriebenen Versuche wurden bereits in den Jahren 1891\u201493, also l\u00e4ngere Zeit vor den neueren Versuchen und Discussionen \u00fcber Tonverschmelzung ausgef\u00fchrt. Aus diesem Grunde und wegen der vielfach abweichenden Methoden, die von anderer Seite in Verfolgung derselben Frage angewendet worden sind, unterlasse ich eine Discussion fremder Versuche und Methoden und beschr\u00e4nke mich auf die Mittheilung der eigenen Versuche und der aus denselben sich ergebenden Resultate.\tR. S.","page":471},{"file":"p0472.txt","language":"de","ocr_de":"472\nRudolf Schulze.\nzu analysiren, so m\u00fcsste man erwarten, dass die Analyse auch wirklich in allen F\u00e4llen vollzogen werde, und dass es nicht m\u00f6glich sei. zwei gegebene T\u00f6ne in der Empfindung so zu vereinigen, dass sie nur eine einzige Empfindung ergeben. Dieser Fall hegt aber that-s\u00e4chlich vor. Einzelkl\u00e4nge beispielsweise, in welchen ein Grundton mit den zugeh\u00f6rigen Obert\u00f6nen enthalten ist, flie\u00dfen unter den gew\u00f6hnlichen Bedingungen fast stets zu einem einheitlichen Klange zusammen. Diese Schwierigkeit hat Helmholtz sofort erkannt und sie zu beseitigen gesucht durch den Hinweis auf ein allgemeines Gesetz aller menschlichen Sinneswahrnehmungen. So wie in allen anderen Sinnesgebieten diejenigen zusammengesetzten Empfindungen, welche constant in derselben Verbindung wiederkehren, als einfache aufgefasst werden, so sei es auch hei den Tonempfindungen.\nEs bestehen aber ferner auch Unterschiede in der Schwierigkeit der Analyse von Zusammenkl\u00e4ngen. Octaven und Quinten sind in der Empfindung schwerer auseinander zu halten als Terzen und Secunden u. s. w. Es gilt hier in Bezug auf die verschiedene Schwierigkeit der Analyse das Gesetz der musikalischen Verwandtschaft zu erkl\u00e4ren, welches besagt, dass Consonanzen schwerer zu analysiren sind als Dissonanzen.\nNun w\u00fcrde sich allerdings mit R\u00fccksicht auf die Helmholtz-sche Theorie die M\u00f6glichkeit, ja die Forderung einer verschiedenen Schwierigkeit der Analyse bestimmter Intervalle von selbst ergeben. In Analogie mit anderen Sinnesgehieten wird man n\u00e4mlich erwarten, dass die Analyse in den F\u00e4llen, wenn eine Erregung benachbarter Nervenfasern stattgefunden hat, schwieriger sein muss als in denjenigen, in welchen die erregten Fasern weit von einander liegen. Demnach m\u00fcssten beispielsweise Secunden schwerer zu analysiren sein als Quinten und Octaven. Von einem solchen Verhalten ist aber keinem Musiker oder Tonpsychologen etwas bekannt.\nEs hegen also \u00fcber die Analyse gleichzeitiger Tonempfindungen mit R\u00fccksicht auf die Helmholtz\u2019sche Theorie folgende Fragen vor:\nI. Welches ist die Ursache der in der verschiedenen Schwierigkeit der Analyse zum Ausdruck kommenden musikalischen Verwandtschaft?\nH. Warum ist bei naheliegenden T\u00f6nen die Analyse nicht erschwert, wie nach Helmholtz\u2019 Theorie zu erwarten steht?","page":472},{"file":"p0473.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse.\n473\nI.\nBei der experimentellen Untersuchung dieser Fragen richtete ich mein Hauptaugenmerk auf zwei Punkte, n\u00e4mlich erstens darauf, dass zu den Versuchen m\u00f6glichst reine T\u00f6ne Verwendung fanden, und zweitens darauf, dass die Kl\u00e4nge gleichzeitig anfingen und aufh\u00f6rten. Was den ersten Punkt anlangt, so ist es eigentlich selbstverst\u00e4ndlich, dass man hei Versuchen, wo es darauf ankommt, ob die Versuchsperson einen oder zwei T\u00f6ne h\u00f6rt, nicht Kl\u00e4nge anwendet, von denen jeder einzelne Bestandtheil schon mehrere T\u00f6ne enth\u00e4lt. Es wurden also Stimmgahelt\u00f6ne von m\u00f6glichster Einfachheit gebraucht. Die Gabeln durften mit keinem Holz- oder Metalltheil in Ber\u00fchrung kommen. Der Stiel war mit Gummi umwickelt und so in einen Holzklotz gesteckt, welcher wieder von der Tischplatte durch Gummi isolirt war. Au\u00dferdem trugen die Gabeln im unteren Drittel einen Gummiring, um die unharmonischen Ohert\u00f6ne zu beseitigen. Die Stimmgabelt\u00f6ne wurden vermittelst Gummischlauchs in das Ohr des Reagenten geleitet, der in einem benachbarten Zimmer sa\u00df. Um die T\u00f6ne in beliebiger Dauer und genau abgegrenzt herzustellen, wurde