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{"created":"2022-01-31T14:17:32.651498+00:00","id":"lit4526","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kiesow, Friedrich","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 135-145","fulltext":[{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Temperaturempfindungen.\nVon\nFriedrich Kiesow.\nErste Mittheilung. Mit 1 Eigur im Text.\nDurch Magnus Blix, Alfred Goldscheider und Henry H. Donaldson ist die Untersuchung der Temperaturempfindungen in eine neue Bahn geleitet worden. Was der von jenen Beobachtern gefundenen punktuellen Ausl\u00f6sung thermischer Reize neben der Feststellung des Thatbestandes an sich noch ein hervorragendes Interesse verleiht, ist insonderheit der Umstand, dass diese Empfindungen nach Blix1 und Goldscheider\u2019s Auffassung durch getrennte und v\u00f6llig von einander unabh\u00e4ngige, specifisch wirkende Endorgane vermittelt werden sollen. Dadurch tritt die Untersuchung dieses ganzen Empfindungsgebietes in engste Beziehung zu dem noch nicht ausgefochtenen Streit \u00fcber die Lehre von der specifischen Energie der Sinnesorgane, und die Weise, wie Blix seine Resultate gefunden, sowie die fast blendende Art, mit welcher Goldscheider aus den seinigen f\u00fcr diese Lehre die \u00e4u\u00dfersten Consequenzen gezogen hat, lassen genugsam erkennen, dass wir es hier mit Versuchen von fundamentaler Bedeutung zu thun haben. Diese Erw\u00e4gung hat mich veranlasst, den in dieses Gebiet fallenden Fragen experimentell n\u00e4her zu treten. Denn wenn angesichts eben dieser Lehre von der specifischen Energie der nerv\u00f6sen Elemente die Wissenschaft gerade in ihren hervorragendsten Vertretern in verschiedene Lager gespalten ist, so bleibt dem Einzelnen","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nFriedrich Kiesow.\nnichts \u00fcbrig, als wieder von vorne anzufangen und sich selbst an seinem Theile zu selbsterworbenen Ueberzeugungen durchzuringen. Ich stellte mich daher von vorherein weder auf den einen noch auf den andern Standpunkt, sondern glaube unter Ber\u00fccksichtigung der von beiden Seiten vorgebrachten Gr\u00fcnde ohne vorgefasste Meinung an meine Aufgabe herangetreten zu sein, gleichviel zu welchem Ziele ich gelangen sollte. Ich habe demnach damit angefangen, die Resultate der oben genannten Autoren einer Nachpr\u00fcfung zu unterwerfen und will zun\u00e4chst die Ergebnisse dieser Untersuchung, soweit dieselbe zu einem Abschl\u00fcsse gediehen ist, in einer ersten Mittheilung \u00fcbersichtlich zusammenfassen.\nDie Versuchspersonen, welche sich mir f\u00fcr die Zwecke der Untersuchungen freundlichst zur Verf\u00fcgung stellten, waren die Herrn Dr. med. August Hoch, Dr. med. Benedicenti, Dr. ph. Jon. Cohn, Dr. Vict. Henri, stud. ph. Charles H. Judd, stud, ph. H. Singer, stud. ph. George M. Stratton. Indem ich allen diesen Herren meinen Dank ausspreche, benutze ich gleichzeitig die Gelegenheit, um zu bemerken, dass ich die Arbeit anfangs mit Dr. Hoch zusammen durchzuf\u00fchren geplant hatte. Leider musste dieser Plan aufgegeben werden, da sich unsere Lebenswege schon nach einigen Wochen gemeinsamer Arbeit wieder trennen sollten. Doch sage ich ihm f\u00fcr die Geduld und den Eifer, mit denen er in t\u00e4glich mehrst\u00fcndiger Arbeit bei mir ausgeharrt hat, auch an dieser Stelle meinen besonderen und w\u00e4rmsten Dank. Die mich betreffenden Versuche sind au\u00dfer von mir selber von ihm ausgef\u00fchrt worden.