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{"created":"2022-01-31T14:17:03.436430+00:00","id":"lit4529","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Heller, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 226-253","fulltext":[{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"Studien Zur Blinden-Psychologie.\nVon\nTheodor Heller.\nEinleitung.\nIn der letzten Zeit macht sich das Bed\u00fcrfniss nach einer psychologischen Grundlegung der Blindenp\u00e4dagogik immer dringender geltend. Die Behandlung derselben von rein praktischen Gesichtspunkten aus, welche bis jetzt allen Fortschritt begr\u00fcndet hatte, lie\u00df angesichts neuer, immer schwieriger werdender Aufgaben die Blindenbildung im Stiche, so dass diese im letzten Jahrzehnt kaum einen Schritt vorw\u00e4rts machen konnte.\nDie vorliegende Arbeit will durchaus nicht beanspruchen, eine ersch\u00f6pfende Darstellung des psychologischen Verhaltens der Blinden zu geben, sie hat sich vielmehr die Aufgabe gestellt, der blindenpsychologischen Untersuchung neue Gesichtspunkte zu er\u00f6ffnen, um dieselbe von den Irrwegen unfruchtbarer Speculation und planlosen Experimentirens auf das allein erfolgreiche Gebiet der refiectirenden Beobachtung zur\u00fcckzulenken. In diesem Sinne habe ich es im Folgenden vermieden, allzusehr auf Einzelheiten einzugehen, behalte es mir aber f\u00fcr meine k\u00fcnftige Wirksamkeit vor, jene speciellen Fragen, die ich hier nur kurz streifen konnte, zum Gegenstand besonderer Untersuchungen zu machen.\nDem Verlaufe der Arbeit stellten sich mannigfache \u00e4u\u00dfere und innere Schwierigkeiten entgegen. Die ersteren sind vor allem darin","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n227\nbegr\u00fcndet, dass den Ausgangspunkt der Untersuchung das psychologische Verhalten der Blindgeborenen oder im ersten Lebensjahr Erblindeten bildet, die keine Spur von Farben und Helligkeiten empfinden. Diese F\u00e4lle sind aber au\u00dferordentlich selten, zumal in neuerer Zeit die verheerende Ophthalmia neonatorum dank dem prophylaktischen Verfahren Cred\u00e9\u2019s bedeutend zur\u00fcckgegangen ist. Man pflegt nun in der Regel diesen Blinden jene in Bezug auf die Entwicklung ihrer Tastvorstellungen gleichzustellen, welche zu einer Zeit ihr Augenlicht eingeb\u00fc\u00dft haben, aus der keine Erinnerung an gehabte Gesichtseindr\u00fccke im sp\u00e4teren Alter vorhanden ist. Aber im zweiten, dritten und vierten Lebensjahr ist sicherlich die Entwicklung des Bewusstseins schon soweit fortgeschritten, dass in der ersten Zeit der Erblindung Gesichtsvorstellungen noch wirksam sind, welche zur Deutung des Tastraums Verwendung finden. Gesichtsund Tastraum l\u00f6sen hier nicht einander ab, sondern stehen zun\u00e4chst in innigster Wechselwirkung. Sp\u00e4terhin treten die Gesichts Vorstellungen allerdings vollkommen zur\u00fcck, aber von einer v\u00f6llig selbst\u00e4ndigen Entwicklung des Tastraums kann in diesem Falle wohl kaum gesprochen werden. Blinde, bei welchen die Retina nicht vollkommen zerst\u00f6rt ist und die deshalb Helligkeiten noch wahrnehmen k\u00f6nnen, erfassen h\u00e4ufig die allgemeinsten r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse, wie Gr\u00f6\u00dfe und Entfernung, durch den Gesichtssinn und commentiren auf diese Weise ihre Tastvorstellungen. Diese mit einem \u00bbSchein\u00ab begabten Blinden sind deshalb den absolut Blinden bez\u00fcglich der Entwicklung extensiver Vorstellungen nicht gleichzustellen. Dies gilt aber vorzugsweise von jenen Personen, welche nach dem vierten Lebensjahr ihr Augenlicht verloren haben. Dieselben verhalten sich in gewissem Sinne in Bezug auf ihre Raumvorstellung den Blindgeborenen gerade entgegengesetzt, indem sie zeitlebens in \u00e4hnlicher Weise durch Reproductionen von Gesichtsbildern bestimmt werden wie der Sehende, der im Dunkeln tastet, wobei allerdings die Vorstellungen der Farben mit zunehmendem Alter immer mehr verblassen1).\n1) Ein 37j\u00e4hriger Mann, der im zehnten Lebensjahre erblindet war, gab an, dass er sich die Objecte in indifferenter F\u00e4rbung vorstelle, die er jedoch nicht genauer bezeichnen konnte. Der im zw\u00f6lften Lebensjahre erblindete, gegenw\u00e4rtig 32 Jahre alte Sprachlehrer Richard H. behauptet zwar, die verschiedenen Objecte Wundt, Philos. Studien. XI.\ti\u00df","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nTheodor Heller.\nIst es aber gelungen, Versuchspersonen zu ermitteln, deren objective Erkenntniss in keiner Weise durch Gesichtsvorstellungen bestimmt ist, so bleiben noch immer Schwierigkeiten zu \u00fcberwinden, welche der Untersuchung nicht minder hemmend entgegentreten. Es geht nicht an, Blinde ohne weiteres zur Darstellung ihrer inneren Erlebnisse zu veranlassen, wie dies fr\u00fcher h\u00e4ufig genug geschehen ist. Man darf nicht vergessen, dass man psychologisch vollst\u00e4ndig ungeschulten Personen gegen\u00fcbersteht, die leicht geneigt sind, Producte ihrer Phantasie f\u00fcr thats\u00e4chlich Erlebtes zu halten. Es ist deshalb nothwendig, die Selbstbeobachtung des Blinden zun\u00e4chst zweckm\u00e4\u00dfig zu leiten, derselben zuerst einfache Aufgaben zu stellen, welche vom Sehenden leicht controlirt werden k\u00f6nnen, und erst sp\u00e4terhin, wenn man sich von der Verl\u00e4sslichkeit der Angaben hinl\u00e4nglich \u00fcberzeugt hat, zu complicirteren Beobachtungen fortzuschreiten. Solche einfache Verh\u00e4ltnisse bietet die Untersuchung des Baumsinnes nach der von Weber angewendeten Methode dar. Um Verwirrungen vorzubeugen, erweist es sich ferner als erforderlich, die blinden Versuchspersonen mit der \u00fcblichen psychologischen Terminologie bekannt zu machen. Zur Erl\u00e4uterung derselben w\u00e4hlte ich m\u00f6glichst einfache Beispiele aus der t\u00e4glichen Erfahrung, ohne mich auf umfassende Auseinandersetzungen einzulassen, die der Versuchsperson leicht die n\u00f6thige Unbefangenheit nehmen k\u00f6nnen. War aber auf diese Weise eine gen\u00fcgende Voraussetzung f\u00fcr die psychologische Untersuchung geschaffen, so kam derselben sp\u00e4terhin jene Concentration der Aufmerksamkeit auf innere Vorg\u00e4nge trefflich zu statten, welche schon Diderot als kennzeichnend f\u00fcr das Geistesleben der Blinden hervorgehoben hat.\nIch f\u00fchle mich verpflichtet, an dieser Stelle allen meinen Versuchspersonen, namentlich Frl. Anna P\u00f6tsch und Herrn Oscar Schorch, welche sich mit hingebungsvollem Eifer an der Untersuchung betheiligt haben, meinen herzlichsten Dank auszusprechen.\nin den entsprechenden Farben sich vorzustellen, wei\u00df aber nicht, ob diese mit den unmittelbar wahrgenommenen vollkommen \u00fcbereinstimmen. Besonders genau erinnert er sich an Schwarz, Wei\u00df und Both, die er bei der Sedanfeier im Jahre 1870 an den ausgesteckten Fahnen gesehen hatte und welche damals seine kindliche Aufmerksamkeit erregten.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n229\nI. Das Tasten der Blinden.\nDer Tastsinn ist die einzige Quelle r\u00e4umlicher Erkenntniss f\u00fcr den Blindgeborenen. Dem Sehenden stehen in physiologischer Hinsicht zwei Raumsinne zur Verf\u00fcgung, Tast- und Gesichtssinn. Auf die Sensationen beider Sinne antwortet aber die Psyche stets in derselben Weise. Wenn auch die Aufmerksamkeit noch so sehr auf die Wahrnehmungen des Tastsinnes concentrirt wird, so tritt doch stets ein Gesichtsbild in den Blickpunkt des Bewusstseins. Beim Blinden treffen \u00e4u\u00dfere und innere Bedingungen der Raumauffassung stets zusammen: der Tastsinn ist der einzige Raumsinn des Blinden nicht blo\u00df in psychologischer, sondern auch in physiologischer Hinsicht. Dies muss um so eher betont werden, als wiederholt sowohl von Seiten der Blindenp\u00e4dagogik als auch der allgemeinen Psychologie behauptet worden ist, dass dem Geh\u00f6rssinne urspr\u00fcngliche r\u00e4umliche Functionen zukommen, ja dass dieser der bevorzugte Raumsinn des Blinden sei1). Das Geh\u00f6r ist aber nur zur Perception intensiver Qualit\u00e4ten bef\u00e4higt und darum ordnet es alle seine Empfindungen zun\u00e4chst lediglich in das Zeitschema ein. Von den anderen intensiven Sinnen unterscheidet sich jedoch der Geh\u00f6rssinn bedeutungsvoll dadurch, dass er in nahe associative Beziehung zu den Raumsinnen zu treten vermag. Dies \u00e4u\u00dfert sich namentlich beim Blinden: hier ist der Geh\u00f6rs- zweifellos dadurch vor dem Tastsinn bevorzugt, dass er als eminent objectiver Sinn nicht etwa Vorstellungen blo\u00df von solchen Gegenst\u00e4nden vermittelt, die unmittelbar das Sinnesorgan ber\u00fchren, sondern gleichsam in die Ferne wirkt, alle Ger\u00e4usche und T\u00f6ne in eine, wenn auch zun\u00e4chst unbestimmte Entfernung verlegt. Die n\u00e4here r\u00e4umliche Bestimmung der Schalleindr\u00fccke erfolgt erst durch Vermittelung des Tastsinnes. Ist aber die r\u00e4umliche Deutung derselben gen\u00fcgend einge\u00fcbt, dann txitt allerdings der von Anfang an blo\u00df intensive Sinn in eine wichtige Beziehung zur Raum Vorstellung : er befl\u00fcgelt gleichsam die Tasteindr\u00fccke, indem er es erm\u00f6glicht, die Raumvorstellung des\n1) Vergleiche Cap. II dieser Abhandlung.