zwischen den Reagenten und die Tonquelle ein durchbohrter Hahn eingeschaltet, welcher durch den Schlag eines Pendels ge\u00f6ffnet und darauf wieder geschlossen wurde. Die Zeit, w\u00e4hrend welcher der Hahn offen war, wurde durch eine schreibende Stimmgabel gemessen (meist vor und nach jeder Versuchsreihe). Der einzelne Versuch verlief folgenderma\u00dfen: der Experimentator schl\u00e4gt zwei oder mehrere Stimmgabeln an und gibt dann ein Klingelzeichen, worauf der Reagent den Gummischlauch dem Ohr n\u00e4hert. Nach ungef\u00e4hr zwei Secunden l\u00e4sst der Experimentator das Pendel durchschlagen, und die Versuchsperson h\u00f6rt nun einen Klang, der zwei Secunden","page":473},{"file":"p0474.txt","language":"de","ocr_de":"474\nRudolf Schulze.\nandauert. Sie benachrichtigt hierauf mittelst eines elektrischen Tasters den Experimentator, ob sie einen oder zwei T\u00f6ne geh\u00f6rt hat.\nF\u00fcr die Untersuchung w\u00e4hlte ich folgende T\u00f6ne:\n1\t= A =108 Schwingungen\n2\t= a = 216\n3\t= ei = 324\n4\t\u2014 a1 = 432\n5\t= eis2 = 540\t\u00bb\n6\t= e2 = 648\nDurch diese Wahl war es m\u00f6glich, alle Oonsonanzen einer Pr\u00fcfung zu unterziehen. Die Dissonanzen schloss ich vorl\u00e4ufig aus, da ich nach einigen Vorversuchen nicht erwarten durfte, merkliche Unterschiede in der Schwierigkeit der Analyse bei denselben feststellen zu k\u00f6nnen. Die Reihenfolge, in welcher die Kl\u00e4nge gegeben wurden, war nat\u00fcrlich ganz unregelm\u00e4\u00dfig. In jeder Versuchsreihe wurden alle Intervalle (und jeder einzelne Ton) einmal gegeben, und es wurden mit drei Beobachtern A, B und C je 60 Versuchsreihen angestellt, sodass jedes Intervall 60mal der Beurtheilung unterlag. Unter den drei Beobachtern war B sehr musikalisch, spielte gut Klavier und Cello und h\u00f6rte viel gute Musik. Au\u00dferdem war er infolge jahrelanger Uebung in psychologischen Versuchen bei seinen Aussagen von seltener Zuverl\u00e4ssigkeit und Sicherheit. Die Beobachter A und C waren nicht so musikalisch, doch sangen beide Beobachter vorgesungene T\u00f6ne richtig nach, A spielte ein wenig Violine. Der Unmusikalischste von allen war C. Er war auch in psychologischen Versuchen ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig am wenigsten ge\u00fcbt.\nTabelle I enth\u00e4lt zur Uebersicht eine Zusammenstellung s\u00e4mmt-licher Ergebnisse. Links finden sich (in Buchstaben und Verh\u00e4ltniss-zahlen der Schwingungen ausgedr\u00fcckt) die gegebenen Intervalle, rechts daneben (unter A, B, C) die Anzahl der F\u00e4lle, in denen es den drei Versuchspersonen unm\u00f6glich war, in dem Klange eine Mehrheit von T\u00f6nen wahrzunehmen, wo sie dieselben also als einen Ton bezeichneten.","page":474},{"file":"p0475.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse, Tabelle I.\n475\n\t\t\t\t\t\tA\tB\tC\nA a\t1\t2\t\t\t\t60\t55\t45\nA el\t1\t3\t\t\t\t50\t52\t49\nAal\t1\t4\t\t\t\t44\t21\t33\nA eis2\t1\t5\t\t\t\t32\t16\t42\nA en\t1\t6\t\t\t\t22\t2\t27\na ei\t2\t3\t\t\t\t\u2014\t5\t43\na ai\t2\t4\t\t\t\t57\t51\t47\na cis1\t2\t5\t\t\t\t28\t9\t38\nae2\t2\t6\t\t\t\t51\t30\t47\nei ai\t3\t4\t\t\t\t\u2014\t\u2014\t26\nei cis2\t3\t5\t\t\t\t\u2014\t\u2014\t27\ne1 e2\t3\t6\t\t\t\t54\t46\t43\na1 cis1\t4\t5\t\t\t\t\u2014\t\u2014\t31\nai e2\t4\t6\t\t\t\t29\t2\t38\ncis'2 e2\t5\t6\t\t\t\t\u2014\t\u2014\t41\nA e1 a1 cis2 e2\t1\t3\t4\t5\t6\t33\t14\t23\nA a1 cis2 e2\t1\t4\t5\t6\t\t35\t8\t22\nA cis2 e2\t1\t5\t6\t\t\t23\t6\t31\na1 cis2 e2\t4\t3\t6\t\t\t2\t\u2014\t22\ne1 a1 cis2 e2\t3\t4\t5\t6\t\t\u2014\t\u2014\t8\na e1 a1 cis2 c2\t2\t3\t4\t5\t6\t4\t3\t18\nA a ei a1 cis2 e2\t1\t2:\t3\t4\t5:6\t48\t17\t22\nA a e\u2018 a* cis2\t1\t2\t3\t4\t5\t50\t44\t29\niae'a1\t1\t2\t3\t4\t\t50\t38\t28\nAae1\t1\t2\t3\t\t\t56\t55\t44\nA c1 cis2\t1\t3\t5\t\t\t42\t44\t41\nA a ale2\t1\t2:\t4\t6\t\t45\t22\t25","page":475},{"file":"p0476.txt","language":"de","ocr_de":"476\nRudolf Schulze.\nIch stelle nun in Tabelle II zun\u00e4chst vorzugsweise diejenigen Kl\u00e4nge zusammen, welche mehr als zwei einfache T\u00f6ne enthielten.\nAbthei-lung 1\nAbtheilung 2\nAbtheilung 3\nAbtheilung 4\nBei Betrachtung von Abtheilung 1 der Tabelle II1), welche dadurch zu Stande gekommen ist, dass einem einfachen Tone nach\n1) Bei der Discussion dieser Tabelle wird der eine Beobachter (C) vorl\u00e4ufig au\u00dfer Acht gelassen, weil dessen Resultate augenscheinlich noch durch andere\nVerh\u00e4ltnisse als die hier betrachteten beeinflusst sind.