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{"created":"2022-01-31T12:34:06.000328+00:00","id":"lit4528","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Washburn, Margaret F.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 190-225","fulltext":[{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen auf die Raumwahrnehmungen der Haut.\nVon\nMargaret Floy Washburn, A. M.\nCornell University.\nDie erste Aufgabe bei der L\u00f6sung eines gegebenen wissenschaftlichen Problems besteht in der genauen Fixirung der Bedingungen, unter denen dasselbe zu Stande kommt. Da die letzteren sich jedoch einer exacten Pr\u00fcfung g\u00e4nzlich entziehen k\u00f6nnen, so k\u00f6nnen aus einer derartigen Bestimmung nicht selten nur vermehrte Schwierigkeiten erwachsen. In diesem Falle bleibt die Feststellung dieser Bedingungen neben der Abgrenzung der betreffenden Untersuchung Alles, was in dieser Beziehung geschehen kann. Trotzdem ist die Klarstellung der verwickelten Verh\u00e4ltnisse eines uns anfangs als Einheit erscheinenden Problems von gro\u00dfer Wichtigkeit.\nDie Erscheinungen der Localisation sind auf der Hautoberfl\u00e4che sehr einfacher Art, und es muss zugegeben werden, dass man in dieser Beziehung h\u00f6chst sorgsam ausgearbeitete Theorien aufgestellt hat, aber dieselben bleiben zu einem gro\u00dfen Theile unverst\u00e4ndlich, weil es sich bei denselben in erster Linie um eine Construction des Baumes handelt. Weber, Lotze, Mei\u00dfner und Czermak besch\u00e4ftigen sich alle nur mit der epistemologischen Frage, wie die Seele zur r\u00e4umlichen Anordnung tactiler Eindr\u00fccke gelange. Aber die blo\u00dfen, aus Weber\u2019s Untersuchungen resultirenden Thatsachen stehen mit dem Wenigen, das in streng psychologischer Hinsicht seitdem geschehen ist, zu den verwickelten Ph\u00e4nomenen der Gesichts-","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n19t\nWahrnehmung in auffallendem Contraste. Das bisher Gefundene l\u00e4sst sich folgenderma\u00dfen zusammenfassen: 1) Die Genauigkeit der Localisation tactiler Eindr\u00fccke, welche durch die Auffassung der Entfernung zweier punctueller Reize gemessen wird, variirt an den verschiedenen Hautstellen. 2) Dieselbe variirt hei verschiedenen Individuen. 3) Sie ist hei Blinden gr\u00f6\u00dfer als bei Sehenden. 4) Sie ist bei Kindern gr\u00f6\u00dfer als hei Erwachsenen.\nZur Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen sind nur zwei Principien aufgestellt worden. Man hat erstens angenommen, dass die Sch\u00e4rfe der \u00f6rtlichen Unterscheidung mit der Vertheilung der Nervenendigungen Zusammenh\u00e4nge, und dass dieselbe sodann von dem Grade der Uebung abh\u00e4ngig sei, den man sowohl mit Bezug auf die Ber\u00fchrungsempfindungen im allgemeinen als auch mit Bezug auf die Empfindungen an der gerade untersuchten Stelle im besonderen erworben habe. Ueber die nat\u00fcrliche Beschaffenheit und die Anordnung des anatomischen Substrates sowie \u00fcber die genauere Function der Uebung sind verschiedene Ansichten ge\u00e4u\u00dfert worden, aber man hat es nicht f\u00fcr n\u00f6thig befunden, neben dem Momente der Uebung einen andern psychologischen Factor anzunehmen als eine gewisse Art von Localzeichen, welche, m\u00f6gen dieselben nun qualitativ oder urspr\u00fcnglich r\u00e4umlich verschieden sein, im Bewusstsein die Vertheilung der Nervenendigungen vertreten. Das Vierordt-sche Gesetz, nach welchem die Localisation an den beweglicheren K\u00f6rperstellen eine gr\u00f6\u00dfere Sch\u00e4rfe besitzt, muss, wenn es als Er-kl\u00e4rungsprincip verwandt werden soll, nach Funke\u2019s1) Vorschlag als eine Wirkung, der Uebung aufgefasst werden. Andererseits m\u00fcssen jedoch die Druckpunkte, obwohl Goldscheider2) irgend welchen Zusammenhang seiner Druckpunkte mit den Localzeichen oder den Empfindungskreisen ausdr\u00fccklich leugnet, um f\u00fcr das Raumbewusstsein von irgend welcher Bedeutung zu sein, locale F\u00e4rbung tragen. Thats\u00e4chlich differiren sie von den Empfindungspunkten der Czermak\u2019sehen Theorie nur darin, dass dieselben einen empirischen Werth beanspruchen, w\u00e4hrend Czermak\u2019s Punkte nur hypothetischer Natur sind.\n1)\tFunke, Hermann\u2019s Handbuch III, 2. S. 384.\n2)\tGoldscheider, Archiv f\u00fcr Physiologie 1885. S. 95\u201496.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nMargaret Floy Washburn.\nDie vorliegende Abhandlung wird erstens zu zeigen haben, dass, au\u00dfer der Uebung und den durch die anatomischen Verh\u00e4ltnisse gegebenen Bedingungen, nothwendigerweise noch ein anderes Princip die Localisation eines Hauteindrucks beeinflusst, und sodann, dass verschiedene Resultate fr\u00fcherer Untersuchungen, f\u00fcr welche die betreffenden Forscher Erkl\u00e4rungen gegeben haben, ebenso leicht durch die Annahme dieses Princips erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen. Zum dritten soll gezeigt werden, dass dasselbe die Ursache gewisser, bisher nicht erkl\u00e4rter Erscheinungen in sich schlie\u00dft, und endlich, dass mit Bezug auf den Einfluss desselben, wenn auch nur indirect, ein experimenteller Nachweis m\u00f6glich ist. In der nachfolgenden Darstellung stelle ich eine Beschreibung meiner Hypothese voran. Ich werde hiernach zu zeigen haben, welches Licht dieselbe auf die Arbeiten fr\u00fcherer Forscher wirft, und werde sodann meine eigenen in dieser Beziehung angestellten Versuche mittheilen.\nDie enge Verbindung, welche Gesichts- und Tastvorstellungen mit einander eingehen, ist eine der wichtigsten Thatsachen in der Psychologie. Trotzdem hat man den Einfluss der ersteren auf die durch Ber\u00fchrung hervorgerufene Sch\u00e4tzung von Raumgr\u00f6\u00dfen au\u00dfer Acht gelassen. Obwohl viel \u00fcber die Correctur der Tastwahrnehmungen durch Gesichtsvorstellungen und umgekehrt geschrieben worden ist, so scheint man dennoch g\u00e4nzlich aus dem Auge verloren zu haben, dass die Localisation eines Hauteindrucks vonPersonen mit normaler F\u00e4higkeit zu visualisiren niemals durch einen Ausdruck bezeichnet werden kann, der sich auf die blo\u00dfe Ber\u00fchrung bezieht, sondern dass dieselbe stets mehr oder weniger von Gesichtsassociationen beeinflusst wird. Dies ist a priori so augenscheinlich, dass man durchaus nicht versteht, wie in der gesammten Litteratur der Tastvorstellungen auf die Existenz eines so st\u00f6renden Factors nur ein einziges Mal und zwar nur in einer negativen und gelegentlichen Erw\u00e4hnung Bezug genommen ist1). Man sollte glauben, dass\n1) Weber, Annotationes anatomicae p. 75.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n193\ndie Selbstbeobachtung ohne weiteres die wichtigste Rolle, welche den Gesichtsassociationen bei der Wahrnehmung der Hautempfindungen zuf\u00e4llt, erkennen lassen m\u00fcsse. Ein Mensch mit normalem Gesichtssinn wird bemerken, dass er, wenn die Localisationsf\u00e4hig-keit f\u00fcr eine K\u00f6rperstelle bestimmt werden soll, imBewusstsein eine Art Karte dieser Stelle, zum wenigsten eine unbestimmte Reproduction der Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt fr\u00fcherer Gesichtseindr\u00fccke besitzt und dass er bei der Localisation der von dem Experimentator ber\u00fchrten Punkte bis zu einem gewissen Grade von dieser Karte Gebrauch macht. Bei Personen, welche diese F\u00e4higkeit in geringem Ma\u00dfe besitzen, wird dieses Erinnerungsbild weniger lebhaft sein, aber bis zu einem gewissen Grade wird der Einfluss desselben ohne Zweifel auch hier wirksam sein ').\nAber die Association zwischen Gesichtseindr\u00fccken und tactilen Reizen ist nicht \u00fcberall eine gleichf\u00f6rmige, sondern gewisse Haut-\n1) Anmerkung des Herausgebers. Ich darf wohl darauf hinweisen, dass die oben von derVerfasserin ausgesprochene Bemerkung, in der ganzen Literatur \u00fcber den Tastsinn habe die Association der Tasteindr\u00fccke mit Gesichtsvorstellungen keine andere als h\u00f6chstens eine negative Beachtung erfahren, in dieser Ausdehnung nicht ganz zutrifft. In der ersten Abhandlung meiner \u00bbBeitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung\u00ab (1862, S. 60) habe ich meine Beobachtungen \u00fcber diesen Gegenstand in folgende S\u00e4tze zusammengefasst: \u00bbDa die Erfahrung uns von fr\u00fche an zeigt, dass jede Hautstelle ihr besonderes Quale der Empfindung besitzt, so muss, sobald dieses Quale als theilweiser Inhalt einer Wahrnehmung auftritt, zugleich die Vorstellung der ihm entsprechenden Stelle entstehen. Diese Vorstellung liefert bei weitem in den meisten F\u00e4llen der Gesichtssinn, dessen \u00f6rtliche Wahrnehmungen denen des Tastsinns vorangehen: eine Ausnahme davon macht nur der Blindgeborene. Auf diese Weise verkn\u00fcpfen sich die Vorstellungen der einzelnen Theile unserer K\u00f6rperoberfl\u00e4che auf das innigste mit den durch sie veranlassten Empfindungsqualit\u00e4ten.\u00ab Ebenso sind in meinen \u00bbVorlesungen \u00fcber die Menschen- und Thierseele\u00ab (2. Aufl. S. 169 ff.) diese regelm\u00e4\u00dfigen Associationen zwischen Gesichtsvorstellungen und Tasteindr\u00fccken beim Sehenden hervorgehoben worden. In der erstgenannten Abhandlung sind auch bereits Versuche mitgetheilt, die ich nach der Aequivalenzmethode \u00fcber das Verh\u00e4ltniss zwischen Tastma\u00df und Augenma\u00df ausgef\u00fchrt habe (S. 34 ff.), und aus denen sich unter andern ergibt, dass eine durch zwei Tasteindr\u00fccke abgegrenzte K\u00f6rperstelle im Gesichtsbild regelm\u00e4\u00dfig verkleinert vorgestellt wird, ein Resultat, welches neuerlich auch wieder J. Jastrow in den von der Verfasserin unten erw\u00e4hnten Versuchen best\u00e4tigt fand. Eine Er\u00f6rterung meiner (zuerst 1858 ver\u00f6ffentlichten) Versuche gibt bereits Fechner im II. Band der Psychophysik (S. 316 ff.).\tW. W.","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nMargaret Floy Washburn.