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{"created":"2022-01-31T12:35:08.052284+00:00","id":"lit4531","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Thi\u00e9ry, Armand","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 307-370","fulltext":[{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\nVon\nArmand Thi\u00e9ry.\nMit 24 Figured im Text.\nEinleitung.\nJe nach ihrem Gegenst\u00e4nde k\u00f6nnen die optischen T\u00e4uschungen in drei Gruppen, Bewegungs-, Farben- und Dimensionst\u00e4uschungen unterschieden werden. Schon lange waren die Bewegungs- und Farben- bez. Coloritt\u00e4uschungen bekannt. Ebenso waren gelegentlich schon verschiedene Dimensionst\u00e4usch\u00fcngen beobachtet. Der Name \u00bbgeometrisch-optische T\u00e4uschungen\u00ab aber ist wohl erst-von Oppel, welcher diese Erscheinungen in gr\u00f6\u00dferem Umfange studirte, in die Wissenschaft ein gef\u00fchrt, worden. Ein weiteres Interesse gewannen dieselben, als im Jahre 1860 Professor Z\u00f6llner in Leipzig die ber\u00fchmte Dimensionst\u00e4uschung ver\u00f6ffentlichte, welche seinen Namen tr\u00e4gt (Z\u00f6llner\u2019sche Figur). Es war dies das erste sehr auffallende Beispiel einer Dimensionst\u00e4uschung, die durch einige einfache gerade Linien bewirkt wurde1). Seit jener Zeit hat man dieses Thema unaufh\u00f6rlich in Abhandlungen und wissenschaftlichen Zeitschriften, in Werken und Zeitschriften \u00fcber Optik, Physiologie und Experimentalpsychologie behandelt. Um die Thatsache zu\n1) Schon Oppel hatte die von Z\u00f6llner gefundenen T\u00e4uschungen an Figuren, welche nur drei gerade Linien enthalten, in ihren Grundz\u00fcgen erkannt. Kundt, der die Oppel\u2019sche Figur weiter ausf\u00fchrte, theilt mit (Pogg. Annal. Bd. CXX, S. 134), dass er auf diese Weise die ganze Z\u00f6llner\u2019sche Figur, ohne dieselbe zu ver\u00f6ffentlichen, schon vor Z\u00f6llner entdeckt hatte.\nWundt, Philos. Studien. XI.\n21","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nArmand Thi\u00e9ry.\nerkl\u00e4ren, hat man Theorien auf Theorien geh\u00e4uft; gewisse Dimensionst\u00e4uschungen z\u00e4hlen mehr als ein Dutzend gelehrter Erkl\u00e4rungen. Diese Theorien werden bald von rein physiologischen, bald von psychologischen oder psychophysischen Grunds\u00e4tzen geleitet; sie widersprechen sich, bek\u00e4mpfen sich oder ignoriren sich gegenseitig, und manche Gelehrte, wie z. B. Aubert, erkl\u00e4ren diesen Meinungsverschiedenheiten gegen\u00fcber unumwunden, dass sie \u00fcberhaupt keine Erkl\u00e4rung zu geben wissen1).\nUnsere erste Aufgabe bestand nun darin, die zerstreuten Beobachtungen zu sammeln, um eine vollst\u00e4ndige Darstellung der Frage zu gehen. Zuweilen waren diese Beobachtungen unzul\u00e4nglich oder unvollst\u00e4ndig, dann versuchten wir, sie durch neue Forschungen zu vervollst\u00e4ndigen. Oefters konnten nur quantitative Feststellungen zwischen mehreren Interpretationen entscheiden; ebenso musste zu Messungen gegriffen werden, um die Wirkungen mehrerer hei einer und derselben Figur zusammen auftretender T\u00e4uschungsursachen zu sondern.\nUmst\u00e4nde und allgemeine Bedingungen der Experimente.\nBei unseren Experimenten haben wir eine Anordnung befolgt, welche derjenigen \u00e4hnlich ist, die Kundt, Messer und Aubert anwandten. Der am schmalen Ende eines langen, rechteckigen Tisches sitzende Beobachter hatte eine aus mit schwarzer Pappe belegten Brettern gebildete spanische Wand vor sich. Damit der Beobachter die Figuren auf dem Tische erblicken konnte, war in passender H\u00f6he ein Loch f\u00fcr die Augen in der Wand gemacht, was verb\u00fcrgte, dass alle Figuren von einem und demselben Punkte aus und unter einem und demselben Winkel gesehen wurden. Wir hielten es f\u00fcr zweckm\u00e4\u00dfig, dieses Loch mit einem sich in einer wagerechten Gleitbahn bewegenden Brettchen zu versehen, das uns gestattete, nach jeder Beobachtung die Figur zu verbergen. Verm\u00f6ge dieser Anordnung konnte die beobachtende Person die Ab\u00e4nderungen, welche der Experimentator nach jeder Beobachtung an den Figuren systematisch vornahm, nicht wahrnehmen. Wir experimentirten in\n1) Aubert, Physiologie der Netzhaut. 1865. S. 272.","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.,\n309\neiner sehr hellen Stuhe; die eine Wand war mit zwei Fenstern und die ansto\u00dfende Wand mit einer nach einer Terrasse gehenden Glas-th\u00fcre versehen. Die Beobachtungen fielen regelm\u00e4\u00dfig in dieselben Nachmittagsstunden, und wir hielten darauf, an einer gro\u00dfen Anzahl von Beobachtern zu experimentiren, um den Beobachtungen die gr\u00f6\u00dfte Zuverl\u00e4ssigkeit zu geben. Unter den Beobachtern, welche die G\u00fcte hatten, mir ihre gesch\u00e4tzte Mitwirkung angedeihen zu lassen, waren viele dazu von Natur aus ganz besonders gut bean-lagt, so z. B. Herr Dr. E. Meumann, welcher \u00fcber Aesthetik und Experimentalpsychologie liest und \u00fcberdies ein ge\u00fcbter Zeichner ist, und Herr Dr. Cohn, der sich durch psychologische Untersuchungen \u00fcber das \u00e4sthetische Gef\u00fchl bei Farbencombinationen bekannt gemacht hat. Beide sind \u00fcberdies ge\u00fcbte Beobachter, ebenso die Herren Stud. Ar rer und Heller, von denen der erste Untersuchungen \u00fcber die Wahrnehmung der Tiefe oder Entfernung der Gegenst\u00e4nde mittelst der Convergenz- und Accommodationsbewegungen, der zweite solche \u00fcber die Wahrnehmung der Formen und Gr\u00f6\u00dfen der Gegenst\u00e4nde mittelst des Tastsinns bei Blinden anstellte. Einige andere Beobachter, wie z. B. Herr Eleutheropoulos, hatten sich mit \u00e4hnlichen Arbeiten noch nicht besch\u00e4ftigt. Selbstverst\u00e4ndlich war keiner der Beobachter von den Fragen im voraus benachrichtigt worden, um deren Beantwortung es sich handelte, um ihre Beobachtungen von theoretischen Vorurtheilen frei zu erhalten. Aus demselben Grunde habe ich selbst keine systematischen Beobachtungen ausgef\u00fchrt, sondern meine Bolle streng darauf beschr\u00e4nkt, die Beihen-folge der Urtheile aufzuzeichnen.\nMethoden und Apparate. Die Beobachter, welche \u00fcber T\u00e4uschungen experimentirten, haben sich in der Begel sehr kleiner Figuren bedient. Wir zogen vor, gr\u00f6\u00dfere Figuren anzuwenden. Wenn auch durch kleine Dimensionen das Experiment erleichtert und Zeit erspart wird, so bringen sie doch bedenkliche Nachtheile mit sich, denn es werden dadurch genaue Feststellungen erschwert, und es k\u00f6nnen dabei die kleinen beim Ablesen begangenen absoluten Irrth\u00fcmer einen verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig bedeutenden Bruchtheil der Figuren darstellen. F\u00fcr viele unserer Figuren z\u00e4hlten wir daher Dimensionen, welche 15\u201430 cm betrugen. Die Figuren werden mit Cont\u00e9stiften auf gek\u00f6rntem Bristolpapier von 60 und 45 cm gezeichnet;\n21*","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nArmand Thi\u00e9ry.