\nTabelle II.\n\t\tA\tB\tO\nA\t1\t60\t60\t60\nAa\t1 : 2\t60\t55\t45\nAae1\t1:2:3\t56\t55\t44\nAae1a1\t1 : 2 : 3 : 4\t50\t38\t28\nAae1\u00ab1 eis2\t1:2:3:4:5\t50\t44\t29\nAae1 a1 eis'2 e2\t1: 2 : 3 : 4 : 5 : 6\t48\t17\t22\nAe2\t1: 6\t22\t2\t27\nA eis2 e2\t1:5:6\t23\t6\t31\nA a1 eis2 e2\t1 :4:5:6\t35\t8\t22\nA e1 a1 eis2 e2\t1 : 3 : 4 : 5 : 6\t33\t14\t23\nAae1 a1 eis2 e2\t1 : 2 : 3 : 4 : 5 : 6\t48\t17\t22\neis2 e2\t5:6\t\u2014\t\u2014\t41\na1 eis2 e2\t4:5:6\t2\t\u2014\t22\ne1 a1 eis2 e2\t3:4:5:6\t\u2014\t\u2014\t8\na e1 a1 eis'2 e2\t2 : 3 : 4 : 5 : 6\t4\t3\t18\nAae1a1 eis2 e2\t1: 2 : 3 : 4 : 5 : 6\t48\t17\t22\nA e1 eis2\t1:3:5\t42\t44\t41\nAaa1 e2\t1 : 2 : 4 : 6\t45\t22\t25","page":476},{"file":"p0477.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber Klanganalyse.\n477\nund nach seine harmonischen Obert\u00f6ne hinzugef\u00fcgt wurden, muss es auf fallen, dass hierbei die Analyse immer ganz bedeutend erschwert bleibt, sodass hei dem einen Beobachter (A) beispielsweise selbst bei Hinzuf\u00fcgung s\u00e4mmtbcher sechs harmonischer Obert\u00f6ne der entstandene Klang noch in den weitaus meisten F\u00e4llen (48 von 60) keinen Anhalt f\u00fcr die Analyse hot.\nKoch auff\u00e4lliger sind in dieser Beziehung Abtheilung 2 und Abtheilung 3. Sie zeigen deutlich, wie man einen Zusammenklang (1:6 oder 5 : 6) durch allm\u00e4hliche Ann\u00e4herung an einen Klang mit harmonischen Obert\u00f6nen zu einem einheitlichen umbilden kann.\nIn Bezug auf die Zusammensetzung desjenigen Obertonklanges, welcher der Analyse besondere Schwierigkeiten bietet, bestehen \u00fcbrigens, wie Abtheilung 4 der Tabelle II zeigt, bedeutende individuelle Unterschiede. W\u00e4hrend die Versuchsperson A ein wenig Vorliebe f\u00fcr die geradzahligen Obert\u00f6ne zeigt (1 : 2 : 4 : 6 ist schwerer zu analysiren als 1:3:5), bevorzugt die Versuchsperson B (ebenso 0) ganz energisch die ungeradzahligen Obert\u00f6ne (1 : 3 :5 ist viel schwerer zu analysiren als 1 : 2 : 4 : 6).\nDass dieser Unterschied nicht etwa ein zuf\u00e4lliger ist, zeigt die Betrachtung der anderen Kl\u00e4nge. Ueberall sieht man, dass hei der Versuchsperson A die Kl\u00e4nge mit \u00fcberwiegend geradzahligen Obert\u00f6nen leichter zusammenfliessen als die mit \u00fcberwiegend ungeradzahligen, hei B und 0 umgekehrt. Die folgende Tabelle HE gieht eine Uebersicht, wievielmal durchschnittlich alle Kl\u00e4nge mit \u00fcberwiegend geradzahligen oder \u00fcberwiegend ungeradzahligen Obert\u00f6nen bei den einzelnen Versuchspersonen nicht analysirt werden konnten.\nTabelle III.\n\tA\tB\tC\nKl\u00e4nge mit \u00fcberwiegend geradzahligen Obert\u00f6nen\t33\t18\t26\nKl\u00e4nge mit \u00fcberwiegend ungeradzahligen Obert\u00f6nen\t29\t23\t31\nDiese Verschiedenheit beherrscht aber nicht allein die mehrfach zusammengesetzten Kl\u00e4nge, sondern auch diejenigen, welche aus nur zwei einfachen T\u00f6nen bestehen. In der folgenden Tabelle IV, in","page":477},{"file":"p0478.txt","language":"de","ocr_de":"478\nRudolf Schulze.\nwelcher die Zusammenkl\u00e4nge 1:2, 1:3, 1:4, 1:5 und 1 :6 zusammengestellt sind, zeigt sich durchgehend eine gr\u00f6\u00dfere Neigung der Versuchsperson A, die geradzahligen Verh\u00e4ltnisse 11: 2, 1:4, 1:6 als eins aufzufassen, w\u00e4hrend die beiden anderen Versuchspersonen (B und 0) die ungeradzahligen Verh\u00e4ltnisse 1:3, 1:5 bevorzugen, die Versuchsperson 0 so energisch, dass 1 : 3 \u00f6fter als eins erscheint als 1 : 2, ebenso 1 : 5 \u00f6fter als 1 : 4.\nTabelle IV.\n\t\t1 A\tB\tC\nA a\t1 : 2\t60\t55\t45\nA el\t1: 3\t50\t52\t49\nAal\t1:4\t44\t21\t33\nA eis2\t1:3\t32\t16\t42\nAe2\t1:6\t22\t2\t27\nDie Schwierigkeit der Analyse eines musikalischen Intervalles ist also in erster Linie abh\u00e4ngig von dem Verh\u00e4ltniss desselben zu dem Normalklang jedes Individuums, d. h. demjenigen Obertonklang, welcher f\u00fcr das betreffende Individuum die gr\u00f6\u00dften Schwierigkeiten der Analyse bietet. In dem Ma\u00dfe, als sich ein Intervall diesem Normalklang n\u00e4hert, ist seine Analyse erschwert.