\nstellen associiren sich leichter und lebhafter mit Gesichtsbildern als andere. Jene Karte, welche sich in der Seele des Reagenten befindet, ist daher auch keine genaue Wiedergabe der betreffenden Hautstelle, sondern sie ist nur ein ungef\u00e4hres Diagramm, in welchem gewisse Figuren sich abheben, und dessen allgemeine Umrisse, wie z.B. bei der Handfl\u00e4che oder beim Handgelenke, mit ziemlicher Deutlichkeit denen des Gesichtseindrucks entsprechen. Hieraus folgt, dass Punkte, welche nahe an deutlich sich abhebenden Grenzlinien einer Hautfl\u00e4che, z. B. nahe der \u00e4u\u00dfern oder innem R\u00fcckseite- des Handgelenks liegen, lebhaftere und deutlichere Gesichtsassociationen erwecken, als Punkte, die sich nicht in der N\u00e4he solcher Grenzen befinden. Nun muss die Localisation um so genauer vollzogen werden, je deutlicher die Gesichtsassociation ist. Je n\u00e4her daher der zu localisirende Eindruck den genannten Grenzlinien einer Hautstelle gelegen ist, um so klarer wird sich die Lage desselben in der Seele des Reagenten auspr\u00e4gen. Auf viele der in den classischen Untersuchungen \u00fcber den Tastraum mitgetheilten Resultate wird ein neues Licht geworfen, sobald man sie in Beziehung zu den eben gemachten Behauptungen setzt, z. B. :\na)\tDie gr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit der horizontalen, verglichen mit den verticalen Distanzen auf den Extremit\u00e4ten (Weber, Tastsinn u. Gemeingef\u00fchl, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch d. Physiologie, III., 528; De subtilitate tactus, 49). Werden zwei Zirkelspitzen so angesetzt, dass die sie verbindende Linie der L\u00e4ngsachse des Gliedes quer liegt, so werden die Punkte n\u00e4her den Grenzlinien der Gliedfl\u00e4che liegen. Letztere sind nat\u00fcrlich Gesichtsgrenzlinien. Im andern Fall, d. h., wenn die verbindende Linie der Gliedachse parallel steht, liegen die Punkte weiter von den Grenzlinien.\nb)\tDie Volkmann\u2019sche Beobachtung (Ueber d. Einfluss d. Uebung auf das Erkennen r\u00e4umlicher Distanzen. Ber. d., kgl. S\u00e4chs. Gesellschaft d. Wiss., math.-phys. Classe, 1858, 63, 65, 66) des schnellen Fortschritts der Uebung, und deren bilateralen Einflusses. Die Volkmann\u2019schen Versuche wurden scheinbar mit offenen Augen ausgef\u00fchrt (39, 40). Es kam also zur Tast- auch eine Gesichts\u00fcbung. Da nun die Grenzlinien bilateral symmetrischer Theile einander sehr \u00e4hnlich sind, so ist es leicht zu verstehen, wie die auf die eine K\u00f6rperseite gewonnene gemischte Tast-Gesichts\u00fcbung","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n195\nauch auf der andern Seite sich fast in gleichem Ma\u00dfe geltend gemacht habe.\nc)\tDie Ca merer sehe Beobachtung, dass das Aequivalenzver-h\u00e4ltniss zwischen zwei Theilen n\u00e4her als das zwischen denselben Theilen durch andere Methoden constatirte Yerh\u00e4ltniss der Einheit kommt (Zeitschr. f. Biologie XXIII, 533). Es ist n\u00e4mlich beim Gebrauch der Aequivalenzmethode kaum m\u00f6glich, die Gesichtsvorstellungen ganz und gar auszuschlie\u00dfen. Und je mehr Gesichtselemente in ein Raumurtheil \u00fcbergehen, um so kleiner wird der begangene Fehler.\nAuch die Beobachtung, dass das Aequivalenzverh\u00e4ltniss beim Gebrauch gr\u00f6\u00dferer Normalreize der Einheit nahe kommt (a. a. O., vgl. dazu Fechner, Z. f. Biol. XVI, 567). Denn je gr\u00f6\u00dfer die zwischen zwei Zirkelspitzen eingeschlossene Distanz, um so wahrscheinlicher wird es, dass diese irgend welchen Gesichtsgrenzlinien nahe kommen.\nd)\tM\u00f6glicherweise die Resultate der Henri\u2019sehen Versuche mit photographischer Localisation. Der Localisationsfehler auf Hand und Handgelenk ist n\u00e4mlich in der N\u00e4he von Hautfalten kleiner und wird immer in der Richtung der n\u00e4chsten Falten begangen (Arch, de Physiol. 1893, Nr. 4, 624).\nEndlich ist es wahrscheinlich, dass Gesichtsvorstellungen in Verbindung mit anatomischen Verh\u00e4ltnissen erkl\u00e4ren:\na)\tdie gr\u00f6\u00dfere Empfindlichkeit der kleineren (Weber, De subtil, tactus, 58) oder beweglicheren (Vierordt, Grundr. d. Physiol, d. Menschen, 1877, 342) K\u00f6rpertheile; und\nb)\tdie Ueberlegenheit der Kinder \u00fcber Erwachsene (Czermak, Physiol. Stud. IL u. III.; Sitzungsber. d. math.-naturwiss. Classe d< Kais- Aca<P d. Wiss. 1855, 56). Sind doch bei Kindern die Gesichtsfl\u00e4chen s\u00e4mmtlich kleiner.\nBei der Untersuchung des Einflusses von Gesichtsassociationen auf die Sch\u00e4tzungen von Raumwahrnehmungen der Haut st\u00f6\u00dft man auf die gro\u00dfe Schwierigkeit, den zu untersuchenden Gegenstand zu soliren. Am besten lie\u00dfe sich dieser Einfluss bestimmen, wenn man die durch den Tastsinn der Haut vermittelten Raumanschauungen f\u00fcr sich allein und ohne Mitwirkung der durch den Gesichtssinn\nwundt, Philos. Studien. XI.\t. .","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nMargaret Floy Washburn.\nerworbenen feststellen k\u00f6nnte. Dies kann am vollst\u00e4ndigsten nat\u00fcrlich nur an Blindgeborenen geschehen, ann\u00e4hernd m\u00f6chte es sich jedoch auch auf folgende dreifache Weise darthun lassen : Zun\u00e4chst und mit der gr\u00f6\u00dften Aussicht auf Erfolg, wenn der Reagent von fr\u00fcher Kindheit an blind war und alt genug geworden ist, um alle Gesichtserinnerungen verloren zu haben ; sodann an Personen, deren visuale F\u00e4higkeit im allgemeinen gering ist, und endlich an solchen, die durch Selbstcontrole von der Neigung zur Uebertragung in Gesichtsbilder abstrahiren k\u00f6nnen. Das an zweiter Stelle erw\u00e4hnte Verfahren leidet an dem Mangel, dass es keine objective Pr\u00fcfung zul\u00e4sst. Galton\u2019s Methode erweist sich auch f\u00fcr die Gewinnung nur relativ g\u00fcltiger Urtheile als g\u00e4nzlich unbrauchbar. Wenn jemand aufgefordert wird, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit anzugeben, mit welcher er das Aussehen seines Fr\u00fchst\u00fcckstisches zu reproduciren im Stande ist, so kann dieser Aussage kein objectiver Werth beigelegt werden. Denn wenn der betreffende Reagent niemals in seinem Leben ein deutlich reproducirtes Gesichtsbild besessen hat, so kann eine Vorstellung von ihm als lebhaft bezeichnet werden, die jemandem, der gut visualisirt, nur unvollkommen erscheinen w\u00fcrde. Ich werde sp\u00e4ter das einzig m\u00f6gliche Kriterium beschreiben, wodurch diese Methode einen Werth erh\u00e4lt, obwohl auch dieses noch in mancher Beziehung mangelhaft bleiben wird. Die dritte Methode ist nicht unter allen Umst\u00e4nden zuverl\u00e4ssig, weil man sich nicht auf die Selbstcontrole eines jeden Reagenten verlassen kann, auch nicht, wo es sich darum handelt, die festen Verbindungen, welche Gesichts- und Tastvorstellungen mit einander eingehen, nur abzuschw\u00e4chen. Meine Resultate zeigen jedoch, dass diese F\u00e4higkeit in den meisten F\u00e4llen bis zu einem gewissen Grade vorhanden ist.\n\u00a7 1.\nAuf die gro\u00dfe Bedeutung, welche den Gesichtsassociationen bei der Beurtheilung der Tastwahrnehmungen zugeschrieben werden muss, wurde ich durch eine Untersuchung der Methode der Aequivalente hingewiesen, welche im Cornell-Laboratorium w\u00e4hrend des Winters 1892/93 und des Fr\u00fchlings 1893 ausgef\u00fchrt wurde. Die Versuchspersonen hatten neben andern Vorschriften durchaus die Vorsicht zu","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n197\nbeobachten, von dem Erinnerungsbilde der ber\u00fchrten Fl\u00e4che bei der Sch\u00e4tzung der gegebenen Vergleichsdistanzen keinen Gebrauch zu machen. Die Aequivalenzverh\u00e4ltnisse wurden bestimmt zwischen der Volarseite des Handgelenkes \u2014 ungef\u00e4hr 60 mm von der Hand und nahe der \u00e4u\u00dferen Ecke \u2014 dem Ballen des Daumens und der letzten Phalange des Zeigefingers. Die angewandten Instrumente bestanden aus zwei Paaren scharf zugespitzter Bogenzirkel. Dieselben wurden durch Schrauben regulirt, welche eine ziemlich constante Zunahme von \u2019/4 mm gestatteten. Alle Distanzen wurden parallel zur L\u00e4ngsachse des Gliedes genommen. An drei Versuchspersonen \u00fcbertrafen die durchschnittlichen Aequivalenzverh\u00e4ltnisse zwischen den oben erw\u00e4hnten Stellen bei weitem die von Camerer gefundenen Werthe. Vergleichshalber sei die folgende Zusammenstellung mitgetheilt. Zeile 3, 4, 6 und 7 geben f\u00fcr die drei Beobachter die durchschnittlichen \u00e4quivalenten Distanzen und deren mittlere Variationen. Von jedem Beobachter wurden 5 Reihen aufgenommen. Zeile 8 zeigt die \u00e4quivalenten Verh\u00e4ltnisse, und die letzte Reihe enth\u00e4lt die von Camerer f\u00fcr ann\u00e4hernd die gleiche Localit\u00e4t gewonnenen Durchschnittswerte\u2018). Die in Zeile 8 mitgetheilten Werthe sind durchaus nicht nahe bei der Einheit gelegen.\nTabelle I.\n1.\tDaumen\t\tHandgelenk\t\tHandgelenk\nFinger\t\tDaumen\t\tFinger\n2. Normaldistanz:\tam Daumen 10 am\t\tHandgelenk 16 am\t\tHandgelenk 16\n3. Durchschnittliches\t\t\t\t\nAequivalent:\tam Finger\t5,2 am\tDaumen\t8,8 am\tFinger\t5,3\n4. Mittlere Var.:\t7\t\t8\t8\n5. Normaldistanz:\tam Finger\t5 am\tDaumen\t9 am\tFinger\t5\n6. Durchschnittliches\t\t\t\t\nAequivalent:\tam Daumen\t9 am\tHandgelenk 16,9 am\t\tHandgelenk 17,1\n7. Mittlere Var.:\t1,3\t\t1,2\t1,4\n8. Aequivalenzverh\u00e4lt-\t\t\t\t\nniss imDurchschnitt :\t1,86\t\t1,84\t3,2\n9. Camerer\u2019s Aequi-\t\t\t\t\nvalenzverh\u00e4ltniss:\t1,189\t\t1,045\t1,2\n1) Loc. cit. p. 547, 8.\n14*","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nMargaret Floy Washburn.\nCame rer erscheint es zweifelhaft, ob man aus den Ergebnissen \u00fcberhaupt anzugeben vermag, welche der verglichenen K\u00f6rperstellen die empfindlichere ist. Diese Ungewissheit bleibt in unserm Falle g\u00e4nzlich au\u00dfer Frage. Da er an keiner einzigen Stelle den m\u00f6glichen Einfluss der Visualisation erw\u00e4hnt, so ist es wahrscheinlich, dass seine Versuchspersonen nicht in gleicher Weise wie die mei-nigen auf dieses st\u00f6rende Moment bei der Beurtheilung aufmerksam gemacht wurden, und dass hierdurch die Abweichungen bedingt sind. Warum in Folge der Gesichtsassociationen eine Verminderung des \u00e4quivalenten Verh\u00e4ltnisses eintreten muss, l\u00e4sst sich schon a priori leicht erkennen; einwurfsfrei wird sich dieser Einfluss jedoch erst aus dem Experimente erweisen lassen. Nur zwei meiner Versuchspersonen konnten gut visualisiren. Von diesen geh\u00f6rte einer, H., augenscheinlich von Anfang an zum \u00bbvisualen Typus\u00ab, w\u00e4hrend der andere, T., durch betr\u00e4chtlich gr\u00f6\u00dfere Uebung bef\u00e4higt war, je nach Wunsch das Gesichtsbild der betreffenden Hautstelle lebhaft zu erfassen oder von demselben zu abstrahiren. Von jedem dieser Beobachter wurden zwei Reihen aufgenommen. In der ersten wurde eine m\u00f6glichst deutliche Gesichtsvorstellung zu erzeugen versucht, w\u00e4hrend man sich in der zweiten bestrebte, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Die nachfolgende Tabelle enth\u00e4lt die Durchschnitts werthe je 5 solcher Reihen.