\nF\u00fcr das Aufsuchen der Temperaturpunkte verwandte ich nach Goldscheider\u2019s Vorgang massive Messingcylinder. Die von mir benutzten hatten bei einer Gesammtl\u00e4nge von 9 cm einen Umfang von 3 cm. Beide Enden eines Temperaturcylinders laufen fast l cm lang conisch in eine Spitze aus. Um schmerzhafte Eindr\u00fccke zu vermeiden, muss die Spitze, wie auch Goldscheider angibt, passend abgerundet sein. Unter Benutzung von Schmirgelpapier fand ich selbst die geeignetste Weise der Abrundung heraus. Zur Verh\u00fctung schneller Abk\u00fchlung resp. Erw\u00e4rmung schob ich die Cylinder durch ein Korkst\u00fcck, welches sodann als Handhabe diente, oder \u00fcberzog dieselben mit einem St\u00fcck dickwandigen Guttaperchaschlauches. Diese Cylinder haben sich f\u00fcr meine Zwecke vorz\u00fcglich bew\u00e4hrt.","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Temperaturempfindungen.\n137\nBei den qualitativen Versuchen hielt ich den Cylinder, um ihn zu erw\u00e4rmen, kurze Zeit in eine Gasflamme. Die messenden Versuche, welche ich jedoch nur als vorl\u00e4ufige betrachten kann, wurden in der Weise angestellt, dass ich die Cylinder so lange in temperirtes Wasser legte, bis ich annehmen konnte, dass dieselben der Eigentemperatur des Wassers nahe kommen mussten. Ich hatte f\u00fcr diesen Zweck ein CelsiusthermometeT an ein Stativ gebunden und lie\u00df dasselbe bis \u00fcber den Bulbus in das betreffende Wasser tauchen, sodass ich die jedesmalige Temperatur desselben bequem ablesen konnte. Erw\u00e4rmt wurde das Wasser \u00fcber einem Bunsenbrenner, K\u00e4ltemischungen suchte ich durch Kochsalz und Chlorcalcium herzustellen. Die unten stehenden Werthangaben beziehen sich auf diese Einrichtung. Doch will ich schon hier bemerken, dass ich jetzt \u00fcber einen nach Blix\u2019schem Princip construirten Apparat verf\u00fcge, mit dem ich wenigstens ann\u00e4hernd absolute Temperaturwerthe f\u00fcr die einzelnen Reizarten zu erzielen hoffe. Ich werde die betreffenden Resultate mit diesem neuen Apparate nachpr\u00fcfen und denselben in der n\u00e4chsten Mittheilung ausf\u00fchrlich beschreiben.\nAls F\u00e4rbemittel benutze ich zur Fixirung der einzelnen Hautpunkte Methylviolett, daneben Magdala- oder Anilinroth, wenn ich verschiedenartige Punkte zu markiren habe. Diese Farben werden in ziemlich d\u00fcnner w\u00e4sseriger L\u00f6sung hergestellt. Zur Uebertragung derselben auf die Haut gen\u00fcgt mir eine gew\u00f6hnliche nicht zu spitze Stahlfeder. Ich beobachte dabei die Vorsicht, dieselbe oft in neben mir stehendes Wasser zu tauchen, damit die Farbe nicht antrocknet und leicht ausflie\u00dft. Meine Versuchspersonen unterlie\u00dfen die zu pr\u00fcfenden Hauttheile zu waschen. Auf diese Weise habe ich die mit Violett gef\u00e4rbten Punkte bis zu 2 Wochen deutlich sichtbar erhalten k\u00f6nnen, so dass sie leicht wiederzuerkennen waren und durch abermalige F\u00e4rbung auf geraume Zeit markirt blieben. Die roth fixirten Punkte habe ich h\u00e4ufiger erneuern m\u00fcssen. Wo es mir um die Erhaltung von Punkten einer Qualit\u00e4t zu thun ist, verwende ich ausschlie\u00dflich Methylviolett.\nWas zun\u00e4chst die von oben genannten Forschern geschilderten allgemeinen Verh\u00e4ltnisse betrifft, so habe ich die Annahme getrennter Empfindungspunkte durchaus best\u00e4tigt gefunden. Ich kann ausserdem die Constanz derselben bis auf etwa einen und einen halben Monat","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nFriedrich Kiesow.