\nIst uns also erst einmal f\u00fcr ein Individuum der normale Obertonklang gegeben, so lassen sich aus demselben alle musikalischen Verwandtschaften einfach mathematisch ableiten. Lie\u00dfe sich beispielsweise der normale Obertonklang darstellen durch eine Keihe:\nI\nA\nn in iv\nVI\ne1 , a1 , eis2\n+ 2 + 3+\u00cf +ir + 6u-\ns. f.\n(wie sie Helmholtz berechnet als die Formel f\u00fcr einen durch gute Bogenf\u00fchrung hervorgerufenen Violinklang), so w\u00e4re die musikalische Verwandtschaft des Intervalls HI : IV, also der Quarte, dadurch bestimmt, dass zu ihrer Vervollst\u00e4ndigung zu einem vollkommenen","page":478},{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Deber Klanganalyse.\n479\nObertonklang ein Ton A von der Intensit\u00e4t 1 und ein solcher a von der Intensit\u00e4t l/2 fehlen. Bei dem Intervall IV : Y fehlt au\u00dferdem noch ein Ton e1 von der Intensit\u00e4t 1/3. Die musikalische Verwandtschaft des Intervalls IY : V, der gro\u00dfen Terz, ist also unter den gegebenen Verh\u00e4ltnissen eine entferntere als die der Quarte III : IV und so fort.\nF\u00fcr alle Individuen aber lassen sich noch folgende Gesetze ableiten :\n1. Je weiter zwei T\u00f6ne (von \u00fcbrigens gleicher musikalischer Verwandtschaft) von einander hegen, desto leichter m\u00fcssen sie analy-sirt werden (da bei den weiteren Intervallen mehr Zwischent\u00f6ne zur Ausf\u00fcllung des Obertonklanges fehlen). Tabelle V zeigt, dass diese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit bei allen drei Beobachtern in allen F\u00e4llen zutrifft.\nTabelle V.\n\t\tA\tB\tC\nA a\t1:2\t60\t55\t45\nA cs1\t1:4\t44\t21\t33\nA e1\t1:3\t50\t52\t49\nAe*\t1 : 6\t22\t27\t2\n2. Da alle tieferen T\u00f6ne schon ihrer physikalischen Beschaffenheit nach mehr Obert\u00f6ne enthalten als die h\u00f6heren, so muss auch der normale Obertonklang in der Tiefe mehr und st\u00e4rkere Obert\u00f6ne enthalten als in der H\u00f6he. Infolge dessen aber m\u00fcssen alle Intervalle in einer h\u00f6heren Lage leichter zu analysiren sein als in der Tiefe, d. h. es m\u00fcssen beispielsweise Octaven in der tieferen Tonregion leichter zu einem Ton zusammenflie\u00dfen als in der H\u00f6he, entgegen der allgemein bei Musikern und Theoretikern verbreiteten Ansicht, dass die Octaven innerhalb der musikalisch \u00fcberhaupt brauchbaren Tonlagen den gleichen Verwandtschaftsgrad und die gleiche Schwierigkeit der Analyse bieten1). Tabelle VI zeigt, dass auch\n1) Cf. in Stumpf\u2019s Tonpsychologie. Bd. II. S. 136 das erste Gesetz der \u00bbVerschmelzung\u00ab : \u00bbDer Verschmelzungsgrad ist unabh\u00e4ngig von der Tonregion\u00ab.","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nRudolf Schulze.\ndiese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, entgegen der allgemeinen Ansicht, in der Hauptsache zutrifft.\nTabelle VI.\n\t\t\tA\tB\tC\nOctaven\tA a\t1:2\t60\t55\t45\n\ta a1\t2:4\t57\t51\t47\n\tel e2\t3:6\t54\t46\t43\nQuinten\tae1\t2:3\t\u2014\t5\t43\n\ta1 e2\t4:6\t29\t2\t38\nDuodecimen\tA e1\t1 : 3\t50\t52\t49\n\ta e2\t2:6\t51\t30\t47\nNamentlich bei dem sehr musikalischen Beobachter B, dem sicher in allen Tonregionen die vielseitigsten Erfahrungen zu Gebote standen, findet sich keine einzige Abweichung1).\nBest\u00e4tigen sich die in diesen Versuchen zu Tage tretenden Erscheinungen, so l\u00e4sst sich also ganz allgemein der Satz auf stellen:\nDer Grad der Analysirbarkeit eines Zusammenklanges richtet sich nach dem Grad der Aehnlichkeit desselben mit dem normalen Obertonklang.\nHiermit sind zugleich die Gesetze der musikalischen Verwandtschaft gegeben, und die mathematischen Verh\u00e4ltnisse, welche in der musikalischen Verwandtschaft zum Ausdruck kommen, erhalten eine psychologische Deutung, indem sie auf dieselbe Ursache zur\u00fcckgef\u00fchrt werden, welche auch den Grad der Analysirbarkeit der Obertonkl\u00e4nge bestimmt, n\u00e4mlich auf das allgemeine psychologische Gesetz: \u00bbDie Verbindungen von Vorstellungselementen sind um so fester, je con-stanter sie sind. \u00ab2)\n1)\tDer ganz anormale Pall bei dem Beobachter A, dass die Quinte 2:3 stets analysirt wurde, die h\u00f6here Quinte 4 : 6 dagegen nur in der H\u00e4lfte der Palle, hat seine besondere Ursache, auf welche wir noch zur\u00fcckkommen m\u00fcssen.