\nTabelle II.\nVariable Distanz\tVerh\u00e4ltniss\nReagent\tHautstelle\tNormal- distanz\tmit Gesichts- bild\tohne Gesichts- bild\tmit Gesichts- bild\tohne Gesichts- bild\nT.\tDaumen Finger\t10\t7,3\t6,4\t1,35\t1,56\nHi.\t33\t10\t7,5\t6,6\t1,33\t1,50\nDiese Zahlen zeigen deutlich, dass unter dem Einfl\u00fcsse der Gesichtsvorstellung der bei der Sch\u00e4tzung der Aequivalente begangene Fehler verringert erscheint. Die \u00e4quivalenten Verh\u00e4ltnisse liegen in diesem Falle der Einheit um ein betr\u00e4chtliches n\u00e4her.\nDie wirkliche Differenz zeigt sich deutlicher bei den Unterschieden, die sich bei den variablen Reizen ergeben, als bei denen, die bei den Verh\u00e4ltnissen auftreten.","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n199\nOb Camerer\u2019s zweites Resultat, dass das \u00e4quivalente Verh\u00e4lt-niss sich bei gr\u00f6\u00dferem Normalreiz der Einheit n\u00e4here, bei H. zutraf, konnte wegen der zu geringen Anzahl der an ihm angestellten Versuche nicht entschieden werden. Von den beiden andern Beobachtern zeigte sich diese Tendenz mit einiger Constanz nur bei T., sie fehlte bei Sch., der die F\u00e4higkeit, scharfe Gesichtsbilder zu produciren, nur in geringem Ma\u00dfe besa\u00df. In der folgenden Tabelle sind die an T. gewonnenen Resultate zusammengestellt.\nTabelle III.\nFinger\t\tDaumen\t\tDaumen\t\tHandgelenk\t\tFinger\t\tHandgelenk\t\nDaumen\t\tFinger\t\tHandgelenk\t\tDaumen\t\tHandgelenk\t\tFinger\t\nNorm.\tVerh.\tNorm.\tVerh.\tNorm.\tVerh.\tNorm.\tVerh.\tNorm.\tVerh.\tNorm.\tVerh.\n2\t2,54\t5\t1,81\t8\t1,8\t15,25\t2,19\t2\t7,08\t14\t6,6\n4\t2,18\t8,75\t1,73\t16\t1,65\t26,5\t1,8\t4\t4,18\t19,5\t5,76\nDie normale Reizstelle Finger\nist in den Verh\u00e4ltnissen als Z\u00e4hler \u00ab etc. Diese nach der Methode der Aequivalenz-\naufgefasst -\nDaumen\nVerh\u00e4ltnisse angestellten Versuche scheinen, soweit dieselben fortge-f\u00fchrt sind, die von uns ausgesprochene Ansicht zu unterst\u00fctzen, dass der wichtigste Antheil an Camerer\u2019s Untersuchung der Wirkung der Visualisation zuzuschreiben ist.\n\u00a72.\nNachdem der Einfluss dieses Factors dargethan ist, wird es m\u00f6glich sein, die gleiche Hypothese auch noch f\u00fcr andere Ph\u00e4nomene der Raumwahrnehmungen der Haut in Anspruch zu nehmen. Insonderheit gilt dies von der gr\u00f6\u00dferen Deutlichkeit, die die horizontal gerichteten Eindr\u00fccke vor den vertical gerichteten voraus haben. Die Schwierigkeit liegt hier wiederum in der experimentellen Best\u00e4tigung dieser Verh\u00e4ltnisse. Offenbar musste zun\u00e4chst entschieden werden, ob das in Rede stehende Ph\u00e4nomen unter allen Umst\u00e4nden vorhanden war. W\u00e4hrend des Herbstes 1894 wurde","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nMargaret Floy Washburn.\ndemgem\u00e4\u00df eine gro\u00dfe Anzahl von Versuchen an 4 Personen ausge-fiihrt: T., P., Hi. und S. (weibliche Versuchsperson). \u2014 Mit Ausnahme der letzteren waren alle im Beobachten ge\u00fcbt. Statt des spitzen Bogenzirkels wurden Gummispitzen von 1/3 mm Durchmesser benutzt. Die ganze Anzahl dieser Spitzen bestand aus 28 Paaren. Dieselben wurden auf kleinen Gummistangen in einer Entfernung von 1\u201428 mm befestigt. Die Stangen konnten in eine aus Messing gefertigte Handhabe eingeschrauht werden. Ich glaubte anfangs einen constanten Druck zu erzeugen, wenn ich diese Handhabe, welche sich wieder in einem andern Messinghalter ohne Reibung bewegte, mit einem Gewichte beschwerte, so dass hei jedem Eindruck das volle Gewicht des Apparates auf der Haut ruhen musste. Die Erfahrung belehrte mich jedoch, dass man genauer arbeitete,\" wenn der Druck einfach mit der Hand regulirt ward. Die verwandte Methode war die der richtigen und falschen F\u00e4lle. Die untersuchte K\u00f6rperstelle war die Volarseite des Handgelenks, etwa 60 mm von der Linie, welche die Hand vom Gelenke trennt. Um zu erfahren, oh die Empfindlichkeit an den Seiten von der an der Mitte des Handgelenkes dilferirte, wurden an den beiden genannten Stellen gleich viel Versuche angestellt, an den Seiten bis zu 12 mm von der Mittellinie. Eine nennenswerthe Differenz wurde in den Resultaten f\u00fcr diese Stellen nicht gefunden. Sie sind daher auch nicht getrennt verwerthet worden. Eine gleiche Anzahl von Versuchen wurde an jedem Handgelenke gemacht. Zur Verh\u00fctung einer aus den leicht variirenden anatomischen Verh\u00e4ltnissen resultirenden Complication wurden hei allen Versuchen stets die gleichen zu einer und derselben Reihe geh\u00f6renden Punkte gereizt; um der Erm\u00fcdung vorzubeugen, wurden nur 10 Versuche f\u00fcr jede Reihe genommen. Der Normalreiz bestand aus einer Distanz von 12mm; dies ist nach den fr\u00fcheren Untersuchungen f\u00fcr die meisten Personen der eben merkliche Eindruck. Bei jedem Versuche wurde der Beobachter gefragt, ob er zwei Punkte oder nur einen einzigen perci-pire, und wenn zwei, in welcher Richtung zur L\u00e4ngsachse des Gliedes der Eindruck gelegen sei. Anfangs folgten alle Eindr\u00fccke derselben Art direct hinter einander, d. h. an 10 \u00bbhorizontale\u00ab reihten sich 10 \u00bbverticale\u00ab. Sp\u00e4ter wurde zwischen beiden Arten von Eindr\u00fccken regelrecht gewechselt. Eine Reihe von 20 Versuchen hatte die","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n201\nfolgende Anordnung: 2 v, 2 h, 3 r, 3 h, 3 v, 3 h, v, h, v, h. Ein Vergleich dieser beiden Verfahrungsweisen zeigte einige interessante Punkte mit Bezug auf den Einfluss der Erwartung, aber auch hei einer betr\u00e4chtlichen Anzahl von Versuchen war eine merkbare Differenz in den Resultaten nicht wahrzunehmen. In der folgenden Tabelle sind unter I in Procenten die F\u00e4lle angegeben, wo 2 Punkte als solche empfunden wurden, und unter II die Procente derjenigen Versuche, hei denen die Richtung der beiden Punkte richtig be-urtheilt wurde. Die Gesammtzahl aller Versuche betrug f\u00fcr jeden Beobachter 1200, davon bestand die eine H\u00e4lfte aus horizontalen, die andere aus verticalen Eindr\u00fccken.\nTabelle IVa.\nVersuchsperson\tVertical\t\tHorizontal\t\n\tI.\tII.\tI.\tII.\nP.\t81,4\t46,9\t81,4\t43,25\nS.\t71,1\t44,5\t69\t42\nHi.\t77,1\t65,2\t87,1\t77,7\nT.\t76,3\t53,8\t80,1\t60,5\nMit diesen Zahlen m\u00f6gen die folgenden\t\t\tan\teiner blinden Frau\ngefundenen Versuchsergehnisse ver\t\tglichen werden. Dieselbe hat\t\t\nmit 5 Jahren ihr Gesicht\tverloren\tund ist\tgegenw\u00e4rtig ungef\u00e4hr\t\n50 Jahre alt.\t\t\t\t\n\tTabelle\tIVh.\t\t\nVersuchsperson\tVertical\t\tHorizontal\t\n\tI.\tII.\tI.\tII.\nM.\t100\t61,6\t100\t53,3\nMan bemerkt in dieser Tabelle sofort, dass der Procentsatz in der ersten Columne bedeutend gr\u00f6\u00dfer ist, als der in der zweiten. Dies bedeutet, dass sich unter hundert Versuchen immer eine Anzahl befand, bei denen wohl die Zweiheit empfunden wurde, bei denen aber das Urtheil mit Bezug auf die Richtung falsch abgegeben wurde. Die Schwelle f\u00fcr die Zweiheit liegt demgem\u00e4\u00df in jedem Falle tiefer, als die f\u00fcr die Richtung. Ein durch zwei Punkte hervorgerufener Eindruck kann von einem solchen durch einen einzigen","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nMargaret Floy Washburn.\nI unkt erzeugten in F\u00e4llen, wo nicht nur eine Suspendirung des Urtheils vorhanden ist, sondern sogar eine g\u00e4nzlich falsche Vorstellung von der Richtung, in welcher die beiden Punkte zu einander gelegen sind, wohl unterschieden werden. Die folgenden Zahlen geben in Procenten f\u00fcr jeden Reagenten die F\u00e4lle an, in denen die Richtung falsch empfunden wurde.\nTab eil\te V.\t\nVersuchsperson\tV.\tH.\nP.\t34,5\t38,15\nS.\t26,6\t27\nHi.\t11,9\t9,4\nT.\t22,5\t19,6\nM.\t38,4\t46,7\nSodann ist aus den Tabellen ersichtlich, dass das Uebergewicht in den Procents\u00e4tzen nicht immer auf der Seite der horizontalen Eindr\u00fccke liegt. Bei der blinden Versuchsperson M. zeigt sich ein deutlicher Vortheil auf der Seite der verticalen Eindr\u00fccke, ohne dass eine Ursache f\u00fcr diese Erscheinung nachweisbar ist. Nach ihrer Angabe schienen die verticalen Eindr\u00fccke \u00bbl\u00e4nger\u00ab und die horizontalen \u00bbrunder\u00ab zu sein. Im allgemeinen schien sie die Breite des Armes im Verh\u00e4ltniss zur L\u00e4nge zu untersch\u00e4tzen. Nur bei zweien meiner Beobachter, Hi. und T., zeigte sich eine entschiedene Bevorzugung zu Gunsten der horizontalen Eindr\u00fccke. Die Zahl der angestellten Versuche war in jedem Falle eine so gro\u00dfe, dass diese individuelle Abweichung nicht in zuf\u00e4lligen Ursachen gesucht werden kann. Endlich ergibt sich aus den Versuchen, dass von den beiden Beobachtern (T. und Hi.), welche die horizontalen Eindr\u00fccke besser percipirten als die verticalen, die Richtung \u00fcberhaupt im allgemeinen am besten beurtheilt wurde. Der Umstand jedoch, dass die Beobachterin (M.), welche so gut wie \u00fcberhaupt keine Gesichtsvorstellungen hatte, in der Beurtheilung der Richtung die meisten Fehler beging (d. h. mit Bezug auf die Anzahl der richtigen Zwei-heitsurtheile) und horizonale Eindr\u00fccke nicht besser percipirte als verticale, l\u00e4sst sofort vermuthen, dass die Differenzen, welche sich","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den Einfluss der Gesichtsassociationen ete.\n203\nin dieser Hinsicht bei den andern Versuchspersonen ergaben, der verschiedenen F\u00e4higkeit zu visualisiren zuzuschreiben ist.\nDa sich an diesem Punkte sehr das Bed\u00fcrfniss nach einem objectiven Pr\u00fcfungsmittel f\u00fchlbar machte, so war Dr. Henri\u2019s photographische Methode eine willkommene H\u00fclfe. Demgem\u00e4\u00df wurden von den Handgelenken der vier Versuchspersonen P., g. Hi. und T. Photographien von nat\u00fcrlicher Gr\u00f6\u00dfe aufgenommen und die Beobachter hatten auf denselben die gereizten Punkte anzugeben. Die betreffende K\u00f6rperstelle war dem Auge durch einen Schirm entzogen. Von einer Anzahl auf diese Weise angestellter Versuche wurden die Resultate einer sorgf\u00e4ltigen Betrachtung unterzogen.