\n16*","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nTheodor Heller.\nBlinden \u00fcber die engen Grenzen der unmittelbaren Tastwahrnehmung hinaus zu erweitern. Es ist demnach nicht in Abrede zu stellen, dass das Geh\u00f6r eine hohe Bedeutung f\u00fcr die Raumvorstellung des Blinden gewinnt, aber die r\u00e4umlichen Eigenschaften dieses Sinnes sind s\u00e4mmtlich hervorgegangen aus der innigen Association mit Tastwahrnehmungen, und dies \u00e4ndert somit nichts an der Thatsache, dass der Tastsinn der einzige Raumsinn des Blinden ist.\nMit der Frage nach der Theilnahme des Geh\u00f6rs an der Vermittelung r\u00e4umlicher Beziehungen ist vielfach die wesentlich andere zusammengeworfen worden, ob das psychologische Verhalten des Blinden im selben Umfang durch die extensiven Vorstellungen des Tastsinnes bestimmt werde, wie das des Sehenden durch die Vorstellungen des Lichtsinnes. Dies ist in der Regel von der Blindenp\u00e4dagogik vorausgesetzt worden, und man hat hierbei v\u00f6llig eine der wichtigsten Aufgaben des Blindenunterrichtes verkannt, welche darin besteht, den Blinden durch die Ausbildung des Tastsinnes zur Entwicklung pr\u00e4ciser Raumvorstellungen zu bef\u00e4higen. That-s\u00e4chlich ist von Anfang an das Geistesleben des Blinden weit mehr durch das Geh\u00f6r als durch den Tastsinn beeinflusst. Die h\u00e4ufig genug zu machende Erfahrung, dass blinde Kinder zu Beginn ihres Unterrichtes ein vollst\u00e4ndig unentwickeltes Tastverm\u00f6gen zeigen und den Objecten ihrer Umgebung so lange fremd gegen\u00fcberstehen, bis dieselben nicht durch charakteristische T\u00f6ne und Ger\u00e4usche erkannt worden sind, beweist zur Gen\u00fcge die Richtigkeit dieser Behauptung. So lange aber der Blinde von der Au\u00dfenwelt nichts anderes mit Sicherheit wahrnimmt, als eine Mannigfaltigkeit rein intensiver Verh\u00e4ltnisse, steht er derselben fremd und h\u00fclflos gegen\u00fcber. Die unleugbare Thatsache, dass sich eine gro\u00dfe Anzahl Blinder im praktischen Leben nicht bew\u00e4hrt, dass sie immer und \u00fcberall auf die Mith\u00fclfe des Sehenden angewiesen ist, hat sicherlich zum Theil ihre Ursache in dieser einseitigen Bevorzugung des Geh\u00f6rssinnes und dem Unverm\u00f6gen, die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Au\u00dfenwelt zu begreifen. So f\u00e4llt denn die Entwicklung des Tastsinnes nahe zusammen mit der h\u00f6chsten Aufgabe des Blindenunterrichtes, \u00bbden Blinden zur Selbst\u00e4ndigkeit und b\u00fcrgerlichen Brauchbarkeit zu erziehen\u00ab. (Knie.)","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Studien 2ur Blinden-Psychologie.\n231\nMan hat den Tastsinn als den allgemeinen Sinn den vier Specialsinnen gegeniibergestellt. Zu dieser Unterscheidung berechtigen zun\u00e4chst die Thatsachen der generellen und individuellen Entwicklung, welche lehren, dass die Specialsinne aus der allgemeinen K\u00f6rperbedeckung ihren Ursprung genommen haben. Einen allgemeinen Sinn kann man den Tastsinn aber auch darum nennen, weil die gesammte Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers als Tastorgan fungirt und als solches nicht blo\u00df zur Wahrnehmung von Druck- und Temperaturreizen, sondern auch zur einfachsten r\u00e4umlichen Unterscheidung bef\u00e4higt ist. Aber schon hier findet sich eine f\u00fcr die Entwicklung der Specialsinne vorbildliche Diflerenzirung, insofern den beweglichsten Theilen der gr\u00f6\u00dfte \u00dfeichthum an Tastnerven und besonderen nerv\u00f6sen Endapparaten zukommt, welch\u2019 letztere freilich noch nicht der Transformation, sondern blo\u00df der Modification der Reize zu dienen scheinen1). Von diesen beweglichsten Theilen macht nun der Blinde zum Zwecke r\u00e4umlicher Erkenntniss haupts\u00e4chlich Gebrauch, w\u00e4hrend die \u00fcbrige periphere Sensibilit\u00e4t hierf\u00fcr nur in sehr untergeordneter Weise in Betracht kommt. Wenn also auch die gesammte K\u00f6rperbedeckung Tastsensationen vermittelt, so werden wir doch in praktischer Hinsicht vor allem die beweglichsten Theile des K\u00f6rpers als Tastorgane in Anspruch nehmen k\u00f6nnen. Unter diesen zeichnet sich aber die Hand besonders aus durch die Vollendung des Hebelapparates, mittelst dessen sie mit dem Kumpfe in Verbindung steht, und welcher dieses Tastorgan dazu bef\u00e4higt, sich der Lage der Objecte im Raume in wechselnder Weise zu accom-modiren. Ferner vermag die Hand in Folge ihrer Gelenkigkeit sich auch der Form der Objecte in gewissem Ma\u00dfe anzupassen. Die Zunge \u00fcbertrifft die Sensibilit\u00e4t der Hand in der Feinheit r\u00e4umlicher Unterscheidung. Da dieselbe \u00fcberdies ihre Bewegungen, die naturgem\u00e4\u00df auf einen engen Raum beschr\u00e4nkt bleiben m\u00fcssen, weit genauer abstufen kann als die frei bewegliche Hand, so wird es begreiflich, dass der Blinde jenes Tastwerkzeug gleichsam als Minimalma\u00dfstab benutzt, der die gr\u00f6bere Unterscheidung der Hand zu erg\u00e4nzen bestimmt ist. Auch die Tastsensationen der F\u00fc\u00dfe sind f\u00fcr den Blinden nicht ohne Bedeutung. Sie ergeben in jenen F\u00e4llen,\n1) Wundt, Physiologische Psychologie I (4. Aufl.) S. 303.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nTheodor Heller.\nin denen der Blinde gr\u00f6\u00dfere R\u00e4ume mit dem Gleichma\u00df der Schrittbewegung abmisst, wodurch die Ausbildung der Zeitvorstellung besonders beg\u00fcnstigt wird, gewisse qualitativ modificirende Elemente. Tastbewegungen der F\u00fc\u00dfe zieht der Blinde auch dann zu Rathe, wenn er tiefer gelegene Theile der Objecte nicht mit der Hand zu erreichen vermag. Dieselben erlangen jedoch niemals eine derartige Selbst\u00e4ndigkeit wie jene von Hand und Zunge, und es mag darum gerechtfertigt erscheinen, dass wir dieser Tastart nur eine gelegentliche Behandlung zu Theil werden lassen.\nA. Das Tasten mit der Hand.\nDie Hand ist das vorz\u00fcglichste Tastorgan des Blinden. Dies \u00e4u\u00dfert sich zun\u00e4chst in dem umfassenden Gebrauch, welchen der Blinde von derselben macht. Ferner scheint es f\u00fcr alle Blinden, die zur Entwicklung pr\u00e4ciser Raumvorstellungen gelangt sind, als Regel zu gelten, dass sie alle Tastwahrnehmungen, welche von anderen Tastorganen gemacht wurden, in manuelle Tastvorstellungen umsetzen m\u00fcssen, um auf diese Weise zu einer befriedigenden Raumanschauung zu gelangen. Dies trifft namentlich dort zu, wo der Blinde auf die Tastth\u00e4tigkeit seiner F\u00fc\u00dfe angewiesen ist, aber wahrscheinlich auch in jenen F\u00e4llen, in denen derselbe Lippe und Zunge zur Betastung sehr feiner oder kleiner Objecte zu H\u00fclfe nimmt.\nWegen ihres hohen Werthes f\u00fcr die objective Erkenntniss des Blinden hat man h\u00e4ufig die tastende Hand mit dem Auge verglichen. Dieser Vergleich hat eine gewisse Bedeutung f\u00fcr die Geschichte des Blindenunterrichtes erlangt, indem die Stellung der Blinden- zur allgemeinen P\u00e4dagogik nach den \u00fcbereinstimmenden und gegens\u00e4tzlichen Verh\u00e4ltnissen des Tast- und Gesichtssinns bemessen wurde. Die Wirkungsweise der beiden Sinne unterscheidet sich zun\u00e4chst dadurch, dass der Tastsinn, welcher Vorstellungen von Objecten nur dann zu entwickeln vermag, wenn dieselben die tastende Fl\u00e4che ber\u00fchren, stets auf die unmittelbare N\u00e4he beschr\u00e4nkt bleibt, w\u00e4hrend der Gesichtssinn in weite Ferne zu wirken im Stande ist. Der Raumanschauung des Blinden ist eine nahe Schranke gezogen, sie reicht nicht weiter als seine tastende Hand. Wie die objectiven,","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n233\nso sind auch die subjectiven Bedingungen der Baumauffassung beider Sinne, so weit sie in der urspr\u00fcnglichen Disposition der Sinnesorgane begr\u00fcndet sind, wesentlich verschieden. Bei jeder r\u00e4umlichen Auffassung kommen zwei Elemente in Betracht: erstens deT Kaumsinn der sensibeln Fl\u00e4che, welcher die elementaren Empfindungen in Bezug auf das wahrnehmende Subject in eine extensive Ordnung bringt, zweitens die Beweglichkeit des Sinnesorgans, welche die Stellung des letzteren den r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen der Au\u00dfenwelt anpasst. Der mechanischen Wirkungsweise des Tastsinns entsprechend wird der Raumsinn der Haut nur dann erregt, wenn die Objecte auf der sensibeln Fl\u00e4che gleichsam einen Abdruck hinterlassen. Hierbei stimmt die Gr\u00f6\u00dfe des Bildes und des einwirkenden Gegenstandes genau \u00fcberein, und deshalb ist speciell f\u00fcr die Hand des Blinden dieser Art der r\u00e4umlichen Auffassung sehr bald eine Grenze gesetzt, w\u00e4hrend die sensible Fl\u00e4che des Auges, die nicht nach au\u00dfen gekehrt, sondern in einen wunderbar feinen optischen Apparat eingef\u00fcgt ist, durch diesen in weitem Umfang unabh\u00e4ngig von den Verh\u00e4ltnissen der Gr\u00f6\u00dfe und Entfernung der Objecte wird.