\ndiese Bl\u00e4tter werden in einen Rahmen aus schwarzem Holz gespannt; in den R\u00e4ndern des Rahmens sind Nuthen angebracht, welche zwei gro\u00dfe, rechteckige Glasplatten wagerecht und senkrecht gleiten lassen. Die \u00e4u\u00dfere Breite des Rahmens betr\u00e4gt 54 cm, die \u00e4u\u00dfere H\u00f6he desselben 67 cm. Die R\u00e4nder selbst sind 18 mm dick und 45 mm breit, so dass die Dimensionen des inneren Raumes dieses Rahmens 45 und 58 cm betragen. In ihrer Dicke sind die l\u00e4ngeren R\u00e4nder von zwei unmittelbar \u00fcber einander liegenden Spalten durchbohrt, deren eine 59 cm lang und 2,5 mm breit, die andere 60 cm lang und 0,7 mm breit ist. In die letztere kann man seitlich einen Bogen Papier und in die erstere eine Glasplatte schieben, die bei einer H\u00f6he von 59 cm 56 cm breit und 2,5 mm dick ist. Benutzt man eine Glasplatte von geringerer H\u00f6he, so kann dieselbe sowohl in der Richtung der H\u00f6he wie in der der Breite verschoben werden. Die k\u00fcrzeren R\u00e4nder sind von nur einer Spalte durchbohrt, deren Breite 2,5 mm und deren L\u00e4nge 48 cm betr\u00e4gt. In derselben befindet sich eine Glasplatte von 48 cm Breite und 72 cm H\u00f6he. Dieselbe ist in der Richtung der H\u00f6he des Rahmens verschiebbar. Die Spalten sind so eingerichtet, dass das Papierblatt zwischen die beiden Glasplatten gedr\u00fcckt ist. Die Bewegungsweite einer jeden Glasplatte wird auf in Quadratmillimeter getheilte, an den Rahmenr\u00e4ndern befestigte Papierstreifen gezeichnet. Vermittelst der dermographischen Stifte kann man einen Punkt der einen Linie auf den Glasplatten zeichnen. Durch die Bewegung der Platte kann sich dann der auf diese Weise gezeichnete Punkt von einer unbeweglichen Figur auf dem Papier entfernen oder derselben n\u00e4hern und so nach Belieben Aenderungen in der Entfernungsgr\u00f6\u00dfe zeigen. Ein anderes von uns noch \u00f6fters angewandtes Mittel wurde uns von Professor Wundt an die Hand gegeben; dasselbe besteht darin, Papierbogen \u00fcbereinander gleiten zu lassen. Der eine Bogen ist fest und besetzt den ganzen Rahmen ; der andere kleinere Bogen ist zwar beweglich, er wird aber durch die Glasplatte auf dem gr\u00f6\u00dferen Bogen genau festgehalten. Auf diese Weise verdeckt der bewegliche Bogen einen ver\u00e4nderlichen Theil der Figur, oder es zeigt dieser bewegliche Bogen einen Zeich-nungstheil, welcher sich der \u00fcbrigen Figur anpasst, und er wird so verstellt, dass er die Dimension der Figur sich ver\u00e4ndern l\u00e4sst.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\t311\nDie Verstellung des Papierbogens wird wie im vorhergehenden Falle mittelst in Quadratmillimeter getheilten Papiers gemessen. Im Laufe vorliegender Aufzeichnungen werden wir \u00fcbrigens noch einige besondere Anordnungen beschreiben, welche wir bei den Specialfragen anzuwenden veranlasst wurden.\nNach den verschiedenen durch Augenma\u00df falsch gesch\u00e4tzten Elementen kann man dreierlei T\u00e4uschungsgruppen unterscheiden. Falsch sch\u00e4tzen k\u00f6nnen wir n\u00e4mlich erstens die Richtungen, zweitens die Gr\u00f6\u00dfe der Dimensionen, und drittens die Kr\u00fcmmungen von Curven. Diese drei Gruppen (Richtungst\u00e4uschungen, Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen, Kr\u00fcmmungst\u00e4uschungen) wollen wir in drei Capiteln besprechen. Ein viertes Capitel soll einen allgemeinen Ueberblick \u00fcber die gemeinsamen T\u00e4uschungsursachen geben. Die zwei ersten Capitel zerfallen wieder in mehrere Abtheilungen und zwar in folgender Ordnung:\nErstes Capitel (Richtungst\u00e4uschungen).\n\u00a7 1. T\u00e4uschungen an parallelen Linien, welche von parallelen Transversalen geschnitten werden.\n\u00a7 2. Aehnliche T\u00e4uschungen, wenn die Transversalen con-vergiren.\n\u00a7 3, T\u00e4uschung an Transversalen selbst.\nZweites Capitel (Gr\u00f6\u00dfent\u00e4uschungen).\n\u00a7 1. T\u00e4uschungen an unter einander \u00e4hnlichen Figuren, welche von parallelen Transversalen geschnitten werden.\n\u00a7 2. T\u00e4uschungen an gemessenen Distanzen, welche von convergirenden Transversalen geschnitten werden.\n\u00a7 3, Aehnliche T\u00e4uschungen an un\u00e4hnlichen Figuren, bei welchen die Transversalen unter einander parallel sind.\n\u00a7 4. T\u00e4uschungen an bestimmten Distanzen ohne specielle R\u00fccksicht auf die Transversalen.\n\u00a7 5. Allgemeine T\u00e4uschungsursachen hei Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzungen.","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nArmand Thi\u00e9ry.\nCapitel I. Richtungst\u00e4uschungen.\n\u00a7 1. Richtungst\u00e4us chungen an parallelen Linien, welche von parallelen Transversalen durchschnitten werden.\nDie Z\u00f6llner\u2019sche Figur besteht aus drei verschiedenen Systemen gleicher, parallel verlaufender und gleich weit von einander abstehender gerader Linien. Ein erstes System bilden l\u00e4ngere Linien ; mit diesen bilden die beiden anderen, aus viel k\u00fcrzeren Linien bestehenden Systeme spitze Winkel von 30\u00b0 oder 50\u00b0. Diese beiden Parallelensysteme schneiden symmetrisch und abwechselnd die Linien des ersten Systems. Die T\u00e4uschung besteht darin, dass die Linien des ersten Systems (Hauptlinien) uns nicht parallel zu sein scheinen. Zwei solche neben einander liegende Linien scheinen aus einander zu gehen in der Richtung, wo die Querlinien zusammenlaufen, und scheinen zusammen zu laufen in der Richtung, wo die letzteren aus einander gehen. Die erste, dritte, f\u00fcnfte etc. Linie scheinen mit einander parallel, ebenso die zweite, vierte, sechste etc.1).\n1) Die T\u00e4uschung wurde zuerst von Montaigne an Ringen beobachtet, auf die der Goldschmied schr\u00e4ge Linien, wie Federfahnen gravirt hatte (R. Blondlet und Egger, Revue scientifique 52, p. 252, 1893). Montaigne schreibt n\u00e4mlich folgendes : Ces bagues sont entaill\u00e9es en forme de plumes qu\u2019on appelle en devise Pennes sans fin, il n\u2019y a \u0153il qui en puisse discerner la largeur et qui se s\u00fbt d\u00e9fendre de cette piperie que d\u2019un c\u00f4te elles n\u2019aillent en \u00e9largissant et en s\u2019appointant et s\u2019\u00e9tr\u00e9cissant par l\u2019autre m\u00eame quand on les roule autour du doigt; toutefois au maniement elles vous semblent \u00e9quables en largeur et partout pareilles. Montaigne, apolog. de Raymond S\u00e9bond, p. 568 (Edition Jules Leclercq).