\nIndem die Entfernung zwischen den betreffenden Punkten in jedem einzelnen Falle gemessen wurde, ergab sich 1) dass eine Distanz von 12 mm, gleichviel ob die gereizten Punkte \u00bbhorizontal\u00ab oder \u00bbvertical\u00ab gerichtet waren, auf der Photographie ohne Ausnahme untersch\u00e4tzt wurde; und 2) dass diese Untersch\u00e4tzung bei den verschiedenen Beobachtern differirte. Die folgende Tabelle enth\u00e4lt die von jedem Beobachter auf der Photographie bezeichneten L\u00e4ngen als Aequivalent einer durch punktuelle Reizungen erzeugten Distanz von 12 mm an. Die Bezeichnungen \u00bbH = V\u00ab etc. an der Spitze der einzelnen Columnen beziehen sich einerseits auf die wirkliche, andererseits auf die empfundene Richtung des betreffenden Eindrucks. Die 6. Columne enth\u00e4lt die Durchschnittswerthe aller von je einem Beobachter abgegebenen Urtheile. Dieselben entsprechen nicht den in den vorstehenden Tabellen mitgetheilten Durchschnittszahlen, weil die letzteren nicht aus der gleichen Anzahl von Versuchen gewonnen sind. Bei einem Beobachter waren z. B. die \u00bbverticalen\u00ab, bei dem andern dagegen die \u00bbhorizontalen\u00ab Eindr\u00fccke vorherrschend. In denjenigen F\u00e4llen, wo die Punkte unter einem Winkel von 45\u00b0 localisirt wurden, sind diese Angaben unter die Columnen f\u00fcr die horizontalen und verticalen Eindr\u00fccke gleichm\u00e4\u00dfig vertheilt worden.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\tMargaret Floy Washburn.\nTabelle VI. Distanz = 12 mm.\nVersuchsperson\tV. =V.\tH. =V.\tH. = H.\tV. = H.\tDurchschnitt\tGesammt-zahl der Versuche\nP.\t8,2\t10,3\t9\t9,2\t9\t50\nS.\t11,1\t9,9\t8\t7,8\t9,1\t50\nHi.\t9,6\t*)\t10,6\t11\t10,2\t50\nT.\t8,7\t9,5\t11,5\t12,7\t10,4\t50\nDiese allgemeine Untersch\u00e4tzung der durch punktuelle Ber\u00fchrung hervorgerufenen Distanz, welche mit H\u00fclfe des Gesichts zum Ausdruck kommt, entspricht der Jastrow\u2019sehen Beobachtung, dass die Distanz \u00bbreceived by the muscular sense and expressed hy the eye\u00ab sehr untersch\u00e4tzt wird1 2).\nWie durch die ganze Untersuchung, werden wir auch hier wiederum auf die Thatsache gef\u00fchrt, dass die Sch\u00e4tzung tactiler Eindr\u00fccke sich um so mehr der objectiven 'und vorherrschend durch den Gesichtssinn wahrgenommenen Distanz n\u00e4hert, je mehr dieselbe mit der F\u00e4higkeit der Ueber-tragung in Gesichtsvorstellungen verbunden ist. Nach den Resultaten der vorstehenden Tabelle lassen sich unsere vier Beobachter in zwei Classen theilen. P. und S. untersch\u00e4tzten eine objective Distanz von 12 mm um etwa 2,95 mm. Hi. und T. untersch\u00e4tzten dieselbe um etwa 1,7 mm. Man k\u00f6nnte denken, dass die letzterw\u00e4hnten Versuchspersonen bei der Sch\u00e4tzung der betreffenden Distanz in hohem Grade von Gesichtsassociationen Gebrauch gemacht h\u00e4tten. Aber es waren gerade diese, welche allein die horizontalen Eindr\u00fccke besser percipirten als die verticalen, und welche \u00fcberhaupt in der Beurtheilung der Richtung die gr\u00f6\u00dfte Bef\u00e4higung zeigten. Die blinde Versuchsperson M. zeigte dagegen die geringste Tendenz, die horizontalen Eindr\u00fccke zu bevorzugen, und ebenso war bei ihr die Perception der Richtung \u2014 im Verh\u00e4ltniss zur Anzahl der F\u00e4lle, in denen die Zweiheit empfunden wurde \u2014 am wenigsten\n1)\tVon diesem Beobachter wurden keine horizontalen Eindr\u00fccke als verticale auf gef asst.\n2)\tMind, XI, S. 546.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n205\ngenau. Aus dem Mitgetheilten d\u00fcrften sich wohl indirect folgende Schl\u00fcsse ziehen lassen:\n1)\tDie gr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit in der Auffassung transversal zur L\u00e4ngsachse des Gliedes gerichteter Eindr\u00fccke muss der deutlicheren Visualisation zugeschrieben werden.\n2)\tDie Gesichtsassociationen sind \u00fcberhaupt bei der Beurthei-lung der Richtung zweier auf der Haut hervorgerufener punktueller Eindr\u00fccke eine gro\u00dfe H\u00fclfe.\n3)\tIn den Versuchen ergeben sich stets mehr F\u00e4lle, in denen die Zweiheit, als solche, in denen die Richtung richtig beurtheilt wird.\nBei einigen wenigen Versuchsreihen, die nach der Methode der minimalen Aenderungen vorgenommen wurden, beobachtete S., dass die Beurtheilung der Richtung hei einer sehr gro\u00dfen Distanz schwerer erschien, als bei einer nur m\u00e4\u00dfig gro\u00dfen. Nach ihrer Angabe fehlte im ersteren Falle jede Verbindung der Punkte. Da nun S. die F\u00e4higkeit zu visualisiren nur in geringem Ma\u00dfe besa\u00df, so l\u00e4sst die Bemerkung vermuthen, dass Personen, welche nicht wirklich visualisiren, die Richtung weniger leicht percipiren, wenn die gegebene Distanz sehr gro\u00df ist. Zur Pr\u00fcfung dieser Hypothese wurden an jedem der f\u00fcnf Beobachter unter den gleichen Bedingungen 1200 Versuche mit einer Distanz von 20 mm angestellt. Die Resultate dieser Untersuchung sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt (siehe Tabelle IV.):\nTabelle VII.\nVersuchsperson\tVertical\t\tHorizontal\t\n\tI.\tII.\tI.\tII.\nP.\t94\t71\t96\t79,1\nS.\t98,6\t63,3\t100\t86,6\nHi.\t100\t93,6\t100\t98,3\nT.\t96\t78\t98\t85,3\nM.\t100\t93\t100\t87\nDurch diese Ergebnisse wird die ausgesprochene Vermuthung, dass eine geringe Visualisationsf\u00e4higkeit sich in einer weniger genauen Beurtheilung der Richtung gr\u00f6\u00dferer Distanzen kundthue, widerlegt: die bei der blinden Beobachterin M. gewonnenen hohen Procents\u00e4tze zeigen dies sehr deutlich. Durch diese Resultate wird","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nMargaret Floy Washburn.\naber auf unerwartete Weise der Einfluss der Gesichtsassociationen best\u00e4tigt. Bei der vergr\u00f6\u00dferten Distanz wurden mit Ausnahme der blinden Versuchsperson M. von allen Beobachtern die horizontalen Eindr\u00fccke besser als die verticalen percipirt. Dies trifft genau mit dem zusammen, was wir nach unserer Hypothese erwarten sollten. Denn hei der Untersuchung der Methode nach Aequivalenten haben wir gesehen, dass der Einfluss der Gesichtsassociationen um so gr\u00f6\u00dfer ist, je gr\u00f6\u00dfer die zu heurtheilende Distanz ist; denn weit auseinander liegende Punkte n\u00e4hern sich gew\u00f6hnlich mehr den Gesichtsgrenzen oder jenen Kanten. Wenn nun die Bevorzugung in der Beurtheilung der horizontalen Eindr\u00fccke der F\u00e4higkeit zu visualisiren zugeschrieben werden muss, so muss man erwarten, dass bei gr\u00f6\u00dferem Normalreize diese Bevorzugung bis zu einem gewissen Grade hei solchen Personen auftreten muss, bei denen dieselbe bei kleineren Distanzen aus den Versuchen nicht nachweisbar war. Andererseits d\u00fcrfen wir diese Tendenz nicht voraussetzen bei Personen, die \u00fcberhaupt keine Gesichtsvorstellungen besitzen.\n\u00a7 3.\nOhne bestimmte Aussicht auf Erfolg wurden die eben beschriebenen Resultate sodann mit solchen verglichen, die sich aus einer Untersuchung ergaben, in der der Eindruck nicht durch discrete Punkte, sondern durch eine continuirliche Linie hervorgerufen wurde, und die unter \u00e4hnlichen Bedingungen und an denselben Versuchspersonen angestellt wurden. Der f\u00fcr diese Versuche benutzte Apparat war sehr einfach, entsprach aber v\u00f6llig seinem Zwecke. Derselbe bestand aus einem Gummipl\u00e4ttchen, dessen Kante 12 mm lang war und das in einem kleinen h\u00f6lzernen Handgriff befestigt wurde. Um die Bedingungen denen der fr\u00fcheren Versuche m\u00f6glichst anzupassen, musste beim Gebrauche des sehr leichten Apparates ein betr\u00e4chtlich st\u00e4rkerer Druck angewandt werden. Die Versuchspersonen hatten bei dieser Untersuchung selbstverst\u00e4ndlich nur die Richtung des empfangenen Eindrucks anzugeben. DieWerthe der nachstehenden Tabelle sind dementsprechend mit den Columnen II der Tabellen IV und VII zu vergleichen.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"lieber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\t207\nTabelle VIII.\nVersuchsperson\tVertical\tHorizontal\nP.\t56,8\t70,5\nS.\t60,5\t65,8\nHi.\t85,3\t93,3\nT.\t56,6\t66,6\nM.\t76,3\t47\nMit Ausnahme von M. sind bei allen Beobachtern die Werthe der horizontalen Reihe gr\u00f6\u00dfer als die der verticalen. Ist der Grund f\u00fcr diese Beobachtung darin zu suchen, dass continuirliche Eindr\u00fccke besser visualisirt werden als solche, die durch punktuelle Reizung hervorgerufen werden? Eine sorgf\u00e4ltige Ueberlegung f\u00fchrt aber noch zu einer anderen Erkl\u00e4rung dieser Erscheinung. Die angegebenen Procents\u00e4tze sind die Mittelwerthe aus einer gleichen Anzahl von Versuchen, die an der Mitte des Handgelenks und 12 mm jederseits von der Mittellinie desselben vorgenommen sind. Bei allen Versuchen mit punktueller Reizung war keine nennenswerthe Differenz zwischen den an der Mitte, der Innen- und Au\u00dfenseite der betreffenden K\u00f6rperstelle gewonnenen Werthen vorhanden. In Folge dessen sind dieselben auch nicht besonders notirt worden. Hier jedoch wirft ein Vergleich der f\u00fcr die eben genannten drei leicht differirenden in Betracht kommenden Zahlenwerthe Licht auf das gesammte Resultat. Dieselben sind in der untenstehenden Tabelle einzeln aufgef\u00fchrt. Die Werthe, welche sich auf die rechten und linken Seiten der rechten und linken Handgelenke beziehen, sind unter \u00bbAu\u00dfenseite\u00ab zusammengeworfen, ebenso die f\u00fcr die linken und rechten Seiten unter \u00bbInnenseite\u00ab, da die anatomischen Verh\u00e4ltnisse der rechten Seite des rechten Handgelenkes mit denen der linken Seite des linken correspondiren.\nTabelle IX.\nVersuchsperson\tMitte\t\tAu\u00dfenseite\t\tInnenseite\t\n\tV.\tH.\tV.\tH.\tV.\tH.\nP.\t58,5\t86,5\t48\t68\t64\t57\nS.\t51,5\t75,5\t55\t54,5\t75\t67,5\nHi.\t83\t97\t86\t92\t81\t98\nT.\t50\t61\t60,5\t74\t59,5\t65\nM.\t72\t48\t73\t45\t82\t48","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nMargaret Floy Washburn.\nBei dem Beobachter P. erscheint die Bevorzugung der horizontalen Eindr\u00fccke an der Mitte und an der Au\u00dfenseite des Handgelenks, nicht an der Innenseite desselben. Bei S. zeigt sich diese Tendenz dagegen nur an der Mitte; f\u00fcr die Au\u00dfenseite ist die Procentzahl f\u00fcr die \u00bbh.\u00ab- und \u00bbv.\u00ab-Eindr\u00fccke die gleiche, an der Innenseite \u00fcberwiegt die der \u00bbv.\u00ab-Eindr\u00fccke. Bei keiner der \u00fcbrigen Versuchspersonen offenbart sich dieser Mangel an Constanz. Von Hi. und T. wurde die \u00bbhorizontale\u00ab Richtung regelm\u00e4\u00dfig besser erkannt als die \u00bbverticale\u00ab, w\u00e4hrend M.