\nWir werden sp\u00e4terhin Gelegenheit haben, nachzuweisen, welche hohe Bedeutung den Tastbewegungen f\u00fcr die Ausmessung des haptischen Raumes zukommt. Dieselben lassen sich in Analogie stellen zu den Augenbewegungen, denen f\u00fcr die Ausmessung des Sehfeldes ann\u00e4hernd eine gleiche Function zuerkannt werden muss. Aber die Augenbewegungen sind in einem centralen Mechanismus vorgesehen : alle Willk\u00fcrlichkeit derselben beschr\u00e4nkt sich auf die jeweilige Einstellung der Gesichtslinie, welcher die Orientirung des Auges mit zwingender Nothwendigkeit folgt1). Ganz anders bei den Tastbewegungen. Hier sind alle von Anfang an als solche gewollt, sie m\u00fcssen zun\u00e4chst erlernt werden, und erst sp\u00e4terhin bildet sich jenes System zweckm\u00e4\u00dfiger, einfacher Tastbewegungen aus, welches bei dem ge\u00fcbten, entsprechend unterrichteten Blinden allem r\u00e4umlichen Tasten zu Grunde liegt. Dass die Tastbewegungen bei vielen Blinden einen \u00fcbereinstimmenden Charakter zeigen, r\u00fchrt durchaus nicht davon her, dass dieselben etwa urspr\u00fcnglich in der Organisation des\n1) Wundt, Physiologische Psychologie II (4. Aufl.) S. 121.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nTheodor Heller.\nTastorgans zweckm\u00e4\u00dfig angelegt sind, sondern f\u00fcr diese wie \u00fcberhaupt f\u00fcr alle Bewegungen gilt das Gesetz der einfachsten Innervation: indem n\u00e4mlich alle beim Tasten unn\u00f6thigen, dieses also erschwerenden Bewegungen weggelassen werden, entwickelt sich schlie\u00dflich eine Gleichartigkeit des Bewegungssystems, welche durchaus nicht als eine urspr\u00fcnglich bedingte, sondern vielmehr als eine gewordene anzusehen ist. Es bedeutet aber einen gro\u00dfen Irrthum, wenn man dieses System der Tastbewegungen und die Vorstellungen r\u00e4umlicher Beziehungen einander identisch setzt. Dies w\u00fcrde zu der Vermuthung Anlass geben, dass man den Blinden zu pr\u00e4cisen Vorstellungen der Objecte verhelfen k\u00f6nne, wenn man ihnen mechanisch dieses Bewegungssystem beibringt und sie dazu anh\u00e4lt, dasselbe von Fall zu Fall anzuwenden. Weder die Tastbewegungen noch das System der Localzeichen sind im Stande, den Raum zu erzeugen, sondern beide sind nur Bedingungen, unteT welchen sich die Raumvorstellung des Blinden entwickelt. Aber keinem der beiden Factoren kommt hierf\u00fcr eine ausschlie\u00dfliche Bedeutung zu: der Raumsinn der Haut kann ebensowenig als das constituirende Element der Raumvorstellung gelten wie das Bewegungssystem der Hand. Ueberall dort, wo der Blinde zu einer pr\u00e4cisen Raumauffassung gelangt, wirken beide Factoren auf das innigste zusammen, sie verhalten sich zu einander wie Synthese und Analyse. Der Raumsinn der Haut ergibt nichts anderes als ein schematisches Gesammt-bild fl\u00e4chenhafter Objecte, das f\u00fcr sich allein nicht ausreichen kann, um dem Blinden eine ad\u00e4quate Auffassung \u00e4u\u00dferer Verh\u00e4ltnisse zu erm\u00f6glichen. Jene Art des Tastens, bei welcher vor allem der Raumsinn der Haut zur Anwendung gelangt, wollen wir als synthetisches Tasten bezeichnen. Im Gegens\u00e4tze hierzu kann sich die tastende Hand auch derart verhalten, dass eine engbegrenzte Stelle successive mit den Conturen der Gegenst\u00e4nde, welche gleichsam die Bedeutung von Fixationslinien erlangen, in Ber\u00fchrung gebracht wird. Bei dieser zweiten Tastart, die wir das analysirende Tasten nennen k\u00f6nnen, kommt der Raumsinn der Haut nicht in Anwendung. Hier l\u00f6st sich alle r\u00e4umliche Auffassung in eine Reihe blo\u00df intensiv abgestufter Bewegungsempfindungen auf, welche f\u00fcr sich allein nicht bef\u00e4higt sind, irgend eine extensive Ordnung zu vollziehen. Beim analysirenden Tasten sind wohl alle unmittelbaren Bedingungen zur","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Bliuden-Psychologie.\t235\nAusbildung zeitlicher, keine aber zur Ausbildung r\u00e4umlicher Beziehungen gegeben.\nWenn auf diese Weise weder das synthetische noch das an\u00e4-lysirende Tasten f\u00fcr sich allein eine ad\u00e4quate Raumvorstellung vermitteln k\u00f6nnen, so ergibt sich eine solche in vollkommen befriedigender Weise dort, wo beide Componenten ihre Selbst\u00e4ndigkeit aufgebend zu einem neuen Producte verschmelzen, das die Eigenschaften seiner Bestandtheile in sich vereinigt. Dieser Act psychischer Synthese erscheint aber dadurch gekennzeichnet, dass ein Element derselben die Vorherrschaft gewinnt vor den anderen, die nur als modificirende Bedingungen des ersteren auftreten1). Als solche sind nun offenbar bei dieser extensiven Verschmelzung die analy-sirenden Tastbewegungen anzusehen, welche haupts\u00e4chlich dem Zweck zu dienen scheinen, das schematische Gesammtbild, welches das synthetische Tasten ergibt, dadurch zu verdeutlichen, dass sie das Object nach allen Dimensionen des Raumes abmessen. Nur dort ist eine pr\u00e4cise Raumvorstellung m\u00f6glich, wo der Blinde im Stande ist, diese psychische Synthese zu vollziehen. Da wir zun\u00e4chst jenen F\u00e4llen unsere Betrachtung zuwenden wollen, in denen der Blinde eine ad\u00e4quate Raumanschauung zu entwickeln vermag, so entspringt die Unterscheidung des synthetischen und analysirenden Tastens lediglich unserer Abstraction, und beide Tastarten gehen in der Wirklichkeit durch eine gro\u00dfe Anzahl von Mittelstufen ineinander \u00fcber.\n1. Das synthetische Tasten.\nDen Druckempfindungen kommt je nach den Orten, an denen die Reizung erfolgt, eine verschiedene locale F\u00e4rbung zu, welche aller r\u00e4umlichen Unterscheidung zu Grunde liegt. Die Abstufung dieser qualitativ verschiedenen Empfindungen erfolgt an verschiedenen Hautstellen mit ungleicher Geschwindigkeit, am raschesten an den beweglichsten Theilen, sehr langsam an jenen, welche einer freien Beweglichkeit entbehren. Die Hautstellen, an welchen eine r\u00e4umliche Scheidung der Eindr\u00fccke nicht erfolgt, bezeichnet man seit\n1) Wundt, Physiologische Psychologie II (4. Aufl.) S. 438.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nTheodor Heller.\nWeber mit dem Namen der Empfindungskreise. Weber hatte in consequenter Weiterbildung des von Johannes M\u00fcller auf Grund der Kant\u2019schen Lehre von der Apriorit\u00e4t der Ansehauungsformen entwickelten Satzes, dass \u00bbjeder Punkt, in welchem eine Nervenfaser endet, im Sensorium als ein Raumtheilchen repr\u00e4sentirt wird\u00ab, die Empfindungskreise als urspr\u00fcnglich in der Organisation begr\u00fcndet angesehen. In seiner ersten Theorie meinte Weber, dass jeder Empfindungskreis von einem Nervenfaden versorgt werde und daher als einheitliches Raumelement empfunden werden m\u00fcsse. Abgesehen davon, dass die anatomische Untersuchung dieser Behauptung widersprach, ergaben alsbald Volkmann\u2019s Versuche, dass die Empfindungskreise nicht als constante Gr\u00f6\u00dfen angesehen werden k\u00f6nnen, sondern sich durch Uebung verkleinern, was auf die Mitwirkung wechselnder psychologischer Factoren, die zu den unver\u00e4nderlichen Organisationsbedingungen hinzutreten, mit zwingender Nothwendigkeit hinweist1). Nach den Ergebnissen der Volkmann\u2019schen Untersuchung musste es von vornherein wahrscheinlich erscheinen, dass Blinde einen feineren Raumsinn aufweisen als Sehende, welche nicht in die Lage kommen, von ihrem Tastsinne auch nur ann\u00e4hernd den gleichen Gebrauch zu machen. Mit den Einfl\u00fcssen der Uebung stehen aber im engsten Zusammenh\u00e4nge die der Aufmerksamkeit. Der Sehende ist gewohnt, sich den Vorstellungen des Gesichtssinns ungetheilt zuzuwenden, es bereitet ihm deshalb einige Schwierigkeit, jenem Empfindungsgebiete seine Aufmerksamkeit zu schenken, dessen Leistungen er gew\u00f6hnlich entbehrt. In der That hat Czermak die Verfeinerung des Raumsinns bei Blinden constatirt2) und sich dadurch veranlasst gesehen, den subjectiven Einfl\u00fcssen der Uebung und Aufmerksamkeit gegen\u00fcber der Annahme fester Empfindungskreise ein gewisses Recht einzur\u00e4umen. Die Resultate seiner Untersuchung, bei welcher er sich der von Weber zuerst verwendeten Methode der Minimal\u00e4nderungen bediente, fasst Gzermak in folgenden S\u00e4tzen zusammen :\n1) Die Kinder haben \u2014 wie auch bei den Sehenden \u2014 einen feineren Raumsinn als die Erwachsenen.