\n2)\tWundt, Physiol. Psychol. 4. Aufl. 1893. Bd. IL S. 72.","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse.\n481\nEs liegt nahe, nach einem physiologischen Correlat dieses psychologischen Gesetzes zu suchen. Dasselbe w\u00fcrde vielleicht darin zu finden sein, dass selbst die einfache Sinuswelle nicht allein die gleichgestimmten Fasern der Basilarmemhran erregt, sondern in geringerem Ma\u00dfe auch die den harmonischen Obert\u00f6nen des betreffenden Tones entsprechenden Fasern. Hier\u00fcber l\u00e4sst sich aber so lange nichts sagen, als eine empirische Untersuchung der durch eine Sinusschwingung hervorgerufenen Schwingungsform der Basilarmemhran aussichtslos ist, und so lange auch f\u00fcr eine mathematische Ableitung derselben nur sp\u00e4rliche Anhaltspunkte vorliegen.\nII.\nNachdem die erste der im Eing\u00e4nge aufgeworfenen Fragen ihre Beantwortung gefunden hat, wenden wir uns der zweiten zu. Hierbei macht es sich nothwendig, auch engere Intervalle (Secunden) in den Bereich der Untersuchung zu ziehen. Um die bei denselben auftretende st\u00f6rende Wirkung der Schwebungen zu beseitigen1), empfahl sich eine weitere Verk\u00fcrzung der Einwirkungsdauer (bis auf 0,004 Secunden). Um au\u00dferdem noch etwas zu erfahren \u00fcber den Grad der Genauigkeit der Analyse, w\u00e4hlte ich zu diesen Versuchen einen Beobachter, der ganz besonders gut analysirte und au\u00dferdem durch andere Versuche in der Beurtheilung sehr kurzer T\u00f6ne gut einge\u00fcbt war. Dieser Beobachter D war dem Beobachter B der fr\u00fcheren Versuche an Feinheit des musikalischen Geh\u00f6rs noch \u00fcberlegen. Er analysirte beispielsweise unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen beinahe unfehlbar jeden musikalischen Zusammenklang richtig.\n1) Die Schwebungen wirkten schon in den zuerst beschriebenen Versuchen in einzelnen F\u00e4llen st\u00f6rend. So behauptete beispielsweise die Versuchsperson A mit Hartn\u00e4ckigkeit, dass der Klang 2 : 3, also die reine Quinte, einen \u00e4u\u00dferst unangenehmen Eindruck mache (obgleich es nicht m\u00f6glich war, die Ursache hiervon zu finden); sie gab selbst an, dass in diesem Falle das Urthe\u00fc: \u00bbZwei\u00ab lediglich auf Rechnung dieser Gef\u00fchlswirkung zu setzen sei. Sie erkannte den \u00bbh\u00e4sslichen\u00ab Klang sofort an seinem Gef\u00fchlston und behauptete, in demselben Schwebungen zu h\u00f6ren, obgleich sonst niemand im Stande war, dieselben zu entdecken. Namentlich bei den Terzen gaben auch die anderen Versuchspersonen gelegentlich an, dass Intermissionen in der Empfindung zur Bildung ihres Urtheils mitgewirkt h\u00e4tten.","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482\nRudolf Schulze.\nZu den Versuchen verwendete ich unter Beobachtung aller angegebenen Vorsichtsma\u00dfregeln folgende Stimmgabeln:\ncx \u2014 264 Schwingungen dx = 297\neJ = 330 P = 352 Id = 495 e2 = 528\nIch untersuchte folgende Intervalle:\nel p \u2014 kleine Secunde c1 dl \u2014 gro\u00dfe Secunde dl p = kleine Terz c1 e1 \u2014 gro\u00dfe Terz cx p \u2014 reine Quarte p hl \u2014 \u00fcberm\u00e4\u00dfige Quarte\nex Id = reine Quinte e1 e2 = kleine Sexte d' Id = gro\u00dfe Sexte d1 c2 = kleine Septime cx Id = gro\u00dfe Septime e1 c2 = Octave,\nalso alle zw\u00f6lf Intervalle innerhalb einer Octave. Der Beagent versuchte sofort, nachdem er den Klang geh\u00f6rt hatte, dem Experimentator das Geh\u00f6rte nachzusingen (durch Telephon) und gab hinterher an, ob es ein oder zwei T\u00f6ne waren. Die Erfahrung hatte gelehrt, dass bei umgekehrter Reihenfolge die Empfindung nach Abgabe des Urtheils \u00bbeins\u00ab oder \u00bbzwei\u00ab bereits so abgeblasst war, dass eine sichere Analyse oft nicht mehr m\u00f6glich war.\nNachdem der Reagent auf diese Weise alle zw\u00f6lf Intervalle innerhalb einer Octave zu analysiren versucht hatte, wurde die Zeit verk\u00fcrzt dadurch, dass man das Pendel aus einer gr\u00f6\u00dferen H\u00f6he fallen lie\u00df. Auf diese Weise wurde von 0,14 Secunden an bis 0,004 Secunden verfahren und zwar in 60 Versuchsreihen, was, abgesehen von eingestreuten einzelnen T\u00f6nen 12 x 60 = 720 Einzelversuche ergibt.