\u2019s Werthe eine besondere Erkl\u00e4rung erfordern, obwohl sie ein constantes Uebergewicht in der Auffassung der horizontalen Eindr\u00fccke erkennen lassen. P. lie\u00df sich nach seiner eigenen Aussage bei allen diesen Versuchen in seinem Urtheil von der charakteristischen Eigenth\u00fcmlichkeit der tieferliegenden Partien leiten. Bei continuirlichen Eindr\u00fccken muss der Einfluss des unterliegenden Knochens und Muskels oder der Sehne naturgem\u00e4\u00df von h\u00f6chster Bedeutung sein. Am Mittel der Volarfl\u00e4che des Handgelenks wird diese Wirkung, um es nochmals zu wiederholen, am deutlichsten empfunden werden. Denn hier kreuzt die horizontal aufgesetzte Gummikante zwei Sehnen, die des Flexor carpi radialis und des Palmaris longus, w\u00e4hrend dieselbe bei longitudinaler Application in die zwischen beiden befindliche H\u00f6hlung zu liegen kommt. An diesen beiden Sehnen entsteht bei horizontal gerichtetem Reiz an den Ber\u00fchrungspunkten eine gr\u00f6\u00dfere Sch\u00e4rfe. Hieraus mag sich bei P. und S. die h\u00f6here Procentzahl der als richtig erkannten horizontalen Eindr\u00fccke an der Mitte des Handgelenks genugsam erkl\u00e4ren. Aehnlich sind die Verh\u00e4ltnisse an der Au\u00dfenseite des Handgelenks. Hier kreuzt die horizontale Linie den Radius, w\u00e4hrend die verticale zwischen den Radius und die Sehne des Flexor carpi radialis f\u00e4llt. Die Wirkung d\u00fcrfte hier geringer sein als an der Mitte, da der Eindruck hier nicht an zwei Punkten, sondern nur an einem eine gr\u00f6\u00dfere Sch\u00e4rfe erh\u00e4lt. Bei S. zeigt sich an dieser Stelle in den Werthen f\u00fcr beide Eindr\u00fccke kein Unterschied. An der Innenseite des Handgelenks sind die unterliegenden Theile weder f\u00fcr horizontale noch f\u00fcr verticale Eindr\u00fccke von praktischer Bedeutung, es kann daher hierin kein zureichender Grund f\u00fcr die weitaus gr\u00f6\u00dfere Procentzahl der \u00bbverticalen\u00ab Eindr\u00fccke gesucht werden. M\u00f6glicherweise ist diese Erscheinung dem Umstande","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n209\nzuzuschreiben, dass P. und S. in den an der Mitte und an der Au\u00dfenseite des Handgelenks angestellten Versuchen das Urtheil \u00bbhorizontal\u00ab mit dem eigent\u00fcmlich scharfen Eindruck, der \u00fcber dem Knochen oder der Sehne entsteht, associirten. An der Innenseite sind diese scharfen Eindr\u00fccke nicht m\u00f6glich, in Folge dessen m\u00f6gen hier manche horizontalen Reize als verticale beurteilt worden sein. Auf jeden Fall kann man mit ziemlicher Gewissheit schlie\u00dfen, dass die gro\u00dfe Anzahl der richtigen F\u00e4lle bei horizontaler Reizung, welche sich in diesen Versuchen hei P. und S. zeigen, zumal diese Erscheinung nicht an allen Localit\u00e4ten auftritt, nicht dem Einfl\u00fcsse der Visualisation zuzuschreiben ist, sondern in anderen Ursachen, wahrscheinlich in den verschiedenartigen Structurverh\u00e4ltnissen darunter liegender Theile zu suchen ist.\nDie offenbare Abwesenheit des letzterw\u00e4hnten Factors in den an Hi. und T. angestellten Versuchen l\u00e4sst sich vermutlich daraus erkl\u00e4ren, dass diese Beobachter die F\u00e4higkeit zu visualisiren in hohem Ma\u00dfe besa\u00dfen und von den anatomischen Verschiedenheiten bei ihrem Urtheil mehr zu abstrahiren vermochten. Aber f\u00fcr die geringe Procentzahl der als horizontal richtig erkannten Eindr\u00fccke bei M. ist es h\u00f6chst schwierig einen Grund zu finden. Diese Tendenz tritt hier nur in gesteigertem Ma\u00dfe hervor, sie zeigte sich bei dieser Beobachterin bereits in allen Versuchsreihen, die bei punktueller Reizung ausgef\u00fchrt wurden. Sie erkannte ausnahmslos die verticale Richtung besser als die horizontale und gab an, dass die verticalen Eindr\u00fccke stets bestimmter seien. Vielleicht wurde sie hier in ihrem Urtheil durch dunkle muscul\u00e4re Associationen beeinflusst, welche auch, wie schon fr\u00fcher hervorgehoben wurde, bewirkten, dass sie die Breite ihres Armes im Verh\u00e4ltniss zur L\u00e4nge untersch\u00e4tzte. Jedenfalls aber hat diese Erscheinung mit dem Vorg\u00e4nge der Visualisation nichts gemein.\nVergleichen wir die Angaben der Tabelle VIII mit denen der Columne II in Tabelle IV, so ergibt sich, dass mit Ausnahme der \u00bbh.\u00ab-Werthe f\u00fcr die Beobachterin M. die Procentzahlen in der elfteren Tabelle durchweg gr\u00f6\u00dfere Werthe repr\u00e4sentiren, als die in der letzteren. Anders ausgedr\u00fcckt bedeutet dies, dass die durch eine continuirliche Linie verursachte Richtung besser erkannt wird, als eine solche, die durch einen zwischen zwei Punkten gelegenen \u00bbleeren\u00ab Zwischenraum","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nMargaret Floy Washburn.\nhervorgerufen wird1). An Interesse gewinnt diese Thatsache durch ihre Beziehung zu Goldscheider\u2019s Beobachtungen. Er bemerkt bei einer Besprechung seiner Druckpunkte: \u00bbDa die Druck- und Ortsempfindungen der Druckpunkte objectivirt werden, so werden wir alle diejenigen Punkte des Objects, welche unsere Druckpunkte ber\u00fchren, auch eben objectiv wahrnehmen, die \u00fcbrigen wieder nicht, und die nothwendige Folge muss sein, dass wir die Co'ntactfl\u00e4che des Objects nicht mit ihrer wahren Gestalt und Beschaffenheit wahrnehmen, sondern so, wie sie sich auf unseren Druckpunkten abdr\u00fcckt.\u00ab Um diese Annahme zu unterst\u00fctzen, beschreibt Goldscheider des weiteren Versuche, die mit der abgerundeten Kante eines Federkiels ausgef\u00fchrt wurden2).\nDieser halbkreisf\u00f6rmige Eindruck wurde entsprechend der Anzahl und der relativen Lage der gereizten Druckpunkte empfunden \u00bbals im umgekehrten Sinne gekr\u00fcmmt oder S-f\u00f6rmig gekr\u00fcmmt, oder rechtwinklig geknickt, oder in der Mitte abgeschnitten, oder in zwei getrennte geradlinige Abschnitte getheilt\u00ab u. s. w.3) Wenn diese Resultate bei allen linearen Reizen eine so vollst\u00e4ndige Unsicherheit in der Beurtheilung der Richtung der betreffenden Eindr\u00fccke aufweisen, so muss es gewiss auffallend erscheinen, wenn bei unseren Versuchen die Richtung ungleich besser bei linearen als bei punktuellen Eindr\u00fccken erkannt wurde. Wenn \u00fcberdies meine Beobachter ihre Aufmerksamkeit insonderheit auf die Form der als Reiz dienenden Linie richteten, so wurde nach ihren Aussagen nur eine gerade Kante empfunden. Bei einer sehr kurzen Linie war der Eindruck oft verwischt. Diese Wirkung muss zweifellos der Irradiation zugeschrieben werden, der Eindruck erschien jedoch niemals \u00bbgekr\u00fcmmt\u00ab oder \u00bbin zwei getrennte geradlinige Abschnitte getheilt\u00ab.\n1)\tLadd (Phys. Psych. S. 406) bemerkt zu den Web er\u2019sehen Versuchen \u00bbOur estimate of the length of lines of pressure, marked out by laying rods upon the skin, follows the same principle\u00ab, d. h. dass die Gr\u00f6\u00dfenauffassung einer Distanz im umgekehrten Verh\u00e4ltnisse zum Schwellenwerthe derselben steht. Ich kann weder bei Weber noch in den Untersuchungen anderer Autoren irgend eine Bezugnahme auf diesen Punkt finden.\n2)\tArchiv f\u00fcr Physiologie, 1885, S. 98 u. 99.\n3)\tEbenda S. 99.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n211\n\u00a7 4.\nAuch die nachfolgenden Versuche werden wie die vorhergehenden wenig Licht auf den Einfluss der Visualisation werfen, aber die Beschreibung derselben wird dennoch von Interesse sein, sofern hierdurch f\u00fcr die Untersuchung tactiler Richtungswahrneh-mungen eine neue Methode angezeigt sein d\u00fcrfte. Dieselbe ist eine Anwendung des Princips der minimalen Aenderungen. Auf die Haut wurde vermittelst Punkte, welche 10\u00b0 von einander entfernt waren, ein Kreis von 12 mm Durchmesser gezeichnet. Diese Punkte dienten zur Bestimmung der Richtungsver\u00e4nderungen. Die Eindr\u00fccke wurden durch Punkte hervorgerufen, die einen Abstand von 12 mm besa\u00dfen. Zu Anfang des Versuchs war der so erzeugte Eindruck der Gliedachse parallel gerichtet, im weiteren Verlaufe ver\u00e4nderte sich diese Richtung unter stetiger Zunahme von 10 0 bis zur Horizontallage des Reizes. Im selben Sinne wurde schrittweise bis zur urspr\u00fcnglichen Verticallage zur\u00fcckgegangen. In einer zweiten Versuchsreihe wurde sodann der umgekehrte Weg verfolgt, indem wir von der Horizontallage zur Verticallage fortschritten. Bei jeder Ver\u00e4nderung hatte die Versuchsperson die empfundene Richtung des Eindrucks anzugeben. Dieses Verfahren musste nat\u00fcrlich ein wissentliches sein. In jeder Reihe wurden zwei Werthe notirt, n\u00e4mlich der Winkel, welchen der Beobachter als die H\u00e4lfte zwischen der horizontalen und der verticalen Richtung bezeichnete, und sodann derjenige, der einer objectiven Drehung von 90 0 entsprach. Die letztere Angabe bezieht sich je nach dem Anfangspunkte der Versuchsreihe sowohl auf den horizontalen als auf den verticalen Eindruck. Eine zur Verwerthung der Resultate ausreichende Anzahl von Versuchsreihen (18) wurde nur an den Beobachtern P. und T. gemacht. Die Ergebnisse derselben sind nachstehend zusammengefasst. Unterhalb der Angabe 45 \u00b0 ist der Durchschnittswinkel verzeichnet, der subjeetiv als die Mitte zwischen dem horizontalen und dem verticalen Eindruck erkannt wurde, unterhalb \u00bbh\u00ab und \u00bbv\u00ab sind diejenigen eingetragen, welche einem objectiven Drehungswinkel von 90 \u00b0 entsprechen.\nWnndt, Philos. Studien. XI.\n15","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nMargaret Floy Washburn. Tabelle X.\n\tP.\t\t\tT.