\n1)\tVolkmann, Sitzungsbericht der kgl. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1858 S. 38 ff.\n2)\tCzermak, Wiener Sitzungsbericht XV. S. 482.","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n237\n2)\tDie Feinheitsgrade des Raumsinns sind in \u00e4hnlicher Weise wie bei den Sehenden an die verschiedenen Hautregionen verth eilt.\n3)\tDie Blinden haben im allgemeinen einen betr\u00e4chtlich feineren Raumsinn als die Sehenden. Die erwachsenen Blinden scheinen an Feinheit des Raumsinns sogar die sehenden Kinder zu \u00fcbertreffen *).\nFerner beobachtete Czermak, dass sich die Blinden bei der Pr\u00fcfung ihres Raumsinns anders benehmen als Sehende. \u00bbSehende bleiben ganz ruhig dabei, wenn man ihnen die Zirkelspitzen auf eine beliebige Hautstelle aufsetzt, und halten still, ohne erst dazu aufgefordert werden zu m\u00fcssen; w\u00e4hrend Blinde jene K\u00f6rpertheile, deren Haut mit dem Zirkel untersucht wird, in fortw\u00e4hrende nur bei einiger Aufmerksamkeit von Seite des Experimentators bemerkbare kleine und ziemlich rasche Bewegungen versetzen. Diese Bewegungen, welche man vielleicht nicht unpassend Tastzuckungen nennen k\u00f6nnte, scheinen halb unwillk\u00fcrlich zu erfolgen, indem die Blinden, an denen ich meine Messungen machte, dieselben nie v\u00f6llig unterlie\u00dfen, selbst wenn ich sie darum ausdr\u00fccklich gebeten hatte\u00ab 2).\nNach Czermak hat Goltz die gleichen messenden Tastversuche an Blinden angestellt3). Er fand Czermak\u2019s Angaben vollkommen best\u00e4tigt; auch seine Werthe lassen eine bedeutende Verfeinerung des Raumsinns der Blinden erkennen.\nW\u00e4hrend die beiden vorerw\u00e4hnten Forscher sich der Methode der Minimal\u00e4nderungen bedient hatten, verwendet G\u00e4rttner die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle unter Zugrundelegung der in Vierordt\u2019s Lehrbuch der Physiologie enthaltenen Curve4). Hierbei ergab sich die schon von Volkmann beobachtete Thatsache, \u00bbdass die im allgemeinen nicht besonders ge\u00fcbten Theile wie Kinn und Vorderarm nach einiger Zeit im Verh\u00e4ltniss ein weit g\u00fcnstigeres Resultat ergaben als Theile, die oft zum Tasten ben\u00fctzt werden\u00ab. Unwillk\u00fcrliche Zuckungen bemerkte G\u00e4rttner nur in einem Falle, \u00bbdagegen konnten die Blinden die Hand nicht ruhig lassen, und es\n1) Czermak, a. a. O. S. 485.\t2) A. a. O. S. 486f.\n3)\tGoltz, De spatii sensu cutis. Dissert. K\u00f6nigsberg 1858, S. 9.\n4)\tG\u00e4rttner, Zeitschrift f\u00fcr Biologie 1881 S. 56.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nTneodor Heller.\nmusste manchmal halb unbewussten Tastbewegungen gewehrt werden\u00ab. W\u00e4hrend Czermak und Goltz die Weber\u2019schen Normalwerthe zur Vergleichung benutzt hatten, legte G\u00e4rttner seinen Versuchen die Angaben von Vierordt zu Grunde, die sich namentlich an den unge\u00fcbteren Hautpartien von ersteren zum Theil wesentlich unterscheiden. Bei Ber\u00fccksichtigung dieses Umstandes ergibt sich, dass die von G\u00e4rttner gefundenen Werthe eine erheblich stumpfere Unterschiedsempfindlichkeit erkennen lassen, als die von Czermak und Goltz constatirten. Noch weit erheblicher sind diese Abweichungen bei den neueren Untersuchungen, welche Uhthoff und Hocheisen durchgef\u00fchrt haben. Uhthoff1) konnte \u00fcberhaupt keine Verfeinerung des Ilaumsinnes bei Blinden wahrnehmen, trotzdem er nach vergeblichen Messungen an dem von ihm operirten blinden Knaben sehr intelligente erwachsene Versuchspersonen herangezogen hatte. JDie Angaben Uhthoff\u2019s sind aber dadurch getr\u00fcbt, dass er \u00bbdie Gr\u00f6\u00dfe der Empfindungskreise der Haut im wesentlichen als abh\u00e4ngig von der anatomischen Vertheilung unserer nerv\u00f6sen Tastorgane in der Haut ansehen zu m\u00fcssen glaubt\u00ab. Da er demnach dem varia-beln Einfluss psychologischer Factoren auf die extensive Unterschiedsempfindlichkeit nicht gerecht wird, so erscheinen ihm die Angaben \u00fcber den Raumsinn der blindtauben Laura Bridgman \u00bbmindestens sehr zweifelhaft\u00ab.\nHocheisen\u2019s Versuche beschr\u00e4nken sich auf die Untersuchung des Raumsinnes der Hand2). Dies erweist sich aus dem Grunde als sehr zweckm\u00e4\u00dfig, weil die extensive Unterschiedsempfindlichkeit der \u00fcbrigen Hautpartien, mit Ausnahme von Lippe und Zunge, bei dem r\u00e4umlichen Tasten des Blinden kaum in Betracht kommt. Zum Vergleiche gibt Hocheisen die entsprechenden Werthe bei einem 14j\u00e4hrigen sehenden Knaben, bei sich selbst und schlie\u00dflich nach den Vierordt\u2019schen Angaben. Zweifellos eignen sich die beiden ersteren zu einem directen Vergleiche weit besser, als die nach einer abweichenden Methode und mit einem anderen H\u00fclfsmittel gefundenen letzteren. Hierbei ergibt sich nun eine blo\u00df geringere Verfeinerung\n1)\tUhthoff, Untersuchungen \u00fcber das Sehenlemen eines siebenj\u00e4hrigen blindgeborenen und mit Erfolg operirten Knaben. Hamburg und Leipzig 1891, S. 54.\n2)\tHocheisen, Der Muskelsinn Blinder, Diss. Berlin 1892, S. 30.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n239\ndes Raumsinnes der Blinden gegen\u00fcber den Sehenden, wobei freilich zu ber\u00fccksichtigen sein d\u00fcrfte, dass die Hocheisen\u2019schen Normal-werthe eine betr\u00e4chtliche Sch\u00e4rfung der extensiven Unterschieds-empfindlichkeit erkennen lassen, was der Y erfasset selbst auf l\u00e4ngere Uebung zur\u00fcckf\u00fchrt. Bemerkenswerth ist, dass rechte und linke Hand eine ziemlich gleichm\u00e4\u00dfige Entwicklung des Raumsinnes zeigen, und dass die Werthe der einzelnen Versuchspersonen um so weniger von einander abweichen, je mehr man sich der Fingerspitze n\u00e4hert. Die Czermak\u2019schen Tastzuckungen konnte auch Hocheisen beobachten: eT unterscheidet dieselben von jenen willk\u00fcrlichen Tastbewegungen, die auf Wunsch unterdr\u00fcckt werden und \u00bbnichts weiter als eine Folge der Gewohnheit sind, die H\u00e4nde nie ganz ruhig zu lassen, um sich sofort \u00fcber sich n\u00e4hernde Objecte zu unterrichten\u00ab. , Sehr interessant sind die an Blindtauben unternommenen messenden Tastversuche, weil hier die psychophysischen Dispositionen zweifellos noch g\u00fcnstiger liegen als bei h\u00f6renden Blinden. Bei letzteren ist die Aufmerksamkeit nicht in dem Ma\u00dfe auf Tasteindr\u00fccke eingeengt als bei Blindtauben, denen auch jede Ablenkung durch Geh qrsein dr\u00fccke fehlt. Lie\u00dfen die Raumsinnesuntersuchungen \u00fcberhaupt speciellere Schl\u00fcsse zu, so k\u00f6nnte man in der Verfeinerung des Raumsinnes bei diesen doppelt Ungl\u00fccklichen gleichsam einen Ausdruck f\u00fcr die Energiezunahme der Aufmerksamkeit erblicken, mit welcher sich dieselben der einzigen Quelle zuwenden, aus welcher ihnen objective Erkenntniss flie\u00dft. Eine wunderbare Sch\u00e4rfung der extensiven Unterschiedsempfindlichkeit constatirte Stanley Hall bei Laura Bridgman1). Bei ihr \u00fcbertrifft die Feinheit des Raumsinnes um das Dreifache die des Sehenden. Bei weitem nicht so \u00fcberraschende Resultate ergab die analoge Untersuchung bei der gleichfalls blindtauben Helene Keller durch Professor Josef Jastrow2). Hier treffen die allerdings sehr beschr\u00e4nkten Angaben ungef\u00e4hr zusammen mit jenen Werthen, die Czermak bei den von ihm untersuchten Blinden fand.\nUeberblicken wir die Resultate, welche die verschiedenen Forscher bei ihren Untersuchungen erzielten, so muss die Thatsache unser\n1)\tJerusalem, Laura Bridgman, Wien 1891, S. 37.\n2)\tJ. Jastrow, The Psychological Review 1894, S. 356 f.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nTheodor Heller.