\nconstatiren. Auf einige Tage und bis \u00fcber eine Woche konnte ich in Folge freundlichen Entgegenkommens die Constanz der einmal fixirten Punkte bei mehreren Personen, bis zu 4 Wochen an einer Versuchsperson (Mr. Judd) beobachten; die oben angegebene Zeit bezieht sich auf einige Stellen meines eigenen linken Ober- und Unterarms. Die meisten dieser Beobachtungen habe ich an mir selber angestellt. Ich pr\u00fcfte diese Verh\u00e4ltnisse, indem ich einige Hautstellen von mehreren Quadratcentimetern farbig begrenzte und innerhalb eines solchen Areals die s\u00e4mmtlichen Punkte einer Qualit\u00e4t fixirte und auf die bereits angegebene Weise wiederholt auffrischte. Die Nachpr\u00fcfungen der so gewonnenen Punktbilder ergaben das vorgenannte Resultat. Ich werde diese Beobachtungen bis zu einem m\u00f6glichst weit ausgedehnten Zeitpunkte an mir selber fortsetzen und \u00fcber dieselben weiteren Bericht erstatten. Es ist anzunehmen, dass sich diese Bilder mit den Jahren verschieben, da bei einer Constanz der nerv\u00f6sen Verh\u00e4ltnisse die Anordnung des Parenchyms der Ver\u00e4nderung und dem Wechsel unterworfen ist. Man darf sich, wie auch Goldscheider mittheilt, nicht t\u00e4uschen, wenn bei der Nachpr\u00fcfung einige Temperaturpunkte auf den ad\u00e4quaten Reiz nicht reagiren. Ich habe bei der Untersuchung dieser Verh\u00e4ltnisse ebenfalls die Vorstellung b\u00fcschelartiger Ausbreitung irgend welcher zu diesen Punkten in Beziehung stehender nerv\u00f6ser Elemente gewonnen, von denen ich zun\u00e4chst ganz unentschieden lasse, welcher Natur dieselben sein m\u00f6gen, welche aber zu einem System von Fasern geh\u00f6ren k\u00f6nnten, von denen die einen die andern in ihrer Function abl\u00f6sen ; denn Nachpr\u00fcfungen zu einer anderen Zeit lassen fr\u00fcher nicht reagirende Punkte als wirksam erkennen, w\u00e4hrend die das erste oder andere Mal die Wahrnehmung vermittelnden jetzt nicht wirksam sind. Schon bei den ersten Versuchen ergab sich der von Goldscheider hervorgehobene Unterschied in der Intensit\u00e4t der einzelnen Temperaturpunkte. Man findet neben mit schwachen Reizen erzeugten eisig kalt resp. brennend hei\u00df empfundenen Empfindungspunkten solche von minimaler St\u00e4rke, die in der Qualit\u00e4t des Kalten als eben k\u00fchl, in der des Warmen als kaum bemerkbar warm und, wie ich hier nicht zu bemerken unterlassen darf, nur von ge\u00fcbten Personen mit Anstrengung der Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Diese Verh\u00e4ltnisse sind jedoch von Goldscheider so ausf\u00fchrlich","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Temperaturempfindungen.\n139\ngeschildert worden, dass mit der Angabe der vollen Best\u00e4tigung auf seine Arbeiten verwiesen werden kann. Wichtiger erscheint die Thatsache, dass ich auf Hautstellen stie\u00df, auf denen auch mit den intensivsten Beizen keine punktartige Ausl\u00f6sung derselben m\u00f6glich war und bei denen doch eine schwach diffuse Temperaturempfindung angegeben wurde, sobald ich die betreibenden Stellen mit der gleichen Beizst\u00e4rke fl\u00e4chenhaft ber\u00fchrte. Diese Beobachtung machte ich an verschiedenen Versuchspersonen in beiden Empfindungsqualit\u00e4ten. Die in nat\u00fcrlicher Gr\u00f6\u00dfe beigegebene Zeichnung ist an dem linken Unterarm von Mr. Judd aufgenommen worden.