\nIn Tabelle VH sind die Resultate dieser Versuche zusammengestellt. Die neben die Intervalle geschriebenen Zahlen bezeichnen wieder die Anzahl der F\u00e4lle, in welchen eine Analyse nicht m\u00f6glich war und der Klang als ein Ton bezeichnet wurde.\nBei Betrachtung dieser Ergebnisse war ich h\u00f6chst \u00fcberrascht, dass hier die musikalische Verwandtschaft der Kl\u00e4nge offenbar eine","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse. Tabelle m\n483\n\t\tD\nkleine Secunde\tei fi\t45\ngro\u00dfe Secunde\tci dl\t12\nkleine Terz\tdi fi\t18\ngro\u00dfe Terz\tc1 e1\t12\nreine Quarte\tci fi\t8\n\u00fcberm\u00e4\u00dfige Quarte\tfi hi\t10\nreine Quinte\te1 hi\t12\nkleine Sexte\tei e2\t7\ngro\u00dfe Sexte\tdi hi\t10\nkleine Septime\tdi e2\t9\ngro\u00dfe Septime\tc1 hi\t8\nOetave\t\u00dfi e2\t7\nnur untergeordnete Rolle gespielt hat. Vielmehr scheint aus denselben mit ziemlicher Sicherheit hervorzugehen, dass bei sehr kurzer Einwirkung eines Klanges die Analyse erleichtert wird bei gr\u00f6\u00dferer Entfernung der T\u00f6ne, dass also die Kl\u00e4nge um so schwerer zu ana-lysiren sind, je n\u00e4her die Bestandtheile derselben aneinander liegen. Die folgende Tabelle VIII zeigt dies im Einzelnen.\nReihe A ist so zusammengestellt, dass allemal der untere Ton derselbe ist, bei Reihe B ist der obere Ton in jeder Abtheilung constant. In den Abtheilungen 1\u20144 zeigt sich deutlich, wie die Analyse immer leichter wird, je weiter das Intervall ist, wie immer weniger F\u00e4lle Vorkommen, in welchen eine Analyse nicht m\u00f6glich war. Bei Abtheilung 5 und 6 trifft diese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit zwar nicht zu, doch ist hier zu erinnern, dass auch die Unterschiede in der Entfernung der Intervalle in diesen Reihen (bei Abtheilung 5 beispielsweise von der \u00fcberm\u00e4\u00dfigen Quarte bis zur gro\u00dfen Sexte) nicht bedeutend sind.\nWundt, Philos. Studien. XIV.\n32","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484\nRudolf Schulze.\nTabelle VILL\nReihe A\t\t\t\t\t\nAbtheilung 1\t\tAbtheilung 2\t\tAbtheilung 3\t\ne d\t12\t\t\t\t\nce\t12\tdf\t18\tef\t45\nef\t8\tdh\t10\te h\t12\neh\t8\tde\t9\te e\t7\ne c1\t7\t\t\t\t\nReihe B\t\t\t\t\t\nAbtheilung 4\t\tAbtheilung 5\t\tAbtheilung 6\t\ncf\t45\tfh\t10\te e\t7\ndf\t18\teh\t12\tde\t9\nef\t8\tdh\t10\tee\t7\nSehr deutlich tritt das Gesetz auch hervor, wenn man diejenige Zeitdauer in Betracht zieht, bei welcher es \u00fcberhaupt unm\u00f6glich wurde, eine Analyse zu vollziehen. Alle f\u00fcr diese Betrachtung n\u00f6thigen Werthe sind in Tabelle IX zusammengestellt. Diese Tabelle zeigt beispielsweise, dass die kleine Secunde ef bereits bei einer Einwirkungsdauer von 0,140 Secunden nicht mehr analysirt werden konnte, w\u00e4hrend erst bei 0,007 Secunden, also einer zwanzig Mal so kurzen Einwirkungsdauer die F\u00e4higkeit aufh\u00f6rt, die Octave c e1 zu analysiren. Kein anderes Beispiel illustrirt in so drastischer Weise das in diesen Versuchen hervortretende Gesetz, dass die Analyse um so schwerer ist, je geringer die Entfernung der beiden T\u00f6ne.\nDie Thatsache, dass dieses Gesetz die Versuche derartig beherrscht, dass die musikalische Verwandtschaft \u00fcberhaupt keine Bolle mehr spielt, scheint anzudeuten, dass in diesem Gesetze sich eine urspr\u00fcngliche Veranlagung verr\u00e4th, die auch physiologisch deutlich begr\u00fcndet sein muss. Diese Begr\u00fcndung gibt aber in gew\u00fcnschter Weise die Helmholtz\u2019sche Theorie. Wie man sieht, ist die Erschwerung der","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"Oeber Klanganalyse. Tabelle IX.\n485\n1.\t2.\t3.\t4.\n\tZeit in Sec., bei welcher Analyse nicht mehr m\u00f6glich war\tAnzahl der bei dieser Zeit noch vorhandenen Schwebungen\tAnzahl der Schwebungen, abgerundet\nef\t0,140\t3,1\t3\nc d\t0,037\t1,2\t1\ndf\t0,024\t1,3\t1\nc e\t0,009\t0,6\t1\nef\t0,007\t0,6\t1\nfh\t0,006\t0,9\t1\ne h\t0,007\t1,2\t1\ne c\t0,006\t1,2\t1\nd h\t0,006\t1,2\t1\nd g\t0,007\t1,5\t2\nch\t0,008\t1,9\t2\nCG\t0,007\t1,8\t2\nAnalyse von merklichem Einfluss vor allem bei den engsten Intervallen, den Secunden und Terzen, wie es die Helmholtz\u2019sche Theorie erfordert.\nWir k\u00f6nnen also jetzt die im Eingang aufgestellte zweite Frage dahin beantworten:\nEntsprechend der Helmholtz\u2019schen Theorie ist wirklich bei engen Intervallen die Analyse erschwert.