\nBefremden erregen, dass dieselben eine so geringe Uebereinstimmung aufweisen. Noch auffallender wird dies durch den Umstand, dass die Werthe, welche ein und derselbe Forscher bei seinen verschiedenen Versuchspersonen ermittelte, wenig von einander abweichen. Allerdings hat schon Valentin darauf aufmerksam gemacht, dass die Feinheiten des Raumsinnes bei Sehenden oft um das Vierfache von einander abweichen1), was dadurch erkl\u00e4rlich wird, dass dem Einfluss wechselnder psychologischer Bedingungen der weiteste Spielraum \u00fcberlassen bleibt. Anders bei Blinden: hier wird man ein gewisses Ma\u00df constanter Uebung voraussetzen m\u00fcssen und deshalb eine relative Gleichartigkeit der Raumsinnesverh\u00e4ltnisse weit eher erwarten d\u00fcrfen als bei Sehenden. Wenn also die abweichenden Resultate nicht sowohl in subjectiven Momenten begr\u00fcndet sein k\u00f6nnen, so bleibt nur \u00fcbrig, dieselben in den objectiven Bedingungen des Verfahrens zu suchen. Es w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, auf die psychophysischen Ma\u00dfmethoden, welche diesen Untersuchungen zu Grunde liegen, n\u00e4her einzugehen. Hier mag der Hinweis gen\u00fcgen, dass man sich bei der Methode der Minimal\u00e4nderungen bis jetzt blo\u00df jener approximativen Verfahrungsweise bediente, welche schon der Vater der Ma\u00dfmethoden, Weber, angewendet hat. Viel weiter durchgebildet ist zwar die von Vierordt vorgeschlagene Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle; doch da es hier an sicheren mathematischen Anhaltspunkten f\u00fcr die Verwerthung der Versuchsergebnisse fehlt, k\u00f6nnen wir in der sog. Vierordt\u2019schen Curve nichts anderes als einen Nothbehelf erblicken. Aber diese methodischen Schw\u00e4chen k\u00f6nnen nicht so bedeutende Abweichungen begr\u00fcnden, wie sie thats\u00e4chlich bei den angef\u00fchrten Untersuchungen sich ergeben haben. So werden wir dazu gef\u00fchrt, auf den experimentellen Theil des Verfahrens n\u00e4her einzugehen.\nMan hat lange Zeit geglaubt, dass die Verh\u00e4ltnisse des Tastsinnes der messenden Pr\u00fcfung die denkbar einfachsten Verh\u00e4ltnisse darbieten. In Bezug auf die inneren Tastempfindungen (Gelenk-, Muskelempfindungen) erwies sich diese Meinung alsbald als eine irrige; aber auch bez\u00fcglich der \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen ergibt\n1) Valentin, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, Braunschweis 1844 Bd. II.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n241\nsich zweifellos, dass der Einfachheit objectiver Momente eine Complication innerer Bedingungen gegen\u00fcbersteht, welche die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen keineswegs eindeutig bestimmt erscheinen lassen. Die primitiven H\u00fclfsmittel, welche hierbei in Verwendung kamen, zeigen sich bei eingehender Betrachtung als v\u00f6llig unzul\u00e4nglich.\nWeber verwendete bei seinen Versuchen den sog. Tastzirkel, einen gew\u00f6hnlichen Zirkel mit abgestumpften Spitzen. Ueberall dort, wo es sich um ver\u00e4nderliche Distanzen handelte, hat man diesen Apparat beibehalten. Nur G\u00e4rttner, der constanter Entfernungen bedurfte, ersetzte den Zirkel durch zwei in ein Brettchen eingef\u00fcgte Stecknadeln, deren Spitzen er der Haut aufsetzte. Es liegt nun vollst\u00e4ndig in der Willk\u00fcr des Experimentators, gr\u00f6\u00dfere oder kleinere Werthe zu erhalten, je nachdem er stumpfere oder feinere Spitzen verwendet. Dies erhellt sehr deutlich, wenn man die von Weber und die von Goldscheider gefundenen Normal-werthe mit einander vergleicht*), wobei allerdings zu ber\u00fccksichtigen ist, dass letzterer auch noch die Punkte sch\u00e4rfster Empfindlichkeit ausw\u00e4hlte und die kleinsten Distanzen als Ma\u00df f\u00fcr die Feinheit des Raumsinnes angibt. Bei Blinden \u00e4u\u00dfert sich der Einfluss der St\u00e4rke und Sch\u00e4rfe der Spitzen in sehr merklicher Weise, was aus den beiden folgenden Versuchsreihen, die an ein und derselben Versuchsperson ausgef\u00fchrt wurden, hervorgeht:\n\tStumpfe Spitzen\tFeine Spitzen\nZungenspitze\t1,5 mm\t1,0 mm\nFinger, III. Phalanx volar\t2,5 mm\t2,0 mm\nFinger, III. Phalanx dorsal\t4,0 mm\t3,3 mm\nRothe Lippe\t4,5 mm\t4,0 mm\nWange\t8,0 mm\t7,3 mm\nNasenspitze\t10,8 mm\t8,5 mm\nUnterseite des Vorderarms\t13,2 mm\t11,0 mm\n1) Eine Zusammenstellung dieser Werthe ist in Wundt\u2019s Physiol. Psychologie II (4. Aufl.) S. 8 zu finden.","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nTheodor Heller.\nEiner der gr\u00f6\u00dften Uebelst\u00e4nde, mit dem die Handhabung des oben genannten Behelfes verbunden ist, besteht darin, dass sich die Intensit\u00e4t der Eindr\u00fccke nicht entsprechend reguliren l\u00e4sst. Die Gr\u00f6\u00dfe der Raumschwelle ist aber durchaus nicht unabh\u00e4ngig von der Intensit\u00e4t der Reize, es ergibt sich vielmehr, dass bis zu einem gewissen Ma\u00dfe die Sch\u00e4rfe der r\u00e4umlichen Unterscheidung mit der St\u00e4rke der Eindr\u00fccke zuerst zu- und dann wieder abnimmt. Einige sehr einfache Probeversuche, bei welchen Nadelpaare von bestimmter Entfernung, die ungef\u00e4hr der Gr\u00f6\u00dfe der Raumschwellen entsprach, auf verschiedene Stellen der Handfl\u00e4che mit zunehmender Intensit\u00e4t einwirkten, machten es wahrscheinlich, dass f\u00fcr jede Hautstelle eine bestimmte Normalintensit\u00e4t existirt, bei welcher sich das feinste extensive Unterscheidungsverm\u00f6gen zeigt. Sehr deutlich l\u00e4sst sich dies namentlich am Daumenballen und an der Kleinfingerseite der Hand nachweisen. Hier flie\u00dfen bei schwacher Ber\u00fchrung die zwei Eindr\u00fccke in einen Punkt zusammen, die bei gr\u00f6\u00dferer St\u00e4rke bestimmt als zwei unterschieden werden. Geht man jedoch \u00fcber eine bestimmte Intensit\u00e4t hinaus, so werden die Eindr\u00fccke, bevor man noch die Grenze der Schmerzhaftigkeit erreicht, immer undeutlicher und zeigen die Tendenz wieder zu verschmelzen. Da die Abstufung der Intensit\u00e4t nach l\u00e4ngerer Uebung blo\u00df sch\u00e4tzungsweise erfolgte, so sind bestimmte Schl\u00fcsse aus diesen Versuchen, deren genauere Wiederholung mit Ber\u00fccksichtigung der Druckpunkte sehr w\u00fcn-schenswerth erscheint, kaum zul\u00e4ssig. Nur als vorl\u00e4ufiges Ergebniss mag erw\u00e4hnt werden, dass die Fingerspitzen und die Gelenkfurchen der Hand die geringste Normalintensit\u00e4t aufzuweisen scheinen.\nBei den Raumsinnsversuchen muss es als nothwendige Voraussetzung gelten, dass die Eindr\u00fccke mit Ausnahme ihrer localen F\u00e4rbung, die von dem Ort der Einwirkung abh\u00e4ngig ist, qualitativ und intensiv vollkommen \u00fcbereinstimmen. Dies ist aber bei der Anwendung des Tastzirkels keineswegs der Fall. Da die Oberfl\u00e4che der Haut eine wechselnde Kr\u00fcmmung aufweist, so ist auch dann, wenn man sich bem\u00fcht, den Tastzirkel m\u00f6glichst gleichm\u00e4\u00dfig aufzusetzen, kaum zu vermeiden, dass die eine Hautstelle st\u00e4rker oder schw\u00e4cher getroffen wird als die andere. Dass die Empfindungen, welche die beiden Spitzen des Zirkels vermitteln, auch qualitativ nicht v\u00f6llig gleichartig sind, ergibt sich daraus, dass zahlreiche","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psyehologie.\n243\nBlinde die Richtung, in welcher eine Spitze aufgesetzt wird, blo\u00df nach der Art des Eindrucks zu bestimmen verm\u00f6gen. Hierbei erfolgte an den feinstempfindenden Hautstellen das bestimmte Ur-theil, ob die Spitze von rechts oder von links herangebracht worden war, w\u00e4hrend an den weniger ge\u00fcbten Theilen blo\u00df die senkrechte von der schiefen Lage unterschieden wurde. Die Versuchspersonen, befragt, auf welche Weise sie zu diesen Angaben gelangen, gaben an, dass der Eindruck einer senkrechten Spitze viel sch\u00e4rfer sei als der einer schr\u00e4gen ; \u00fcber die Momente, welche der Unterscheidung von rechts und links zu Grunde liegen, konnten sie jedoch keine Rechenschaft geben. Es ist nun anzunehmen, dass die abweichenden Empfindungen in den drei genannten F\u00e4llen davon herr\u00fchren, dass bei senkrechtem Aufsetzen einer Spitze die unmittelbar ber\u00fchrte Epidermisstelle und die tiefer gelegenen Hautstellen, auf welche sich der Druck nothwendig fortpflanzen muss, mit einander \u00fcbereinstimmen, w\u00e4hrend bei schr\u00e4gem Aufsetzen diese Zuordnung nicht mehr erfolgt, speciell aber bei rechts und links in entgegengesetztem Sinne abweicht. Diese Ungleichartigkeit der Empfindungen muss nun das Bestreben wesentlich verst\u00e4rken, den simultanen in einen successiven Eindruck \u00fcberzuf\u00fchren und auf diese Weise subjectiv das f\u00fcr die Auffassung g\u00fcnstigere Verh\u00e4ltniss herzustellen.