\nFig. 1.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"313\nUeber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\nEinfache T\u00e4uschung beobachtet an plastischen Gegenst\u00e4nden. In den Lehrb\u00fcchern der Optik aus dem vorigen Jahrhundert findet sich eine \u00e4hnlich beschriebene T\u00e4uschung, deren Studium einfacher ist, weil die T\u00e4uschung nicht an Zeichnungen, sondern an reellen Gegenst\u00e4nden beobachtet worden ist. In Rougham (England) liegt eine von einem Landhause ab bis zu einer Baumallee allm\u00e4hlich sich erhebende, eine halbe Meile lange Wiese. Die Seiten der Baumallee verlaufen ganz parallel, und doch scheinen ihre \u00e4u\u00dfersten Enden, vom Landhause aus gesehen, zu divergiren1). Dass die Endpunkte der Allee h\u00f6her gesehen werden als ihre Anfangspunkte, kann von zwei Ursachen herr\u00fchren : entweder der Boden steigt wirklich an (und das ist der reelle Fall), oder die Erhebung kann blo\u00df scheinbar sein und daher r\u00fchren, dass ein wirklich horizontal liegender Boden sich mit wachsender Entfernung scheinbar erhebt. In diesem letzten Fall (einer scheinbaren Erhebung), welcher am h\u00e4ufigsten vorkommt und deshalb der vorwiegende ist, \u00fcbersch\u00e4tzt man bedeutend die Entfernung der Endpunkte. Wenn das Auge sich in einer geringen Entfernung vor einer schwach sich erhebenden Ebene befindet, z. B. vor der Erhebung der B\u00fchne in einem Theater, so wird diese B\u00fchnenebene tiefer, also l\u00e4nger erscheinen, als wenn die Ebene genau wagerecht ginge. Besonders scharf wird dies hervortreten, wenn die seitlich liegenden Coulissen passend nach hinten convergiren. Von der B\u00fchnenerhebung glauben wir dieselbe Vorstellung zu haben, als ob die B\u00fchne eine lange, mit, parallelen Seiten versehene Allee w\u00e4re. Ebenso \u00fcbersch\u00e4tzen wir die Entfernung der Endpunkte der oben erw\u00e4hnten Allee.\nErste plastische Ansicht der Z\u00f6llner\u2019schen Figur (Untersuchung von Helmholtz)2). Wenn man \u00fcber das Z\u00f6llner-sche Muster horizontal von rechts nach links, senkrecht zu den L\u00e4ngsstreifen eine Nadelspitze f\u00fchrt und ihr mit dem Blicke folgt, so kommt die Figur in die seltsamste Unruhe; der erste, dritte, f\u00fcnfte schwarze Streifen steigt aufw\u00e4rts, der zweite, vierte, sechste abw\u00e4rts; das Umgekehrte erfolgt, wenn die Richtung der Bewegung umgekehrt wird. Dabei erscheinen die aufw\u00e4rtssteigenden Streifen den\n1)\tSmith, Lehrbegriffe der Optik. Franz\u00f6sische Uebersetz. p. 113. Kaestner\u2019s Deutsche Uebersetz. S. 55.\n2)\tPhys. Optik. 1. Aufl. S. 570.","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nArmand Thi\u00e9ry.\nabw\u00e4rtssteigenden nicht parallel, sondern theils gegen einander, theils auch gegen die Ebene der Zeichnung in entgegengesetzter Weise geneigt, und zwar neigen sich die aufw\u00e4rtssteigenden mit ihrem oberen Ende nach der Richtung, in der die Nadelspitze bewegt wird, hingegen die abw\u00e4rtssteigenden mit demselben Ende gegen die genannte Richtung, so dass also in besonders auffallender Weise w\u00e4hrend dieser Scheinbewegung die eigenth\u00fcmliche T\u00e4uschung durch die beschriebene Figur zum Vorschein kommt1). Hieraus schloss Helmholtz, dass die Bewegung der Nadelspitze in uns den Eindruck einer Bewegung der Linien hervorruft; dies geschehe verm\u00f6ge einer Erscheinung, welche er \u00bbRichtungscontrast\u00ab nannte. Die Bewegung der Spitze erwecke in uns2) den Eindruck einer Divergenz, da die Nadel die Linien in einer mitgetheilten Bewegung mitzuschleppen scheine. Auf keine Weise erkl\u00e4rt aber Helmholtz den von ihm sogenannten Richtungscontrast. Auch ist der Reliefeindruck und die von Helmholtz in seinem Versuche beobachtete Bewegung nicht unbedingt von einem bewegten Gegenst\u00e4nde abh\u00e4ngig. So hat Hering ohne Mithiilfe einer Nadelspitze denselben Reliefeindruck beobachtet an nur zwei der Z\u00f6llner\u2019schen Figur \u00e4hnlichen parallelen Linien, welche auf eine nicht polirte Glasplatte gezogen waren. Er konnte deutlich sehen, wie diese Parallelen die von Helmholtz beobachtete Lage einnahmen3).\nZweite plastische Ansicht des Z\u00f6llner\u2019schen Musters (Guye\u2019s Versuch)4). Ebendasselbe hat Guye beobachtet: nicht nur an zwei parallelen Linien, sondern an dem vollst\u00e4ndigen Z\u00f6llner-schen Modell. Er zeichnete die Figur auf ein Blatt gew\u00f6hnlichen Papiers, das er passend schief gegen die Visirebene hielt. Er sah auf diese Weise, dass die transversalen Linien nicht mehr schief gegen einander schienen. Die ganze Figur schien wie plastisch gezeichnet, Die Transversalen schienen senkrecht zu den Haupt-\n1)\tDass die scheinbare Divergenz oder Convergenz der L\u00e4ngsstreifen zunimmt, wenn diese stereoskopische Ansicht deutlich wird, deutet schon an, wie innig die T\u00e4uschung mit der plastischen Ansicht verbunden ist, und zwar so, dass diese Ansicht der T\u00e4uschung genau entspricht, wie wir sp\u00e4ter sehen werden.\n2)\tNach der Meinung von Helmholtz.\nx 3) Hermann\u2019s Handb. d. Physiologie Bd. Ill, Th. I, S. 579.\n4) Maan Blad der sectie voor Natuure Wetenschapen No. 6. 1873 Revue scientifique 1893, S. 594.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optisehe T\u00e4uschungen.\n315\nstreifen zu stehen und sich in Ebenen zu befinden, welche mit der Ebene des Blattes einen Winkel von 45\u00b0 bildeten, so dass sie einander abwechselnd oberhalb und unterhalb der Ebene des Papierblattes begegneten. Es gibt dann einen auffallenden stereoskopischen Effect derart, dass wir die Zeichnung auf einem l\u00e4ngsgefalteten Blatte zu sehen glauben; die Querstriche scheinen mit ihren oberen H\u00e4lften gegen die K\u00e4mme, mit ihren unteren gegen die Th\u00e4ler der Falten gerichtet.\nZur Erkl\u00e4rung des Versuches von Helmholtz und Guye wollen wir ein von Wundt auf dem Gebiete der Nachbilder ausgef\u00fchrtes Experiment in Erinnerung bringen.