\nDas umschriebene Viereck veranschaulicht die Vertheilung s\u00e4mmtlicher auf dieser Fl\u00e4che befindlicher K\u00e4ltepunkte, welche vom 9.\u201412.\nJanuar d. J. mittelst ad\u00e4quater Beizung gefunden sind. Die umrandete Stelle liegt, bei einer Gesammtl\u00e4nge des Unterarms von 26 cm von der Ellenbeuge bis zur Handwurzel gemessen, 6y2 cm von der ersteren entfernt auf der H\u00e4lfte der Daumenseite. Ber\u00fchrte ich die ziemlich gro\u00dfe L\u00fccke dieser Stelle bei geschlossenen Augen der Versuchsperson fl\u00e4chenhaft mit einem K\u00e4ltereiz von 15\u00b0 C., so wurde dieselbe anfangs indifferent, nach 3 Secunden als diffus und fl\u00e4chenhaft k\u00fchl empfunden. Sobald ich jedoch \u00fcber die Begion der K\u00e4ltepunkte streiche, antwortet die Versuchsperson mit dem Ausrufe einer unangenehm kalt percipirten Empfindung, oft mit einer Beflexbewegung. Indem ich diese Verh\u00e4ltnisse zu messen suchte, fand ich, dass bei 37 0 C. auf dem ganzen Viereck nur eine indifferente Ber\u00fchrung empfunden wurde, ebenso noch bei 35\u00b0 C. Bei 33\u00b0 C. antworteten die Punkte der rechten Ecke mit einer schwach kalten Empfindung. Bei 30\u00b0 C. reagirte wieder die ganze El\u00e4che mit intensiverer Betonung der eigentlichen K\u00e4lteregion. Was in diesen und \u00e4hnlichen F\u00e4llen vorgeht, ist nicht ohne weiteres zu entscheiden. Man kann sich vorstellen, dass auf den L\u00fccken noch K\u00fchlpunkte von so minimaler Perceptionsf\u00e4higkeit oder so tiefliegend vorhanden sind, dass sie einzeln nicht mehr auf punktartige Beizung reagiren, sondern bei der fl\u00e4chenhaften Einwirkung erst durch ein gewisses Zusammenwirken die angegebene Wahrnehmung","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nFriedrich Kiesovv.\nerzeugen. Es kann aber auch m\u00f6glich sein, dass hier, zumal die Perception erst einige Secunden nach der Reizung auftritt, eine intracellulare Ausbreitung derselben nach den eigentlichen Punkten hin vorliegt oder dass die Blutgef\u00e4\u00dfe hier irgendwie betheiligt sind. Die Feststellung dieser Verh\u00e4ltnisse muss der mikroskopischen Untersuchung, von der die Aufsuchung der anatomischen Substrate aller Erscheinungen dieses Gebietes unter allen Umst\u00e4nden gefordert werden muss, anheimgegeben wurden.\nFraglich erscheint mir die Bedeutung, welche Goldscheider den Haarpapillen f\u00fcr die Anordnung der Temperaturpunkte zugeschrieben hat. Es muss zwar ohne weiteres zugestanden werden, dass ein gro\u00dfer Theil der Austrittsstellen der Haare auf den von Goldscheider angegebenen Punkten temperaturempfindlich ist. aber es scheint mir dies an den behaarten K\u00f6rpertheilen nicht die Regel zu sein. Vielmehr habe ich an manchen, wie z. B. an den Oberarmen, nur einen geringen Procentsatz aller Haarpunkte auf thermische Reize reagirend gefunden. Von den Unterarmen bis zur Schulter scheint nach meinen Protocollen eine Abnahme des Zusammentreffens von Haar- und Temperaturpunkten vorhanden zu sein. Da mir mehrere Herren f\u00fcr eine weitere Verfolgung dieser speciellen Frage ihre H\u00fclfe zugesagt haben, so halte ich mit der Ver\u00f6ffentlichung meiner Protocolle bis zu einer sp\u00e4teren Mittheilung zur\u00fcck. Ich glaube jedoch, diese allgemeine Wiedergabe meiner Resultate nicht unerw\u00e4hnt lassen zu d\u00fcrfen, da dieselbe vielleicht zu einer Nachpr\u00fcfung dieser Verh\u00e4ltnisse von anderer Seite, zumal dieselbe leicht anzustellen ist, anregen m\u00f6chte und weil gerade die physiologisch gefundene Anordnung der Temperaturpunkte f\u00fcr die anatomische Untersuchung von Werth sein kann.