\nDie Ursache, warum dies Gesetz bisher nicht zur Beobachtung gelangt ist, scheint die zu sein, dass gerade Secunden und Terzen meist deutliche Schwebungen ergeben, welche verhindern, dass der einheitliche Charakter der Kl\u00e4nge bewahrt bleibt. Daf\u00fcr aber, dass bei Unmusikalischen vielleicht schon unter gew\u00f6hnlichen Bedingungen\n32*","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486\nRudolf Schulze.\nein Zusammenflie\u00dfen der engeren Intervalle erleichtert wird, scheint in den ersten Versuchen die Versuchsperson C ein Beispiel zu gehen. Wenigstens w\u00fcrde sich hei dieser Annahme erkl\u00e4ren, warum hei diesem Beobachter gerade die engsten Intervalle, Quarte, gro\u00dfe und kleine Terz, welche von den beiden anderen Versuchspersonen in allen F\u00e4llen ohne Ausnahme analysirt wurden, einer steigenden Schwierigkeit der Analyse unterworfen waren, wie Tabelle X zeigt.\nTabelle X.\nQuarte\t3:4\t26 mal nicht analysirt\ngro\u00dfe Terz\t4:5\t31\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nkleine Terz\t5:6\t41\t\u00bb\t*\t'\t\u00bb\nDie Mitwirkung dieses Gesetzes scheint thats\u00e4chlich die Resultate bei der Versuchsperson 0 complicirt zu haben. Ueberall, wo die engeien Intervalle auftreten (bei 1 ; 5 ; 6, bei 4 ! 5 ; 6), zeigt sich eine merkliche Erschwerung der Analyse.\nIII.\nEinen weiteren Aufschluss \u00fcber den Vorgang der Analyse erhalten wir bei Betrachtung der Spalten 3 und 4 in Tabelle IX. Sie geben die Anzahl der Schwebungen an, bei welcher in jedem einzelnen Falle eine Analyse eben noch m\u00f6glich war.\nRunden wir diese Zahlen ah (Spalte 4), so erhalten wir achtmal 1, dreimal 2 und einmal 3 als Ergebniss. Das w\u00fcrde bedeuten, dass in dem Falle, wo ungef\u00e4hr noch eine ganze Schwebung in das Ohr gelangte, die M\u00f6glichkeit, das Intervall als eine Mehrheit von Empfindungen zu erkennen, noch vorhanden war. H\u00e4lt man hiermit zusammen, dass das Urtheil sehr oft lautete: \u00bbZwei T\u00f6ne, weil unrein\u00ab, dass die Versuchsperson einige Mal angab, die T\u00f6ne nach einander geh\u00f6rt zu haben, und dass sie sehr h\u00e4ufig den Ton \u00bbmit einem Vorschlag\u00ab geh\u00f6rt haben wollte, so ergibt sich, dass bei diesen Versuchen die Schwebungen eine wichtige Rolle f\u00fcr die Analyse gespielt haben, dass sich der lilang anscheinend auf l\u00f6ste in eine Succession von","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse.\n487\nIntensit\u00e4ten und dass die Versuchsperson auf Grund des Wechsels der Intensit\u00e4t indirect auf das Vorhandensein zweier T\u00f6ne schloss. Wo die Schwebungen fehlen, h\u00f6rt auch die M\u00f6glichkeit der Analyse auf. Die Aufl\u00f6sung des simultanen Geh\u00f6reindrucks in eine Succession von Intensit\u00e4ten war also hier der letzte Anhalt f\u00fcr die Analyse.\nWas endlich die genaue Analyse der gegebenen Intervalle, d. h. das richtige Heraush\u00f6ren und Nachsingen beider T\u00f6ne betrifft, so zeigt sich, dass dieselbe anscheinend wesentlich ein Ergehniss der musikalischen Uebung darstellt und mit den \u00fcbrigen Gesetzen der Analyse in keinem erkennbaren Zusammenh\u00e4nge steht (Tabelle XI).\nTabelle XI.\nc e\t25 mal richtig analys.\tof\t16 mal richtig analys.\tc h\t4 mal richtig analys.\nG G\t19 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tdh\t15 \u00bb\t\u00bb\tdf\t3 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nc d\t18 \u00bb\td e\t15 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\tof\t3 \u00bb\nec\t17 \u00bb\t\u00bb\tch\th \u00bb \u00bb\tfh\t2 \u00bb \u00bb\nIm allgemeinen werden also Consonanzen leichter richtig analy-sirt als Dissonanzen, doch werden Sexten und die gro\u00dfe Terz besser getroffen als die Quinte, ebenso f\u00e4llt die Stellung der gro\u00dfen Secunde auf. (Vielfache Uebung durch die Tonleiter!)\nBesonders hier hei der genauen Analyse hat es wieder den Anschein, als sei bei diesen kurzdauernden Kl\u00e4ngen die Gleichzeitigkeit in eine Succession aufgel\u00f6st worden. Bei allen den Intervallen, welche besonders h\u00e4ufig analysirt wurden, gab die Versuchsperson zuweilen an, einen Ton mit einem Vorschlag geh\u00f6rt zu haben (Tabelle XH).