\nWundt\u2019scher Versuch1). Der Wundt\u2019sche Versuch ist folgender : Man fixirt monocular eine in einer etwas schiefen Ebene sich befindende Linie so lange, bis man ein Nachbild dieser Linie erh\u00e4lt. F\u00fcr jedes Auge ist die Linie eine andere, d. h. f\u00fcr das rechte Auge ist die Linie nach rechts geneigt und f\u00fcr das linke nach links, so dass die Nachbilder der zwei Augen sich kreuzen. Wird nun die Ebene um eine horizontale Achse gedreht, so fallen die zwei Halbbilder in ein verticales Bild zusammen. Die scheinbare Drehung der Linien ist in dem Helmholtz\u2019schen Versuche dieselbe wie die wirkliche Drehung im Wundt\u2019sehen Experimente. Die Netzhautbilder, die wir auf Fl\u00e4chen projiciren, werden ver\u00e4ndert je nach den Abst\u00e4nden und den Oberfl\u00e4chen, auf welche die Projection stattfindet. Es ist z. B. eine wohlbekannte Thatsache, dass das Nachbild einer Kerze sehr klein und sehr gl\u00e4nzend erscheint, wenn das Bild auf die Hand projicirt wird ; dagegen sehr gro\u00df und wenig gl\u00e4nzend, wenn die Projectionsebene eine weit abstehende Wand ist. Wir haben den Versuch variirt. Ein Diaphragma von 1 mm war an ein cylindrisches Bohr von 4 cm L\u00e4nge und 3,5 cm Durchmesser befestigt. Das eine Auge betrachtete durch dieses Ocular einen Gegenstand, den wir zu gleicher Zeit auch mit dem andern Auge fixirten. Das ganze Sehfeld bietet alsdann an der durch das Ocular gesehenen Stelle einen st\u00e4rker beleuchteten Kreis, so als ob die Sonne dorthin ein cylinderf\u00f6rmiges Strahlenb\u00fcndel ausgesendet h\u00e4tte. Wir haben auf diese Weise verschiedene Gegen-\n1) Physiol. Psychol. 4. Aufl. Bd. II, S. 196.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nArmand Thi\u00e9ry.\nst\u00e4nde in verschiedenen Abst\u00e4nden beobachtet und gesehen, dass die Oberfl\u00e4che wie auch die Lichtintensit\u00e4t des Kreises stark variirte. Befestigt man, wie Volkmann1) gethan hat, in diesem Rohre in n\u00e4chster N\u00e4he des Auges ein Fadenkreuz, so wird dieses nicht selbst gesehen, sondern der von den F\u00e4den gebildete Schatten wird auf die Gegenst\u00e4nde wie ein Nachbild projicirt und ver\u00e4ndert. Die F\u00e4higkeit, unsere Nachbilder zu \u00e4ndern, ist \u00fcbrigens nicht unbegrenzt2). Man wei\u00df, dass, sobald die Oberfl\u00e4chen, auf die wir projiciren, zu complicirt sind, wir unsern Nachbildern keine entsprechenden Aen-derungen mehr beibringen: anstatt auf die wirklichen, unter dem Auge befindlichen Oberfl\u00e4chen, projiciren wir die Bilder auf imagin\u00e4re Ebenen. Der Wundt\u2019sche Versuch gelang Volkmann offenbar nicht, weil er die Nachbilder in die Luft projicirte3). Volkmann hat sodann den Wundt\u2019sehen Versuch nachgeahmt mit der Ver\u00e4nderung, dass dessen Ebene durch zwei Fl\u00e4chen eines Prismas ersetzt wurden. Auf jede dieser Fl\u00e4chen projicirt man das Nachbild einer verticalen Linie. Befinden sich nun die beiden Fl\u00e4chen in verticaler Richtung, so erscheinen die beiden verticalen Linien parallel, dreht man jedoch das Prisma um eine horizontale Linie in der Weise, dass das obere Ende am weitesten entfernt ist, so scheinen dieselben verticalen Linien nach oben zu divergiren. Es wird so\n1)\tPhysiol. Unters, im Gebiet d. Optik I, S. 169.\n2)\tMan wei\u00df, dass die Art der Projection mit den Augenmuskelbewegungen innig verbunden ist, und dass eine schwache Fixation und bestimmte Augenbewegungen ein Hinderniss f\u00fcr die stereoskopische Projection sein k\u00f6nnen. Volkmann glaubte sogar, es sei nicht m\u00f6glich, dass das Nachbild einer geraden Linie in den Projectionsfl\u00e4chen gebrochen erscheine. Es waren aber nur die Oberfl\u00e4chen, auf welche er projicirte, zu complicirt, so dass sie nicht mehr continuirlich von dem Auge durchlaufen werden konnten. Wir haben mittels zweier einander senkrecht kreuzender F\u00e4den folgenden Versuch gemacht: Wenn wir von einem oberhalb des Bodens liegenden Punkte aus schauten und den horizontalen Kreuzfaden auf eine durch einen Giebel einerseits und das schiefe Dach eines angrenzenden Stalles anderseits gebildete Linie projicirten, so gelang es uns, den verticalen Kreuzfaden gebrochen zu sehen. Der auf das Dach projicirte Theil schien nach links gerichtet zu sein, wenn wir nach rechts projicirten, und umgekehrt. Die vollst\u00e4ndigen, ohne Brechung stattfindenden Directionsabweichungen sind jedoch viel leichter zu beobachten und kommen h\u00e4ufiger vor. Nur mit diesen Abweichungen wollen wir uns hier besch\u00e4ftigen.\n3)\tUebrigens d\u00fcrfte vielleicht f\u00fcr Volkmann dieser Versuch besonders schwer gewesen sein, da f\u00fcr ihn individuell die Halbbilder einer scheinbar verticalen Linie nicht symmetrisch zur wirklichen Verticale lagen {siehe unten).","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"lieber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n317\ndie T\u00e4uschung der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur ohne Transversale, und nur mittels zweier Prismenfl\u00e4chen dargestellt1).\nProjection auf gezeichnete Gegenst\u00e4nde (Gezeichnete Prismen). Wir besch\u00e4ftigen uns jetzt mit der Frage, wie die Transversalen die Stelle der zwei Prismenfl\u00e4chen einnehmen k\u00f6nnen. Dass die Transversalen der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur denselben Einfluss wie die Prismenfl\u00e4chen haben, r\u00fchrt daher, dass diese Linien perspecti-visch ganz den Prismenfl\u00e4chen \u00e4hnliche Ebenen vorstellen. Da f\u00fcr dieselbe T\u00e4uschung in beiden F\u00e4llen dieselbe Ursache vorhanden sein muss, so ist diese nur in den f\u00fcr die beiden F\u00e4lle gemeinsamen Umst\u00e4nden zu suchen, d. h. in der Lage der Ebenen, sei es dass diese Ebenen in der Wirklichkeit bestehen, wie am Prisma, oder dass sie nur perspectivisch mittels der Transversalen vorgestellt werden, wie an der Figur von Z\u00f6llner. In beiden F\u00e4llen projicirt das Auge die langen, parallelen Linien auf die Ebenen und ruft dadurch in diesen Linien eine der Lage der Ebenen entsprechende Aenderung hervor. Diese ist f\u00fcr wirkliche Gegenst\u00e4nde dieselbe wie f\u00fcr perspectivische Zeichnungen.\nIm allgemeinen projiciren wir unsere Netzhautbilder, als ob wir, anstatt der Zeichnungen, die durch die Zeichnungen vorgestellten Gegenst\u00e4nde vor uns h\u00e4tten, und es erfahren dann unsere Bilder dieselben Aenderungen, als wenn die perspectivisch vorgestellten Gegenst\u00e4nde selbst anwesend w\u00e4ren. Auf einer schwarzen Tafel hatte Volkmann ein wei\u00dfes Blatt so perspectivisch gezeichnet, dass es sich nach einer Richtung vom Beobachter weg zu entfernen\nschien. Als er darauf das Nach-\t_.\nFig. 2.