\t\nV\t\u2022m\u2014>\th\tV\tw,\u2014>\th\n45\u00b0\t\th\t45\u00b0\t\th\n44,5\t\t85,8\t34,1\t\t63,3\nh\t38)\u2014>\u25a0\tV\th\t\u2022m\u2014>\tV\n45\u00b0\t\tV\t45\u00b0\t\tV\n45,8\t\t79,1\t51,6\t\t83,3\nWie man siebt, sind alle unterhalb \u00bbh\u00ab und \u00bbv\u00ab verzeicbneten Winkelgr\u00f6\u00dfen kleiner als 90\u00b0. Hierdurch kommt der gew\u00f6hnlich bei minimalen Aenderungen begangene Fehler zum Ausdruck, der sich eben in der Tendenz kundgibt, dass das Endurtheil zu fr\u00fch abgegeben wird. Die Mitte wird von P. sowohl in der Reihe \u00bbh-^v\u00ab wie in der Reihe \u00bbv-^h\u00ab nahezu unter dem gleichen Winkel gesch\u00e4tzt, das Urtheil \u00bbv\u00ab wird jedoch fr\u00fcher abgegeben als das Urtheil \u00bbh\u00ab. Von T. dagegen wird sowohl die Mitte (45\u00b0) als auch das Ende (90\u00b0) in der Versuchsreihe \u00bbv-\u00bb-h\u00ab subjectiv zu fr\u00fch erreicht. Dies bedeutet, dass die Anzahl der Eindr\u00fccke, welche als auf der h- Seite von 45\u00b0 liegend beurtheilt werden, betr\u00e4chtlich gr\u00f6\u00dfer ist, als diejenigen, welche als auf der v-Seite liegend gesch\u00e4tzt wurden. In den Versuchen nun, die nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle angestellt wurden, wurde das Urtheil \u00bbschief\u00ab (kreuzweise, quer?) nur abgegeben, wenn der Eindruck unter einem Winkel von 45 \u00b0 zu liegen schien. Jede augenscheinliche Neigung zur horizontalen oder verticalen Richtung hin wurde unter die Kategorie der h- oder v-Werthe aufgenommen. Auf diese Weise finden wir die bei den Beobachtern P. und T. nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle gewonnenen Resultate durch die in Rede stehende Untersuchung best\u00e4tigt. Bei Anwendung der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle zeigt sich bei P. ein sehr geringes Ueherwiegen der verticalen Werthe (siehe Tabelle IV), hier dagegen ist bei ihm eine leichte Neigung vorhanden, das Urtheil \u00bbv\u00ab in der Versuchsreihe \u00bbh->v\u00ab verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig fr\u00fcher abzugeben als das Urtheil \u00bbh\u00ab in der Reihe \u00bbv >h\u00ab. Bei T. dagegen zeigt sich, wenn die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle angewandt wird, ein entschiedener Vortheil auf der Seite der horizontalen Eindr\u00fccke, und hier ist die Tendenz vorhanden, die Mehrzahl der zwischen","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n213\n\u00bbh\u00ab und \u00bbv\u00ab gelegenen Eindr\u00fccke als horizontal zu bezeichnen. Diese Versuche beweisen, dass die nach Tabelle IV vorhandenen individuellen Differenzen weder zuf\u00e4llige sind noch der Methode zugeschrieben werden k\u00f6nnen, da auch dem entsprechende Unterschiede in den Resultaten auftreten, die nach einem sehr abweichenden Verfahren gewonnen wurden.\n\u00a7 5.\nSchwierig ist es, aus den Versuchen, die nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle angestellt wurden, den Einfluss der Uebung nachzuweisen. Jedoch kann so viel mit Sicherheit gesagt werden, dass in dieser Arbeit eine bilaterale Wirkung der Uebung, wie sie Volkmann beschreibt, nicht beobachtet wurde. Diese Thatsache ist unserer Theorie gem\u00e4\u00df einfach dem Umstande zuzuschreiben, dass meine Versuchspersonen w\u00e4hrend des Experiments die Augen schlossen oder abwandten. Die v\u00f6llige Abwesenheit der bilateralen Uebung ergibt sich aus den folgenden an der blinden Beobachterin M. aufgenommenen Versuchsreihen. Der Einfluss der Gesichtsassociationen d\u00fcrfte hier als ausgeschlossen betrachtet werden k\u00f6nnen. Die Zahlenangaben beziehen sich auf die ersten Versuche, die an ihr angestellt wurden. Der verwendete Apparat bestand aus Gummispitzen, die in einer Entfernung von 12 mm auseinander standen. An jeder Hand wurden sechs Versuchsreihen mit je zehn Versuchen ausgef\u00fchrt. An den n\u00e4chsten beiden Tagen schritt die Untersuchung in genau der gleichen Weise fort. Die Procents\u00e4tze der richtigen Richtungsbeurtheilungen waren an den ersten drei Tagen f\u00fcr jede Reihe die folgenden:\n\t\tTabelle XI.\t\t\t\nJan.\t22.\tJan.\t23.\tJan.\t24.\nRechts (1)\tLinks (2)\tRechts (3)\tLinks (4)\tRechts (5)\tLinks (6)\n60\t20\t70\t50\t80\t50\n60\t60\t40\t40\t60\t30\n70\t70\t80\t50\t70\t20\n50\t40\t40\t70\t40\t80\n60\t70\t70\t60\t80\t70\n80\t10\t50\t50\t60\t60\n15*","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nMargaret Floy Washburn.\nVergleicht man die ersten Zahlen jeder Reihe, so zeigt sich, dass die Uebung von der einen Hand nicht auf die andere her\u00fcberwirkt. Bei einer Gesammtzahl von 60 Einzelversuchen erreicht die Uebungscurve ihr Maximum ungef\u00e4hr bei der dritten oder vierten Reihe. Nachdem an der rechten Hand 60 Versuche gemacht waren, waren die an der linken Hand gefundenen in Procenten ausgedr\u00fcckten Werthe nicht h\u00f6her, als sie vermuthlich ohne die voraufgegangene Ein\u00fcbung der rechten Hand gewesen w\u00e4ren. Ebenso zeigen die folgenden Zahlen fortlaufend eine Zu- und Abnahme, welche der an der rechten Hand gewonnenen Uebungscurve entspricht. Soweit wir den Einfluss der Uebung w\u00e4hrend einer so kurzen Zeit ermessen k\u00f6nnen, scheint daher jede der symmetrisch angeordneten Stellen in dieser Beziehung unabh\u00e4ngig von der anderen zu sein. Die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle liefert keinen Beweis f\u00fcr eine so schnelle, durch die Uebung bedingte Zunahme der Empfindlichkeit, wie eine solche von Volkmann und Fechner beobachtet wurde. In einem wahrnehmbaren Grade zeigt sich die Uebung nur nach einer Anzahl von 500 bis 600 Versuchen. Als Beleg hierf\u00fcr mag die nachstehende Tabelle angesehen werden. Dieselbe enth\u00e4lt in Procenten ausgedr\u00fcckt die als richtig heurtheilten F\u00e4lle von jedem Zehn der ersten und letzten 60 Beobachtungen, die bei einer Gesammtzahl von 540 Versuchen gewonnen wurden.\nTabelle XII.\nVersuchsperson\tErstes 60\tLetztes 60\tApparat\nM.\t60\t100\t20 mm Spitzenentfernung\n\t60\t100\t\n\t80\t100\t\n\t50\t100\t\n\t100\t100\t\n\t50\t100\t\nAbgesehen von dem Unterschiede, der in der Methode liegt, hin ich geneigt, die schnelle Wirkung der Uebung, welche sich in den Arbeiten Volkmann\u2019s und Fechner\u2019s kundthut, in hohem Ma\u00dfe dem Umstande zuzuschreiben, dass ihre Versuchspersonen","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n215\nw\u00e4hrend der Versuche die Augen ge\u00f6ffnet hatten. Auf diese Weise vereinigten sich die Gesichtseindr\u00fccke mit der in Bezug auf die tactilen Eindr\u00fccke gewonnenen Uebung.\n\u00a7 6.\nEndlich haben wir noch einige Arbeiten in Betracht zu ziehen, die nach Weber\u2019s zweiter Methode1) ausgef\u00fchrt wurden. Dies Verfahren besteht in diesem Falle darin, dass die Versuchsperson mit Ausschluss des Gesichts die ber\u00fchrte Hautstelle anzugeben hat. Der durchschnittlich begangene Fehler wurde von Weber als ein Ma\u00df f\u00fcr die Empfindlichkeit der ber\u00fchrten Hautregion angesehen. Czermak hat jedoch mit Recht darauf hingewiesen, dass fast alle bei Anwendung successiver Reize begangenen Fehler innerhalb der Grenze der Zweiheit gelegen sind, wenn man mit simultanen Reizen arbeitet, und dass der hiervon erhaltene Durchschnittswerth zu klein ausf\u00e4llt, um als Schwelle gelten zu k\u00f6nnen2). Obgleich daher diese Methode nicht dem gleichen Zwecke dienen kann, f\u00fcr den sich Weber\u2019s erste Methode verwenden l\u00e4sst, so k\u00f6nnte eine Untersuchung \u00fcber die Richtung der so begangenen Fehler dennoch zu interessanten Resultaten f\u00fchren. Um zu erfahren, ob eine merkbare Tendenz vorhanden sei, die Eindr\u00fccke nach den Grenzlinien hin oder von diesen fort zu localisiren, stellte ich unter Ber\u00fccksichtigung der Henri\u2019schen Befunde an dem Handgelenk der blinden Versuchsperson M. eine Reihe von Versuchen nach der oben erw\u00e4hnten Methode an. Es resultirte aus denselben eine entschiedene Neigung, die Eindr\u00fccke von allen Grenzlinien zu localisiren. Es wurde bei der Localisation je ein Fehler nach der inneren und \u00e4u\u00dferen Grenzlinie zu begangen, aber die Beobachterin beging 41 Fehler, indem sie von den seitlichen Grenzlinien fort localisirte. Mit Bezug auf die Hautfalte, welche die Hand vom Gelenke trennt, wurden 11 Fehler nach dieser hin und 52 von dieser fort begangen. Herr W. B. Pillsburg, welcher in dieser Beziehung ebenfalls einige Versuche ausf\u00fchrte, die er mir\n1)\tE.H. Weber, Ueber d. Raumsinn. Verhandlungen d. kgl. s\u00e4ehs. Gesellsch. d. Wissenschaften. Math.-phys. Classe. 1852. S. 89,90.\n2)\tCzermak, Physiol. Studien. II. S. 52, 53.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nMargaret Floy Washburn.\nfreundlichst zur Verf\u00fcgung stellte, fand mit Bezug auf die Grenzlinien des Handgelenks die gleiche Localisationstendenz. H\u00f6chstwahrscheinlich erkl\u00e4rt sich die Neigung der blinden Reagentin, alle Eindr\u00fccke innerhalb der Umgrenzungslinien der betreffenden K\u00f6rperstelle zu localisiren, aus muscul\u00e4ren Ursachen, auch ist dieselbe wohl der gr\u00f6\u00dferen Vorsicht zuzuschreiben, welche die Blinden bei allen Bewegungen anzuwenden pflegen. Die oben erw\u00e4hnte Untersch\u00e4tzung der Breite des Armes im Verh\u00e4ltnis zu seiner L\u00e4nge bei dem Blinden ergibt sich auch, wenn man die gr\u00f6\u00dfere Procentzahl der Fehler, welche bei der Sch\u00e4tzung in der Richtung von den Seitenlinien des Armes ab begangen werden, mit derjenigen vergleicht, welche sich in der Mitte der die Hand\u2018von ihrem Gelenke trennenden Linie ergab. Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen scheint Weber\u2019s zweite Methode keine Auskunft zu geben. Ich bin daher au\u00dfer Stande, die oben S. 195 mit Bezug auf Dr. Henri\u2019s Resultate gegebene Erkl\u00e4rung durch einen direct experimentell gef\u00fchrten Beweis zu unterst\u00fctzen.\n\u00a77-\nEine summarische Uebersicht \u00fcber die aus meinen Untersuchungen resultirenden Thatsachen wird auf das deutlichste beweisen, dass die Visualisation ein wichtiger Factor f\u00fcr die Sch\u00e4tzung tactiler Raumwahrnehmungen ist. Mit Bezug auf den Einfluss der Gesichtsassociationen ergeben sich demnach folgende Punkte:\n1 a) Die gr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit derjenigen Eindr\u00fccke, welche transversal zur L\u00e4ngsachse des Gliedes gerichtet sind, fehlt sowohl bei der blinden Versuchsperson als auch bei den beiden Beobachtern, welche nur eine geringe F\u00e4higkeit zu visualisiren besa\u00dfen. Jedoch tritt dieselbe offenbar hervor in allen F\u00e4llen, wo bei sehenden Reagenten ein gr\u00f6\u00dferer Normalreiz angewandt wird. Die gr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit der horizontal gerichteten Eindr\u00fccke ist daher dem Einfl\u00fcsse der Gesichtsassociationen zuzuschreiben, welche bei gr\u00f6\u00dferen Distanzen am wirksamsten sind.\nlb) Das oben erw\u00e4hnte Resultat wird best\u00e4tigt durch Versuche, die mit Bezug auf die Richtung des wahrgenommenen Eindrucks nach dem Princip der minimalen Aenderungen angestellt wurden.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n217\n1 c) Diejenigen Reagenten, welche horizontale Eindr\u00fccke besser percipiren als verticale, untersch\u00e4tzen auch die Ber\u00fchrungsdistanz zwischen zwei gegebenen Punkten. Hieraus ergibt sich, dass sie bei der Beurtheilung des tactilen Eindrucks in sehr geringem Grade von Gesichtsassociationen Gebrauch machen.