\nWie man sieht, ist bei allen den Intervallen, welche h\u00e4ufig richtig analysirt worden sind (Reihe A), die Succession der beiden T\u00f6ne in der Empfindung selbst einige Mal bemerkt worden (nur die Quarte cf macht hierbei eine Ausnahme), w\u00e4hrend alle die Intervalle, bei welchen eine Succession nicht bemerkt werden konnte (Reihe B), auch sehr selten richtig analysirt wurden. Auff\u00e4llig war es, dass in den letzten f\u00fcnf F\u00e4llen, in welchen die Octave noch analysirt wurde, stets ein Vorschlag geh\u00f6rt wurde. Es gelangten hierbei 3,6 Schwingungen des","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488\nRudolf Schulze.\nTabelle XII.\nReihe A\t\t\t\t\t\t\t\t\ne c\t6 mal\tein\tTon mit Vorschlag geh\u00f6rt\t\t\t25 mal richtig analysirt\t\t\nce\t2 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t19 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\ncd\t3 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t18 \u00bb\t\u00bb\t>\ne c\ti \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t17 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nof\t0 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t16 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\ndh\t1 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t15 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nde\t2 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t15 \u00bb\t\u00bb\t>\nReihe B\t\t\t\t\t\t\t\t\nc h\t0 mal\tein\tTon mit Vorschlag geh\u00f6rt\t\t\t11 mal richtig analysirt\t\t\ne h\t0 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t4 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\ndf\t0 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t3 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nof\t0 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t3 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nfh\t0 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t2 \u00bb\t\u00bb\t\u00bb\nh\u00f6heren, 1,8 Schwingungen des tieferen Tones ins Ohr, die Einwirkungsdauer betrug 0,007 Secunden. Nehmen wir an, dass jeder Ton bei 1,8 Schwingungen in seiner H\u00f6he charakterisirt war, so entstand der obere Ton thats\u00e4chlicli bereits 0,0035 Secunden fr\u00fcher als der tiefere. Da nun nach Exner\u2019s Versuchen eine Succession von Empfindungen von blo\u00df 0,002 Secunden mittelst des Geh\u00f6rsinns noch erkannt werden kann, so hindert uns nichts, anzunehmen, dass diese Succession in den vorliegenden Versuchen die wirkliche Ursache der Analyse war. Nach der vorausgegangenen Rechnung braucht aber die Succession nicht blo\u00df eine Folge von Intensit\u00e4ten (Schwebung) gewesen zu sein, sondern sie kann auch in einer wirklichen Succession der beiden T\u00f6ne bestanden haben.\nOb nun freilich auch bei l\u00e4nger dauernden Kl\u00e4ngen die Aufl\u00f6sung eines Zusammenklanges in eine Succession als letzte Ursache","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Klanganalyse.\n489\nder Analyse angesehen werden darf, wage ich nicht zu entscheiden, m\u00f6chte aber darauf hinweisen, dass eine M\u00f6glichkeit der Aufl\u00f6sung in eine Succession schon deshalb vorhegt, weil bei einem Zusammenklange die T\u00f6ne nie gleichzeitig anfangen und aufh\u00f6ren; denn selbst wenn in dem physikalischen Vorg\u00e4nge genaue Gleichzeitigkeit vorhanden ist, so wird doch im Geh\u00f6rorgan der h\u00f6here Ton immer schneller anklingen, der tiefere langsamer ahklingen.\nDie im Vorstehenden beschriebenen Versuche wurden im psychologischen Institut zu Leipzig, und zwar die Versuche mit den Beobachtern A, B und 0 im Winter 1891/92 und im Sommer 1892, die mit dem Beobachter D im Winter 1892/93 angestellt. Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prof. Wundt und Herrn Prof. Kiilpe f\u00fcr die empfangene Anregung und Unterst\u00fctzung bei dieser Arbeit, sowie den Herren Dr. Kirschmann, Gale, Dr. Witmer und Funck, welche als Reagenten bei den Versuchen mitgearbeitet haben, meinen Dank auszusprechen.","page":489}],"identifier":"lit4515","issued":"1898","language":"de","pages":"471-489","startpages":"471","title":"Ueber Klanganalyse","type":"Journal Article","volume":"14"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:23:57.676605+00:00"}