\nbild eines Kreuzes auf dieses\nBlatt projicirte, beobachtete er dieselben Aenderungen des Kreuzes, als wenn dasselbe wirklich auf eine nach der Tiefe sich erstreckende Ebene projicirt worden w\u00e4re: das rechtwinklige Kreuz erschien\n1) a. a. O. S. 150.","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nArmand Thi\u00e9ry.\nschiefwinklig. Die Fig. 2 zeigt die n\u00e4mliche Erscheinung in dreifacher Wiederholung an drei Ebenen eines perspectivisch gezeichneten rechtwinkligen Parallelepipeds. Volkmann hat ferner eine Zeichnung ausgef\u00fchrt, welche die Figur des im vorigen Versuche ben\u00fctzten Prismas darstellte, und daran dieselben Divergenzen und Convergenzen wie an dem wirklichen Prisma beobachtet. Diese beiden stehenden Kreuze in Fig. 2 geben aber die Grundz\u00fcge der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur wieder. Denn die Querstriche der Z\u00f6llner -schen Figur kommen in dieselbe imagin\u00e4re Ebene zu liegen, in der wir die schiefwinkeligen Kreuze erblicken. Wenn man die verticale Linie in denselben verl\u00e4ngert und zu ihren transversalen Linien mehrere Parallelen zieht, so bleiben die imagin\u00e4ren Ebenen dieselben. Die so construirten Figuren w\u00fcrden sich vollst\u00e4ndig mit dem Z\u00f6llner\u2019sehen Muster decken.\nZweideutige Zeichnungen. Alle perspectivischen Zeichnungen haben eine Beziehung zu dem Orte, wo das Auge des Beobachters oder des Zeichners gedacht wird. Je nachdem dieser Ort vorgestellt wird, lassen sich gewisse Zeichnungen auf mehrere Weisen auffassen.\nR\nEin schiefwinkeliges Kreuz kann zwei verschiedene Dinge darstellen: Denkt man sich den Zeichner von oben herabsehend, so\nstellt die Zeichnung, nach dem oben Gesagten, eine an ihrem oberen Ende vom Beobachter weggeneigte Ebene dar; dagegen zeigt dasselbe Kreuz dem von unten hinaufsehenden Zeichner eine an ihrem oberen Ende dem Beobachter n\u00e4her kommende Ebene an. Geht man daher von der ersten Auffassung zu der zweiten \u00fcber, so f\u00fchrt die Ebene des Kreuzes eine Drehung um eine horizontale Achse aus.\njS\nFig. 3.\nEs gibt vier verschiedene Auffassungen der Figur 3:\n1.\tDie beiden Ellipsenbogen AB treten hervor. Die Figur sieht aus wie ein von oben gesehener Cylinder.\n2.\tDie beiden andern Ellipsenbogen US treten hervor. Die Figur sieht aus wie ein von unten gesehener Cylinder.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n319\n3.\tDie zwei mittleren Bogen AS treten hervor, so dass die Figur eine cylindrische convexe Linse vorstellt.\n4.\tDer obere und der untere Bogen BR treten hervor, so dass die Figur einen Cylinder darstellt, dessen vorderer Theil sehr nah und dessen hinterer Theil sehr weit vom Beobachter entfernt liegt.\nBei den zwei letzten Auffassungen werden die vorgestellten Gegenst\u00e4nde nicht mehr von unten oder von oben, sondern von vorn betrachtet, d. h. gerade vor den Augen des Beobachters.\nDie zwei ersten Auffassungen, bei welchen die Gegenst\u00e4nde von oben oder von unten gesehen werden, entsprechen der oben erw\u00e4hnten von Guye beobachteten stereoskopischen Ansicht des Z\u00f6llner\u2019schen Musters. Die zwei letzten, in welchen die Gegenst\u00e4nde von vorn gesehen werden, entsprechen der von Helmholtz beobachteten stereoskopischen Ansicht.\ni\nt\nFig. 6.\nFig. 5.\nFig. 4.\nFigur 5 ist die Darstellung eines von oben gesehenen und Figur 4 die eines von unten gesehenen Prismas. Diese Zeichnungen werden zweideutig, indem man (Fig. 6) die zwei Figuren 4, 5 so combinirt, dass die zwei Prismen eine gemeinschaftliche seitliche Ebene haben. Wenn die Augen von der ersten seitlichen Fl\u00e4che zur zweiten nach links sich bewegen, so stellt die Figur 6 eine gefaltete von oben gesehene spanische Wand dar. Man k\u00f6nnte diese","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nArmand Thi\u00e9ry.\nFigur auch als die obere Fl\u00e4che einer Treppe betrachten, und in der That hat die Figur dieselben Linien, wie die bekannte Schr\u00f6der-sche Treppenfigur (Fig. 7). So sind denn auch zwei Interpretationen, wie bei dieser, m\u00f6glich und zwar: Wenn man die Augen von rechts nach links bewegt (Fig. 6), so tritt die gemeinschaftliche Ebene mit ihrer rechten Kante hervor und bildet diese Ebene mit der rechten Ebene das Prisma der Figur 5. Dagegen tritt dieselbe rechte Kante von der gemeinschaftlichen Ebene zur\u00fcck, wenn die Augen von der zweiten zu der dritten Fl\u00e4che nach links die Figur durchlaufen. In\ndiesem Falle scheinen die zwei links liegenden Ebenen das Prisma von Figur 4 darzustellen. Die gemeinschaftliche Ebene hat so nach einander zwei ganz andere Lagen erhalten. Die seitlichen Kanten dieser Ebenen haben die Scheitel zuerst eines convexen und dann eines concaven Fl\u00e4chenwinkels gebildet. Dieselben Erkl\u00e4rungen gelten nat\u00fcrlich auch, wenn man annimmt, dass der Beobachter immer denselben Standpunkt beibeh\u00e4lt und das Prisma um eine horizontale Achse sich dreht. Die Figur 4 zeigt dann das Prisma mit dem oberen Ende entfernter und die Figur 5 das Prisma mit dem unteren Ende entfernter. Bewegt sich der Blick des Auges in Figur 8 (f. S.) in der Richtung ab von der ersten Linie zur zweiten, so scheinen sich die imagin\u00e4ren Ebenen dieser Linien mit ihrem oberen Ende vom Beobachter zu entfernen. Die beiden mit Transversalen versehenen L\u00e4ngsstreifen reproduciren in diesem Falle die beiden entsprechenden Ebenen des Prismas (Fig. 4) und werden so betrachtet die Darstellung eines Fl\u00e4chenwinkels, dessen Fl\u00e4chen nicht senkrecht stehen, sondern um eine horizontale Achse gedreht sind und zwar so, dass das obere Ende vom Beobachter entfernter liegt. Wenn aber das Auge die Strecke zwischen der zweiten und der dritten Linie fixirt, so werden die beiden Linien","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n321\nin Ebenen gesehen werden, deren obere Enden dem Beobachter n\u00e4her kommen. Die Linie dd entspricht der gemeinschaftlichen Ebene der Prismen. Diese Linie dd wird folglich in einer Ebene gesehen, welche ganz verschieden ist von derjenigen, in welcher sich diese Linie unmittelbar vorher befand, als das Auge zwischen cc Und dd war. Die Linie dd hat so eine Drehung ausgef\u00fchrt und zwar in einer Ebene, die fast senkrecht zur Linie ab liegt. Eine solche Drehung f\u00fchrt jeder L\u00e4ngsstreifen aus, wenn die Augen von b nach a und von a nach l die Figur durchlaufen. Diese Drehung aller Linien nach einander ruft in der Zeichnung die von Helmholtz beobachtete unaufh\u00f6rliche Bewegung und Unruhe hervor. Im obigen Schema bedeutet dann ab die von der Nadelspitze beschriebene Linie. Der wagerechte Pfeil zeigt die Richtung der Bewegung der Nadelspitze an; die an den Linien hinlaufenden Pfeile\nbezeichnen die um die Achse ab dem Beobachter entgegenkommenden Drehungen. Anstatt die Nadelspitze zu bewegen, kann man aber auch eine Linie ab in der Richtung der Bewegung mit Tinte ziehen. Diese Linie fixirt dann das Auge in gleicher Weise wie die Nadelspitze in dem Versuch von Helmholtz. Um diese Linie kann die beschriebene Drehung der Linien stattfinden, und deshalb wird die T\u00e4uschung gr\u00f6\u00dfer als bei der gew\u00f6hnlichen Porm der Z\u00f6llner\u2019schen Figur. Die T\u00e4uschung nimmt daher auch bei der Z\u00f6llner\u2019schen Figur bedeutend ab, wenn diese in der Richtung der L\u00e4ngsstreifen durchlaufen wird, vergr\u00f6\u00dfert sich dagegen, wenn das Auge in einer zu den L\u00e4ngsstreifen senkrechten Richtung sich bewegt.