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{"created":"2022-01-31T14:22:12.798572+00:00","id":"lit4522","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Cranz, Carl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 1-40","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\nVon\nProf. Dr. Carl Cranz\nin Stuttgart.\nIn dem Grenzgebiet zwischen der Philosophie einerseits und der reinen und angewandten Mathematik anderseits finden sich mehrere offene Fragen, die von der Seite der Mathematik so weit gef\u00f6rdert sind, dass es nunmehr eine lohnende Aufgabe der Philosophie sein kann, auf Klarstellung und allgemeine Uebereinstim-mung der Meinungen hier\u00fcber hinzuarbeiten. Dazu geh\u00f6ren u. a. die Fragen nach dem Ursprung und nach dem Charakter der geometrischen Axiome, nach der Zahl und dem Zusammenhang der mechanischen Grundgesetze, nach der Bedeutung der mehrdimensionalen Geometrie und endlich nach dem eigentlichen Wesen des Unendlichen, insbesondere des sogenannten Unendlichkleinen in der Mathematik.\nDiese letztere Frage hat der vorliegende Aufsatz zu seinem Gegenstand. Dass diese eine offene ist, dass nicht nur von der Seite der Philosophen, sondern selbst noch immer von der Seite mancher Mathematiker die widersprechendsten Ansichten hinsichtlich des Unendlichen in der Mathematik laut werden, wird sich im folgenden zur Gen\u00fcge zeigen. Meine Absicht geht dahin, die wichtigsten der \u00fcber den Gegenstand ge\u00e4u\u00dferten entgegengesetzten Meinungen kurz anzuf\u00fchren und zu kritisiren, die Irr-th\u00fcmer hervorzuheben, die sich an diesen Begriff kn\u00fcpfen, und meine eigene Ansicht m\u00f6glichst pr\u00e4cise zu entwickeln, um damit einen\nWundt, Philos. Studien. XI.\t,\ti","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nCarl Cranz.\nBeitrag zur schlie\u00dfliehen Einigung \u00fcber die Bedeutung dieses strittigen Begriffs zu liefern. Hingegen liegt es mir ferne, eine Geschichte des Unendlichkeitsbegriffs an dieser Stelle auch nur skizziren zu wollen, indem dies ein umfangreicheres Unternehmen f\u00dcT sich darstellen w\u00fcrde; ebenso beabsichtige ich nicht, die kosmologischen Streitfragen \u00fcber die Endlichkeit oder Unendlichkeit von Baum und Stoff zu er\u00f6rtern.\n1) Im vulg\u00e4ren Sprachgebrauch ist uns der Begriff \u00bbunendlich\u00ab ein sehr gel\u00e4ufiger; wir sprechen von \u00bbunendlicher Geduld\u00ab, \u00bbunendlicher Langmuth\u00ab, \u00bbunendlicher Liebe und Allmacht\u00ab; nennen die Zahl der Sterne am Himmelsgew\u00f6lbe, die Zahl der Tropfen im Meere \u00bbunendlich\u00ab; bezeichnen die Masse eines Staubtheilchens gegen\u00fcber derjenigen der Erde, die Masse der Erde gegen\u00fcber der Stoffmenge im Milchstra\u00dfensysteme als \u00bbunendlich klein\u00ab; lassen ein Meteor \u00bbin die Unendlichkeit sich verlieren\u00ab und speculiren \u00fcber die \u00bbUnendlichkeit\u00ab von Kaum, Zeit und Stoff.\nDurchweg ist uns hier unendlich = jedes Messen und Z\u00e4hlen ausschlie\u00dfend; es ist ein mehr oder weniger unbestimmter Begriff, der lediglich die Unm\u00f6glichkeit, ein bestimmtes Denkobject als messbare Gr\u00f6\u00dfe, in angebbarer Zahl zu fassen, mit einer in Gedanken ausgef\u00fchrten Theilung oder Summirung je zu einem logischen Abschluss zu gelangen, andeutet.\nOffenbar dieselbe Bedeutung des Unendlichkeitsbegriffs liegt vor, wenn der Mathematiker lehrt, dass durch eine Gerade unendlich viele Ebenen zu legen sind, auf einer Geraden in einem Punkt unendlich viele Geraden senkrecht stehen, eine Gerade unendlich viele Punkte, eine Ebene unendlich viele Geraden etc. beherberge, dass eine Aufgabe unendlich viele L\u00f6sungen zulasse, die Beihe der nat\u00fcrlichen Zahlen unendlich sei u. s. f.\nNur um mich des Oefteren kurz ausdr\u00fccken zu k\u00f6nnen und doch keinen neuen Namen oder kein neues Zeichen einf\u00fchren zu m\u00fcssen, will ich im Folgenden diesen eben erw\u00e4hnten Begriff des Unendlichen (= Zahl und Ma\u00df ausschlie\u00dfend) denjenigen des gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauchs nennen.\nEine andere Bedeutung des Unendlichkeitsbegriffs tritt uns da entgegen, wo in der reinen und angewandten Mathematik von einer Summe von unendlich vielen Gliedern oder kurz von einer \u00bbunend-","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n3\nliehen Summe\u00ab, ebenso einem \u00bbunendlichen Product oder Kettenbruch\u00ab, ferner einer \u00bbunendlich kleinen Differenz\u00ab, einem \u00bbunendlich kleinen Abstand\u00ab zweier Punkte, einem \u00bbunendlich kleinen Zuwachs\u00ab etc. einer Strecke, einer Fl\u00e4che, eines K\u00f6rpers, kurz von einem \u00bbDifferential\u00ab die Rede ist, oder wo in der neueren Geometrie der \u00bbunendlich ferne Punkt\u00ab einer Geraden, die \u00bbunendlich ferne Gerade\u00ab einer Ebene etc. zur Verwendung kommen. Hier ist der Unendlichkeitsbegriff ein bestimmterer: denn es handelt sich, wie wir sehen werden, lediglich um Ermittelung von Grenzwerthen variabler Gr\u00f6\u00dfen bez. Grenzlagen von ver\u00e4nderlich gedachten Lagen. In einer solchen Wortverbindung wie z. B. \u00bbunendliche Summe\u00ab, \u00bbunendlich ferner Punkt einer Geraden\u00ab ist die Eigenschaftsbestimmung \u00bbunendlich\u00ab vom Mathematiker dem gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch entlehnt; wir erkennen, dass uns nichts hindert, die Additionen\n1\t, i i + i + i I + i + I + i-\n2\t' 4 \u2019 2+4+8\u2019 2+4+8+16 fortzusetzen, sobald wir das Gesetz erkannt haben, und dass wir mit der Addition niemals zu Ende kommen w\u00fcrden. Allein, wenn der Mathematiker nach dem Werthe dieser \u00bbunendlichen Summe\u00ab fragt, so versteht er darunter einen ganz bestimmten positiven Begriff \u2014 \u00e4hnlich, wie etwa der Physiker mit dem Begriff der \u00bbEmpfindlichkeit\u00ab einer Waage ein ganz bestimmtes Verh\u00e4ltniss im Auge hat, wenn auch das Wort Empfindlichkeit dem vulg\u00e4ren Sprachgebrauch entlehnt ist \u2014; der Mathematiker will mit dieser Wortverbindung nicht andeuten, dass jedes Ma\u00df und jede Zahl hier ausgeschlossen sei, sondern er fragt nach einem Grenzwerth.\nFolglich handelt es sich in der Mathematik bei Anwendung der erw\u00e4hnten Wortverbindungen in der That um einen andern Begriff von Unendlich, dessen wahre Bedeutung wir im Folgenden discutiren werden. In diesen F\u00e4llen will ich \u2014 ebenfalls nur der K\u00fcrze halber \u2014 von dem Unendlichen als dem Grenzwerth-Unend-lichen oder dem sogen, mathematischen Unendlich sprechen.\nEine eingehendere Discussion \u00fcber die wahre Bedeutung dieses Begriffs, insbesondere des Differentials, \u2014 hinsichtlich dessen ich sogleich voranschicken m\u00f6chte, dass ich darin nur eine abk\u00fcrzende Redewendung von blo\u00df formaler Bedeutung erblicken kann, \u2014\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nCarl Cranz.\nscheint mir um so mehr angezeigt, als dieser Begriff schon in der niederen Mathematik, bei den Decimalen und den irrationalen Zahlen, sich einschleicht. Systematisch allerdings tritt dieser Begriff erst in der Analysis entgegen: der Mathematiker entwickelt Ausdr\u00fccke in unendliche Reihen, unendliche Producte, unendliche Kettenbr\u00fcche; er summirt unendlich viele unendlich kleine Fl\u00e4chen-und K\u00f6rperst\u00fccke, um auf diese Weise den Fl\u00e4cheninhalt krummlinig begrenzter Fl\u00e4chen und den Rauminhalt krummfl\u00e4chig begrenzter K\u00f6rper durch unendliche Processe zu ermitteln; er spricht von der Tangente als von der Verbindungslinie zweier unendlich benachbarter Curvenpunkte; und der Kr\u00fcmmungskreis, der das Ma\u00df der Kr\u00fcmmung an einer bestimmten Stelle einer Curve angibt, ist ihm der durch 3 unendlich nahe Curvenpunkte gelegte und damit eindeutig bestimmbare Kreis. Gelegentlich biegt der Geometer, wenn es ihm f\u00fcr seinen Zweck dienlich ist, gewisserma\u00dfen in Gedanken die gerade Linie zu einem Kreis mit unendlich gro\u00dfem Radius; und die schon erw\u00e4hnten Begriffsbezeichnungen wie unendlich ferner Punkt einer Geraden, unendlich ferne Gerade einer Ebene, unendlich ferne Ebene des Raumes sind in einem Lehrbuch der neueren Geometrie auf derselben Seite Dutzende Male zu lesen. Auch in der rechnenden Physik und Technik wird bei Berechnungen des Schwerpunkts, des Wasser- und Luftdrucks, der Ausflussmenge bei sinkendem Wasserniveau, der Tr\u00e4gheitsmomente, bei Gelegenheit der Spiegel- und Linsenformeln, bei Ermittelung des Potentials, bei Elasticit\u00e4tsberechnungen u. s. w. fortw\u00e4hrend in der bequemsten Weise von dem Begriff des Unendlichkleinen Gebrauch gemacht; das Unendlichkleine ist dem Mathematiker, Physiker und Techniker ein ebenso handlicher Begriff geworden, wie dem Chemiker der des Molek\u00fcls und Atoms.\nWie verh\u00e4lt es sich nun damit n\u00e4her? Ist es in der That genau oder ist es nur angen\u00e4hert richtig, wenn z. B. eine Gemeinde, die f\u00fcr alle Ewigkeit zu einer Besoldung j\u00e4hrlich 200 Mark beizusteuern hat, diese Verpflichtung bei 4 Procent jetzt auf einmal mit 5000 Mark abl\u00f6st? Denn sie ist doch thats\u00e4chlich verpflichtet, unendlich oft 200 Mark zu zahlen, was niemand zu leisten im Stande ist. Oder, wie ist es m\u00f6glich, dass Achilles die Schildkr\u00f6te einholt, der Pfeil das Ziel trifft, da doch thats\u00e4chlich unendlich viele Weg-","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n5\nstrecken zur\u00fcckzulegen sind? Ist der durch einen Unendlichkeits-process ermittelte Schwerpunkt einer parabolischen Scheibe genau richtig; sind die zwei sogenannten \u00bbunendlich benachbarten\u00ab Curvenpunkte, durch welche die Curventangente gelegt ist, that-s\u00e4chlich ein und derselbe Punkt, oder stehen sie in Wirklichkeit um eine zwar \u00fcberaus kleine, aber schlie\u00dflich doch endlich kleine Strecke von einander ab? Existirt das Differential? Schneiden sich zwei Parallelen schlie\u00dflich doch in einem Punkt, dem sogenannten unendlich fernen Punkt? u. s. f.\nIch glaube, man wird allgemein behaupten d\u00fcrfen, dass \u00fcber die wahre Bedeutung der s\u00e4mmtlichen strittigen Begriffe in den exacten Wissenschaften lediglich dadurch Klarheit und Ueberein-stimmung der Ansichten erzielt werden kann, dass auf die Geschichte der betreffenden Disciplin, auf die Entstehung des betreffenden Begriffs zur\u00fcckgegangen wird. So wollen wir auch hier, statt uns \u00fcber die erw\u00e4hnten Fragen allgemeinen Ueberlegungen und Speculationen hinzugeben, lieber die Frage anders stellen: Wie ist dieser eben wiederholt angewandte Begriff Unendlich in der Mathematik entstanden?\nNehmen wir das ganz elementare Beispiel des Decimalbruchs 0,333 . . ., was bekanntlich nach Uebereinkunft eine abk\u00fcrzende\n3\t3\t3\nSchreibweise f\u00fcr die umst\u00e4ndlichere Form \u2014 + \u2014 + \u2014 + . . .\n10\tl\u00fc-^\tl\u00fc>\n\u00bbund so fort bis ins Unendliche\u00ab darstellt.\nWir haben zun\u00e4chst nichts als die endliche Summe 3\t3\t3\t3\nt\u00f6 + io2 + u)3+ \" \u25a0+ if0 ; diese Summe sei kurz mit ybe'\nzeichnet; zu jedem Werth von x, also zu x = 1, x \u2014 2, x \u2014 3 ... wird jedesmal ein anderer Werth der Summe y geh\u00f6ren; je gr\u00f6\u00dfer x ist, um so gr\u00f6\u00dfer wird auch y sein, und zwar verl\u00e4uft diese Abh\u00e4ngigkeit stetig, also ohne pl\u00f6tzlichen Sprung; und in jedem Fall\nk\u00f6nnen wir den augenblicklichen Fehler gegen\u00fcber dem Werth\nangeben, und dieser Fehler wird kleiner und kleiner; genauer gesagt, wir k\u00f6nnen stets berechnen, wie gro\u00df x sein muss, damit der 1\nUnterschied von \u2014 gegen\u00fcber der endlichen Summe y kleiner sei,\nO","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nCarl Cranz.