\nEs w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, hier alle jene \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcsse zu erw\u00e4hnen, welche m\u00f6glicher Weise auf die Feinheit des Raumsinnes ver\u00e4ndernd einwirken k\u00f6nnen. In K\u00fcrze sei hier angef\u00fchrt, dass die Temperatur der Umgebung nicht gleichg\u00fcltig ist, K\u00e4lte das extensive Unterscheidungsverm\u00f6gen herabsetzt, W\u00e4rme bis zu einem gewissen Grade hebt. Loewenton bemerkte bei seinen Versuchen, \u00bbdass w\u00e4hrend einiger Tage, in welchen der Arbeitsraum nicht gen\u00fcgend geheizt wurde, der Procentsatz der Richtigsch\u00e4tzung erheblich gesunken war im Verh\u00e4ltniss zu fr\u00fcheren Versuchstagen. Es sind somit bei den Untersuchungen \u00fcber den Raumsinn gr\u00f6\u00dfere Temperaturschwankungen nicht zul\u00e4ssig\u00ab>). Alle diese den Raumsinn nach den verschiedensten Richtungen beeinflussenden Umst\u00e4nde gewinnen beim Blinden ohne Zweifel eine weit h\u00f6here Bedeutung\n1) Loewenton, Versuche \u00fcber das Ged\u00e4chtniss im Bereiche des Raum-Sinnes der Haut. Diss. Dorpat, 1893 S. 18.\nWundt, PKilos. Studien. XI.\n17","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nTheodor Heller.\nals beim Sehenden. Es ist deshalb nicht m\u00f6glich, in jenen Werthen, welche die messenden Untersuchungen bis jetzt ergeben haben, einen ad\u00e4quaten Ausdruck der Verh\u00e4ltnisse der extensiven Unterschiedsempfindlichkeit zu erblicken. Aus denselben d\u00fcrfte nur die allgemeine Thatsache zu entnehmen sein, dass der \u00dfaumsinn der Blinden eine wenn auch nur geringe Verfeinerung im Vergleich zu dem der Sehenden aufweist. Ich habe im Sommersemester 1892 in der Leipziger Blindenanstalt derartig messende Tastversuche namentlich aus den schon in der Einleitung angef\u00fchrten methodischen R\u00fccksichten vorgenommen und hierbei eine allerdings nicht bedeutende Sch\u00e4rfung des Raumsinnes angetroffen1).\nW\u00e4re der Raumsinn der Haut der einzige Weg, auf dem der Blinde zu extensiven Vorstellungen gelangen kann, so erschiene die geringe Verfeinerung desselben kaum verst\u00e4ndlich. Schon dies weist auf die Wichtigkeit der zweiten Componente hin, welche bei der Raumvorstellung des Blinden in Betracht kommt; noch mehr aber die Untersuchung der eigenth\u00fcmlichen Tastbewegungen und Tastzuckungen, welche bei den Raumsinnesversuchen auftreten. Wie wir schon' erw\u00e4hnt haben, hat Czermak bei seinen Versuchen charakteristische, dem Blinden eigenth\u00fcmliche Tastzuckungen bemerkt, die auch bei den folgenden Beobachtern nicht ausblieben. Die Tastzuckungen erfolgen unwillk\u00fcrlich und sind zu unterscheiden von jenen willk\u00fcrlichen Tastbewegungen, welche auf Aufforderung unterlassen werden. Die Erkl\u00e4rung dieser sonderbaren Erscheinung trifft darum auf Schwierigkeiten, weil dieselbe wahrscheinlich verschiedenen Motiven entspringen kann. Ich beobachtete die Tastzuckungen an mehreren Blinden. Sie stellen sich nicht selten ein, wenn man zwei Punkte auf die sensible Fl\u00e4che einwirken l\u00e4sst, fehlen aber nie, wenn man die Anzahl der gleichzeitig aufgesetzten Punkte erh\u00f6ht, sofern man davon absieht, denselben eine sp\u00e4terhin zu erw\u00e4hnende charakteristische Stellung zu geben.\nDie Zuckungen, welche bei den Raumsinnesuntersuchungen auftreten, setzen sich aus zwei Bewegungen zusammen, deren eine einen verst\u00e4rkten oder verringerten Druck zur Folge hat, w\u00e4hrend\n1) Da die Experimente, ebenfalls mit H\u00fclfe eines Tastzirkels ausgef\u00fchrt, an den gleichen Schw\u00e4chen lahoriren wie die bisherigen Raumsinnesversuche, so sehe ich hier von einer Aufzeichnung der gefundenen Werthe ab.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n245\ndie andere in Excursionen um die ber\u00fchrte Hautstelle besteht. Hierbei erstreckt sich der Druck bald auf beide Zirkelspitzen gleichzeitig, bald geht er successive von der einen auf die andere \u00fcber. Es ist nun wahrscheinlich, dass diese senkrecht auf die L\u00e4ngsrichtung der Tastfl\u00e4che erfolgenden Bewegungen angeregt werden durch die Undeutlichkeit des Eindrucks und den Zweck haben, die f\u00fcr die Auffassung g\u00fcnstige Normalintensit\u00e4t herzustellen. Die successive Druckverst\u00e4rkung dient ofienbar der Ueberf\u00fchrung des simultanen in einen successiven Eindruck und findet ihren Anlass in der bei den Zirkelversuchen unvermeidlichen Ungleichartigkeit der beiden Empfindungen. Setzt man nun drei Punkte etwa in Entfernungen von 10, 12 und 14 mm der Vola manus auf und dr\u00fcckt dieselben hinl\u00e4nglich an, so unterbleiben zwar die Druckverst\u00e4rkungen, aber dennoch kann man beobachten, dass die Haut von einem Punkt gegen den andern bewegt wird. Dies erfolgt ziemlich unregelm\u00e4\u00dfig und sehr rasch, so dass eine gro\u00dfe Anzahl von Beobachtungen n\u00f6thig ist, um sich hinl\u00e4nglich \u00fcber den Charakter dieser Zuckungen zu unterrichten. Die Tastbewegungen unterscheiden sich von den unwillk\u00fcrlichen Tastzuckungen nicht der Art, sondern blo\u00df dem Grade nach, sie erfolgen langsamer und geordneter als die letzteren, aber auch bei ihnen macht sich die Tendenz geltend, die Haut von einem Punkt gegen den andern zu verschieben. Czermak erkl\u00e4rte diese Erscheinung folgenderma\u00dfen: \u00bbDem Blinden mag es mit den Tastzuckungen \u00e4hnlich gehen, wie dem Sehenden mit der Einstellung der Sehachse. So wie n\u00e4mlich Sehende, wenn sie einen Gegenstand vermittelst des Gesichtes scharf wahrnehmen wollen, unwillk\u00fcrlich die Sehachse auf das zu fixirende Object richten, um das Bild desselben auf den gelben Fleck fallen zu machen, ebenso und aus \u00e4hnlichen Gr\u00fcnden versetzen wahrscheinlich Blinde ihre Tastorgane in Bewegungen und Zuckungen\u00ab1). Es liegt der Vergleich der Handfl\u00e4che und der Netzhaut des Auges in der That ziemlich nahe. Zwischen den Seitentheilen der Hand und den Fingerspitzen besteht eine \u00e4hnlich eindeutige Beziehung wie zwischen den Seitentheilen der Netzhaut und der Macula lutea. Ber\u00fchrt man ohne die ausdr\u00fcckliche Mahnung, dass die Hand ruhig zu bleiben habe, irgend\n1) Czermak, a. a. O. S. 486 f. Anmerkung.\n17*","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nTheodor Heller.\neine seitliche Stelle derselben, So erfolgt sofort eine Zur\u00fcckziehung der Hand, um den Eindruck auf die feinstempfindenden Stellen zu leiten. Man k\u00f6nnte nun glauben, dass die Tendenz zu dieser Bewegung fortbesteht, auch wenn die willk\u00fcrliche Ueberf\u00fchrung des Eindruckes untersagt wird. Dann m\u00fcssten aber alle Zuckungen in der Richtung der Verbindungslinie des Eindrucks mit der Stelle des deutlichsten Tastens erfolgen, was in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Die Accommodation k\u00f6nnte aber auch darin bestehen, dass die Reize unwillk\u00fcrlich auf Druckpunkte \u00fcbergef\u00fchrt werden. Um mich hiervon zu \u00fcberzeugen, bestimmte ich die Druckpunkte im Umkreis der Eindr\u00fccke, was sehr leicht zu bewerkstelligen ist, da die ersteren sich nach den Angaben der Blinden sehr scharf von ihrer Umgebung abheben. Thats\u00e4chlich wird bei den Tastzuckungen sehr h\u00e4ufig ein Druckpunkt erreicht, durchaus aber nicht immer. Es ist also wohl m\u00f6glich, dass die Tastzuckungen in einzelnen F\u00e4llen die Ber\u00fchrung der Druckpunkte erzielen. Da aber nicht vorauszusetzen ist, dass die Blinden eine Kenntniss von der Lage ihrer Druckpunkte besitzen, so lie\u00dfe sich dadurch nicht die Thatsache erkl\u00e4ren, dass willk\u00fcrliche Tastbewegungen und unwillk\u00fcrliche Tastzuckungen einen unverkennbar \u00fcbereinstimmenden Charakter tragen. Hier wird man nun die Entscheidung \u00fcber den Zweck der Tastbewegungen und Tastzuckungen der Selbstbeobachtung des Blinden \u00fcberlassen m\u00fcssen. Diese ergab bei zwei v\u00f6llig von einander unabh\u00e4ngigen Versuchspersonen, dass die willk\u00fcrlichen Tastbewegungen gleichsam als Ersatz f\u00fcr das analysirende Tasten benutzt werden. \u00bbWenn ich diese Tastbewegungen vornehme\u00ab, bemerkte die Versuchsperson Oscar Sch., \u00bbso stelle ich mir dabei stets meinen Zeigefinger vor, der von einem Punkt zum andern geht\u00ab. Bei den willk\u00fcrlichen Tastbewegungen sind also immer Associationen mit analysirenden Tastbewegungen wirksam. Daraus erkl\u00e4rt es sich auch, dass die Tastbewegungen um so bemerkbarer werden, je gr\u00f6\u00dfer die Anzahl der punktf\u00f6rmigen Eindr\u00fccke ist, je schwerer also die simultane Auffassung derselben durch den Raumsinn der Haut wird. Werden diese Hautbewegungen ausdr\u00fccklich untersagt, so bestehen sie dennoch als unwillk\u00fcrliche Begleiterscheinungen der subjectiven Analyse des Eindruckes fort. Die Tastzuckungen sind demnach nichts anderes als unwillk\u00fcrlich gewordene Tastbewegungen.