\nWirft man die Frage auf, ob die thats\u00e4chlich vorhandenen W\u00e4rme- und K\u00e4ltepunkte specifischer Natur sind, so kann dieselbe nur positiv beantwortet werden, wenn die betreffenden Punkte auf jeden inad\u00e4quaten Reiz mit der ihnen specifischen Empfindung reagiren. Ich glaube an diese Frage mit der gr\u00f6\u00dften mir zu Gebote stehenden Vorsicht herangetreten zu sein, indem ich zun\u00e4chst die am intensivsten functionirenden Temperaturpunkte ber\u00fccksichtigte. Nur auf diese beziehen sich die nachstehend constatirten Thatsachen. Ich stellte die folgenden Versuche an, indem ich auf einer Hautstelle","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Teraperaturempfindungen,\n141\neine bestimmte Anzahl intensiv wirkender Temperaturpunkte der einen oder der andern Qualit\u00e4t in weiteren Abst\u00e4nden aufsuchte und diese mit Ziffern bezeichnete, um von immer den gleichen Punkten mehrmals die Angaben erhalten zu k\u00f6nnen. Auf diese Weise sind stets die n\u00e4mlichen Punkte inad\u00e4quat mechanisch, elektrisch, mit Nadelstichen und entgegengesetzt, d. h. der W\u00e4rmepunkt mit dem erkalteten, der K\u00e4ltepunkt mit dem erw\u00e4rmten Cylinder gereizt worden. F\u00fcr die mechanische Reizung benutzte ich St\u00e4bchen aus weichem Holz, die ich mir passend zuspitze. Es erfordert dies einige Vorsicht, damit der Eindruck nicht stechend und schmerzhaft wird. F\u00fcr die elektrische Reizung habe ich in den nachstehenden Versuchen den faradischen Strom verwandt. Die Feder meines Schlitteninductoriums vibrirte in etwa 124 Schwingungen durchschnittlich. Die Elektroden, welche ich anwandte, habe ich mir in der Weise herzustellen versucht, dass ich ein d\u00fcnnes Kupfer-dr\u00e4htchen durch ein enges Glasrohr f\u00fchrte, dasselbe an beiden Enden mit Sigellack befestigte und an das eine Ende \u00fcber einem Bunsenbrenner ein K\u00f6lbchen anschmolz, um schmerzhafte Eindr\u00fccke zu vermeiden. In andern F\u00e4llen habe ich, um m\u00f6glichst punktartige Reizungen herzustellen, das eine Ende meiner Elektroden mit dem Hammer ausgeschlagen und sodann mit der Schere zugespitzt. Doch gebe ich jetzt der ersteren Art den Vorzug. Das andere Ende der Elektroden l\u00e4sst sich dann mittelst einer Klemmschraube bequem an den Draht der secund\u00e4ren Spirale befestigen. Bei der meistens unipolaren Verwendung des Stromes habe ich anfangs dem andern Pol die M\u00f6glichkeit einer breiten Ausstrahlung an einem von der Versuchsstelle weitabgelegenen K\u00f6rpertheile gegeben, ich fand es jedoch sp\u00e4ter bequemer, denselben einfach zum Erdboden abzuleiten. Mit Bezug auf die St\u00e4rke des verwandten Stromes hebe ich hervor, dass ich zu Anfang der Versuche immer von einem Werth ausging, der ein wenig \u00fcber der Schwelle lag. Man kann jedoch den Rollenabstand nicht genau angeben, da die einzelnen Punkte mit Bezug auf die elektrische Empfindlichkeit sehr variiren und man fast stetig die Stromst\u00e4rke ver\u00e4ndern muss. Vor den Versuchen mit Nadelstichen habe ich die betreffenden Hautstellen, um die Epidermis zu erweichen, nach von FTey\u2019s Vorgang mit Sodal\u00f6sung oder mit Seife eingerieben. Die verwandte Nadel war eine N\u00e4hnadel feinster","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nFriedrich Kiesow.\nSorte, welche ich auf einem Schleifsteine noch nachzuspitzen versuchte.