\ny\nals irgend eine beliebige kleine, aber endliche Gr\u00f6\u00dfe e, welche man sich vornimmt. Z. B. wenn x = 3 gew\u00e4hlt wird, ist der Fehler\ngegen\u00fcber von i kleiner als ; wenn x = 8, ist der Fehler\nkleiner als \u2014 \u2014\tu. s. f. Statt dessen sagen wir nun k\u00fcrzer:\nder Grenzwerth der Summe ist - , oder noch k\u00fcrzer: die Summe\niS\nder unendlichen Reihe y ist , aber in diesem Fall sprachlich\n\u00fc\nungenauer, weil ja niemand unendlich viele Glieder addiren kann ; und wenn ich schreibe: i- = 0,333 und einige Punkte daran, so\nO\ndr\u00fccke ich durch diese Punkte aus, dass das Gleichheitszeichen in diesem Fall eine andere Bedeutung hat, als z. B. in dem 1\t3\nFall\u2014= (Es ist ein Verdienst von Hermann Schubert1),\nauch in einem h\u00f6chst klar geschriebenen Schulbuch auf die Verschiedenheit in der Bedeutung des Gleichheitszeichens hingewiesen zu haben). Ich werde auf die hier Platz greifende Erweiterung des Begriffs der Gleichheit der Gr\u00f6\u00dfen sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen. Wenn ich mich paradox ausdr\u00fccken wollte, so k\u00f6nnte ich sagen:\ndas Gleichheitszeichen bedeutet in unserem Fall \u2014 = 0,333 . . ., nahezu das Gegentheil von dem wie sonst; \u2014 ist nicht gleich\n0,3 oder 0,4; auch nicht gleich 0,33 oder 0,34, nicht einmal gleich 0,333 oder 0,334 u. s. f.; vielmehr ist es diesmal ein kurzes Zeichen\n1\to\to\to\nstatt der Worte: \u2014 ist der Grenzwerth der Summe----1-----1\u2014 ---(-\n3\tio ^ 102 ^ 103^\n3\n\u2022 \u2022 \u2022 \u2022 jjj\u00e4 f\u00fcr wachsendes x, wobei der Unterschied des Werthes der\nSumme gegen\u00fcber von \u2014 mit wachsendem x stetig abnimmt.\n(1 \\G\u00b0\n1 + \u2014I , so ist dies, mit anderer Bedeutung des Gleichheitszeichens, ein abk\u00fcrzender Ausdruck\n1) Dr. Hermann Schubert, System der Arithmetik und Algebra. Pots-\ndam 1885.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\t7\nf\u00fcr den l\u00e4ngeren Satz: Man kann stets angeben, wie gro\u00df x sein muss, damit der Unterschied zwischen dem endlichen festen Grenz-\n(1\\X\t...\n1 + -1 kleiner sei als eine beliebige\nvorgeschriebene Zahl \u00ab; oder: der Grenzwerth dieser Function ist e.\nDaraus ist klar, dass in jener Wortverbindung das Wort \u00bbunendlich\u00ab nichts anderes als einen abk\u00fcrzenden Ausdruck andeuten kann.\nAuch leuchtet ein, dass man bei allen Stetigkeits- und \u00fcberhaupt bei allen Grenzbetrachtungen stets endliche Summen, endliche Producte, endliche Kettenbr\u00fcche zu nehmen und dann zur Grenze \u00fcberzugehen hat, nachdem der Fehler berechnet ist. Nur wenn der Fehler Null wird, darf mit dem Ausdruck gerechnet werden; die h\u00f6here Analysis ist eine systematische Differenzenabsch\u00e4tzung und Grenzwerthberechnung; (nicht eine Wahrscheinlichkeitsberechnung, wie sich Herr Franz Meyer in einer f\u00fcr mathematische Laien leicht misszuverstehenden und that-s\u00e4chlich auch missverstandenen Weise ausdr\u00fcckt).\nEben in der Differentialrechnung und ihrer Umkehrung, der Integralrechnung, geschieht diese Berechnung von Grenzwerthen in systematischer Weise, indem zun\u00e4chst die am h\u00e4ufigsten vorkommenden Grenzwerthe, auf die sich andere zur\u00fcckf\u00fchren lassen, ermittelt werden, und damit gewisserma\u00dfen ein Einmaleins von Grenzwerthen hergestellt wird, mit dem dann fortw\u00e4hrend operirt wird.\nZugleich sieht man, dass die ganze h\u00f6here Analysis dargestellt werden kann, ohne dass jemals das Wort unendlichklein in den Mund genommen wird.\nDiese Darstellung hat Professor Dr. Stolz1) in Innsbruck in consequenter Weise durchgef\u00fchrt; fr\u00fcher f\u00fcr die niedere und h\u00f6here Arithmetik und Algebra, neuerdings auch f\u00fcr die h\u00f6here Analysis. Er hat dies, zugleich auch hinsichtlich der strengen Begr\u00fcndung und Einschr\u00e4nkung der einzelnen S\u00e4tze, in einer Weise gethan, dass wohl in Zukunft daran nicht mehr viel ge\u00e4ndert werden kann. Es\n1) O. Stolz, Vorlesungen \u00fcber allgemeine Arithmetik; vergl. auch seine Aufs\u00e4tze in den Berichten des naturwiss.-medic. Vereins in Innsbruck, XIV : \u00bbDie unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen\u00ab.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nCarl Cranz.\nist somit bewiesen, dass das sogenannte mathematische Unendlich (im fr\u00fcheren Sinne des Worts) in der Mathematik entbehrt werden kann, inhaltlich nicht nothwendig ist; und dies ist im vorliegenden Fall, wo es sich um die wahre Bedeutung des Unendlichen in der Mathematik handelt, besonders wichtig.\nWie das Unendlichkleine und Unendlichgro\u00dfe vermieden werden kann, m\u00f6gen einige m\u00f6glichst einfache Beispiele zeigen: Ich\nnehme die Function y = 2 +\nist die unabh\u00e4ngige ver-\n3 + z \u2019\n\u00e4nderliche Gr\u00f6\u00dfe, die alle m\u00f6glichen Werthe durchlaufen kann; y h\u00e4ngt durch die erw\u00e4hnte Gleichung in bestimmter Weise von x ab, ist die abh\u00e4ngige Variable oder die Function. F\u00fcr x = 1 ist\nf\u00fcr x = 2\nf\u00fcr x \u2014 1000 ist y == 2\n1\n1003\nu. s. f. ;\nje gr\u00f6\u00dfer x gew\u00e4hlt wird, um so weniger unterscheidet' sich y von dem Werth 2 und man kann stets angeben, wie gro\u00df der Werth von x genommen werden muss, damit der Unterschied von y gegen\u00fcber der festen Grenze 2 kleiner ist als eine beliebig kleine, aber endliche Zahl e, die vorgeschrieben wird. Statt dessen sagen wir k\u00fcrzer: der Grenzwerth von y f\u00fcr ein unendlich gro\u00dfes x ist 2; geschrieben: limes y \u2014 2 ; oder noch k\u00fcrzer, mit ver\u00e4nderter Be-\nX = \u00b1 00\n= 2 .\nAllgemeiner, ist y eine gegebene Function von x, so deutet ein Ausdruck wie z. B.: \u00bblimes y = b\u00ab an: Jeder positiven Zahl e kann\nX= +QO\neine positive Zahl G zugeordnet werden, derart, dass der absolute d. h. der ohne R\u00fccksicht auf das Vorzeichen rein arithmetisch genommene Betrag von y \u2014 b kleiner ist als e f\u00fcr alle der Ver\u00e4nderlichen x zukommenden Werthe, welche gr\u00f6\u00dfer als G sind.\nOder, die Formel: \u00bblim y=\u00f6\u00ab ist eine Abk\u00fcrzung f\u00fcr den\nx = \u00ab4-0\nl\u00e4ngeren Ausspruch: Es kann jeder positiven Zahl s eine positive Zahl h zugeordnet werden, derart, dass der absolute Betrag von y \u2014 b kleiner ist als s f\u00fcr jeden der Ver\u00e4nderlichen x gem\u00e4\u00df ihrer Definition zukommenden Werth, der zwischen a und a + h liegt.\nEndlich die Schreibweise: \u00bby = + oo (bez. \u2014oo)\u00ab w\u00e4hlt der\nx = a4-0\ndeutung des Gleichheitszeichens: 2 +\n1\n3 + oo","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\t9\nMathematiker statt der umst\u00e4ndlichen Ausdrucksweise : Es kann jeder positiven (bez. negativen) Zahl G eine positive Zahl h zugeordnet werden, derart, dass y gr\u00f6\u00dfer als G (bez. kleiner als G) ist f\u00fcr jeden der Ver\u00e4nderlichen x gem\u00e4\u00df ihrer Definition zukommenden Werth, der zwischen a und a -f- h liegt.\nWeiterhin die sogenannte Ableitung oder der Differentialquotient einer Function l\u00e4sst sich ebenfalls ohne Schwierigkeit mit Vermeidung Ides Unendlichkleinen erl\u00e4utern: Es sei die Function f(x), \u2014 (kurze Schreibweise statt \u00bbFunction von z\u00ab) \u2014 f\u00fcr alle Werthe von x in einem bestimmten Intervall um den Werth x = a herum, n\u00e4mlich in dem Intervall a \u2014 d und a -f- d, eindeutig und / stetig; man bildet dann die Differenz f(a +/,) \u2014fa), wobei h jedenfalls kleiner als der absolute, rein numerische Betrag von d sein soll. Es ist nun eine Erfahrungsthatsache, dass f\u00fcr sehr viele Functionen diese Differenz sich auf die Form umrechnen l\u00e4sst: h \u25a0 [m + n) \u2014 (und nur solche Functionen, bei denen dies der Fall ist, kommen in der angewandten Mathematik, in der Physik, Mechanik, Technik in Betracht) \u2014; dabei soll m von h unabh\u00e4ngig sein; dagegen n ist von h abh\u00e4ngig, wird aber mit nullwerdendem h selbst zu Null, oder/anders ausgedr\u00fcckt: zu jeder gegebenen und sonst willk\u00fcrlichen positiven kleinen Zahl e geh\u00f6rt eine positive Zahl d, so, dass f\u00fcr alle Werthe von /\u00ab, die absolut genommen kleiner als \u00f4 sind, deT absolute Betrag von n kleiner als e ist. Dann hei\u00dft m der Differentialquotient von f(X)] und m \u2022 h hei\u00dft das \u00bbDifferential\u00ab von fX) f\u00fcr den Werth a von x\\ letzteres Differential vielfach abgek\u00fcrzt geschrieben df{x].\nZ. B. sei, um ein ganz einfaches Beispiel zu w\u00e4hlen, die Function\neinfach die zweite Potenz von x) x'1, und a sei 2. Dann ist: f(x+h)\u2014f{x) = {x h)\u2018l \u2014 x\u2018l oder ausgerechnet 2 xhTi1 oder h (2z + h). Hier ist also m \u2014Ix und n \u2014 h. Wenn h zu Null wird, so wird n zu Null, und folglich ist \u2018Ix allgemein der Differentialquotient von x2; speciell f\u00fcr den Werth x = 2 von x wird derselbe 2 \u2022 2 oder 4.\nDie sogenannten Differentiale sind folglich ebenfalls nur rein symbolischer Natur, insofern als sie f\u00fcr sich allein keinerlei inhaltliche, sondern h\u00f6chstens formelle Bedeutung zur Vereinfachung der Schreibweise in manchen Rechnungen der Differential- und","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nCarl Cranz.\nIntegralrechnung haben; ich k\u00f6nnte sie etwa f\u00fcr solche Leser, die mit den h\u00f6heren Theilen der Algebra bekannt sind, den Determinanten an die Seite stellen, deren Theorie zwar auch inhaltlich nichts neues bringt, aber in formeller Hinsicht zur Anordnung mancher Ausrechnungen auf kleinerem Raum oder zur eleganten Darstellung mit Vortheil verwendet werden kann.\nNaturgem\u00e4\u00df m\u00fcssen dann auf Grund der Definition zuerst die Rechnungsregeln f\u00fcr die Rechnung mit den Determinanten, f\u00fcr ihre Addition, Multiplication u. s. w. festgestellt werden.\nSo auch hier bei den Differentialen. Will man ein System solcher Symbole aufstellen und damit rechnen, so darf dies nur auf Grund bestimmter Definitionen undRechnungsregeln geschehen; \u2022diese Regeln sind zum Theil willk\u00fcrlich; man wird nat\u00fcrlich die Regeln, welche f\u00fcr die nat\u00fcrlichen Zahlen gelten, soweit es geht, beizubehalten suchen, aber darauf sehen, dass keine Widerspr\u00fcche der Regeln unter einander sich ergeben. Stolz hat unter Zuh\u00fclfe-nahme einer Methode von Euklid in strenger Weise gezeigt, wie eine solche Aufstellung von Rechnungsregeln erfolgen kann. Man legt den betreffenden Symbolen oder Zeichen in logischer Ordnung bestimmte Pr\u00e4dicate bei, die sich nicht widersprechen und nicht zu Unm\u00f6glichkeiten f\u00fchren d\u00fcrfen. Man wei\u00df, dass es Functionen y der reellen ver\u00e4nderlichen x gibt, welche sich dem Werth 0 n\u00e4hern, wenn sich x einem bestimmten Werth n\u00e4hert; dadurch soll ein neues Symbol, das Unendlichkleine von y, mit dy bezeichnet, gesetzt sein; hierf\u00fcr werden zun\u00e4chst Regeln behufs Vergleichung der unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen angegeben, sodann auf Grund von Definitionen die Rechnungsregeln aufgestellt; es zeigt sich, dass diese Regeln der Hauptsache nach dieselben wie diejenigen f\u00fcr das Rechnen mit den absoluten Zahlen sind und dass sie nur an einigen Stellen davon abweichen. Die n\u00e4heren Ausf\u00fchrungen m\u00f6gen in dem Werk von Stolz nachgelesen werden. Wie gesagt, sind aber diese unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen nicht von fundamentaler Bedeutung, sondern k\u00f6nnen entbehrt werden. (Mit Unrecht bestreitet dies Herr Hoppe in Ohrtmann\u2019s Jahrbuch gegen\u00fcber den Stolz-schen Ausf\u00fchrungen, indem er bemerkt, auf diese Weise werde nur der Name, nicht der Gebrauch der unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen vermieden ; diese seien nicht zu entbehren. Ich denke, mit dem Namen","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft. 11\nwird zugleich der Gebrauch vermieden; weil es nur eine fa\u00e7on de parier ist, besser gesagt, weil diese Zeichen nur formelle Bedeutung haben). Dieses Wort Differential bez. diese Zeichen dx, dy dienen lediglich zur Abk\u00fcrzung. Eine inhaltliche Bedeutung hat allein der Differentialquotient als Grenzwerth des Quotienten zweier Gr\u00f6\u00dfen (hier der Gr\u00f6\u00dfen f[a + h)\u2014f(a) und h), die jede f\u00fcr sich allein 0 w\u00fcrden, und wobei die eine der Gr\u00f6\u00dfen in bestimmter Weise von der andern abh\u00e4ngt; wir dr\u00fccken durch die Redensart Differential, bez. durch die Zeichen dy, dx nur aus, dass und wie eine Grenzwerthberechnung stattgefunden hat, und k\u00fcrzen diese Berechnung je nachdem formell dadurch etwas ab.