\nProjection der L\u00e4ngsstreifen in der Z\u00f6llner\u2019schen Figur. Was wir \u00fcber die perspectivischen Projectionen der Netzhautbilder gesagt haben, k\u00f6nnen wir jetzt auf die Z\u00f6llner\u2019sche Figur anwenden. Man denke sich ein verticales Prisma, von dem blo\u00df zwei Seitenfl\u00e4chen gesehen werden. Das Prisma ist um eine horizontale Achse","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nArmand Thi\u00e9ry.\nbeweglich. Auf jede der sichtbaren Fl\u00e4chen des Prismas zeichnet man eine verticale durch horizontale Striche eingetheilte Linie. Wenn das Prisma so gedreht worden ist, dass sein oberer Theil vom Beobachter entfernt liegt, dann wird das Prisma als Figur 4 und die wagerechten Striche werden als Transversalen erscheinen. Die ein-getheilten Linien werden jetzt in Folge dessen nach oben convergent gesehen. Da das Auge des Beobachters in der H\u00f6he der Achse liegt, so sind auch die oberen Endpunkte der Linien dem Beobachter n\u00e4her als die unteren; der Gesichtswinkel der Distanz zwischen den oberen Endpunkten ist also kleiner wie der zwischen den unteren. Ferner: wirklich nach oben divergirende Linien w\u00fcrden in diesem Fall als parallele Linien gezeichnet werden m\u00fcssen. Denn wie der Gesichtswinkel der Distanz zwischen den oberen Endpunkten, ist auch der zwischen den unteren nach der Drehung des Prismas kleiner geworden. In \u00e4hnlicher Weise sieht man, dass die parallelen Linien dem Gesichtswinkel nach an ihren oberen Enden divergiren, wenn das Prisma mit seinem unteren Ende von dem Beobachter sich entfernt, und ferner w\u00fcrden in diesem Falle auch objectiv nach oben convergirende Linien als parallele gezeichnet werden m\u00fcssen. Man wei\u00df ja, dass unsere Sch\u00e4tzung der Gesichtswinkel an sich selbst sehr mangelhaft ist. Wir bilden uns vielmehr ein Urtheil \u00fcber die absolute Gr\u00f6\u00dfe von Gegenst\u00e4nden, indem wir deren Gesichtswinkel nebst ihrer scheinbaren Entfernung in Betracht ziehen \u2019). Die scheinbare Entfernung ist also ein zweiter unmittelbar mitwirkender Factor der Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzung. Mit H\u00fclfe dieses zweiten Factors kann man die objectiven Gr\u00f6\u00dfen erkennen. In der Z\u00f6llner-schen Figur sind die L\u00e4ngsstreifen dem Gesichtswinkel nach parallel, und doch scheinen sie nach dem zweiten Factor (der gedachten\n1) Wundt, Menschen- u. Thierseele, 2. Aufl., S. 190: \u00bbMeine Anschauung der Gegenst\u00e4nde ist also immer abh\u00e4ngig von der Entfernung derselben, aber nicht von ihrer wahren, sondern von ihrer vorgestellten Entfernung. Von umfassendster Bedeutung ist der Umstand, dass wir mit Tiefen rechnen, d. h. dass die wahrgenommenen und vorgestellten Elemente, die die Tiefengr\u00f6\u00dfe vertreten, auf Grund der Erfahrung in unserm Denken und Handeln durchaus die Rolle wirklich wahrgenommener oder vorgestellter Tiefengr\u00f6\u00dfen spielen. Nicht die Vorstellungen und Wahrnehmungen an sich, sondern was sie uns in irgend welcher Hinsicht \u00bbbedeuten\u00ab ist uns ja am Ende in allem Wahrnehmen und Vorstellen das eigentlich Wesentliche.\u00ab","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n323\nEntfernung gem\u00e4\u00df) zu convergiren resp. zu divergiren. Sie werden n\u00e4mlich beurtheilt als Darstellung von Linien, die sich objectiv entfernen oder n\u00e4hern. Die Gesichtshilder erscheinen v\u00f6llig zwingend in der relativen Gr\u00f6\u00dfe, die thats\u00e4chlich nicht den Gesichtsbildern, sondern den entsprechenden wirklichen Objecten zukommt.\nDie Z\u00f6llner\u2019sche Pseudoskopie wird dadurch verursacht, dass die Gesichtsbilder der L\u00e4ngsstreifen nicht in ihrer wirklichen, sondern in einer scheinbaren Entfernung (den Prismen entsprechend) localisirt werden. Die Z\u00f6llner\u2019sche Figur kann daher auch in folgender Weise erkl\u00e4rt werden: Die L\u00e4ngsstreifen, die in der Ebene des Papiers liegen, sind Kreuzf\u00e4den \u00e4hnlich, die Querstreifen stellen Querehenen etwa wie Prismenfl\u00e4chen dar, deren ebener oberer Theil entweder hervor- oder zur\u00fccktritt. Auf diese Ebenen werden die L\u00e4ngsstreifen projicirt und erfahren deshalb eine entsprechende Ver\u00e4nderung, welche die T\u00e4uschung hervorruft.\nNeigung der Zeichnungsebene zur Visirebene in zweifacher Weise, den zwei verschiedenen stereoskopischen Ansichten entsprechend. Wir betrachten nochmals dasZ\u00f6llner-sche Modell in seiner gew\u00f6hnlichen Form und denken uns die L\u00e4ngsstreifen vertical in der Zeichnung stehend. Neigt der Beobachter die Ebene des Blattes in der Weise, dass er die Figur unter einem sehr kleinen Winkel oder parallel zur Visirebene zu sehen bekommt, so verschwindet die T\u00e4uschung. Z\u00f6llner hat diese Eigent\u00fcmlichkeit auch bemerkt, ohne jedoch eine Erkl\u00e4rung daf\u00fcr zu geben. Die Erkl\u00e4rung ergibt sich indessen aus dem oben Gesagten. Wenn n\u00e4mlich das Auge in der erw\u00e4hnten Lage sich befindet, so liegt scheinbar die Durchschnittslinie der Zeichnungsebene und der Visirebene in der Unendlichkeit, und die L\u00e4ngsstreifen, die sich um diese Durchschnittslinie drehen, m\u00fcssen demnach in Ebenen zu liegen scheinen, deren Kanten parallel zur Zeichnungsebene sind. In diesem Falle bewegen sich die Augen nat\u00fcrlich in der Richtung der L\u00e4ngsstreifen, was das Verschwinden der scheinbaren Convergenz beg\u00fcnstigt.\nWie bemerkt, stellen die Figuren 4 und 5 entweder ein von oben oder von unten gesehenes Prisma dar; aber dieselben Figuren stellen auch ein vor den Augen liegendes Prisma dar, dessen oberes\nWundt, Philos. Studien. XI.\t22","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nArmand Thi\u00e9ry.