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n247\nMan hat sich h\u00e4ufig der Ansicht hingegeben, dass die Haut \u2022wegen ihrer fl\u00e4chenhaften Ausbreitung auch vorzugsweise fl\u00e4chenhafte Eindr\u00fccke vermitteln m\u00fcsse. So meinte Weber, dass das Tastorgan \u00bbderart beschaffen ist, dass sich auf ihm Gestalten, Entfernungen und Bewegungen der wahrzunehmenden K\u00f6rper gleichsam abbilden k\u00f6nnen\u00ab. Da aber die sensible Fl\u00e4che eine wechselnde Kr\u00fcmmung aufweist, so ist es kaum m\u00f6glich, dass vollkommen ebene Gebilde das Tastorgan gleichm\u00e4\u00dfig ber\u00fchren. Die simultane Auffassung fl\u00e4chenhafter Eindr\u00fccke ist nun in der That beim Tastsinn auffallend schlecht entwickelt1). Der Hautsinn beg\u00fcnstigt vor allem die Auffassung punktf\u00f6rmiger Reize. Setzt man auf die Vola manus sechs distincte Punkte in regelm\u00e4\u00dfigen Entfernungen auf, so ist der Blinde, allerdings erst nach einigem Besinnen, im Stande, Anzahl und Lage derselben anzugeben. Erfolgt aber die analoge Anordnung mit den Ecken eines regelm\u00e4\u00dfigen Sechseckes, so ist das Urtheil zagend und unbestimmt, Irrth\u00fcmer sind in den meisten F\u00e4llen zu verzeichnen. Besonders charakteristisch sind hier die umfangreichen Tastzuckungen, die sofort auftreten, wenn die Fl\u00e4che die Haut ber\u00fchrt, und die ein successives Andr\u00fccken der Ecken der Figur deutlich erkennen lassen. Auf diese Weise wird aber der fl\u00e4chenhafte Eindruck in eine Succession von Punkten aufgel\u00f6st. Verlangt man die Aussage sofort, ohne einer eingehenderen Analyse Zeit zu g\u00f6nnen, so ist kein anderes Urtheil m\u00f6glich als das \u00fcber Regelm\u00e4\u00dfigkeit oder Unregelm\u00e4\u00dfigkeit der Figur und das Vorhandensein einer eckigen oder runden Fl\u00e4che. Der Simultaneindruck auf das Tastorgan ergibt demnach blo\u00df ein schematisches Gesammtbild des einwirkenden Objectes. Eine genauere Bestimmung desselben ist nur dann m\u00f6glich, wenn analysirende Tastbewegungen entweder thats\u00e4chlich ausgef\u00fchrt oder reproducirt werden. Darauf weisen die auftretenden Tastzuckungen, mit welchen sich immer mehr oder minder deutlich die Vorstellung der Bewegung des Tastfingers verbindet, mit Bestimmtheit hin.\nF\u00fcr die Frage der Blindenschrift ist es ohne Zweifel von Wichtigkeit, zu untersuchen, welche Anzahl und Ordnung distincter\n1) Vergleiche hierzu: Eisner, Beurtheilung der Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt von Fl\u00e4chen, welche die Haut ber\u00fchren, Diss. Erlangen 1888, S. 19.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nTheodor Heller.\nPunkte noch simultan aufgefasst werden kann. Hierbei verwendete ich zahlreiche Nadelcombinationen, welche in Cartonhl\u00e4ttchen eingef\u00fcgt auf die sensible Fl\u00e4che gebracht werden konnten. Allerdings war von diesen Untersuchungen im vorhinein nicht viel zu erwarten, da es sich nicht feststellen l\u00e4sst, in welchem Umfange bei dem Urtheil Associationen mit fr\u00fcher ge\u00fcbten analysirenden Tastbewegungen bestimmend sind. F\u00fcr die Bedeutung der letzteren spricht der Umstand, dass, nachdem das bei den obenerw\u00e4hnten Versuchen gebrauchte regelm\u00e4\u00dfige Sechseck dem freien Betasten der Blinden \u00fcberlassen worden war, sp\u00e4terhin die genaue Bestimmung desselben mit H\u00fclfe des Raumsinnes der Haut ohne l\u00e4ngeres Besinnen und ohne Zuh\u00fclfe-nahme von Tastzuckungen erfolgte. Auf diese Weise erkl\u00e4rt es sich auch, dass drei und vier Punkte in regelm\u00e4\u00dfiger Anordnung der simultanen Auffassung weit g\u00fcnstiger liegen, als dieselbe Anzahl von Punkten in unregelm\u00e4\u00dfigen Entfernungen. Die F\u00fcnfzahl der Punkte erschien unter allen Umst\u00e4nden ung\u00fcnstig. Bei der Verwendung von sechs punktf\u00f6rmigen Reizen war die Anordnung in drei genau untereinander befindlichen Reihen zu je zwei Punkten die beste. Obzwar als Ort des Eindruckes nicht die Fingerspitze, sondern der Handteller gew\u00e4hlt wurde, so schien dieses Verh\u00e4ltniss doch unverkennbar auf die Einwirkung der gebr\u00e4uchlichen Blindenschrift hinzudeuten. Um so \u00fcberraschender war das Ergebniss bei einer der Brailleschrift unkundigen Versuchsperson, welcher gleichfalls die obenerw\u00e4hnte Anordnung der sechs Punkte als die g\u00fcnstigste erschien. Ob hier in der That eine pr\u00e4cise Simultanauffassung erfolgt, oder ob nicht etwa die Uebersichtlichkeit des Eindrucks die Berechnung der Punktzahl besonders beg\u00fcnstigt, dar\u00fcber konnte ich keine Klarheit erlangen, zumal die einzelnen Versuchspersonen in ihren Aeu\u00dferungen nicht \u00fcbereinstimmten. Im Ganzen zeigt sich die mit dem feinsten Raumsinn begabte Stelle der Hand als die geeignetste f\u00fcr die simultane Perception der Eindr\u00fccke. An den Seitentheilen der Hand sind nicht blo\u00df gr\u00f6\u00dfere Entfernungen n\u00f6thig, sondern hier treten auch viel eher charakteristische Tastzuckungen auf als an der Stelle des deutlichsten Tastens. Aber selbst unter den g\u00fcnstigsten Verh\u00e4ltnissen bedeutet die Sechszahl der Punkte die \u00e4u\u00dferste Grenze f\u00fcr die simultane Auffassung durch den Raumsinn der Haut.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n249\nAus den messenden Tastversuchen erhellt die allgemeine That-sache, dass der Raumsinn der Handfl\u00e4che um so weniger entwickelt ist, je mehr man sich der Handwurzel n\u00e4hert. Hierf\u00fcr ergibt der folgende Versuch, den schon Weher angestellt hat, einen gewisserma\u00dfen graphischen Ausdruck: wenn man hei constanter Entfernung der Schenkel des Tastzirkels von den Fingern zu der Handwurzel \u00fcbergeht, so scheinen die Spitzen zu convergiren, bewegt man den Tastzirkel in umgekehrter Richtung, so entsteht der Schein einer Divergenz. Zum Zustandekommen dieser T\u00e4uschung ist aber eine gewisse Geschwindigkeit der Bewegung nothwendig; verlangsamt man dieselbe, so wird die scheinbare Convergenz oder Divergenz geringer, und trennt man die Ber\u00fchrung der auf einanderfolgenden Hautpartieen durch k\u00fcrzere Intervalle, so entsteht die Vorstellung einer gleichm\u00e4\u00dfigen Entfernung der Zirkelspitzen. Die Seitentheile der Hand unterscheiden sich aber auch dadurch von den feinst-empfindenden Stellen, dass die Eindr\u00fccke auf die ersteren an Deutlichkeit verlieren, was m\u00f6glicherweise damit zusammenh\u00e4ngt, dass die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr die Ber\u00fchrung eines specifischen Druckpunktes um so geringer wird, je weiter man sich von der Stelle des deutlichsten Tastens entfernt. Sowohl die Abnahme der extensiven Unterschiedsempfindlichkeit als auch jene der Deutlichkeit der Eindr\u00fccke erinnern lebhaft an die Verh\u00e4ltnisse der Netzhaut, ebenso aber das Bestreben, jeden Eindruck, welcher eine seitliche Stelle der Hand trifft, auf die Nagelphalanx speciell des Tastfingers \u00fcberzuleiten. Wir sind demnach wohl berechtigt, im Anschluss an die analogen Bezeichnungen des Sehens von einem directen und indirecten Tasten zu sprechen. Zwischen dem Ort der deutlichsten Tastunterscheidung und den Seitentheilen der Hand besteht insofern eine eindeutige Beziehung, als jede Ber\u00fchrung der letzteren eine Zur\u00fcckziehung des Tastorgans zur Folge hat, welche die Reize auf dem k\u00fcrzesten Wege mit der Stelle der gr\u00f6\u00dften Tastsch\u00e4rfe in Ber\u00fchrung bringt. Diese Bewegungen sind durch l\u00e4ngere Uebung zum Theil der Willk\u00fcr entr\u00fcckt, automatisch geworden; zur Unterlassung derselben muss der Blinde besonders aufgefordert werden, und die Versuche im indirecten Tasten erscheinen im Anfang dadurch erschwert, dass der Blinde diesen Bewegungstendenzen eine gewisse Hemmung entgegensetzen muss. Bei gr\u00f6\u00dferen Fl\u00e4chen ist blo\u00df eine successive","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nTheodor Heller.\nWahrnehmung der Objecte im directen Tasten und somit eine successive Kl\u00e4rung des urspr\u00fcnglich undeutlichen Eindruckes m\u00f6glich. Dieselbe bezieht sich hier aber nicht etwa auf eine genaue Erkennung der Form und Gestalt, sondern auf die pr\u00e4cisere Perception jener r\u00e4umlichen und zeitlichen Verh\u00e4ltnisse der Tastempfindungen, die wir als Rauhheit, Gl\u00e4tte etc. zu bezeichnen pflegen. Jedoch gerade hier zeigt sich der charakteristische Uebergang zum ana-lysirenden Tasten: der Finger braucht sich blo\u00df zu erheben, so dass nicht die gesammte Volarseite der Nagelphalanx, sondern nur ein Punkt an der Spitze derselben mit den Objecten in Ber\u00fchrung kommt, und man erh\u00e4lt die zur Vornahme analysirender Tastbewegungen nothwendige Stellung des Fingers.