\nVielleicht wird dies manchem mathematischen Laien noch klarer durch ein mehr geometrisches Beispiel: Man denke sich einen stetigen, zusammenh\u00e4ngenden Linienzug, eine Curve (rechnerisch definirt durch eine etwa sammt allen Ableitungen stetige Function) ; und auf dieser Curve betrachte man einen Punkt A. Durch diesen Punkt sei eine Secante gelegt, welche die Curve in einem zweiten Punkte B trifft. Nun drehe man in Gedanken die Secante um A so, dass der zweite Schnittpunkt B sich dem Drehpunkt A mehr und mehr n\u00e4hert, und denke sich mit der Drehung innegehalten, sobald B mit A zusammengefallen ist. Diese besondere Lage, diese Grenzlage der Secante, nennen wir die \u00bbTangente der Curve im Punkt A\u00ab; es ist diejenige Gerade, welche die augenblickliche Richtung der krummen Linie in dem Punkt A angibt. Wenn aber umgekehrt der Mathematiker, wie dies h\u00e4ufig der Fall ist, die Tangente als die Verbindungslinie von zwei unendlich benachbarten Curvenpunkten, n\u00e4mlich von A mit dem unendlich nahen Punkt definirt, so deutet er durch diese Redensart sogleich an, aber auch nur an, wie die Tangente durch einen Grenz\u00fcbergang entstanden ist; gewisserma\u00dfen condensirt legt er in diesen wenigen drastischen Worten die ganze Schilderung der Geschichte jenes Grenz\u00fcbergangs der Secante in die Tangente nieder; er erspart dadurch mehrere S\u00e4tze.\nIn \u00e4hnlicher Weise w\u00fcrde der mathematische Laie sehr irre gehen, wenn er etwa annehmen m\u00f6chte, dass durch die Bezeichnungen: negative, irrationale, imagin\u00e4re Zahlen die Begriffsbestimmungen ausgedr\u00fcckt werden sollen; speciell hier erinnert die mathematische","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nCarl Cranz.\nSprachweise, ich k\u00f6nnte sagen in historisch-piet\u00e4tvoller Weise, durch diese noch immer beibehaltenen Bezeichnungen: negativ = sinnverneinend, irrational == sinnlos, imagin\u00e4r = scheinbar, eingebildet, an die Zeiten in der Geschichte der Mathematik, wo man noch nicht wagte, bez. noch nicht Veranlassung fand, durch Erweiterung des Zahlbegriffs diese Zahlen als solche in den Zahlencomplex einzuf\u00fcgen.\n2) In der Geometrie der Lage wurde bekanntlich das Unendliche in der Form des unendlich fernen Punktes, der unendlich fernen Geraden, der unendlich fernen Ebene zuerst von Poncelet1) eingef\u00fchrt und systematisch zuerst von Steiner2) verwendet, nachdem \u00fcbrigens schon fr\u00fcher im 17. Jahrhundert Des-argues \u00e4hnliche Gedanken ausgesprochen hatte.\nHier ist das Unendliche ebenfalls nichts als eine sehr bequeme Redensart, welche zum Zusammenfassen von mehreren S\u00e4tzen in einen dient, -\u2014 wie sich leicht zeigt.\nWir haben die zwei S\u00e4tze: Erstens, Zwei Geraden schneiden sich in einem Punkt; Zweitens, Zwei parallele Geraden schneiden sich nicht. Diese zwei S\u00e4tze fassen wir in einen einzigen zusammen: Zwei Geraden schneiden sich stets in einem Punkt; \u2014 n\u00e4mlich, wenn sie speciell parallel sind, so sagen wir, sie schneiden sich in einem sogenannten unendlich fernen Punkt, \u2014 indem wir dabei den Begriff \u00bbPunkt\u00ab auch auf diesen uneigentlichen unendlich fernen Punkt ausdehnen.\nWie viel unendlich ferne Punkte wir dabei der Geraden zuschreiben m\u00fcssen, das h\u00e4ngt von den Axiomen, also von den Eigenschaften ab, welche wir der betreffenden zweidimensionalen Raumform zuertheilen, in welcher wir gerade in Gedanken Geometrie treiben. Bleiben wir bei der reellen Darstellung, und zwar bei der Fl\u00e4chengeometrie, so hat die Gerade keinen, einen oder zwei unendlichferne Punkte, je nachdem wir 1) das achte, elfte, aber nicht das zw\u00f6lfte Axiom Euklids voraussetzen, \u2014 wie z. B. bei der Geometrie auf der Kugelfl\u00e4che, bezw. je nachdem wir 2) das achte, elfte und zw\u00f6lfte Axiom, wie in der Euklidischen ebenen Geometrie, oder je\n1)\tPoncelet, Trait\u00e9 des propri\u00e9t\u00e9s projectives des figures. Paris 1823. S. 49 u. 53.\n2)\tSystematische Entwickelung der Abh\u00e4ngigkeit geometrischer Gestalten von einander. Berlin 1832.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"(Jeher den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft. 13\nnachdem wir 3) das achte und zw\u00f6lfte, aber nicht das elfte Axiom als g\u00fcltig zu Grunde legen, wie in der reellen Darstellung der sogenannten nichteuklidischen Geometrie auf der Traktrixfl\u00e4che, wo es zu einer geod\u00e4tischen Linie durch einen Punkt au\u00dferhalb 2 von einander verschiedene Parallelen giebt.\nHalten wir die Voraussetzungen der euklidischen Geometrie fest, so ist der eine unendlichferne Punkt, der zu einer Geraden geh\u00f6rt, offenbar nichts anders, als ein Aequivalent f\u00fcr eine Richtungsangabe; alle Parallelen einer und derselben Richtung besitzen denselben unendlichfernen Punkt; aber einen bestimmten Ort besitzt dieser uneigentliche Punkt nicht.\n(Auch hier handelt es sich um einen Grenzwerth bezw. eine Grenzlage ; denn denken wir uns zwei Geraden, die sich in ^(schneiden, die erste Gerade fest, die andere ver\u00e4nderlich, n\u00e4mlich um einen ihrer Punkte, etwa den Punkt B, in Drehung begriffen; das Loth von B auf die erste Gerade sei BC. Stets k\u00f6nnen wir dann angeben, wie gro\u00df die Strecke CA zu w\u00e4hlen ist, damit sich der Winkel AB C von einem Rechten sowenig unterscheidet, als man will; oder anders ausgedr\u00fcckt, der Grenzwerth des Winkels ABC ist ein Rechter.)\nWenn wir so f\u00fcr die Gerade auch im Folgenden nur einen unendlichfernen Punkt voraussetzen, so folgt daraus nothwendig logisch weiter, dass wir uns die s\u00e4mmtlichen unendlichfernen Punkte der Ebene auf einer Geraden, der sogenannten unendlichfernen Geraden, zwar nicht vorzustellen, aber zu denken haben ; \u2014 da ja sonst eine wirkliche, also im Endlichen verlaufende Gerade in ihrer Weiterverl\u00e4ngerung die unendlichferne Curve in 2 Punkten schneiden k\u00f6nnte. In der rechnenden analytischen Geometrie ergibt sich die logische Nothwendigkeit, die s\u00e4mmtlichen unendlichfernen Punkte der Ebene auf einer Geraden sich angeordnet zu denken, daraus, dass ihre Gesammtheit durch eine Gleichung ersten Grades daTgestellt wird, \u00e4hnlich wie jede wirkliche Gerade. Und nur diese Thatsache soll, wie z. B. Clebsch ausdr\u00fccklich hervorhebt, durch jene Bezeichnung \u00bbunendlichferne Gerade\u00ab ausgedr\u00fcckt werden, \u2014 nichts Anderes. Der neue Begriff gestattet dann, S\u00e4tze mit weniger Wort-und Zeichenaufwand zu beweisen und auszusprechen.\nAuch die unendlichferne Gerade ist darnach nur ein zur Bequemlichkeit der Ausdrucksweise eingef\u00fchrter H\u00fclfsbegriff, ein Aequivalent","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nCarl Craaz.\nf\u00fcr die Angabe der Stellung paralleler Ebenen, und wer nach der Lage dieser sogenannten Geraden sucht, oder dieselbe darzustellen bestrebt ist, wird also immer wieder in Widerspr\u00fcche gerathen; man kann sich davon an dem Beispiel der unendlichfernen Tangente der Parabel \u00fcberzeugen.\nUnd wenn wir gelegentlich, wie z. B. beim Taktionsproblem, die Gerade als Grenzfall eines Kreises von unendlichgro\u00dfem Radius behandeln, so ist dies wiederum nur eine mannigfach bequeme H\u00fclfsbetrachtung. Z. B. sei die Aufgabe zu l\u00f6sen: einen Kreis zu construiren, der eine Gerade L sowie einen Kreis K ber\u00fchrt und durch einen Punkt P geht. Betrachten wir die Gerade als Kreis mit unendlichgro\u00dfem Radius, so erkennen wir mit Leichtigkeit, dass die beiden Kreispunkte, welche auf dem zu L senkrechten Durchmesser des Kreises K liegen, als der innere und \u00e4u\u00dfere Aehnlich-keitspunkt der beiden \u00bbKreise\u00ab K und L zu betrachten sind; wir subsumiren damit diese Aufgabe als Specialfall unter die andere, etwa schon als gel\u00f6st betrachtete: Einen Kreis zu construiren, der 2 gegebene Kreise ber\u00fchrt und durch einen gegebenen Punkt geht ; wir ersparen uns eine besondere Ueberlegung im vorliegenden Fall. Wenn wir uns selbst aber genau beobachten, wie wir jene zwei sogenannten Aehnlichkeitspunkte zwischen der Geraden und dem Kreise finden, so zeigt sich, dass wir uns zun\u00e4chst die Gerade als Kreis mit sehr gro\u00dfem aber noch endlichem Radius vorstellen und dann in Gedanken zur Grenze \u00fcbergehen. Die Gerade bleibt also nicht ein \u00bb heimlicher Kreis\u00ab (Lotze); es soll durch die erw\u00e4hnte Betrachtungsweise nicht eine versteckte metaphysische Eigenschaft der Geraden ausgesprochen werden, sondern es ist nur eine f\u00fcr den betreifenden momentanen Gebrauch zu H\u00fclfe genommene formelle Ausdrucksweise, die zur Zusammenfassung zweier Aufgaben in eine einzige mit Specialf\u00e4llen dienen kann.\n3) Dagegen in der angewandten Mathematik, in der rechnenden Physik, Mechanik und Technik liegen, \u2014 und dies muss betont werden \u2014, die Verh\u00e4ltnisse sehr vielfach anders. Wenn wir hier von einem unendlichkleinen Winkel zwischen den Schwererichtungen in zwei Massenpunkten eines K\u00f6rpers oder","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendliehkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\t15\nzwischen den Lichtstrahlen von einem Stern her sprechen; wenn wir eine Kometenbahn berechnen und dabei die kleine Wirkung eines Saturnmonds oder vollends die des Sirius \u00bbals unendlichklein vernachl\u00e4ssigen\u00ab; wenn wir die Fl\u00e4che eines kleinen ruhigen Sees als Kugelfl\u00e4chenst\u00fcck von \u00bbunendlichgro\u00dfem\u00ab Radius bezeichnen u. s. f., so ist hierbei jener Winkel oder diese Einwirkung nicht wirklich mathematisch unendlichklein, die Kr\u00fcmmung dieser Fl\u00e4che nicht wirklich Null, sondern von endlicher angebbarer Gr\u00f6\u00dfe; die Resultate der gew\u00f6hnlichen Schwerpunktsberechnungen sind streng genommen s\u00e4mmtlieh falsch, mit endlichen Fehlern behaftet; der Schwerpunkt einer dreieckigen Scheibe ist nicht nur nicht im Schnittpunkt der Seitenhalbirenden gelegen; sondern, wenn wir die Scheibe selbst in der Hand drehen und wenden, so \u00e4ndert fortw\u00e4hrend der Schwerpunkt in der Scheibe seine Lage, da die Anziehungskraft der Erde auf die oberen und unteren Theile verschieden gro\u00df ist. Freilich wird niemand daran denken, dies praktisch in der Rechnung zu ber\u00fccksichtigen, oder besser gesagt, h\u00f6chst selten wird dies zu ber\u00fccksichtigen sein.\nHier macht sich also der Mathematiker vielfach eines unrichtigen Ausdrucks schuldig, indem er unendlichklein nennt, was endlich-klein ist; ja es gehen in derselben physikalischen oder technischen Abhandlung oft auf derselben Seite die zwei Bedeutungen von unendlichklein a) mathematisch unendlichklein, also Null, b) endlichklein, aber zu vernachl\u00e4ssigen, durcheinander und nebeneinander her.\nDiese Sprechweise ist allerdings eine nachl\u00e4ssige; aber es liegt kein zwingender Grund vor, davon abzugehen. Der einzige Nachtheil, der daraus entstehen k\u00f6nnte, w\u00e4re der, dass ein nichtmathematischer Leser, der die Verh\u00e4ltnisse nicht frei genug \u00fcbersieht, irre gef\u00fchrt werden k\u00f6nnte, zu glauben, dass der Mathematiker hier mit seinem \u00bbUnendlichkleinen\u00ab dasselbe meine, wie in der Mathematik. Der Mathematiker selbst ist sich wohl bewusst, dass er hier nicht mathematisch unendlich kleine Gr\u00f6\u00dfen vor sich hat, sondern endlich kleine Gr\u00f6\u00dfen, die gegen\u00fcber andern nicht in Betracht kommen, ohne Einfluss sind.\nDie absolute Gr\u00f6\u00dfe dieser zu vernachl\u00e4ssigenden Werthe oder, wie sich der Physiker und Techniker, wie gesagt, mitunter auch hier, mit anderer Bedeutung des Worts, auszudr\u00fccken beliebt,","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nCarl Cranz.