\nEnde nach r\u00fcckw\u00e4rts bez. nach vorn liegt, und zwar so, dass das Prisma nicht vertical steht, sondern um eine horizontale Achse eine nach hinten bez. vorn gerichtete Drehung erfahren hat. Gew\u00f6hnlich bringt man die Zeichnung in eine ann\u00e4hernd zur Visirebene senkrechte Lage, dann ist nat\u00fcrlich diese zweite Auffassung der Figuren vorhanden. Dagegen ist die erste Auffassung, bei der die Prismen vertical stehen, vorwiegend, wenn Figur 4 von untep und Figur 5 von oben gesehen wird. Betrachtet man umgekehrt Figur 4 von oben und Figur 5 von unten, so erscheinen beide als Hohlprismen, an denen die vordere Kante und die ihr anliegenden Fl\u00e4chen fehlen. Dem entsprechend erscheint Figur 6 in beiden F\u00e4llen wie eine gefaltete spanische Wand: beim Blick von oben ist hierbei die Kante links von dem Beschauer weggekehrt, die Kante rechts ist ihm zugekehrt; beim Blick von unten dagegen ist jene convex, w\u00e4hrend diese concav ist. Die Kanten selbst sind aber in allen diesen F\u00e4llen vertical gestellt, parallel der Ebene des Papiers.\nEin Versuch von A. Guye1) liefert die experimentelle Best\u00e4tigung unserer Erkl\u00e4rung. \u00bbIch habe nachgewiesen\u00ab, sagt Guye, \u00bbdass im Augenblicke, wo die T\u00e4uschung in dieser Weise durch passende Neigung der Zeichnungsebene zur Visirlinie verschwindet und der objective Parallelismus der L\u00e4ngsstreifen offenbar wird, gerade dann eine andere Erscheinung hinzutritt. In diesem Augenblicke sieht der Beobachter die Figur wie perspectivisch gezeichnet, die transversalen Linien sehen aus wie senkrecht zu den L\u00e4ngsstreifen stehend, und scheinen in Ebenen projicirt, die mit der Ebene des Blattes einen Winkel von 45\u00b0 bilden, in der Weise, dass sie sich abwechselnd oberhalb und unterhalb der Ebene des Blattes schneiden.\u00ab Dieser Versuch von Guye scheint uns auch in diesem Falle die von uns vertheidigte Meinung direct zu best\u00e4tigen. Man kann an der Treppe (Fig. 7) denselben Einfluss hervorrufen. Wenn wir uns zur Treppenfigur eine schr\u00e4ge Ebene hinzudenken, welche die Ebenen der Treppenstufen parallel zu den Scheiteln der Fl\u00e4chenwinkel schneidet, so entspricht diese schneidende Ebene der Papierfl\u00e4che in dem Versuche von Guye. Die Durchschnittslinien dieser schneidenden Ebene bilden mit den Ebenen der Treppen die geraden Hauptstreifen der\n1) a. a. O. S. 12. Vergl. oben S. 314.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n325\nZ\u00f6llner\u2019sehen Figur. Da diese Linien in der Zeichnungsebene sich befinden, begreift man, dass sie nicht mehr eine scheinbare Convergenz darstellen werden. Wir haben in Figur 6 durch punktirte Linien die schneidende Ebene angedeutet; man sieht, dass die L\u00e4ngsstreifen der Z\u00f6llner\u2019schen Figur in dieser Ebene liegen, und da diese L\u00e4ngsstreifen in der Ebene des Papieres gesehen werden, so ist kein Grund mehr vorhanden, sie convergirend oder divergirend zu sehen. Wie in der Treppenfigur die Scheitellinien der Fl\u00e4chenwinkel, welche die Treppenstufen darstellen, abwechselnd hervorspringen und unter der schneidenden Ebene liegen, ebenso werden die Linien in dem Experimente von Guye abwechselnd \u00fcber und unter der Fl\u00e4che des Papiers erhabene oder hohle Fl\u00e4chenwinkel bilden. Wenn dagegen die Zeichnungsebene so zur Visirebene geneigt wird, dass die Durchschnittslinie beider Ebenen parallel zu den L\u00e4ngsstreifen liegt, dann ist die T\u00e4uschung (scheinbare Convergenz der L\u00e4ngsstreifen) vorhanden, und die T\u00e4uschung nimmt mit der Neigung der Ebene zu (Hering)1). In diesem Falle hat der Beobachter seine Augen nicht mehr \u00fcber oder unter den L\u00e4ngsstreifen, es ist also nicht mehr m\u00f6glich, die Figur so aufzufassen, als stelle sie von oben oder unten gesehene Prismen dar, sondern nach der Art und Weise, wie die Figur gesehen wird (Lage der Visirebene), muss sie Prismen darstellen, welche verschiedene Lagen um eine zu den L\u00e4ngsstreifen senkrechte Achse haben. Denn in Wirklichkeit hat der Beobachter die Richtung der Achse ab (Fig. 8) vor sich, und er wird nat\u00fcrlich die Figur in einer senkrecht zur Grundlinie liegenden Richtung durchlaufen. Da diese Richtung senkrecht zu den L\u00e4ngsstreifen liegt, so wird wie in dem Versuche von Helmholtz die T\u00e4uschung beg\u00fcnstigt.\nProjection auf die zweideutigen Fl\u00e4chen der Z\u00f6llner-schen Figur. Das obere Ende jedes L\u00e4ngsstreifens tritt, wie schon gesagt, entweder hervor oder zur\u00fcck, je nachdem man den L\u00e4ngsstreifen mit dem einen oder dem andern der benachbarten L\u00e4ngsstreifen combinirt. Es ist eine physische Unm\u00f6glichkeit die beiden Lagen zusammen zu sehen, in Wirklichkeit f\u00fchrt jeder L\u00e4ngsstreifen eine entsprechende Drehung aus, wenn man von einer Auffassung\n1) a. a. O. S. 12.\n22*","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nArmand Thi\u00e9ry.\nzur andern \u00fcbergeht. Es sei jedoch bemerkt, dass bei beiden Auffassungen die Richtung der L\u00e4ngsstreifen unver\u00e4ndert hleiht. Dies veranschaulicht die Figur 10, die man jedoch, um die T\u00e4uschungen wirklich wahrzunehmen, bedeutend vergr\u00f6\u00dfert zeichnen muss. Wenn man dann die zwei an der linken Seite liegenden L\u00e4ngsstreifen ab ab betrachtet, so haben diese beiden ihre oberen Enden vom Beobachter am entferntesten, deshalb erscheint die Distanz bb kleiner als die Distanz aa\\ die Linien scheinen nach oben zu divergiren im Sinne von efef. Wenn man dagegen den zweiten L\u00e4ngsstreifen mit dem dritten betrachtet, so scheinen die oberen Enden der L\u00e4ngsstreifen\nFig. 9.\tFig. 10.\nnach oben sich zu n\u00e4hern im Sinne von cd cd, und in Folge dessen eine scheinbare Convergenz zu erfahren. In Folge dieser Convergenz ist auch der obere Theil der zweiten Linien nach rechts geneigt, also ist die scheinbare Richtung dieser Linie dieselbe wie f\u00fcr die fr\u00fchere Auffassung, in der man den zweiten L\u00e4ngsstreifen mit dem ersten betrachtete.