\nEs ist hervorzuheben, dass alle diese Versuche von seiten der Versuchsperson wie des Experimentators eine gewisse Uebung erfordern, die erst mit der Zeit erworben wird. Was zun\u00e4chst die mechanische Erregung der betreffenden Temperaturpunkte betrifft, so ist die Reaction auf diese Reizart mir am fr\u00fchesten gelungen. Es kommt hier alles darauf an, dass man den wirklichen Punkt trifft und sodann, dass das verwandte H\u00f6lzchen weder zu spitz noch zu breit ist. Auch d\u00fcrfen die St\u00f6\u00dfe nicht zu heftig erfolgen. In allen diesen F\u00e4llen treten Schmerzempfindungen auf, die das erwartete Ph\u00e4nomen \u00fcbert\u00f6nen. Man thut au\u00dferdem gut, wie Gold-scheider angibt, die Haut, auf welcher die zu untersuchenden Punkte sind, mit der einen Hand zu spannen. Wenn man alle diese Vorsichtsma\u00dfregeln beobachtet, tritt bei intensiv empfindlichen Punkten die Erscheinung deutlich hervor. Man hat bei den K\u00e4ltepunkten ein deutliches einmaliges Aufblitzen der K\u00e4lteempfindung, bei den W\u00e4rmepunkten eine l\u00e4nger andauernde Empfindung. Bei den letzteren ist dieselbe jedoch schwieriger zu erzeugen und erfordert eine l\u00e4ngere Uebung. Ich hatte mit Hoch schon \u00fcber 2 Wochen gearbeitet, bevor wir diese Erscheinungen an den K\u00e4ltepunkten constatiren konnten. Dann konnte er in 46 Versuchen, die an K\u00e4ltepunkten angestellt wurden, 21 Mal ein positives Resultat notiren, von 30 K\u00e4ltepunkten, die ich bei ihm hierauf pr\u00fcfte, reagirten 9 bestimmt positiv, bei einigen war die Empfindung fraglich. Es w\u00e4hrte eine noch l\u00e4ngere Zeit vergeblicher Arbeit, bis wir bei mechanischer Reizung der W\u00e4rmepunkte die ad\u00e4quate Empfindung erzeugen konnten. Endlich wurden von ihm in 30 Versuchsf\u00e4llen an mir 10 positive Aussagen constatirt, an ihm in 15 F\u00e4llen 5 Mal deutlich die W\u00e4rmeempfindung wahrgenommen. An Herrn Dr. Benedicenti konnte ich in 10 Einzelversuchen, die ich leider nur an K\u00e4ltepunkten anstellen konnte, 7 Mal die betreffende Empfindung verzeichnen. An Herrn Dr. Cohn wurden 10 W\u00e4rme- und 10 K\u00e4ltepunkte an 2 aufeinanderfolgenden Tagen mechanisch gereizt. Der Eindruck wurde in demnach 20 Einzel versuchen an den K\u00e4ltepunkten 9 Mal als deutlich kalt percipirt, w\u00e4hrend die Versuchsperson sich mit Bezug auf die W\u00e4rmepunkte nicht \u00fcber die gehabte Empfindung","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Temperaturempfindungen.\n143\nzu entscheiden vermochte. Dieselbe wurde 11 Mal als eigent\u00fcmlich und specifisch von der Tastempfindung verschieden angegeben, zuweilen mit einer Neigung zur W\u00e4rme. Alle diese untersuchten Punkte befanden sich auf den Ober- und Unterarmen. Gegenw\u00e4rtig, nachdem ich mich lange Zeit mit dem Gegenst\u00e4nde besch\u00e4ftigte, habe ich im Aufsuchen und Fixiren, wie in der Anwendung der verschiedenen Reizarten eine solche Uebung erlangt, dass mir der Versuch mit mechanischen Eindr\u00fccken, wenn der zu untersuchende Punkt nicht gerade erm\u00fcdet ist, namentlich an den K\u00e4ltepunkten selten misslingt. Ich halte diese Thatsache daher mit der oben erw\u00e4hnten Einschr\u00e4nkung f\u00fcr unzweifelhaft gewiss.