\n2)\tWenn die Reagenten aufgefordert werden zu visualisiren, so liegen die \u00e4quivalenten Verh\u00e4ltnisse der Einheit n\u00e4her, als wenn diese Tendenz unterdr\u00fcckt wird. Camerer\u2019s Methode der Aequi-valente wird sich daher wahrscheinlich aus dem Vorg\u00e4nge der Visualisation erkl\u00e4ren.\n3)\tEine so schnelle Zunahme der Empfindlichkeit, wie Fechner und Volkmann beobachteten, wird durch die Uebung nicht bewirkt. Ebenso wenig ist aus meinen Versuchen eine bilaterale Uebertragung der Uebnng nachweisbar.\n4)\tObgleich die blinde Reagentin die Zweiheit viel besser per-cipirte als die anderen Versuchspersonen, so zeigte sich dennoch bei ihr mit Bezug auf die Perception der Richtung keine Ueberlegen-heit. Von den beiden Personen dagegen, welche die gr\u00f6\u00dfte F\u00e4higkeit zu visualisiren besa\u00dfen, wurde gerade die Richtung am besten beurtheilt. Wir sind daher zu dem Schl\u00fcsse berechtigt, dass die Gesichtsassociationen die Perception der relativen Richtung zweier punctueller Eindr\u00fccke auf der Hand in hohem Ma\u00dfe unterst\u00fctzen.\nBeil\u00e4ufig ergab die Untersuchung noch einige weitere Resultate :\n5)\tMan kann eine deutliche Vorstellung von der Zweiheit besitzen, ohne dabei die relative Richtung der beiden punctuellen Eindr\u00fccke richtig beurtheilen zu k\u00f6nnen.\n6)\tDie Perception der Richtung vollzieht sich bei continuir-lichen Eindr\u00fccken besser als bei punctuellen.\n7)\tDie blinde Reagentin hatte eine Tendenz, die Breite ihres Armes im Verh\u00e4ltniss zu dessen L\u00e4nge zu untersch\u00e4tzen. Diese Erscheinung ist wahrscheinlich einer gewissen muscul\u00e4ren Association zuzuschreiben.\nEs w\u00e4re von gro\u00dfem Nutzen eine Methode zu ersinnen, mit deren H\u00fclfe man den dem Gesichtssinn zugeh\u00f6rigen Factor bei normalen Reagenten \u00fcberhaupt eliminiren k\u00f6nnte. Aber eine solche Aufgabe erscheint undurchf\u00fchrbar. Zu einer Zeit glaubte ich, darin eine H\u00fclfe zu erblicken, wenn ein geschickter Reagent sich bem\u00fchen","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nMargaret Floy Washburn.\nk\u00f6nnte, diese Tendenz zur\u00fcckzudr\u00e4ngen, indem er w\u00e4hrend des Versuchs ein anderes bestimmtes Gesichtsbild als das der zu untersuchenden Hautstelle in den Vordergrund des Bewusstseins treten lie\u00df. Aber es scheint kein zuverl\u00e4ssiges Mittel zu geben, die so entstehende Zerstreuung der Aufmerksamkeit in den entgegengesetzten Versuchsreihen wieder auszugleichen, und ein Versuch dieser Methode ergab, dass dieselbe an die Selbstcontrole des Reagenten eine zu gro\u00dfe Anforderung stellte. Trotz der Unm\u00f6glichkeit, den Einfluss der Gesichtsassociationen zu eliminiren oder zu isoliren, muss die Anwesenheit derselben aber dennoch bei allen Versuchen, die \u00fcber tactile Raumwahmehmungen angestellt werden, mit in Rechnung gezogen -werden. Der Nachweis dieser Behauptung war der Gegenstand dieser Untersuchung.\n\u00a7 8.\nIn einem Schlusscapitel dieser experimentellen Arbeit sei mir endlich noch gestattet, in K\u00fcrze meine mit Bezug auf die Methodik gewonnenen Erfahrungen mitzutheilen. Bei der Beschreibung einer Untersuchung hat man nur zu oft den Eindruck, dass dieselbe ohne irgend welche Schwierigkeiten durchgef\u00fchrt ward, dass alle Versuchsreihen den gleichen Erfolg ergaben und dass sich bei allen Reagenten die zu untersuchenden Ph\u00e4nomene in gleich regul\u00e4rer Weise zeigten. Wenn jedoch die Bedingungen nicht ausnahmsweise g\u00fcnstige sind, so m\u00fcssen thats\u00e4chlich im Laufe jeder Untersuchung einige Reagenten von den Versuchsreihen ausgeschlossen werden. Dies ist in besonderem Ma\u00dfe bei den Abstufungsmethoden der Fall. Es ist vielleicht nicht zu viel behauptet, dass gewisse im \u00fcbrigen normal angelegte Personen bei einer hinreichenden Anzahl von Beobachtungen mit Erfolg bei Anwendung der Fehlermethoden verwendet werden k\u00f6nnen, die sich bei der Verwendung der Abstufungsmethoden in Folge zu geringer F\u00e4higkeit sich selbst zu controliren und wegen Mangels anUebung als unbrauchbar erweisen. Denn die Abstufungsmethode setzt ein wissentliches Verfahren voraus, und unge\u00fcbte Personen schwanken sehr zwischen dem Wunsche, gute Reihen zu liefern, welches, wie sie wissen, der Zweck der","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n219\nUntersuchung ist, und der Besorgniss, kein voreingenommenes Urtheil abzugeben. Bei einigen Versuchen, die ich nach der Methode der A \u00e9quivalente anstellte, machte ich die Erfahrung, dass dieselben aus diesem Grunde sich als v\u00f6llig unbrauchbar erwiesen. In besonderem Ma\u00dfe ist hierbei die Anwendung der Methode der minimalen Aende-rungen denjenigen Fehlerquellen ausgesetzt, die sich bei jedem wissentlichen Verfahren ergeben. Bei der gew\u00f6hnlichen Anwendung der minimalen Aenderungen handelt es sich nicht wie bei den Ae qui valenten um Theile, die eine ungleiche Empfindlichkeit besitzen. Man kann im Gegentheil annehmen, dass die objective Gleichheit zwischen den Reizen innerhalb der Grenzen der Unterschiedsschwelle der subjectiven Gleichheit entspricht und dass sich daher in Folge einer objectiven Bestimmung ein festgesetzter Punkt ergibt, von dem aus die Reihe der Ver\u00e4nderungen zu beginnen hat. Bei den Aequivalenten dagegen ist der Punkt der subjectiven Gleichheit das Ziel, nicht der Ausgangspunkt der Untersuchung, hier ist daher keine objective Basis vorhanden.\nDiese Ungewissheit mit Bezug auf den Ausgangspunkt ist vielleicht der Grund f\u00fcr eine Erscheinung, welche bei meinen nach der Aequivalenzmethode ausgef\u00fchrten Versuchen h\u00e4ufig beobachtet ward, dass n\u00e4mlich das erste Urtheil einer Versuchsreihe fast immer unzuverl\u00e4ssig war. Als Beispiel f\u00fchre ich einen Theil einer solchen Reihe an.\nNormalreiz am Handgelenk = 15,75 mm (= N) Variabler Reiz am Daumen\t(= V)\nAnordnung\tUrtheil\nv \u2014 6 mm\t\nn\u2014 r\tGr\u00f6\u00dfer am Daumen\nr\u2014N\tKleiner \u00bb\t\u00bb\nv = 6,25 mm\t\njsr\u2014 v\tKleiner am Daumen\nV\u2014N\t\u00bb \u00bb >\nHier steht das Urtheil \u00bbgr\u00f6\u00dfer\u00ab in v\u00f6lligem Widerspruch zu den letzten Versuchen der Reihe, welche mit absoluter Regelm\u00e4\u00dfigkeit auftreten. Hierdurch wird eine Kritik der von C amer er verwandten Methode m\u00f6glich. Er begann seine Versuchsreihen,","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nMargaret Floy Washburn.\nindem er den variablen Reiz merklich gr\u00f6\u00dfer nahm als den Normalreiz. Dann verminderte er den variablen Reiz. Zu dem n\u00f6thigen Ma\u00dfe der Abnahme wurde er, wie er sagt, durch die Sch\u00e4tzung der relativen Gr\u00f6\u00dfe des variablen und normalen Reizes, welche der Reagent in den ersten Versuchen vollzog, gef\u00fchrt, \u2014 \u00bbdenn seine Urtheile lauteten z. B. \u00bbviel zu gro\u00df\u00ab, oder \u00bbnur wenig zu gro\u00df\u00ab1). Hier bestimmt das Anfangsurtheil, welches, wie wir hervorhoben, g\u00e4nzlich unzuverl\u00e4ssig ist, die Gr\u00f6\u00dfe der zu verwendenden Zunahme.\nEs ist jedoch in der Methode nach Aequivalenten mit Bezug auf diejenigen Versuche, welche sich auf die Anordnung \u00bbVariabel \u2022\u2014 Normal\u00ab beziehen, noch eine andere Fehlerquelle vorhanden. Dieselbe besteht in der Tendenz, die Gr\u00f6\u00dfe der ersten gegebenen Distanz absolut zu beurtheilen, d. h. wenn der variable Reiz zuerst gegeben wird, so ist eine Neigung vorhanden, das Urtheil nicht bis zum zweiten Eindruck, der verglichen werden soll, zu verschieben, sondern den variablen Reiz sofort als \u00bbziemlich klein\u00ab, \u00bbungew\u00f6hnlich gro\u00df\u00ab etc. zu beurtheilen. Diesem voreiligen Sch\u00e4tzen, welches sich nicht auf den Normalreiz, sondern auf einen im Ged\u00e4chtniss haftenden fr\u00fcheren Eindruck bezieht, sollte durch Selbstcontrole sorgf\u00e4ltig vorgebeugt werden. Es ist, wie es scheint, allen Methoden eigen, welche sich auf eine Vergleichung zweier successiver Eindr\u00fccke beziehen.\n\u00a7 9.\nDie Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle wurde bei meinen Versuchen, wie oben angegeben, auf zweifache Weise angewandt. In der ersten Versuchsanordnung waren alle gegebenen Eindr\u00fccke (10) einer Versuchsreihe vertical oder horizontal; einige wenige Nullversuche oder Versuche mit nur einem punctuellen Eindruck wurden au\u00dferdem angestellt, um das Z\u00e4hlen seitens des Reagenten zu verh\u00fcten. Nach der zweiten Versuchsanordnung wurde in der folgenden Weise regelrecht variirt: 2 v, 2 h, 3 v, 3 h, 3 v, 3 h, v, h, v, h; im ganzen wurden so 10 verticale und 10 horizontale Eindr\u00fccke\n1) Zeitschrift f\u00fcr Biologie, XXIII, 512.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n221\nhervorgerufen. In beiden F\u00e4llen war das Verfahren nat\u00fcrlich ein unwissentliches. Es ergab sich, dass die Schwankungen der Aufmerksamkeit, sowie diejenigen, welche aus der Erwartung resultiren, in den \u00bbuniformen\u00ab Versuchsreihen viel deutlicher hervortraten, obgleich die Gesammtsumme der aus 1200 Versuchen gewonnenen Resultate bei jeder der beiden Verfahrungsweisen in keinem merkbaren Grade von einander dilferirten. Um m\u00f6glicherweise eine genauere Kenntniss von der Natur dieser Schwankungen zu gewinnen, wurde eine sorgf\u00e4ltige Pr\u00fcfung der aus 170 Versuchsreihen erhaltenen Urtheile vorgenommen. Mit Ausnahme von 50 Urtheilen waren dieselben alle von der Versuchsperson P. abgegeben worden, welche sich mit Bezug auf die Genauigkeit des Urtheils derartigen Schwankungen in besonderem Ma\u00dfe unterworfen zeigte. Aus dieser Pr\u00fcfung resultirten verschiedene interessante Thatsachen.