\ndieser \u00bbunendlich kleinen\u00ab Weithe kann dabei sehr verschieden sein; sie h\u00e4ngt von der Genauigkeit ab, die in dem betreffenden Fall erzielt werden soll und kann. Wenn der Astronom die Entfernung der Erde vom Sirius ermittelt, so kommt die H\u00f6he des Beobachtungsorts \u00fcber der Meeresfl\u00e4che, ja selbst der Erdradius nicht mehr in Betracht; dieser wird dann gelegentlich als unendlich klein bezeichnet, d. h. also hier: als zwar endlich klein, aber die Genauigkeit des Resultats nicht mehr beeinflussend; in andern F\u00e4llen dagegen kann die L\u00e4nge eines Milliontel Millimeter noch von Einfluss auf das Resultat sein.\nDarauf kommt es in der angewandten Mathematik besonders an, zu entscheiden, welche Gr\u00f6\u00dfen gegen\u00fcber den andern noch in Betracht kommen, welche nicht; denn gerade die Thatsache, dass nicht jeder K\u00f6rper auf jeden andern in Raum und Zeit eine bemerkbare Wirkung aus\u00fcbt, macht das Erkennen von Naturgesetzen m\u00f6glich; stets handelt es sich ja dabei um eine Unzahl von Abstractionen, und die Naturgesetze selbst sind Resultate von zahlreichen Abstractionen.\nAber es sind und bleiben die hierbei als unendlich klein be-zeichneten Fehler endliche Fehler. Und wenn Chris-tian v. Wolf1) sagt: \u00bbMan kann ein Sandk\u00f6rnlein in Ansehung eines gro\u00dfen Berges f\u00fcr nichts und also seine Gr\u00f6\u00dfe in Ansehung der H\u00f6he des Berges als unendlich kleine halten\u00ab, so hat er sich eben nicht den richtigen Begriff von mathematisch unendlichklein gebildet, den er anzustreben scheint.\n4) Im Vorstehenden haben wir den Begriff des Unendlichen in der Mathematik bis auf seine Wurzel verfolgt und es hat sich ge-zeigt, dass das Unendlichkleine und Unendlichfeme in der reinen Mathematik nichts anderes als eine zur Vereinfachung der Ausdrucksweise bequem dienende Redewendung, bez. ein dieselbe abk\u00fcrzendes Symbol ist, das bei Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen daran erinnert, dass und wie eine Grenzwerthberechnung stattgefunden hat, und bei Lagenverh\u00e4ltnissen zur Zusammenfassung von mehreren S\u00e4tzen oder Aufgaben in einen Satz oder eine Aufgabe, bez. zum\n1) Ch. v. Wolf, Der Anfangsgr\u00fcnde aller mathematischen Wissenschaften letzter Theil. Halle 1771. S. 254. Cit\u00e2t nach S. G\u00fcnther.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\t17\nbequemen Specialisiren verwendet werden kann, \u2014 \u00e4hnlich wie der Begriff der mehrdimensionalen R\u00e4ume, wor\u00fcber ich mich in einem andern Aufsatz ausgesprochen habe1); und \u00e4hnlich wie die negativen und gebrochenen Zahlen, die Potenzen mit gebrochenen Exponenten und nach dem Vorschlag von Leibniz die Differentialquotienten mit negativen Differentialindices dazu verwendet werden k\u00f6nnen, um die Unterscheidung von Addiren und Subtrahiren, von Multipliciren und Dividiren, von Potenziren und Radiciren, von Differentiren und Integriren unn\u00f6thig zu machen.\nAuf welche Abwege man ger\u00e4th, falls man das Unendliche nicht in dieser Weise auffasst, zeigen in mehr humoristischer Weise die h\u00fcbschen Sophismen in dem Werk von Vieta und die \u00bbmathematischen Unterhaltungen\u00ab von Riecke; in ernsterer Weise zeigt dies ein Umblick in der neueren und neuesten Geschichte der Mathematik.\nBei den Mathematikern des 17. Jahrhunderts2) nimmt man wahr, dass sie sehr ungenirt mit dem Unendlichen umgehen. Man nahm \u2014 nur nicht so vorsichtig, wie es im Alterthum Archimedes gethan hatte \u2014 Quadraturen und Cubaturen vor; Cavaleri und Fermat rechneten mit divergirenden Reihen; Wallis stellte unendliche Producte auf und Brouncker verwandelte diese in unendliche Kettenbr\u00fcche, wobei jedoch unmittelbar an endliche Summen, Producte und Kettenbr\u00fcche die entsprechenden unendlichen Processe angeschlossen werden, ohne dass im geringsten gefragt wird, ob man\n1111\nmit einem solchen Ding, wie z. B. \u00bb\u2014 + \u2014 + \u2014 + \u2014 + u. s. w. m\nIt O t:\tO\ninfinitum\u00ab, wirklich auch rechnen darf, wie mit eineT gew\u00f6hnlichen Gr\u00f6\u00dfe; einige Punkte oder \u00bb+ etc.\u00ab ersetzen alle weiteren Untersuchungen, \u2014 wie es \u00fcbrigens auch noch heute in manchem Algebrabuch zu finden ist.\nWallis ferner scheut sich auch nicht, gelegentlich der Aufstellung der Integralformeln folgende Schl\u00fcsse zu ziehen: Es ist\n1)\tC. Cranz, Gemeinverst\u00e4ndliches \u00fcber die sogenannte vierte Dimension. Samml. gemeinverst. wissensch. Vortr\u00e4ge, herausg. von Virchow u. Wattenbach. Neue Folge, f\u00fcnfte Serie. Heft 112/113.\n2)\tVgl. hier\u00fcber bes. R. Reiff, Geschichte der unendlichen Reihen. T\u00fcbingen 1889.\nWundt, Philos. Studien. XI.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nCarl Cranz.\nrr ,\t1\t 1_____1\t1\notienbar - < -\t< - <\t- ;\tund\tfolglich, schlie\u00dft\ter weiter,\tist auch:\n~0 <\t< IT2 ^ZTjj etc> Er erll\u00e4lt so: ^\t~ oder: oo < \u2014 l:\ndemgem\u00e4\u00df nennt er die negativen Zahlen \u00bbgr\u00f6\u00dfer als unendlich\u00ab, plus quam infiniti, \u00bb\u00fcberunendliche Zahlen\u00ab. Nur damit die Allgemeinheit der Formel \u2014 <\t{ gewahrt bleibt, wird die wahre Be-\ndeutung einer Rechnungsoperation aufgegeben, \u2014 ein Verfahren, das noch Leibniz und Euler billigen.\nJakob Bernoulli f\u00fchrt die Division ~4\u2014 aus, und erh\u00e4lt\nj\t1\t+\t*\n1 x \u2014 1 x\t+ X<1\txZ\t+\t+ .... ; darin\tnimmt er\tspeciell\nx 1 und hat: 1 \u2014 1+1 \u2014 1 + .... bis ins Unendliche =\t.\nUnd er nennt dies ein \u00bbParadoxon non inelegans\u00ab.\nDer M\u00f6nch Guido Grandi ver\u00f6ffentlichte gerade \u00fcber diese Reihe 1\t1+1 \u2014 1+ .... eine gr\u00f6\u00dfere Schrift im Jahre 1703;\ndabei l\u00f6ste er die Schwierigkeit des Paradoxons in folgender Weise: Er nimmt an, zwei Br\u00fcder erben in einer Theilung aus dem v\u00e4terlichen Nachlass einen Stein von unsch\u00e4tzbarem Werth, den zu ver\u00e4u\u00dfern das Testament verbietet. Daher kommen sie unter sich\ndar\u00fcber \u00fcberein, dass der Stein abwechslungsweise in dem Museum eines jeden je ein Jahr lang niedergelegt werde. Wenn nun festgesetzt wird, dass diese Bestimmung in alle Ewigkeit zwischen den beiden Familien gelten solle, so wird der Familie jedes Bruders der Stein unendlich oft gegeben werden (+ 1) und unendlich oft\ngenommen werden (\u20141), und doch hat jede den halben Besitz des Steins.\nZugleich schlie\u00dft Grandi aus: 1 \u2014 1 + 1 \u2014 1+ etc. = \u2014 weiter: 0 + 0 + 0+ ....=-; die Summe unendlich vieler\nNullen ist eine endliche Zahl und er findet hierin einen Beweis\nf\u00fcr die M\u00f6glichkeit der Sch\u00f6pfung der Welt aus dem Nichts.\nLeibniz ist zwar mit der juridischen Erkl\u00e4rung Grandi\u2019s nicht einverstanden; dagegen wohl damit, dass mit dieser Reihe","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den UnendlichkeitsbegriT in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n19\n1 \u2014 1 + 1 \u2014 1 + .... gerechnet werden k\u00f6nne, f\u00fcr welche er\n1 . ... ebenfalls \u2014 erh\u00e4lt, und zwar durch eine Art Wahrscheinlichkeits-\n2 \u2019\nrechnung: Wenn man weitere und weitere Glieder der Reihe hinzunimmt, so ist der Werth derselben 1 und gleich darauf 0; abwechselnd 1, 0, 1, 0 etc. Der wahrscheinlichste Werth ist somit nach den Grunds\u00e4tzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung das arithmetische Mittel zwischen 0 und 1, das hei\u00dft \u2014. Es ist dies nicht\nviel besser, als wenn Leibniz mit Beiziehung der Optik sagen w\u00fcrde: der Werth der Reihe ist abwechselnd Null und Eins in rascher Folge, dauernd nicht schwarz und nicht wei\u00df, sondern abwechselnd schwarz und wei\u00df; man sieht rasch dar\u00fcber hin und sagt: grau.\nAuch die drei Bernoulli haben nichts erhebliches gegen die Richtigkeit solcher Schlussfolgerungen einzuwenden; nurVarignon verwahrt sich gegen eine solche Behandlung der Probleme.\nHeutzutage begn\u00fcgen wir uns zu sagen: Eine solche Reihe 1 \u2014 1 + 1 \u20141 .... ist nichts als eine Anzahl von neben einander stehenden Zeichen; es ist Tinte, es ist Kreide, \u2014 es ist ein Ausdruck, mit dem man nicht rechnen darf; kurz die Reihe con-vergirt nicht gegen einen festen Grenzwerth, sondern schwankt . unendlich oft hin und her; der Werth bis zu einem beliebigen nten Glied ist Eins, wenn man bei einem ungeraden, und ist Null, wenn man bei einem geraden Glied abbricht; \u2014 weiter nichts.\nAuch Euler bek\u00fcmmert sich vielfach nicht darum, ob eine Reihe convergirt oder nicht; er macht zwar die Bemerkung, dass man mit der Summation derartiger Reihen sehr vorsichtig sein m\u00fcsse (er hatte zum ersten Mal die sogenannte Semi-Convergenz einer Reihe bemerkt); er selbst tr\u00e4gt aber kein Bedenken, mit der Reihe, die beiderseits ins Unendliche geht,\n.... \u2014- H---2 -----1~ 1 + \u00ab + \u00f62 +\t+ ....\na\u00e0 a2 a\nzu rechnen, und erh\u00e4lt daf\u00fcr 0 (beide Theile sind geometrische Pro-\ngressionen, der eine Theil ist gibt dies 0).\nder andere -------- , addirt\na \u2014 1\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nCarl Cranz.\nEr findet ferner, indem er Formeln, die f\u00fcr endliche Reihen erhalten sind, ohne weitere Gewissensbisse auch auf unendliche Reihen anwendet, z. B. 1 \u2014 3 + 5 \u2014 7 + 9+ .... gleich 0, ferner t2 \u2014 32 + 52 \u2014 72 + 92 \u2014 .... ebenfalls gleich 0 \u2014 Ausdr\u00fccke, wie man sie \u00fcbrigens ebenfalls noch heutzutage da und dort in Schulb\u00fcchern antrifft. Ueberhaupt behandelt Euler das Unendlichgro\u00dfe stets als eine Zahl, mit der ebenso gerechnet werden kann, wie mit einer endlichen Gr\u00f6\u00dfe.\n5) Die jetzige Periode der mathematischen Wissenschaft ist durch das Bestreben charakterisirt, an dem m\u00e4chtigen Geb\u00e4ude-complex der Mathematik theils einzelne Abtheilungen weiter auszubauen, theils aber und besonders die Fundamente zu controliren, auf welchen das Geb\u00e4ude Tuht; \u2014 zu untersuchen, unter welchen Bedingungen der und jener Satz g\u00fcltig, die und jene Methode anwendbar; wann eine Function integrirbar und differentiirbar, ob die Zahl der Axiome eine nothwendige und ausreichende sei, etc.\nUnd so sollte man denken, dass es der neueren, \u00f6fters sogenannten Pr\u00e4cisions-Mathematik gelungen sein werde, \u00fcber einen grundlegenden Begriff, wie den des mathematischen Unendlich, allgemeine Uebereinstimmung der Meinungen unter ihren Vertretern zu erzielen. Dies ist jedoch keineswegs der Fall, wenn auch die Bemerkung P. du Bois-Reymond\u2019s etwas zu weit gehen d\u00fcrfte, der gelegentlich sagt: \u00bbNoch heute erscheinen in der ,unfehlbarsten aller Wissenschaften' kaum zwei Lehrb\u00fccher hinter einander, die, wenn sie auf die Grundbegriffe n\u00e4her eingehen, nicht auf das Schroffste sich widerspr\u00e4chen. Hinsichtlich ihrer Begr\u00fcndung ist demnach die Lehre von den Differentialen seit L\u00e8ibniz .... kaum vorgeschritten.\u00ab Allerdings von namhaften Philosophen und Mathematikern der Gegenwart oder j\u00fcngsten Vergangenheit liegen Begriffsbestimmungen \u00fcber das mathematische Unendlich vor, die sich zum Theil direct widerstreben. Ich m\u00f6chte mich im Folgenden vorzugsweise mit den Meinungs\u00e4u\u00dferungen der Herren Franz Meyer, Cantor, P. du Bois-Reymond kritisch besch\u00e4ftigen; vorher jedoch noch einige andere Schriftsteller auf diesem Gebiet ohne inneren Zusammenhang unter einander anf\u00fchren, so wie sie mir in der Litteratur aufgesto\u00dfen sind.