\nDie blo\u00df auf ihren Raumsinn angewiesene Hand ist allein zur Wahrnehmung fl\u00e4chenhaft geordneter Eindr\u00fccke bef\u00e4higt. Der Auffassung dreidimensionaler Gebilde dient jene Tastart, die wir als umschlie\u00dfendes Tasten bezeichnen m\u00f6chten, bei welcher sich \u00e4u\u00dfere und innere Tastempfindungen aufs engste mit einander verbinden. Hier kommt der Hand ihre F\u00e4higkeit zu statten, sich bis zu einem gewissen Grade der Form der Objecte anzupassen. Bei Benutzung von blo\u00df einer Hand ist eine vollkommene Umschlie\u00dfung der Gegenst\u00e4nde kaum m\u00f6glich; die Gelenkverbindungen der Finger mit Ausnahme des Daumens gestatten blo\u00df eine Adduction und Abduction gegen die Handfl\u00e4che. Nur dem Daumen kommt eine freiere Beweglichkeit zu, er bewerkstelligt einen theilweisen Abschluss gegen die eine Seite. Wegen der Unvollkommenheit des einh\u00e4ndig umschlie\u00dfenden Tastens gelangt der Blinde alsbald dazu, beide H\u00e4nde in Gebrauch zu nehmen. Weil diese in wechselnder Weise ihre gegenseitige Lage ver\u00e4ndern k\u00f6nnen, so ist derart eine bessere Anpassung an die Eindr\u00fcck\u00e9 erreichbar. Der Blinde hat nun die M\u00f6glichkeit, einige Objecte bald mit einer, bald mit beiden H\u00e4nden zu umschlie\u00dfen, und so bildet sich eine innige Beziehung der einh\u00e4ndigen und beidh\u00e4ndigen Tastfl\u00e4che aus, indem auch die letztere stets auf einheitliche Eindr\u00fccke bezogen wird. Solange nun auf die geschlossene Tastfl\u00e4che ein vollst\u00e4ndig ruhender Eindruck einwirkt, ist die zu Stande kommende Vorstellung selbst in Bezug auf die Oberfl\u00e4chenbeschaffenheit h\u00f6chst unvollkommen. Infolge der eindeutigen Beziehung zwischen indirectem und directem Tasten","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Biinden-Psychologie.\n251\nerfolgt auch hier eine Bewegung des Gegenstandes, welche die einzelnen Theile des letzteren successive mit der Stelle des deutlichsten Tastens in Ber\u00fchrung bringt. Der Gegenstand wird in den H\u00e4nden gedreht, wozu eine stellenweise L\u00f6sung des Handschlusses erforderlich ist. Diese Bewegungen sind nicht continuirlich, sondern sie werden h\u00e4ufig unterbrochen, und es erfolgt ein st\u00e4rkeres Andr\u00fccken des Gegenstandes. Dabei entspringt es sicherlich nicht blo\u00df aus mechanischen Bedingungen, dass die Kanten der Objecte m\u00f6glichst mit jenen Hautstellen Zusammentreffen, die den Gelenken entsprechen. Diesen kommt ein etwas feinerer Raumsinn und eine geringere Normalintensit\u00e4t zu als den umgebenden Hautpartien. Um diese Ber\u00fchrung zu erm\u00f6glichen, werden selbst corrigirende Handbewegungen unternommen.\nDie Vorstellungsbildung bei dieser Tastart erfolgt nicht unter so einfachen Bedingungen, wie in den fr\u00fcher erw\u00e4hnten F\u00e4llen. Hier sind nicht blo\u00df \u00e4u\u00dfere, sondern auch innere Tastempfindungen ma\u00dfgebend, die sich aus den Componenten der Kraft- und Bewegungsempfindungen zusammensetzen. Um das Umschlie\u00dfen des Objectes zu erm\u00f6glichen, muss die Hand ihre Ruhelage verlassen, alle Gelenke vollziehen eine Adduction, welche ihr Ziel erreicht hat bei m\u00f6glichst allseitiger Ber\u00fchrung des Objectes. In diesem Stadium sind die Bewegungsempfindungen von vornehmlicher Bedeutung. Hat die Hand die entsprechende Stellung erreicht, so erfolgt die Perception derselben durch den Complex von Empfindungen, welche Wundt als Lageempfindungen bezeichnet1). Nunmehr wird auch der Raumsinn der Haut in Anspruch genommen. Hierzu ist ein st\u00e4rkeres Andr\u00fccken der Handfl\u00e4che an das zur Auffassung gelangende Object nothwendig, die Muskeln und Sehnen werden gespannt und so entstehen intensive Kraftempfindungen, welche zu den Lageempfindungen in innige Beziehung treten. Auf einer Verwechslung der Kraft- und Bewegungsempfindungen beruht eine eigenth\u00fcmliche T\u00e4uschung bez\u00fcglich der Gr\u00f6\u00dfe der betasteten Objecte, welche bei Ausschluss der optischen Contr\u00f4le auch an Sehenden zu beobachten ist. Man gebe der Versuchsperson zuerst einen Holz-, dann einen gleichgro\u00dfen Papierw\u00fcrfel (aus Carton) in\n1) Wundt, Physiol. Psychologie I (4. Aufl.) S. 420.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nTheodor Heller.\ndie Hand, ohne eine vorhergehende Tastmessung zuzulassen. Regelm\u00e4\u00dfig wird nun der Holzw\u00fcrfel f\u00fcr kleiner gehalten als der Papierw\u00fcrfel. Dass diese T\u00e4uschung dem umschlie\u00dfenden Tasten eigent\u00fcmlich ist, geht daraus hervor, dass ein analoger Irrthum \u00fcber die Gr\u00f6\u00dfe von Fl\u00e4chen beim Auflegen auf die ruhende Hand nicht erfolgt. Offenbar ist der Widerstand, welchen der Holzw\u00fcrfel der Contraction der Handmusculatur entgegensetzt, ein gr\u00f6\u00dferer als jener, welchen die Hand an dem elastischen und daher nachgibigen Papierw\u00fcrfel findet, die Kraft des Umschlie\u00dfens ist im ersten Falle gr\u00f6\u00dfer als im zweiten. Nun wird die gr\u00f6\u00dfere Kraftempfindung nicht ausschlie\u00dflich als solche beurtheilt, sondern das Plus der aufgewandten Kraft wird zum Theil auf die Bewegungsempfindungen \u00fcbertragen und so die Vorstellung einer st\u00e4rkeren Zusammenziehung, in Bezug auf das Object die Vorstellung eines kleineren K\u00f6rpers hervorgebracht.\nAuch beim umschlie\u00dfenden Tasten ist eine ad\u00e4quate Vorstellung der Objecte kaum m\u00f6glich. Die Anpassung der Tastfl\u00e4che ist auch dann keine vollkommene, wenn beide H\u00e4nde zur Verwendung gelangen, wobei aber immerhin runde vor eckigen K\u00f6rpern bevorzugt erscheinen. Ferner zeigt sich der Raumsinn der Haut bei dieser Tastart ung\u00fcnstig beeinflusst, da die Localisationssch\u00e4rfe bei jener Stellung der Hand am g\u00fcnstigsten ist, welche der normalen Ruhelage entspricht, w\u00e4hrend eine gr\u00f6\u00dfere Streckung, noch mehr aber eine st\u00e4rkere Faltung der Haut das extensive Unterscheidungsverm\u00f6gen herabsetzt. Obgleich also ein Zustandekommen pr\u00e4ciser plastischer Vorstellungen hier ausgeschlossen bleibt, so ist der Blinde doch im Stande Aussagen zu machen:\n1)\tob er einen eckigen oder einen runden K\u00f6rper in H\u00e4nden habe. Im zweiten Falle findet eine im allgemeinen gleichm\u00e4\u00dfige, im ersten Falle eine ungleichm\u00e4\u00dfige Vertheilung der Druckempfindungen statt, da dieselben sich an den Kanten und Ecken qualitativ und intensiv anders darstellen als an den Fl\u00e4chen der Objecte;\n2)\tob der K\u00f6rper regelm\u00e4\u00dfig oder unregelm\u00e4\u00dfig sei. Bei runden K\u00f6rpern st\u00fctzt sich dieses Urtheil haupts\u00e4chlich auf die Innervation der Handmuskulatur, bei eckigen auch auf die Auffassung der Entfernungen von Ecken und Kanten.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n253\nDas synthetische Tasten liefert demnach unter allen Umst\u00e4nden nichts anderes als ein schematisches Gesammtbild der Objecte. Die mannigfachen Ungenauigkeiten der auf diese Weise erhaltenen Eindr\u00fccke fordern den Blinden zur Anwendung einer Tastart auf, welche es erm\u00f6glicht, die Gegenst\u00e4nde in Bezug auf Gr\u00f6\u00dfe und Form genauer zu bestimmen. Das analysirende Tasten erscheint unerl\u00e4sslich zur genauen Definition der Eindr\u00fccke, zur Entwicklung ad\u00e4quater Vorstellungen; und \u00fcberall dort, wo sich ein System geordneter Tastbewegungen nicht ausgebildet hat, sind wir vollkommen berechtigt, den betreffenden Blinden pr\u00e4cise Raumvorstellungen abzusprechen. Dennoch scheint in einzelnen F\u00e4llen das synthetische Tasten allein f\u00fcr die Raumanschauung des Blinden zu gen\u00fcgen. Gibt man demselben einen einfachen geometrischen K\u00f6rper (W\u00fcrfel, Kugel etc.) in die Hand, so begn\u00fcgt er sich mit einer oberfl\u00e4chlichen Ber\u00fchrung, vermag aber dennoch \u00fcber die Beschaffenheit des Objectes genaue Angaben zu machen. Diese fl\u00fcchtig betasteten Gegenst\u00e4nde sind jedoch stets aus fr\u00fcheren Erfahrungen hinl\u00e4nglich bekannt und bei freier Wahl der Tastart ausreichend begriffen worden. Hier handelt es sich nicht um eine Vorstellungsgewinnung, sondern um eine Gelegenheit zur Reproduction des Tastbildes, das bereits ein sicherer Besitz des Bewusstseins geworden ist. Es ist daher eine unerl\u00e4ssliche Vorbedingung f\u00fcr alle Tastversuche, sich \u00fcber den Umfang des r\u00e4umlichen Vorstellens der Versuchspersonen genau zu unterrichten und ihnen Objecte vorzulegen, von denen man bestimmt voraussetzen kann, dass sie dem Blinden v\u00f6llig neu, nicht aus fr\u00fcheren Erfahrungen bekannt sind.\n(Fortsetzung folgt.)","page":253}],"identifier":"lit4529","issued":"1895","language":"de","pages":"226-253","startpages":"226","title":"Studien zur Blinden-Psychologie","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:17:03.436435+00:00"}