\nBei der elektrischen Reizung habe ich wie Blix gefunden, dass man mit Bezug auf die Untersuchung der K\u00e4ltepunkte bei unipolarem Verfahren oft zu falschen Resultaten gelangt, sofern, wenn der zu untersuchende Punkt auf den elektrischen Eindruck mit der ihm eigenen Empfindung reagirt hat, die gleiche Wahrnehmung entsteht, sobald die Elektrode ohne durchgehenden Strom auf den Punkt applicirt wird. Um zu verhindern, dass dieselbe an sich schon im Sinne eines ad\u00e4quaten Reizes wirkte, habe ich dieselbe daher vor jedem Einzelversuche an einer neben mir befindlichen Kerzenflamme erw\u00e4rmt. Es ging aber auch aus diesen Versuchen bei allen mir zur Verf\u00fcgung stehenden Herren und bei mir selber unzweideutig hervor, dass die W\u00e4rme-, wie die K\u00e4ltepunkte in einem hohen Procentsatze durch den elektrischen Strom in ad\u00e4quater Weise erregt wurden. Die Empfindung unterscheidet sich von der bei mechanischer Einwirkung erzeugten dadurch, dass dieselbe auch an den K\u00e4ltepunkten einen continuirlicheren Charakter tr\u00e4gt, zugleich nimmt sie bei verst\u00e4rktem Strom bis zu einem gewissen Grade an Intensit\u00e4t zu. Dass an den W\u00e4rmepunkten der faradische Strom die Ursache der ad\u00e4quaten Erregung war, konnte ich durch folgenden Versuch constatiren. Es hatte sich mehrfach gezeigt, dass, wenn ich den erkalteten Cylinder auf einen W\u00e4rmepunkt gesetzt hatte und dann durch Anlegung der Elektrode an denselben den Strom hindurchgehen lie\u00df, der ohne Strom als Ber\u00fchrung resp. schwachkalt empfundene Reiz sich in eine W\u00e4rmeempfindung umwandelte. Ich pr\u00fcfte diese Erscheinung bei Mr. Judd an 9 W\u00e4rmepunkten, die ich an der Beugeseite des","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nFriedrich Kiesow.\nlinken Unterarms gesucht hatte, indem ich den Cylinder vor dem Versuche auf Eis legte, mit folgendem Resultat:\n1. Ohne Strom Ber\u00fchrung,\tmit Stromdurchgang etwas W\u00e4rme\nBer\u00fchrungsempfindung\n\u00bb\nwarm\nschwache W\u00e4rmeempfindg. W \u00e4rmeempfindung verst\u00e4rkte W\u00e4rmeempfindg. ausgesprochen warm anfangs Ber\u00fchrung, dann W\u00e4rme.\nln unmittelbarer N\u00e4he von den Punkten 3 und 9 befanden sich K\u00e4ltepunkte. Au\u00dferdem habe ich mit dem inducirten Strome bei unipolarer Reizung an Mr. Judd folgenden Controlversuch angestellt. An der Flexorenseite seines linken Vorderarms suchte ich in weiten Abst\u00e4nden auseinanderliegend mit ad\u00e4quaten Eindr\u00fccken 10 K\u00e4lte-und 10 W\u00e4rmepunkte, au\u00dferdem mittelst der von Frey\u2019schen Haarbestimmung 10 Druckpunkte1). Letztere wurden an Haarpapillen bei einem minimalen Schwellenwerth von 5,8 gr/mm2 gefunden. Indem ich nun bei abgewandtem Gesicht und geschlossenen Augen der Versuchsperson die einzelnen Punkte unter steter Ber\u00fccksichtigung der oben erw\u00e4hnten Vorsicht an den K\u00e4ltepunkten durcheinander pr\u00fcfte, reagirten die Druckpunkte ausnahmslos mit der durch von Frey2) mitgetheilten, den Intermissionen des Inductoriums folgenden Empfindung. Eine f\u00fcnfmalige Aus\u00fcbung dieses Verfahrens ergab f\u00fcr jede Temperaturqualit\u00e4t 50 Einzelversuche. Hiervon fielen auf die K\u00e4ltepunkte 45, auf die W\u00e4rmepunkte 32 richtige Urtheile. Die elektrische Reizung ist au\u00dferdem oft von schmerzhaften und intermittirenden Empfindungen begleitet.\nDem Experimente mit Nadelstichen unterzogen sich die Herren Judd, Singer, Stratton, Dr. Henri. F\u00fcr die K\u00e4ltepunkte wurde die Nadel zwischen den Fingern, resp. an der Flamme leicht erw\u00e4rmt. Bei Mr. Judd gelang es, alle so gesuchten K\u00e4ltepunkte beim Durchstich kalt erregt zu erhalten; doch waren nur 4 Punkte\n1)\tv. Frey, Beitr\u00e4ge zur Physiol, d. Schmerzsinnes. Berichte d. kgl. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Klasse. Sitzung vom 2. Juli 1894.\n2)\tEbenda, Sitzung vom 3. December 1894.\n2.\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\n3.\t\u00bb\t\u00bb\tschwach kalt,\t\u00bb\n4.\t\u00bb\t\u00bb\tfast warm\t\u00bb\n5.\t\u00bb\t\u00bb\tBer\u00fchrung,\t\u00bb\n6.\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\n7.\t\u00bb\t\u00bb\tW\u00e4rme,\t\u00bb\n8.\t\u00bb\t\u00bb\tBer\u00fchrung,\t\u00bb\n9.\t\u00bb\t\u00bb\tschwache K\u00e4lte,\t\u00bb","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber Temperaturempfiudungen.\n145\nohne begleitenden Schmerz, an den W\u00e4rmepunkten wurde nur 1 Punkt heim Durchstich als warm empfinden, alle anderen reagirten auf Schmerz. Bei Herrn Singer reagirten von je 10 Punkten\n4\tK\u00e4lte- und 6 W\u00e4rmepunkte mit der ad\u00e4quaten Empfindung. S\u00e4mmtliche K\u00e4ltepunkte wurde ohne, die W\u00e4rmepunkte jedoch mit begleitendem Schmerz empfunden. Mr. Stratton empfand in je 10 F\u00e4llen 1 K\u00e4lte- und 2 W\u00e4rmepunkte ohne, 1 K\u00e4lte- und 1 W\u00e4rmepunkt zusammen mit Schmerz. Herr Dr. Henri konnte in je\n5\tF\u00e4llen 2 Mal deutlich kalt ohne schmerzhaften Eindruck unterscheiden, alle andern Stiche waren von Schmerz begleitet.\nEs bleibt noch \u00fcbrig, die F\u00e4lle zu behandeln, in denen ich einen W\u00e4rmepunkt durch einen kalten und den K\u00e4ltepunkt durch den erw\u00e4rmten Cylinder gereizt habe. Ich habe in vielen F\u00e4llen beobachten k\u00f6nnen, dass die schwachen Reize, mit denen ich die Punkte aufsuchte, die ihnen inad\u00e4quate Empfindung ausl\u00f6sten. Diese Temperaturen waren 15\u00b0\u201420\u00b0 C. f\u00fcr die K\u00e4lte- und 38\u00b0\u201440\u00b0 C. f\u00fcr die W\u00e4rmepunkte. Ich habe ferner niemals auf einem isolnten W\u00e4rmepunkt durch den K\u00e4ltecylinder eine K\u00e4lteempfindung erzeugen k\u00f6nnen, selbst nicht, wenn ich denselben bis auf \u20145\u00b0 bis \u2014 6\u00b0 erkalten lie\u00df, ich habe aber andererseits bei meinen Versuchspersonen kaum einen K\u00e4ltepunkt gefunden, auf dem nicht von einem gewissen Punkte an eine W\u00e4rmeempfindung beobachtet wurde. Dieser Punkt wurde bei 47\u00b0 bis 50\u00b0 C. bestimmt. Ueber diese Grenze hinaus tritt au\u00dferdem auf jedem Punkte, den ich untersuchte, der Temperaturschmerz auf. Letzterer bedarf noch einer besonderen Untersuchung. Bei mir selber habe ich an den Unterschenkeln und am linken Handgelenk einige wenige intensive, von einer breiten Zone umgebene K\u00e4ltepunkte gefunden, an denen mir die absolute Unempfindlichkeit derselben f\u00fcr W\u00e4rme mindestens fraglich erscheint. Mit verbesserten H\u00fclfsmitteln hoffe ich zu sichereren Ergebnissen zu kommen, doch glaube ich auf Grund der gemachten Erfahrungen schon jetzt aussprechen zu k\u00f6nnen, dass die gro\u00dfe Mehrzahl der K\u00e4ltepunkte der Haut zugleich f\u00fcr W\u00e4rme empfindlich ist. Ich beschr\u00e4nke mich auf diese Mittheilung, da ich, wie bereits angegeben, diese Verh\u00e4ltnisse in gr\u00f6\u00dferem Umfange und messend weiter untersuchen werde.\nWundt, Pliilos. Studien. XI.\n10","page":145}],"identifier":"lit4526","issued":"1895","language":"de","pages":"135-145","startpages":"135","title":"Untersuchungen \u00fcber Temperaturempfindungen, Erste Mittheilung","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:17:32.651504+00:00"}