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft. 21\nHerr H. Fr. Th. Beyda1) identificirt ohne weiteres die mathematische Null mit dem Nichtseienden und das mathematische Unendlich mit dem im gew\u00f6hnlichen Leben sogenannten Unendlichen und die Null mit dem Nichts. Auf diese Weise kommen folgende S\u00e4tze zum Vorschein. \u00bbDer unendlichste Theil einer Gr\u00f6\u00dfe ist vollkommen das Nichts, ein Nichtseiendes\u00ab .... \u00bbin der Differentialrechnung muss das Differential dx von x als Nichtseiendes betrachtet werden und die wirklich unendlichen Theile von x machen das Integral aus\u00ab .... \u00bbes bekommt dadurch diese h\u00f6chste Wissenschaft der Mathematik, die herrlichste Erfindung unseres Leibniz, erst ihre feste Grundlage\u00ab .... \u00bbes ist nun klar und deutlich bewiesen, dass es drei Sein: Unendliches, Endliches und Nichtseiendes geben m\u00fcsse; auch das Verh\u00e4ltniss derselben zu einander kann genau angegeben werden, wie es in der Philosophie nur die gr\u00f6\u00dften Denker ahnen konnten: Es muss sich das Nichtseiende zum Endlichen verhalten wie dieses\nzum Unendlichen\u00ab = oo = oo -1, also oo : 1 = 1 : oj .... \u00bbdie\nWelt ist weder ein Unendliches noch ein Nichtseiendes, die Welt ist endlich\u00ab .... \u00bbAuch der Raum und die Zeit m\u00fcssen endlich sein\u00ab .... \u00bbAndere Namen f\u00fcr diese Trias des Unendlichen, Endlichen und Nichtseienden sind: Nothwendiges, Wirkliches, M\u00f6gliches oder Sein, Werden und Wahrsein; zu vergleichen sind diese drei Sein mit den drei christlichen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung\u00ab .... Mit H\u00fclfe von Betrachtungen \u00fcber die trigonometrische Tangente wird endlich die Unsterblichkeit der Seele bewiesen.\nMan sieht, die \u00fcbrigens nicht neue Erfindung Beyda\u2019s besteht lediglich darin, dass der Begriff des mathematischen Unendlich und der Null falsch aufgefasst wird, womit dann sofort die Th\u00fcre zu allen m\u00f6glichen Phantastereien aufgesto\u00dfen ist.\nHerr Bergbohm2) vermisst neben der Differentialrechnung, die\n1)\tH. Fr. Th. Beyda, Das Unendliche, was es den Philosophen und was es den Mathematikern bisher gewesen und wie es sich mathematisch darstellt nach einer neuen Erfindung. Bonn, ohne Jahreszahl. Besprochen z. B. in Ohrtmann\u2019 s Jahrbuch der Fortschritte der Mathematik.\n2)\tDr. Julius Bergbohm. Neue Rechnungsmittel der h\u00f6heren Mathematik. Stuttgart 1891.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"52\nCarl Cranz.\nsich mit den unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen besch\u00e4ftigt, eine analoge Rechnungsmethode, welche die unendlich gro\u00dfen Quotienten zum Gegenstand hat, er benennt die neue Rechnungsart Immensalrech-nung; ferner will er auf die unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen au\u00dfer den Operationen der Addition, Subtraction, Multiplication und Division auch noch die Potenzen- und Logarithmenrechnung anwenden (\u00bbPotentialrechnung, Radicalrechnung, Logarithmalrechnung\u00ab).\nGewiss ist es m\u00f6glich, sobald gewisse Symbole als Zahlen de-finirt sind, nach bestimmten Principien Rechnungssysteme f\u00fcr sie aufzustellen, wobei man sich nur zu h\u00fcten hat, dass keine Widerspr\u00fcche sich ergeben, auch ist es wohl m\u00f6glich, die bisherigen Operationssysteme zu erweitern, z. B. w\u00e4re es mit keiner Schwierigkeit verbunden, in der Algebra noch \u00fcber die Potenzlehre hinausgehend eine neue Operation zu betrachten, welche als \u00abfach angewandtes Potenziren definiit w\u00fcrde, \u00e4hnlich wie die Potenz an eine mehrfach angewandte Multiplication a \u25a0 a \u25a0 a . . . . (\u00bbmal) darstellt. Allein es hat sich gezeigt, dass solche Erweiterungen der Rechnungssysteme unn\u00f6thig sind, im letzteren Fall vor allem deshalb, weil bei der Potenz Basis und Exponent nicht vertauschbar sind. Wenn Herr Bergbohm fehlerlos zeigen k\u00f6nnte, dass und wie mit seinen Erweiterungen ein thats\u00e4chlicher erheblicher Nutzen geschaffen w\u00fcrde, h\u00e4tten seine Schriften eine Bedeutung; so aber ist seine M\u00fchewaltung jedenfalls vergeblich.\nInteressanter ist eine Controverse, die sich \u00fcber die Bedeutung der unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen zwischen den Herren Lasswitz und Sigmund G\u00fcnther') erhoben hatte. Ich werde Herrn Lasswitz zun\u00e4chst selbst reden lassen.\n\u00bb... Auch der Mathematiker, so gern er es sich verschweigt, wird zugeben m\u00fcssen, dass das, was er gew\u00f6hnlich unendlichklein nennt, in Wahrheit nur eine solche Gr\u00f6\u00dfe ist, die unter der m\u00f6glichen Fehlergrenze liegt und daher auch mit dieser ihren Werth \u00e4ndern kann. Darin gr\u00fcndet sich auch der Spielraum, welchen man dem Unendlichkleinen und\n1) Avenarius, Vierteljahrsschrift f\u00fcr Wissenschaft! Philosophie, 1. Jahrg. lasswitz, Ein Beitrag zum kosmologischen Problem und zur Feststellung des Unendlichkeitsbegriffs, III. 329. S. G\u00fcnther, Der philosophische und mathematische Begriff des Unendlichen, ebenda IV. 513.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"23\nUeber den \u00fcnendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n-gro\u00dfen l\u00e4sst . . . Auf derselben Seite (vieler Lehrb\u00fccher) kann man vielleicht eine Gleichung finden, in welcher der eben \u00bbverschwundene\u00ab Ausdruck durchaus nicht verschwindet, vielmehr seine Quadrate oder h\u00f6heren Potenzen ihm gegen\u00fcber verschwinden.\n\u00bbUnd das ist auch ganz in der Ordnung; man m\u00f6ge nur eingestehen , dass man es gar nicht mit unendlichklemen und auch nicht einmal blo\u00df mit beliebig kleinen Gr\u00f6\u00dfen zu thun hat. Das Differential dx bedeutet weder ein wirklich Unendlichkleines (das w\u00e4re der-Widerspruch einer existirenden Unendlichkeit', noch auch allein etwas beliebig Kleines, sondern es bedeutet eine im Begriff reell existirende sehr kleine Gr\u00f6\u00dfe, einen Theil von x, welcher so klein ist, dass er f\u00fcr unsere menschliche Betrachtung vollst\u00e4ndig verschwindet gegen x selbst, w\u00e4hrend [dx)2 wieder ihm gegen\u00fcber verschwindet. Das ist die Relativit\u00e4t des Unendlichkeitsbegriffs, bei der die Mathematik sich wohlbefindet; aber auch bei der strengsten Betrachtung darf man sich nicht verhehlen, dass man sich selbst t\u00e4uscht, wenn man von unendlichkleinen Gr\u00f6\u00dfen spricht, w\u00e4hrend nur sehr kleine gemeint sind. Diese T\u00e4uschung beruht darauf, dass der ganze Process, welchen man in der Mathematik einen Uebergang zur Grenze nennt, psychologisch nichts weiter ist als ein Ab wen den der Aufmerksamkeit von gewissen Beziehungen der Gr\u00f6\u00dfen und ein Concentriren derselben auf andere, die bei gewissen Ver\u00e4nderungen der ersteren ungest\u00f6rt bleiben. Man sieht das, indem man den geometrischen Grenz\u00fcbergang zu machen sucht. Man versuche nur den Verlauf einer Curve und ihrer Tangente in der N\u00e4he des Ber\u00fchrungspunkts sich vorzustellen. Immer wird man finden, dass wir von unendlichnahen Punkten nur insofern sprechen, als wir unsere Aufmerksamkeit auf sehr nahe Punkte richten; Punkte, welche sich so nahe sind, dass wir ihre Entfernung im Vergleich zu denjenigen, wie sie sich etwa noch in der Eigur dem Auge darstellen lassen, als verschwindend betrachten k\u00f6nnen. Wir nennen sie darum schlechthin unendlichnahe; \u2014 das ist nur ein Wort f\u00fcr einen psychologischen Act, das sehr bequem ist und daher gebraucht werden mag. W i e nahe die Punkte sich sind, das ist uns eben in diesem Falle gleichg\u00fcltig, wir fragen nicht weiter darnach . . .\u00ab\nDie G\u00fcnther\u2019sche Arbeit besch\u00e4ftigt sich fast ausschlie\u00dflich","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nCarl Cranz.\nmit einer Widerlegung der vorstehend ge\u00e4u\u00dferten Ansichten. Ich bin \u00fcbrigens der Meinung, dass Herr G\u00fcnther zum Theil etwas ungerecht mit seinem Gegner f\u00e4hrt. Herr G\u00fcnther hat bei seinen Ausf\u00fchrungen das Unendlichkleine der reinen Mathematik, das Differential im Auge und in so fern ist er im Recht; Herr Lass-witz dagegen denkt offenbar lediglich an die sogenannten unendlichkleinen Gr\u00f6\u00dfen in der Mechanik und Physik, welche that-s\u00e4chlich von endlicher, nur das Hauptresultat nicht mehr beeinflussender Gr\u00f6\u00dfe sind, und insofern ist er (abgesehen z. B. von den obigen Aeu\u00dferungen \u00fcber die Curventangente) seinerseits im Recht. Der Missstand liegt nur darin, dass Herr Lasswitz das Unendlichkieme der reinen Mathematik, das den vollzogenen Grenz\u00fcbergang andeutende Symbol einerseits und das Unendlichkleine der angewandten Mathematik, das thats\u00e4chlich Endlichkleine andererseits, nicht von einander scheidet\nVon Herrn Cohen1) ist ein selbst\u00e4ndiges Werk \u00fcber das Unendlichkleine erschienen, \u2014 (dasselbe hat durch Herrn G. Frege2) eine herbe Kritik erfahren). Ich gestehe, dass ich, durch den Titel angelockt, das Buch mit der Erwartung in die Hand genommen habe, hier die bestimmt ausgesprochene Ansicht eines Philosophen hinsichtlich der mathematischen Infinitesimalmethode und also damit des mathematischen Unendlich historisch und systematisch deducirt zu erhalten. Thats\u00e4chlich besch\u00e4ftigt sich auch Herr Cohen mit den Anf\u00e4ngen der Geschichte der Differential-und Integralrechnung und au\u00dferdem denke ich, wenn irgendwo die Infinitesimalmethode ihre Durchf\u00fchrung erhalten hat und in wichtigen Anwendungen ihre Triumphe formaler Natur gefeiert hat, so ist dies in der Differential- und Integralrechnung der Fall. Demgegen\u00fcber ist man erstaunt zu lesen: \u00bbDie intern mathematische Begr\u00fcndung liegt, au\u00dfer sofern sie in der Grenzmethode im allgemeinen getroffen werden kann, au\u00dferhalb unserer Competenz und unseres Anliegens. Denn eigentlich mathematische Ausf\u00fchrungen, die den Difierentialbegriff als eine Definition aufstellen, geh\u00f6ren der\n1)\tG. Cohen, Das Princip der Infinitesimalmethode Und seine Geschichte. Berlin 1883.\n2)\tZeitschr. f. Philos. und philos. Kritik. 87. Bd. S. 324 ff.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n25\nallgemeinen Functionentheorie an und k\u00f6nnen nur innerhalb derselben so gepr\u00fcft wie geleistet werden.\u00ab\nEinige der Grundgedanken Herrn Cohen\u2019s sind diese: \u00bbDas Infinitesimale ist intensive Realit\u00e4t. . . die infinitesimale Zahl stellt nicht nur die Realit\u00e4tseinheit dar, sondern sie realisirt als solche, sie verleiht dem Sein in der Qualit\u00e4t die Realit\u00e4t . . . Wenn das Differ ential die Realit\u00e4t als eine constituirende Denkbedingung geltend macht, so bezeichnet das Integral das Reale als Gegenstand\u00ab.\nNach dem Obigen kann ich Herrn Cohen mit keinem dieser S\u00e4tze folgen. Ich bedaure nur, dass Herr Cohen sich nicht veranlasst gefunden hat, den speciell mathematischen Unendlichkeitsbegriff in den Kreis seiner Er\u00f6rterungen zu ziehen ; es w\u00fcrde gewiss von hohem Interesse sein, seine Ansichten \u00fcber das eigentliche Wesen der mathematischen Infinitesimalmethode zu vernehmen. Denn dass Herr Cohen \u00bb das Detail der mathematischen Forschung nach dem Umfang seiner Studien nicht \u00fcberschauen kann\u00ab, wird kaum ein bleibendes Hinderniss bieten k\u00f6nnen, da im Grunde nur die ihm gewiss zur Verf\u00fcgung stehende Kenntniss der Elemente der Differential- und Integralrechnung hierzu erforderlich ist.\nTiefer gehende Einzelfragen hat Herr Franz Meyer1) in einem in T\u00fcbingen gehaltenen Vortrag angeregt. Er st\u00fctzt sich hierbei, mit welchem Recht haben wir zu untersuchen, auf die Dedekind-schen2) Schriften. Zun\u00e4chst recapitulirt ei die Grundgedanken von Herrn Dedekind:\nUnter einem Ding versteht man irgend einen Gegenstand unseres Denkens; wenn man eine Reihe von Dingen unter irgend einem gemeinsamen Gesichtspunkt zusammenfasst, so erscheinen sie als die Elemente eines Ganzen. Nach Aussonderung irgend welcher dieser Elemente verbleibt noch ein Theil des Ganzen. Ist es ausnahmslos m\u00f6glich, zwei solche Inbegriffe von Dingen aufeinander zu beziehen, d. h. ihre Elemente eindeutig einander zuzuordnen, so besitzen die beiden Inbegriffe oder Mengen gleiche M\u00e4chtigkeit.\n1)\tFr. Meyer, Zur Lehre vom Unendlichen. T\u00fcbingen 1889.\n2)\tVergl. besond. Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig 1888.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nCarl Cranz.