\nDieselben beziehen sich zun\u00e4chst auf jenen st\u00f6renden Factor, der als Erwartung bekannt ist. Definirt man die letztere als ein klares oder dunkles Vorherwissen des n\u00e4chstfolgenden Eindrucks, so zeigt sich dieselbe in diesen Versuchen deutlich in dreifacher Weise. Zun\u00e4chst ist mit Bezug auf den n\u00e4chstfolgenden Eindruck seitens des Reagenten oft eine bestimmte Erwartung vorhanden. Wenn z. B. eine Anzahl von Urtheilen als \u00bbvertical\u00ab abgegeben worden ist, so stellt sich bei dem Reagenten die Meinung heraus, dass jetzt die Zeit f\u00fcr einen Wechsel da sei, oder dass seine Aufmerksamkeit w\u00e4hrend der vorhergehenden Versuche vielleicht weniger gespannt gewesen sei, und indem er dieselbe nun mit Ueberlegung auf einen horizontalen Eindruck richtet (vielleicht besser : indem er sich nun vors\u00e4tzlich auf einen horizontalen Eindruck vorbereitet), wird das n\u00e4chste als \u00bbhorizontal\u00ab bezeichnete \u00dcTtheil oft g\u00e4nzlich falsch ausfallen. Es ist seltsam, an den Resultaten zu beobachten, wie der Reagent sich fast unwissentlich bem\u00fcht, in seine Versuchsreihen eine Regelm\u00e4\u00dfigkeit zu bringen. Das erste und zweite Urtheil einer Versuchsreihe, welche g\u00e4nzlich aus horizontalen Eindr\u00fccken bestand, lautete z. B. \u00bbvertical\u00ab \u2014 \u00bbhorizontal\u00ab. Dies lie\u00df vermuthlich den Reagenten auf die M\u00f6glichkeit eines Wechsels der Eindr\u00fccke schlie\u00dfen. Demzufolge wurden in den n\u00e4chsten sechs Versuchen in v\u00f6llig regelrechter Abwechselung die Urtheile \u00bbvertical\u00ab \u2014 \u00bbhorizontal\u00ab abgegeben. Sodann wurden zwei Nullversuche","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nMargaret Floy Washburn.\nangestellt (die Eindr\u00fccke wurden nur durch eine Spitze hervorgerufen), aber das abgegebene Urtheil lautete ebenfalls \u00bbvertical\u00ab \u2014 \u00bbhorizontal\u00ab. Bei einem dritten Nullversuche jedoch wurde diese Tendenz aufgehoben, der Eindruck wurde correct als einfach per-cipirt.\nDie zweite Form der \u00bbErwartung\u00ab, welche sich in den Versuchen zeigte, ist der Unaufmerksamkeit zuzuschreiben und ist scheinbar eine Art Angew\u00f6hnung. Nach Abgabe von zwei oder drei gleichen Urtheilen stellt sich eine Tendenz heraus, f\u00fcr einige folgende Versuche bei diesem abgegebenen Urtheile zu verharren. Es folgte z. B. eine. Reihe von horizontalen Eindr\u00fccken auf derselben Hautstelle unmittelbar auf eine solche von verticalen oder umgekehrt, dem Reagenten aber wurde weder angezeigt, wo die eine Reihe, in die andere \u00fcberging, noch wurde ihm gesagt, wo die Richtung der Eindr\u00fccke ge\u00e4ndert ward. Hier trat regelm\u00e4\u00dfig der Fall ein, dass die ersten zwei oder drei Eindr\u00fccke der Reihe den letzten der ersten Versuchsreihe gleich beuxtheilt wurden. Die Gewohnheit beharrte, bis der Reagent den Wechsel gewahr wurde. Dieser Angew\u00f6hnung wirkte ein anderes sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnendes Princip entgegen, \u2014 n\u00e4mlich die M\u00f6glichkeit, dass die Wahrnehmung eines Unterschiedes mit einer falschen Vorstellung zusammentrifft.\nDrittens scheint zuweilen eine besondere geistige Vorbereitung f\u00fcr eine Art von Eindr\u00fccken vorhanden zu sein, welche durch alle an einem Tage angestellten Versuche fortbesteht. W\u00e4hrend einer ganzen Untersuchungsstunde bevorzugt der Reagent in diesem Falle ein bestimmtes Urtheil, mag dieses nun horizontal oder vertical lauten. Diese Tendenz ist eine Parallele zu der von Me um an n bei seinen Zeitsinn versuchen gemachten Beobachtung1). Eine \u00e4hnliche Neigung wurde ebenso oft in \u00bbvariirten\u00ab als in \u00bbuniformen\u00ab Reihen beobachtet. Der Grund hierf\u00fcr scheint in den allgemeinen Bedingungen, denen die Aufmerksamkeit unterworfen ist, zu liegen.\nAu\u00dfer den eben beschriebenen Ph\u00e4nomenen ist die Wirkung, welche die Einschiebung der Nullversuche auf die Urtheile einer uniformen Reihe aus\u00fcbt, der Beachtung werth. Aus einer sorg-\n1) Philos. Studien IX, 2. S. 265.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n223\nfaltigen Untersuchung der experimentell gewonnenen Resultate haben sich folgende Regeln ergeben: 1) Sind die bisherigen Eindr\u00fccke einer Versuchsreihe richtig beurtheilt worden, so verwirrt ein einziger Nullversuch, vorausgesetzt dass derselbe richtig erkannt ist, leicht die zwei oder drei unmittelbar darauf folgenden Eindr\u00fccke. 2) Sind die bisherigen Eindr\u00fccke einer Versuchsreihe falsch beurtheilt worden, so werden nach einem einzigen richtig erkannten Nullversuch auch fast immer die folgenden Eindr\u00fccke richtig aufgefasst. Kurz, wo alle Eindr\u00fccke von derselben Art sind, wird durch die Einschiebung eines einzigen richtig beurtheilten Nullversuchs eine gute Versuchsreihe beeintr\u00e4chtigt und eine schlechte verbessert. Der erste Fall erkl\u00e4rt sich einfach aus dem Umstande, dass durch die Einschiebung eines v\u00f6llig verschiedenen Eindrucks in eine uniforme Reihe die Gew\u00f6hnung unterbrochen und die Aufmerksamkeit neu gespannt wird. Wo vier oder f\u00fcnf auf einander folgende Eindr\u00fccke richtig aufgefasst wurden, ist es wahrscheinlich, dass die letzten beiden Urtheile aus der Gew\u00f6hnung resultirten und dass die Aufmerksamkeit zu erschlaffen angefangen hatte.\nWenn der interpolirte Nullversuch ein so starkes Unterschiedsbewusstsein mit sich f\u00fchrt, dass derselbe richtig beurtheilt wird, so zeigen die folgenden Versuche eine St\u00f6rung oder Unte-brechung der vordem bestehenden Gew\u00f6hnung in der Form eines verwirrten oder falschen Urtheils. Wenn andererseits die vorausgegangenen Urtheile incorrect waren, so scheint die Einf\u00fchrung eines von den andern Eindr\u00fccken als so deutlich verschieden erkannten Reizes die Seele mit einer Art von point de rep\u00e8re zu versehen, wovon man bei den n\u00e4chsten Versuchen Gebrauch machen kann.\nWir haben bereits von der Existenz eines Unterschiedsbewusstseins gesprochen, bei dem jedoch die Bedeutung dieses Unterschiedes nicht bekannt ist. Dieses Ph\u00e4nomen zeigte sich im Laufe dieser Versuche immer wieder, gew\u00f6hnlich wenn der Charakter der Eindr\u00fccke sich \u00e4nderte, als ein merkw\u00fcrdiger Umschwung des Urtheils. Wenn z. B. auf eine Reihe verticaler Eindr\u00fccke pl\u00f6tzlich eine Reihe horizontaler folgt, so wird der erste Eindruck der letzteren leicht als \u00bbein Punkt\u00ab oder \u00bbschief\u00ab beurtheilt. Dies zeigt, dass der Reagent wohl den Wechsel wahrgenommen hat, aber dennoch den-","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nMargaret Floy Washburn.\nselben nicht genau bezeichnen kann. Diese Unsicherheit w\u00e4hrt bis zum zweiten oder dritten Eindruck der neuen Reihe. In mehreren F\u00e4llen wurden der erste und der zweite Eindruck der neuen Reihe beurtheilt als \u00bbein Punkt, \u2014 schief\u00ab, der dritte jedoch richtig als \u00bbhorizontal\u00ab oder \u00bbvertical\u00ab. Hieraus ergibt sich, dass die wirkliche Natur des Wechsels erst allm\u00e4hlich in\u2019s Bewusstsein tritt. Zuweilen auch wird, wenn die letzten Eindr\u00fccke der ersten Reihe falsch beurtheilt wurden, n\u00e4mlich als vertical in einer horizontalen Reihe, das Urtheil \u00bbhorizontal\u00ab f\u00fcr die ersten zwei oder drei Versuche abgegeben, sobald die Reihe der wirklich verticalen Eindr\u00fccke beginnt. Diese F\u00e4lle liefern eine interessante Best\u00e4tigung der k\u00fcrzlich von K\u00fclpe mit Nachdruck hervorgehobenen Thatsache, dass das Allgemeine in der Regel leichter reproducirt wird als das Besondere.\n\u00a7 io.\nDas praktisch verwerthbare Resultat, zu welchem die vorstehenden Betrachtungen gef\u00fchrt haben, ist, dass wenigstens bei diesen Untersuchungen \u00fcber die Hautempfindungen ein regelrecht variirtes Verfahren einem vollst\u00e4ndig uniformen oder v\u00f6llig irregul\u00e4ren vorzuziehen ist. Das eine beg\u00fcnstigt die Unaufmerksamkeit und die Ausbildung der Gew\u00f6hnung, das andere ver\u00e4ndert zu sehr die Bedingungen verschiedener Versuchsreihen; denn der Einfluss, den ein abgegebenes Urtheil auf das n\u00e4chstfolgende aus\u00fcbt, ist, wie wir gesehen haben, ein wichtiger Factor. Um die M\u00f6glichkeit eines solchen Einflusses zu vermeiden, stellte Ca me rer seine Versuche mit langen Zwischenpausen an, \u2014 einen Zeitraum von f\u00fcnf Minuten in einer Untersuchung und eine halbe Stunde Zwischenzeit in einer anderen1). Aber dieses Verfahren schreitet zu langsam fort, wo es sich, wie bei der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle, um eine gro\u00dfe Anzahl von Versuchen handelt. Dasselbe erreicht man, wenn man den Einfluss, der sich bei den voraufgehenden Versuchen geltend machte, auch bei den nachfolgenden constant erh\u00e4lt. Dieses kann bei regelrechtem Variiren\n1) Fechner, Ueber d. Methode d. richtigen u. falschen F\u00e4lle u. s.w. Abhdlg. d. math.-phys. Classe d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wissenschaften. XIII, S. 130.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen etc.\n225\ngeschehen. Werden bei diesem Verfahren Nullversuche angewandt, so kommen diese immer in derselben Anzahl und in der gleichen Reihenfolge vor. Die Aufmerksamkeit wird in diesem Falle nicht, wie bei den uniformen Reihen, erschlaffen. Ebenso wird die Versuchsperson die Anordnung nicht erkennen, es sei denn dass dies absichtlich versucht wird. Mit Bezug auf den letzten Punkt stellte ich bei der Reagentin M. eine Pr\u00fcfung an, bei welcher 130 in gleicher Weise variirte Versuchsreihen (nach dem oben erw\u00e4hnten Thema 2 v, 2 h etc.) ausgef\u00fchrt wurden. Eine Kenntniss dieser Versuchsanordnung w\u00fcrde ihrerseits die Tendenz erzeugt haben, dieselbe Reihenfolge der Urtheile beizubehalten, wenn eine uniforme Reihe substituirt ward. Eine solche Tendenz zeigte sich jedoch nicht.\nEndlich ist noch ein letzter Punkt werth hervorgehoben zu werden. Nach der aus diesen Versuchen gewonnenen Erfahrung ist eine zu gro\u00dfe Spannung der Aufmerksamkeit ebenso wenig von Vortheil als eine zu geringe. Die f\u00fcr das Urtheilen g\u00fcnstigste Bedingung scheint vorhanden zu sein, wenn der Reagent zwischen den Versuchen von einem bestimmten nicht zu anstrengenden Gedankengange in Anspruch genommen ist; er wird denselben unterbrechen m\u00fcssen, um seine Aufmerksamkeit ganz dem Eindruck zuzuwenden. Das Urtheil wird in diesem Falle schnell erfolgen und dabei bestimmt und genau abgegeben werden. Wenn ihm dagegen Zeit gelassen wird, sein Urtheil zu \u00fcberlegen oder \u00fcber das n\u00e4chstfolgende nachzudenken, so wird die Urtheilsreihe den oben beschriebenen Schwankungen unterworfen sein.","page":225}],"identifier":"lit4528","issued":"1895","language":"de","pages":"190-225","startpages":"190","title":"Ueber den Einfluss der Gesichtsassociationen auf die Raumwahrnehmungen der Haut","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:34:06.000333+00:00"}