\nUnendlich hei\u00dft ein Inbegriff von Dingen, wenn er mit einem Theil seiner selbst gleiche M\u00e4chtigkeit besitzt, andernfalls endlich. Z. B. eine geradlinige Strecke A und ein beliebiger Theil B derselben sind von gleicher M\u00e4chtigkeit, da jedem Punkt der einen ein bestimmter Punkt der zweiten zugeordnet werden kann, oder, um ein anderes Beispiel zu w\u00e4hlen, die Reihe der nat\u00fcrlichen Zahlen ist unendlich. Um dies zu beweisen, denke ich mir die Zahlenreihe 1, 2, 3, 4 . . . angeschrieben; sie sei die Reihe A ; sodann dieselbe Reihe noch einmal angeschrieben, aber in sich verschoben und so darunter geschrieben, dass die Eins unter Zwei, Zwei unter Drei u. s. f. zu stehen kommt, \u2014 sie hei\u00dfe jetzt die Reihe B. Dann geh\u00f6rt zu jeder Zahl in A eine ganz bestimmte darunter stehende Zahl in B und doch fehlt in B die Zahl Eins. Dieses besondere Element hei\u00dft die Einheit, die Eins-Diese geht durch dieselbe Zuordnung in ein anderes Element \u00fcber, die Zwei u. s. f. So l\u00e4sst sich also das Reich der ganzen Zahlen begr\u00fcnden, indem man von einem Inbegriff von Dingen ausgeht, von der Eigenschaft, dass er Element f\u00fcr Element einem solchen Theil seiner selbst zugeordnet werden kann, der sich von dem urspr\u00fcnglichen Ganzen nur durch das Fehlen eines einzigen Elements unterscheidet etc.\n\u00bbF\u00fcr unsere Vorstellung\u00ab, sagt Herr Franz Meyer, \u00bbsinken allerdings die gemeinhin \u00bbZahlen\u00ab genannten Dinge verm\u00f6ge der erw\u00e4hnten Abstractionen zu blo\u00dfen Schatten herab, daf\u00fcr sind sie aber auch aller subjectiven Willk\u00fcr entzogen und, strengen, rein logischen Regeln unterworfen, bieten sie f\u00fcr den Arithmetiker v\u00f6lligen Ersatz f\u00fcr jene popul\u00e4ren Zahlen.\u00ab Weiterhin zieht Herr Fr. Meyer aus diesen Er\u00f6rterungen den Schluss, \u00bbdass auf h\u00f6herer Stufe des Erkennens das Unendliche sich als das Urspr\u00fcngliche, dasEndlichealsdasAbgeleitete,Secund\u00e4re erweise\u00ab \u00bbDie erste Phase der Entwickelung unserer Erkenntniss, die Phase der naiven Wahrnehmung zeigt die endliche Zahl als Abschluss einer endlichen Z\u00e4hlung, sie zeigt die Ruhe eines K\u00f6rpers als Abschluss einer endlichen Bewegung. In der zweiten Phase, der des analy-sirenden Verstandes, tritt das umgekehrte Verh\u00e4ltniss in Kraft. Haben wir erst einmal streng pr\u00e4cisirt, was es hei\u00dft, von irgend einer ganzen Zahl zur n\u00e4chstfolgenden \u00fcbeizugehen, den Lauf einer Bewegung","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft. 27\nzu verfolgen, so erscheint nunmehr durch Denknoth wendigkeit die unendliche Kette der ganzen Zahlen, die unendliche Bewegung eines K\u00f6rpertheilchens als das Urspr\u00fcngliche und Nat\u00fcrliche, dagegen die endliche Anzahl, die endliche Reihe als ein Secund\u00e4res und Abgeleitetes, als Etwas, das erst durch einen gewaltsamen Hemmungs-process ins Dasein tritt. Damit scheint mir auch ein alter Einwand gegen die Lehre vom Unendlichen hinl\u00e4nglich widerlegt zu sein, der Einwand n\u00e4mlich, dass unendliche Inbegriffe von Dingen nicht existiren k\u00f6nnen, da sie unser endlicher Verstand nicht zu begreifen vermag\u00ab. Er nennt auch das Endliche und Unendliche ein \u00bbwunderbares Br\u00fcderpaar, das eine irdischer, das andere g\u00f6ttlicher Natur, im menschlichen Geistesleben friedlich nebeneinander wohnend\u00ab. Im Besonderen glaubt er daraus die Erkenntniss gesch\u00f6pft zu haben, dass gerade die Ur- und Grundbegriffe der einzelnen Wissenschaften von wesentlich unendlicher Natur sind und dass eben dieser Umstand die schrankenlose Ausdehnung der Wissenszweige erst erm\u00f6glicht. Reiche Ausbeute gew\u00e4hre, sagt er, in dieser Hinsicht die Philosophie und Theologie, namentlich die ihnen gemeinsame Ethik. So erhalte die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele von diesem Standpunkt aus eine neue Beleuchtung.\nWiewohl ich mich mit dem von Herrn De de kind vorausgesetzten Verh\u00e4ltniss der Mathematik zur Logik theilweise nicht befreunden kann, glaube ich kaum, dass Herr Dedekind die Interpretation seiner Gedanken durch Herrn Fr. Meyer v\u00f6llig acceptiren wird, jedenfalls ist Herr Fr. Meyer in einer mir ungerechtfertigt scheinenden Weise \u00fcber die Dedekind\u2019schen Schriften hinausgegangen.\nNiemand leugnet, dass beim Aufbau der Arithmetik die Begriffe der Zahl und der Gleichheit fortw\u00e4hrend Erweiterungen erfahren m\u00fcssen. Denn urspr\u00fcnglich ist ja die Zahl nichts anderes als das Resultat der wiederholten Setzung eines Objects oder auch das Resultat des einfachen Z\u00e4hlens, w'obei man von einer Reihe von Objecten eines nach dem andern ins Auge fasst, von ihren besonderen Merkmalen, wie Farbe, Gr\u00f6\u00dfe etc. absieht, sie als gleichartig betrachtet uud in Gedanken zu einer einzigen Gruppe zusammenfasst. Indem man jedoch sp\u00e4terhin durch Ausdehnung der Definitionsgleichung","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nCarl Cranz.\nder Subtraction, Division etc. auch die anfangs als unm\u00f6glich verworfenen Formen, wie 2 \u2014 2, 2 \u2014 3 etc. als Zahlen zul\u00e4sst, also die Null die negativen Zahlen etc. einf\u00fchrt, erweitert man fortw\u00e4hrend den Zahlbegriff.\nZugleich aber auch den Begriff der Gleichheit zweier Gr\u00f6\u00dfen: Anfangs wird dieser Begriff so aufgefasst1): Zwei (aus einem unbestimmt gelassenen Grundelement e oder der abstracten Einheit 1 zusammengesetzte) Zahlen a und b nennt man dann gleich [a = b), wenn zu jedem Element der einen Zahl ein Element der andern geh\u00f6rt, und ungleich, wenn bei der Gegen\u00fcberstellung der Elementenreihen in der einen Elemente Vorkommen, denen in deT andern keine entsprechen. Die Zahl, welche mehr Elemente enth\u00e4lt, hei\u00dft im letzteren Fall die gr\u00f6\u00dfere, die andere die kleinere.\nZ. B. Ich habe eine Reihe von B\u00e4umen vor mir und anderseits eine Reihe von Rechenkugeln. Diese beiden Reihen ordne ich Element f\u00fcr Element einander zu, indem ich jedesmal, wenn ich einen bestimmten Baum ins Auge gefasst habe, eine Rechenkugel bei Seite schiebe; so fahre ich fort, bis ich mit der Baumreihe oder mit der Kugelreihe zu Ende bin. Habe ich beim Betrachten des letzten Baumes gerade auch die letzte Kugel zur Seite ger\u00fcckt, so sind die zwei Anzahlen gleich; kam ich mit der Baumreihe fr\u00fcher zu Ende, so ist die Zahl der B\u00e4ume kleiner als die der Rechenkugeln, und umgekehrt.\nZur Einf\u00fchrung der irrationalen Gr\u00f6\u00dfen als Zahlen wird sodann der Begriff der Gleichheit etwas verallgemeinert, z. B. Herr Biermann thut dies in der folgenden Weise. Er sagt: \u00bbEs werden jetzt auch Gr\u00f6\u00dfen in den Kreis der Betrachtung gezogen, die im Gegensatz zu den fr\u00fcheren durch Zusammensetzung einer unbeschr\u00e4nkten Anzahl von Elementen gebildet sind, wie z. B.\n3 -|\u2014-\u2014j- -4 -]\u2014 ----1---\u2014{-....\n^ 10 T 102 103 ^ 104\nDurch eine solche Reihe sei ebenfalls nun ein Object, eine Gr\u00f6\u00dfe f\u00fcr sich gesetzt, und nun wird definirt: Nimmt man aus einer\n1) Vergl. hier\u00fcber auch z. B. Biermann, Theorie der analytischen Func-\ntionen. Leipzig 1887.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n29\nGr\u00f6\u00dfe a eine willk\u00fcrlich\u00eb, aber beschr\u00e4nkte Anzahl von Elementen heraus, so sagt man, man habe einen Bestandtheil herausgegriffen. Danach hei\u00dft b ein Bestandtheil von a, wenn eine beschr\u00e4nkte Anzahl von Elementen in a so transformirt werden k\u00f6nnen, dass in a neben b noch andere Elemente Vorkommen. Solche Gr\u00f6\u00dfen, in denen jede Zahl als Bestandtheil enthalten ist, hei\u00dfen unendlich, 111\nz. B. wird\t+ ^ +\t\u2022\u2022\u2022\u2022 unendlich hei\u00dfen, da diese\nA\t\u00fc\tt:\nReihe das Element \u2014 beliebig oft enth\u00e4lt (indem ja L\nn -j- 1 n 2\n+\n+\n-- 0> n\n1\n2 n\nalso j>\nn -f- 3 1\tn + n \"\"\t2 n\t\" 2\nist). Und, eine Gr\u00f6\u00dfe a hei\u00dft endlich, wenn es eine aus einer angebbaren Anzahl von Elementen gebildete Zahlengr\u00f6\u00dfe gibt, die in a nicht als Bestandtheil enthalten ist, oder wenn man gar eine aus einer beschr\u00e4nkten Anzahl von Elementen zusammengesetzte Zahlengr\u00f6\u00dfe b angeben kann von der Beschaffenheit, dass jede aus Elementen von a gebildete Zahlengr\u00f6\u00dfe in b enthalten ist; gleich hei\u00dfen dann jetzt allgemeiner zwei Gr\u00f6\u00dfen, wenn jeder Bestandtheil der einen Gr\u00f6\u00dfe in der andern als Bestandtheil enthalten ist\u00ab.\nIch kann nicht einsehen, wie auch bei s o 1 c h e n Betrachtungen das Unendliche in der Mathematik als das Urspr\u00fcngliche, das Endliche als das Secund\u00e4re und Abgeleitete sich nothwendig ergeben solle. Das hei\u00dft doch, die nat\u00fcrlichen einfachen Dinge auf den Kopf stellen. Es ist mir auch nicht erfindlich, wie auf Grund solch rein arithmetischer Begriffserweiterungen pl\u00f6tzlich das Unendliche als von g\u00f6ttlicher Natur sich herausstellt, und was gar die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele mit diesem Unendlichen zu thun hat.\nDas mathematische Unendlich in unserem obigen Sinn ist ein anderes Unendlich1) als dasjenige des gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauchs, das wir verwenden, wenn von unendlicher Geduld, unendlicher Langmuth, unendlicher Allmacht Gottes die Rede ist. Eben deshalb darf das mathematische Unendlich weder als St\u00fctze\n1) Vrgl. \u00fcber diese mehrfache Form des Unendlichkeitshegriffs auch Wundt, Essays. Leipzig 1885. Abschn. III. \u00bbDie Unendlichkeit der Welt\u00ab. S. 85.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nCarl Cranz.\nder Religion noch als Kampfmittel gegen dieselbe benutzt werden. In der Mathematik ist das Unendliche eine abk\u00fcrzende Redensart; in der Religion ist es, k\u00f6nnte ich sagen, hoffentlich keine Redensart.\nAuch sonst oft genug hat ja eine Bezeichnung in der Mathematik eine Bedeutung, die sehr verschieden ist von derjenigen der gleichlautenden Bezeichnung im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch. Ich wei\u00df kein drastischeres Beispiel f\u00fcr das Ungeh\u00f6rige dieses Zusammenwerfens zweier gleichlautenden Begriffe, die in zwei Gebieten v\u00f6llig verschiedene Bedeutung haben, anzuf\u00fchren, als das folgende: Ich erinnere mich vor einigen Jahren eine Schrift \u00fcber M ahrscheinlichkeitsrechnung in der Hand gehabt zu haben, worin der Verfasser, angeregt durch den Umgang mit einem Philosophen, sich an dem Begriff der mathematischen Hoffnung (bekanntlich einer Abk\u00fcrzung f\u00fcr das Product aus der Wahrscheinlichkeit eines Spielers zu gewinnen und dem Einsatz des Gegners) derma\u00dfen begeistert, dass er von da aus dazu \u00fcbergeht, auch den Begriff der mathematischen Traurigkeit und Fr\u00f6hlichkeit zu definiren; und er ist so auf dem besten Weg, den Grund zu einer mathematisch auszugestaltenden Lehre von den Affecten zu legen.\nFerner ist bekanntlich die sog. \u00bbmechanische Arbeit\u00ab in der Mechanik eine abk\u00fcrzende Bezeichnung f\u00fcr das Product aus der Ma\u00dfzahl der zu \u00fcberwindenden Widerstandskraft und des dem Widerstand entgegen zur\u00fcckgelegten Wegs. Z. B. beim Heben eines Gewichts P kg auf die H\u00f6he h m ist die der Anziehungskraft der Erde entgegen zu leistende Arbeit P \u25a0 h Meterkilogramm. Aber dieser Begriff deckt sich keineswegs ohne weiteres in allen F\u00e4llen mit dem gleichlautenden, weniger bestimmt definirten Arbeitsbegriff des gew\u00f6hnlichen Lebens. Wenn z. B. ein Akrobat eine schwere Last mit horizontal gehaltenem Arm l\u00e4ngere Zeit frei hinaus h\u00e4lt, so ist der Weg h Null; die \u00bbmechanische Arbeit\u00ab w\u00e4re also Null, und doch empfindet der Mann sicherlich eine erhebliche Arbeitsleistung seiner Muskeln. \u2014 Aehnlich lie\u00dfe sich von dem Begriff \u00bbCentrifugalkraft\u00ab nachweisen, dass demselben nur eine Abk\u00fcrzung des Ausdrucks zu Grunde liegt, dass es sich hier nicht um eine Kraft im sonstigen Sinn dieses Wortes handelt.\nAuch Herr G. Cantor1) betrachtet das Unendliche des gew\u00f6hn-\n1) Zeitschrift f\u00fcr Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, SS. Bd.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Uneudlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\t31\nliehen Sprachgebrauchs als vergleichbar mit dem sogenannten mathematischen Unendlich.\nEr unterscheidet mehrere Arten des Unendlichen:\nErstens das Actual-Unendliche und dieses wieder nach drei Beziehungen:\na)\tSofern es in der h\u00f6chsten Vollkommenheit, im v\u00f6llig unabh\u00e4ngigen au\u00dferweltlichen Sein, in Deo, in Deo extramundano, aeterno, increato, omnipotente, sive natura naturante realisirt sei, wo er es Absolutunendliches oder kurzweg Absolutes nennt.\nb)\tSofern es in der abh\u00e4ngigen, creat\u00fcrlichen Welt, in concreto seu in natura naturata vertreten ist.\nc)\tSofern es als mathematische Gr\u00f6\u00dfe, Zahl oder Ordnungstypus vom Denken in abstracto aufgefasst werden kann.\nIn den beiden letzten Beziehungen, wo es als beschr\u00e4nktes, noch weiterer Vermehrung f\u00e4higes und sofern dem Endlichen verwandtes Actualunendliches sich darstellt, nennt er es Transfinit-Unend-liches, transfinitum und setzt es dem Absoluten entgegen als infinitum creatum, gegen\u00fcber dem infinitum increatum. Beispiele: Der Inbegriff aller endlichen ganzen positiven Zahlen, die Gesammt-heit aller Punkte eines Kreises, aller gleichartig vorzustellenden Monaden, die einen K\u00f6rper ausmachen, etc.\nIn jeder von diesen 3 Beziehungen kann die M\u00f6glichkeit des Actualen bejaht oder verneint werden; daraus folgen im Ganzen acht verschiedene Standpunkte, die Cantor s\u00e4mmtlich in der Philosophie vertreten findet und von welchen er selbst denjenigen einnimmt, der unbedingt affirmativ ist in Bezug auf alle drei R\u00fccksichten.\nDass ein infinitum creatum als existent angenommen werden m\u00fcsse, lasse sich, sagt er, mehrfach beweisen. Ein Beweis gehe vom Gottesbegriff aus und schlie\u00dfe zun\u00e4chst aus der h\u00f6chsten Vollkommenheit des Wesens Gottes auf die M\u00f6glichkeit der Sch\u00f6pfung eines transfinitum ordinatum; sodann aus seiner Allg\u00fcte und Herrlichkeit auf die Nothwendigkeit der thats\u00e4chlich erfolgten\nS- 224, G. Cantor, Die verschiedenen Standpunkte in Bezug auf das Actual-Unendliche; ferner 91. Bd. S. 81 und 252, sowie 94. Bd. S. 240, Mittheilungen zur Lehre vom Transfiniten.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nCarl Cranz.\nSch\u00f6pfung eines transfinitum ; ein anderer Beweis zeige a posteriori^ dass die Annahme eines transfinitum in natura naturata eine bessere, weil vollkommenere Erkl\u00e4rung der Ph\u00e4nomene, im besonderen der Organismen und der psychologischen Erscheinungen erm\u00f6glicht, als die entgegengesetzte Hypothese.\nDiesem Actualunendlichen mit seinen Unterabtheilungen stellt er Zweitens das Potential-Unendliche gegen\u00fcber. Dieses wird da ausgesagt, wo eine unbestimmte ver\u00e4nderliche endliche Gr\u00f6\u00dfe vorkommt, die entweder \u00fcber alle endlichen Grenzen hinausw\u00e4chst, wie z. B. die Zeit von einem bestimmten Moment ab gez\u00e4hlt, oder unter jede endliche Grenze der Kleinheit abnimmt, was z. B. die legitime Vorstellung eines sog. Differentials sei; allgemein \u00fcberall da, wo eine unbestimmte Gr\u00f6\u00dfe in Betracht kommt, die unz\u00e4hlig vieler Bestimmungen f\u00e4hig ist. Actualunendlichkleine Gr\u00f6\u00dfen verwirft er, wiewohl oder vielmehr weil er actualunendlich-gro\u00dfe Zahlen kenne.\nDies die k\u00fcrzeste Skizzirung der Can tor\u2019sehen Unterscheidungen mit Anlehnung an die eigenen Worte Herrn Cantor\u2019s.\nAuf dem Boden, auf den er sich damit gestellt habe und den er f\u00fcr den einzig richtigen halte, stehen, sagt er, nur wenige, vielleicht sei er der zeitlich Erste, der diesen Standpunkt mit voller Bestimmtheit und in allen seinen Consequenzen vertrete. \u00bbDoch das wei\u00df ich sicher, dass ich nicht der letzte sein werde, der ihn ver-theidigt. \u00ab\nIn der That haben die Can tor\u2019sehen Thesen manche Angriffe erfahren. Cantor klagt \u00fcber einen allgemeinen horror infiniti, der ihm entgegentrete, und zum Schutz seines Transfinit-Unendlichen sieht man ihn mit einem gewaltigen R\u00fcstzeug von historischen Citaten k\u00e4mpfen, die bis auf Aristoteles, Augustin und Origenes zur\u00fcckgehen. Die Hauptirrth\u00fcmer der gegen ihn vorgebrachten Beweise, sagt er, r\u00fchren daher, dass von vorn herein den m Frage stehenden Zahlen alle Eigenschaften der endlichen Zahlen zuge-muthet werden, w\u00e4hrend die unendlichen Zahlen durch ihren Gegensatz zu den endlichen ein neues Zahlengeschlecht constituiren.\nIch k\u00f6nnte mich mit den Cantor\u2019schen Auseinandersetzungen zu einem gro\u00dfen Theil einverstanden erkl\u00e4ren, wenn Herr Cantor mir gestattete, sein Actualunendliches mit dem Unendlichen des","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n33\ngew\u00f6hnlichen Sprachgebrauchs (== Ma\u00df und Zahl ausschlie\u00dfend), dagegen sein Potentialunendliches mit dem mathematischen Grenzwerth-Unendlichen zu identificiren, welche beide Begriffe innerlich ihrem eigentlichen Wesen nach nichts miteinander gemein haben. Ich glaube jedoch nicht, dass Herr Cantor dem zustimmen w\u00fcrde.\nAnalog wie Herr Cantor die reale Existenz des Actual-unendlichgro\u00dfen vertheidigt, so scheint, wenn ich ihn recht verstehe, Herr Cohen die Existenz des Actualunendlich-k lein en zu behaupten, ohne \u00fcbrigens diesen Namen zu gebrauchen. Ebenso l\u00e4sst P. du Bois-Reymond in seiner allgemeinen Functionentheorie den Idealisten die These beweisen: Das Unendlichkleine, das Differential, existirt, erfreut sich thats\u00e4chlicher Existenz; und wenigstens in seinen fr\u00fcheren Vortr\u00e4gen zu T\u00fcbingen Anfang der 80er Jahre hat P. du Bois-Reymond diesen Satz als Aeu\u00dferung der eigenen Ansicht wiederholt ausgesprochen.\nDer Grund f\u00fcr diese Behauptung liegt bei P. du Bois-Reymond der Hauptsache nach \u2014 denn die weiteren Ausf\u00fchrungen w\u00fcrden uns hier zu weit f\u00fchren \u2014 in folgendem:\nDenken wir uns irgend eine Reihe, z. B.\n3 + \u00b1 + a + _l + a + a +\nalso den Decimalbruch 3,14159 .... oder irgend einen andern Decimalbruch, dessen Ziffern sogar herausgew\u00fcrfelt sein m\u00f6gen, so convergirt diese unendliche Reihe und wir denken uns nun unter Zugrundelegung einer L\u00e4ngeneinheit, z. B. des cm, auf einer Geraden von einem und demselben Punkt aus, immer nach derselben Seite hin, zuerst 3 cm und 4 cm abgetragen; sodann 3,1 cm und 3,2 cm, dann 3,14 cm und 3,15 cm und so fort; so haben wir zwei Reihen von Punkten, die immer dichter auf einander folgend von zwei Seiten her den wahren Werth n der Reihe immer enger einschlie\u00dfen. Je weiter wir gehen, um so kleiner wird der Abstand zwischen den beiderseitigen Endpunkten der jedesmal aufgetragenen zwei Strecken. Allein stets bleibt eben eine allerdings immer k\u00fcrzer werdende Strecke zwischen diesen zwei Punkten \u00fcbrig, und vollkommen genau werden diese Endpunkte niemals zusammenfallen k\u00f6nnen, weil niemals eine H\u00e4ufung von Punkten eine Strecke geben\nWundt, Philos. Studien. XI.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nCarl Cranz.\nkann; \u2014 also existirt das Unendlichkleine, sagt P. du Bois-Reymond.\nDieser Schluss ist nach meiner Ansicht nicht richtig. In der erw\u00e4hnten Eigenth\u00fcmlichkeit liegt nicht ein Beweis f\u00fcr die Existenz des Unendlichkleinen, sondern ein Ausdruck f\u00fcr den Gegensatz zwischen Stetigem und Unstetigem. Das Unstetige, das Nacheinander, die Folge von Punkten, als Abstractionen aus kleiner und kleiner gedachten Massen, etwa Kugeln, die ich nacheinander ins Auge fasse, \u2014 und das Stetige, das Nebeneinander, die gerade Linie, als Abstraction des d\u00fcnner und d\u00fcnner gedachten Stabs, sind eben von Grund aus ungleichartig, weshalb ich durch noch so starke H\u00e4ufung des einen nicht einen Theil des andern erhalten kann.\nDarin liegt nichts Auffallendes mehr. Sonst m\u00fcsste es, wenn ich z. B. auf andern Gebieten irgend welche zwei ungleichartige Dinge herausgreife, auffallend erscheinen, weshalb sich nicht aus einer H\u00e4ufung von Lichteindr\u00fccken ein Gewicht, durch Summation von Hoffnungen ein Goldklumpen erhalten l\u00e4sst.\nAehnlich scheint es mir auch weitaus einfacher zu sein, in der Eigenth\u00fcmlichkeit, dass das Parallelenaxiom in der Geometrie bezw. der Satz vom Parallelogramm der Kr\u00e4fte in der Mechanik nicht bewiesen werden kann, eine Eigenschaft des Raums bezw. einen Ausdruck f\u00fcr die unabh\u00e4ngige Wirkung der Naturkr\u00e4fte zu erblicken, als hieran anschlie\u00dfend sich in metaphysische Speculationen zu vertiefen.\nMan kann \u00fcbrigens schlie\u00dflich begreifen, wie mancher Mathematiker oder Techniker durch seinen langj\u00e4hrigen intimen Verkehr mit dem Unendlichkleinen sich dazu verleiten lassen kann, diesem wirkliche Existenz zuzuschreiben; etwa \u00e4hnlich wie mancher Chemiker in Folge des h\u00e4ufigen Umgangs mit den Atomen vergisst, dass er es immerhin hier mit einem allerdings sehr bequemen, anschaulichen und zusammenfassenden Hilfsbegriff zu thun hat, der auf Hypothesen beruht. Er hat so h\u00e4ufig schwarze, wei\u00dfe, gr\u00fcne, gelbe Kugeln als Atome betrachtet und in der Ebene oder im Raum zu Molec\u00fclen zusammengesetzt, dass er es f\u00fcr selbstverst\u00e4ndlich und noth wendig h\u00e4lt, dass die Atome unabh\u00e4ngig von uns existiren; es w\u00e4re doch auch denkbar, dass die Stofferf\u00fcllung des Raums eine stetige ist; \u2014 (womit ich nat\u00fcrlich nicht gesagt haben will, dass","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft. 35\nich meinerseits die chemische Atomtheorie auch als bequemes Denk-mittel verwerfe oder nicht ben\u00fctze).\nDa, wo die Frage nach der Existenz des Unendlichkleinen aufgeworfen wird, scheint mir vor allem nicht beachtet zu werden, dass der Mathematiker stets mit endlichen Differenzen dx, dy rechnet, auch wo er in kurzer und vielleicht vom philosophischen Standpunkt aus nachl\u00e4ssig zu nennender Ausdrucksweise Differentiale dz, dy schreibt, oder von \u00bbunendlichkleinen\u00ab Differenzen und Zuw\u00e4chsen spricht, w\u00e4hrend er thats\u00e4chlich endliche Differenzen und Zuw\u00e4chse meint; erst zum Schluss, nachdem die Umrechnungen ausgef\u00fchrt sind, geht er dann zur Ermittlung des Grenzwerthes \u00fcber. Oft genug kann man in mathematischen, physikalischen oder technischen Schriften lesen, z. B. : Man denke sich zwei unendlich nahe Querschnitte x und x + dx des Drahtes ; der erste besitze die Temperatur t Grad, der andere die Temperatur t + dt Grad etc., oder es wird auch auf eine Zeichnung verwiesen, in welcher zwei nahe Querschnitte angedeutet sind ; diese werden unendlich nahe genannt und damit weiter operirt, wie wenn der Baum zwischen ihnen das unendlich vergr\u00f6\u00dferte Abbild wirklich existirender Differentialgr\u00f6\u00dfen w\u00e4re. Hier ist vollends klar, dass der Schriftsteller nur Worte sparen will; thats\u00e4chlich meint er endlich nahe Querschnitte, abstehend um dx, von Temperaturen, die um ein Endliches dt verschieden sind; und schlie\u00dflich geht er zur Grenze \u00fcber. Eine solche Ausdrucksweise ist unter Fachgenossen erlaubt und durch die Pflichten der Oekonomie des Denkens und des Ausdrucks geboten. Auch der P\u00e4dagog wird stets mit Vortheil von der so anschaulichen Vorstellungsweise Gebrauch machen, die darauf beruht, dass man das Differential wie eine im Fluss des Kleiner- und Kleinerwerdens begriffene Gr\u00f6\u00dfe, die eben der Null sich n\u00e4hert, aber doch noch von Null verschieden ist, bezw. als einen Zuwachs dx behandelt, der dieselbe Bealit\u00e4t besitzt, wie die zugeh\u00f6rige Strecke x selbst. Und wenn ich oben hervorgehoben habe, dass das Differential sich vermeiden lasse, so kann meine Meinung nicht die sein, dass dasselbe jetzt aus dem Wortschatz der Schriftsteller und Lehrer verschwinden solle; im Gegentheil habe ich selbst seit Jahren in Wort und Schrift gerne die unendlichkleinen Gr\u00f6\u00dfen ben\u00fctzt, ben\u00fctze sie und werde sie ben\u00fctzen. Allein im vorliegenden Fall steht, losgel\u00f6st von allen\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nCarl Cranz.\nR\u00fccksichten der sprachlichen Bequemlichkeit, die philosophische Frage nach der Realit\u00e4t der Differentiale auf der Tagesordnung.\nDiese Realit\u00e4t behauptet, wie gesagt, Herr Cohen und der Idealist du Bois-Reymond\u2019s in der ausgesprochensten Weise. Herr Cohen denkt vielleicht an das Beispiel des End-Atoms dx, das im Begriffe steht, sich vom Ganzen abzul\u00f6sen; oder an eine gewisse Trieb- und Zeugungskraft, verm\u00f6ge deren die Strecke x aus sich heraus ein Unendlichkleines dx abzusto\u00dfen, zu \u00bbdifferentiiren\u00ab strebt, wie der Stamm die Knospe. Allein das Differential der Analysis kommt nur da in Betracht, wo eine Gr\u00f6\u00dfe als variabel vorausgesetzt ist; das Atom ist seiner Definition nach eine feste, nicht eine im Fluss des Kleinerwerdens begriffene, nicht eine variable Gr\u00f6\u00dfe, deshalb d\u00fcrfen beide Begriffe nicht identificirt werden.\nWenn das Differential dx eines K\u00f6rpers x ein Theil oder auch eine Eigenschaft des K\u00f6rpers w\u00e4re, so m\u00fcsste ihm wohl Realit\u00e4t zuzuschreiben sein; denn einen K\u00f6rper unterscheide ich vom andern durch die Gesammtheit seiner bleibenden Eigenschaften; unm\u00f6glich kann aber das Differential eines K\u00f6rpers eine denselben mitbestimmende Eigenschaft sein; ich bin keineswegs gen\u00f6thigt, mit der Vorstellung des K\u00f6rpers selbst stets auch die Vorstellung dieses Anh\u00e4ngsels , dieses sogen, unendlichkleinen Zuwachses dx herumzuschleppen; sobald ich den K\u00f6rper als constantes, abgeschlossenes, geometrisches Gebilde betrachte, nicht gerade einmal Veranlassung habe, etwas an ihm variabel vorauszusetzen, so f\u00e4llt damit von selbst das Differential aus meiner Vorstellung weg. Auch ein Theil des K\u00f6rpers oder der Strecke kann das Differential nicht sein ; eine unendlichkleine Strecke kenne ich nicht.\nMan k\u00f6nnte vielleicht ein wen den: das Differential dx ist ein reines Denkobject und hat als solches naturgem\u00e4\u00df Realit\u00e4t, und zwar ebensolche Realit\u00e4t, wie die Strecke x, die als ideales Gebilde, als Resultat einer vom menschlichen Geist vollzogenen Abstraction, ebenfalls ein Werk unserer Raum Vorstellung ist. Allein man wird mir zugeben, dass auch so betrachtet z. B. der \u00bbunendlichfernen Geraden\u00ab der Ebene nicht in demselben Sinn des Wortes Realit\u00e4t zugeschrieben werden kann, wie einer wirklichen Geraden; denn die letztere ist die Abstraction aus einem reellen, unabh\u00e4ngig von mir existirenden geraden Stabe, an dem ich mir die Dickenaus-","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\t37\ndehnung wegdenke, allein niemals wird es mir gelingen, die unendlichferne \u00bbGerade\u00ab, der ich zudem noch ihrem Wesen nach keine bestimmte Lage in der Ebene zuschreiben darf, als Abstraction aus einem materiellen Stab aufzufassen. Es hat keinen Sinn, nach der Realit\u00e4t der unendlichfernen Geraden zu fragen, und so auch bei dem Differential. Um eine Existenz unabh\u00e4ngig von unseren Gedanken kann es sich bei demselben deshalb \u00fcberhaupt nicht handeln, weil die Definitionen und Rechenregeln f\u00fcr die Operationen mit dem Unendlichkleinen zum Theil willk\u00fcrlich sind, wie oben gezeigt wurde.\nKann es einen Sinn haben, zu fragen: haben die Determinanten reale Existenz? \u2014 Gewiss nicht. Denn sie sind willk\u00fcrlich definirte Schemata, deren Rechenregeln unter Anlehnung an die sonst gebr\u00e4uchlichen so gew\u00e4hlt sind, dass keine Widerspr\u00fcche sich heraussteilen und deren Definition eine willk\u00fcrliche ist.\nOder, existirt eine Centrifugalkraft, die z. B. auf einen an einem Seil befestigten und horizontal im Kreis herumbewegten Stein wirken w\u00fcrde? \u2014 Sofern ich meine Gedanken darauf richte und die Centrifugalkraft zu einem Gegenstand meines Denkens mache,\n\u2014\tja! Sofern sich aber nach weisen l\u00e4sst, dass auf den Stein selbst in der Richtung des Seils thats\u00e4chlich zwar eine Centripetalkraft nach innen, aber nicht eine Kraft nach au\u00dfen wirkt, vielmehr die sogenannte Centrifugalkraft nur einen abk\u00fcrzenden Ausdruck f\u00fcr das Product aus einer Masse und einer Beschleunigung darstellt,\n\u2014\tnein!\nOder: Existiren die Kraftlinien? Wenn ich einen Magnetstab auf den Tisch lege und den Nordpol mit Eisenfeile bestreue, so ordnen sich die Eisentheilchen in strahlenf\u00f6rmigen Linien, und wenn ich einen S\u00fcdpol gegen\u00fcber anbringe und am Tisch r\u00fcttle, so biegen sich die Linien und vereinigen sich nach dem S\u00fcdpol zu etc. Die Kraftlinien scheinen hier allerdings reale Existenz unabh\u00e4ngig von uns zu besitzen. Aber thats\u00e4chlich liegen doch nur so und so viele Eisentheilchen auf dem Tisch, denen wir ideale Linien substituiren, gewisserma\u00dfen als Leitlinien unserer Gedanken f\u00fcr die hier wirkenden magnetischen Kr\u00e4fte.\nFaraday, der die Theorie der elektrischen und magnetischen Kraftlinien ausbildete, stellte sich diese in der anschaulichsten Weise","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nCarl Cran\u00ee.\nvor; wenn man seine Schriften liest, so glaubt man diese Linien sich gegen\u00fcber zu sehen ; glaubt wahrzunehmen, wie in ihrer L\u00e4ngsrichtung eine Spannung, quer zu ihnen ein Druck wirkt; zu sehen, wie sie von einem Pol in dichter F\u00fclle ausgehen und ins Weite sich verlieren, wie sie von einem in die N\u00e4he gebrachten Eisenst\u00fcck herangezogen werden u. s. f. Der Elektrotechniker von heutzutage operirt bei seinen physikalischen Ueherlegungen und seinen Berechnungen gerne mit diesen Linien; ihre Richtung gibt ihm die Richtung der elektrischen und magnetischen Kr\u00e4fte an und ihre Zahl deren St\u00e4rke.\nAber trotzdem ist sich der Elektrotechniker klar dar\u00fcber, dass er hier nur ein selbsterfundenes und selbstdefinirtes Denkmittel vor sich hat, das ihm lediglich dazu dient, manche Ueherlegungen gewisserma\u00dfen schematisch zu gestalten und dadurch abzuk\u00fcrzen, sowie manche Formeln einfach zu schreiben.\nNehmen wir z. B. die Aufgabe: es liege ein kreisf\u00f6rmiger Draht vor, der von einem elektrischen Strom von der Stromst\u00e4rke 21 Amp\u00e8re durchflossen wird, Halbmesser 5 cm, und andererseits ein magnetischer Pol von 90 magnetischen Einheiten; der Pol ist entgegen der zwischen beiden wirkenden Kraft aus der Entfernung 40 cm in die kleinere Entfernung 30 cm heranzu bringen. Wie gro\u00df ist hierbei im Durchschnitt die zu\u00fcberwindende Kraft? Wenn der Elektrotechniker als Resultat erh\u00e4lt: 0,72 Dynen (981 Dynen = dem Druck eines Gramms), so dr\u00fcckt er dieses Resultat gerne auch in der anderen Form aus: das magnetische Feld des Kreisstroms ist zwischen den beiden Punkten im Durchschnitt 0,008 Einheiten stark, oder auch: man hat sich dort durch jedes Quadratmeter 80 Kraftlinien zu denken. Dabei ist ihm wohlbekannt, dass hinter dieser Redensart die im Grund willk\u00fcrliche Definition steckt : An den Stellen eines magnetischen Feldes, an welchen ein Einheitspol eine-Anziehungsoder Absto\u00dfungskraft gleich einer Dyne erf\u00e4hrt, herrscht die Feldst\u00e4rke Eins; durch jedes Quadratcentimeter einer Niveaufl\u00e4che denkt man sich dort eine Kraftlinie gehend. Und das ist gewiss doch eine willk\u00fcrliche Annahme, dass von einem magnetischen oder elektrischem Einheitspol gerade 4 ix Kraftlinien ausgehend gedacht werden; der Grund ist ein rein formeller. Niemand wird daran denken, dass in jenem Fall thats\u00e4chlich und unabh\u00e4ngig von unserem Denken gerade nur 80 Kraftlinien das Quadratmeter durchsetzen;","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft.\n39\nes ist eine blo\u00dfe bequeme Sprechweise; die Frage: \u00bbexistiren jene 80 Kraftlinien?\u00ab hat darnach offenbar keinen Sinn.\nZum Schluss m\u00f6chte ich mir gestatten, meine Ansicht \u00fcber das mathematische Unendliche kurz zusammenzufassen:\nDas sogen, mathematische Unendliche, oder Grenzwerth-Unendliche, wie es bei ver\u00e4nderlich gedachten Gr\u00f6\u00dfen oder Lagen innerhalb der Mathematik in der Form des Differentials, sowie des unendlich fernen Punktes einer Geraden, der unendlich fernen Ebene des Raumes etc. zur Verwendung kommt, besitzt keine inhaltliche, sondern nur formale Bedeutung, k\u00f6nnte deshalb vermieden werden; es dient nur als eine bequem abk\u00fcrzende Redewendung; bei Lageverh\u00e4ltnissen, um mehrere S\u00e4tze in einen zusammenzudr\u00e4ngen, mehrere Aufgaben unter eine einzige Gruppe unterzerbringen, oder, um unter Ersparung von Einzel\u00fcberlegungen schematisch zu specialisiren; bei Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen, um einen vollzogenen Grenz\u00fcbergang anzudeuten. (Dagegen in der Naturwissenschaft und \u00fcberall da, wo es sich um wirklich vorhandene Objecte handelt, werden vielfach Gr\u00f6\u00dfen als unendlich klein bezeichnet, welche in Wirklichkeit endlich klein sind; und diese werden sodann in der Rechnung den eigentlichen Differentialen der reinen Mathematik zugeordnet. Diese Bezeichnungsweise der Naturwissenschaft, die da erlaubt ist, wo \u00fcber den wahren Sinn keine Zweideutigkeit entstehen kann, deutet dann lediglich an, dass eine Gr\u00f6\u00dfe a so klein gegen\u00fcber einer andern Gr\u00f6\u00dfe b ist, dass im Hinblick auf den Genauigkeitsgrad der betreffenden Rechnung das schlie\u00dfliche Resultat durch Vernachl\u00e4ssigung von a nicht mehr beeinflusst wird.) Von einem constanten Unendlichgro\u00dfen oder Unendlichkleinen zu reden oder nach der Realit\u00e4t der mathematischen Differentiale zu fragen, hat, da diese nur einer Abk\u00fcrzung des Ausdrucks dienen, keinen Sinn. Alle Speculationen, welche auf der Verwendung des eigentlich mathematischen Unendlichen f\u00fcr Fragen der Religion, Ethik, Kosmologie oder Metaphysik beruhen, sind aus demselben Grund gegenstandslos.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40 Carl Cranz. Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft\nUeberblickt man dieses Resultat, so erscheint unsere Auffassung vom mathematischen Unendlichen gewiss sehr n\u00fcchtern und wenig poetisch; sie leistet uns auch zweifelsohne nicht so erhabene Dienste, wie z. B. Herrn Beyda, der aus jenem Begriff eine Kr\u00e4ftigung seiner Unsterblichkeitslehre zu ziehen wei\u00df.\nAllein daf\u00fcr scheint unsere Auffassung vielleicht klarer und einfacher, und Weiteres wollen wir nicht. Und wenn Herr D\u00fchring1) sagt: \u00bbDie Nebel des w\u00fcst Unendlichen, sei es nun in der Richtung auf das Gro\u00dfe oder auf das Kleine, verunstalten sammt den Phantasien \u00fcber eine mehr als blos verneinende Bedeutung des Imagin\u00e4ren die Analysis und behindern eine materiell und formell gesunde Gestaltung der Physik\u00ab, so denke ich, es h\u00e4ngt lediglich von dem Denken dessen, der sich damit besch\u00e4ftigt, ab, ob das mathematische Unendliche ein w\u00fcstes ist, das Nebel erzeugt. Ich f\u00fchle mich bei der skizzirten Auffassung \u00fcber das mathematisch Unendliche v\u00f6llig beruhigt und acceptire gerne einen Ausspruch Herrn Mach\u2019s: dass vielfach eine Aufkl\u00e4rung in wissenschaftlichen Fragen eine gewisse Entt\u00e4uschung mit sich bringt.\nWenn der eine oder andere Leser, der etwa als mathematischer Laie mittelst dieser Zeilen sich \u00fcber das wahre Wesen des Unendlichen in der Mathematik zu orientiren suchte, eine gewisse Entt\u00e4uschung hinsichtlich der Bedeutung des mathematischen Unendlichen empfindet, aber andererseits geneigt ist, diesen Mach\u2019sehen Satz umzukehren, so ist der Zweck dieser Zeilen erreicht.\nStuttgart, technische Hochschule, November 1894.\n1) Dr. E. D\u00fchring, Logik und Wissenschaftstheorie. Leipzig 1878. S. 373.","page":40}],"identifier":"lit4522","issued":"1895","language":"de","pages":"1-40","startpages":"1","title":"Ueber den Unendlichkeitsbegriff in der Mathematik und Naturwissenschaft","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:22:12.798578+00:00"}