\nSymmetrische Achse. Pisco\u2019s Figur. Die Achse, um welche die Ebene der L\u00e4ngsstreifen resp. die Prismen sich drehen, kann auch wirklich gezeichnet werden und die T\u00e4uschung wird dadurch beg\u00fcnstigt (vergl. Fig. 8) ; noch auffallender wird die T\u00e4uschung, wenn die transversalen Linien zu einer Achse symmetrisch liegen","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n327\nFig. 9, Pisco\u2019s Figur). Die plastische Ansicht der Ebenen haben wir deutlich gemacht, indem wir Prismen angedeutet haben (Fig. 10). Man denke sich vier Prismen, zwei oberhalb und zwei unterhalb der Achse ; die beiden oberen und die beiden unteren haben eine gemeinsame Ebene, die, wie bemerkt, zweideutig ist. Das freie Ende der beiden links liegenden Prismen scheint jenseits der Achse gedreht zu sein, so dass die Achse, die das andere Ende der Prismen bildet, dem Beobachter n\u00e4her liegt; die beiden rechts liegenden Prismen scheinen hingegen auf den Beobachter zu (also diesseits der Achse) geneigt zu sein, so dass die Drehungsachse die entferntesten Enden dieser beiden Prismen bildet. Dies haben wir in einem Schema dargestellt (Fig. 11), indem wir die Ansicht perspectivisch angedeutet haben; damit man die Zweideutigkeit der gemeinsamen.\nEbene besser daraus ersehen k\u00f6nne, haben wir diese Ebene etwas h\u00f6her als den dreieckigen Durchschnitt der rechts liegenden Prismen gezeichnet. Selbstverst\u00e4ndlich sind die punktirt gezeichneten Dreiecke der links liegenden Prismen (Fig. 10 u. 11) nicht zu sehen. Die Projection der L\u00e4ngsstreifen auf die Prismen findet in der Weise statt', dass die obere H\u00e4lfte auf das obere Prisma, die untere auf das untere Prisma projicirt wird, so dass jeder L\u00e4ngsstreifen in der Achse geknickt erscheint. Denn diese zwei Prismen (das obere und untere) sind nicht parallel, sondern symmetrisch zur Achse geneigt.\nWenn man die Figur 9 in horizontaler Lage so betrachtet, dass die Yisirebene und die horizontale Zeichnungsehene ihre gemeinsame Durchschnittslinie parallel zu den L\u00e4ngsstreifen haben, w\u00e4hrend beide Ebenen einen spitzen Fl\u00e4chenwinkel mit einander bilden, dann kommt die soeben beschriebene Ansicht in auffallender Weise zum Vorschein. Es erscheint n\u00e4mlich dann jeder L\u00e4ngsstreifen als eine an der senkrecht zu den L\u00e4ngsstreifen liegenden Achse gebrochene Linie, und zwar so, dass die beiden St\u00fccke jedes L\u00e4ngs-\nFig. 11.","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nArmand Thi\u00e9ry.\nStreifens die Schenkel eines stumpfen Winkels zu bilden scheinen, dessen Scheitel abwechselnd nach oben oder nach unten gerichtet ist. Diese Ansicht ist derjenigen identisch, welche wir an Prismen soeben beschrieben haben (Fig. 11).\nMomentane Beleuchtung. Helmholtz beobachtete, dass, wenn das Gesichtsfeld dunkel ist und das Z\u00f6llner\u2019sche Modell nur von einigen elektrischen Funken beleuchtet wird, die T\u00e4uschung stark abnimmt, ohne jedoch g\u00e4nzlich zu verschwinden. Auf die Entwickelung der Tiefenvorstellungen sind vor allem die Bewegungen des Auges von Einfluss1). Bei einer momentanen Beleuchtung werden diese Bewegungen kaum m\u00f6glich, also wird in diesem Falle die T\u00e4uschung abnehmen. Z\u00f6llner hat jedoch das entgegengesetzte Resultat als Helmholtz erhalten. Er hat Versuche ver\u00f6ffentlicht, in welchen die T\u00e4uschung bei momentaner Beleuchtung sich vergr\u00f6\u00dferte. Diese abweichenden Resultate enthalten jedoch nur einen scheinbaren Widerspruch. Dieser erkl\u00e4rt sich leicht, wenn man in Erw\u00e4gung zieht, dass Z\u00f6llner horizontale, Helmholtz dagegen verticale L\u00e4ngsstreifen beobachtete. Denn bei horizontalen L\u00e4ngsstreifen entsprechen die Augenbewegungen, welche an den L\u00e4ngsstreifen entlang in horizontaler Richtung ausgef\u00fchrt werden, einer gleichen Entfernung beider Enden jedes L\u00e4ngsstreifens, und dadurch wird die T\u00e4uschung, wie bemerkt, auf ein Minimum reducirt. Werden dann bei momentaner Beleuchtung die Augenbewegungen kaum oder gar nicht m\u00f6glich, so wird die T\u00e4uschung vergr\u00f6\u00dfert. Gerade das Entgegengesetzte findet aber statt bei Beobachtung der verticalen L\u00e4ngsstreifen; die T\u00e4uschung wird n\u00e4mlich in diesem Falle in Folge der ungleichen Tiefenprojection beider Enden der L\u00e4ngsstreifen durch die mit den entsprechenden Convergenz\u00e4nderungen verbundenen Augenbewegungen beg\u00fcnstigt. Z\u00f6llner beobachtete noch deutlicher die Vergr\u00f6\u00dferung der T\u00e4uschung bei einer Momentbeleuchtung einer pseudoskopischen Figur, deren Querlinien symmetrisch zu einer Achse liegen (Fig. 9). Bei solchen Figuren bemerkte Helmholtz, dass der Einfluss der Augenhewegungen noch auffallender ist, und zwar so, dass die in der Richtung der parallelen Hauptlinien ausgef\u00fchrte Augenbewegung die T\u00e4uschung vermindert. Durch die symmetrische\n1) Wundt, Menschen- und Thierseele, 2. Aufl. S. 185.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n329\nAchse wird n\u00e4mlich in diesem Falle die Richtung, nach welcher die beiden symmetrischen H\u00e4lften der Figur zusammen sich entfernen oder sich ann\u00e4hern, deutlich markirt. Bewegt man nun die Augen an einer Linie entlang, welche nicht die Richtung der Achse einh\u00e4lt, so muss dies der perspectivischen Auffassung der Figur hinderlich sein, denn die einheitliche Auffassung der Figur, d. h. deren per-spectivisches Gesammtbild, tritt nur ein, insofern die verschiedenen Theilbilder von ihrem gemeinschaftlichen Beziehungspunkte aus auf-gefasst werden. Verliert das Auge diesen Punkt, so erh\u00e4lt man auch das perspectivische Gesammtbild nicht mehr. Man hat \u00fcbrigens hierbei kein totales Verschwinden der T\u00e4uschung beim momentan Beleuchten beobachtet, sondern die Resultate, welche Helmholtz und Z\u00f6llner fanden, sind analog denjenigen, die man erh\u00e4lt, wenn man beliebige stereoskopische Bilder momentan erleuchtet. Mit Bezug auf solche stereoskopische Bilder sagt Wundt: \u00bbMeist sind mehrere auf einander folgende Erleuchtungen mit wechselndem Blickpunkt erforderlich, um den stereoskopischen Effect zu erzielen. Nur dann ist man \u00fcberhaupt im Stande bei einer einzigen momentanen Erleuchtung die Tiefenvorstellung zu vollziehen, wenn zwei zusammengeh\u00f6rige Deckpunkte der beiden Bilder bereits vorher als Lichtpunkte be-merklich gemacht und fixirt werden. Doch ist hierbei immerhin die Vorstellung unsicherer als nach wiederholter Erleuchtung\u00ab1). Diese Versuche best\u00e4tigen, dass in der Z\u00f6llner\u2019schen Figur die T\u00e4uschung in derselben Weise variirt, wie die stereoskopische Ansicht in irgend einer perspectiven Figur. Die weiteren Thatsachen werden das noch deutlicher zeigen.\nT\u00e4uschung an Nachbildern des Z\u00f6llner\u2019schen Musters. Das Experiment zeigt, dass unter bestimmten Bedingungen Nachbilder der Z\u00f6llner\u2019schen Figur dieselbe T\u00e4uschung wie die Figur selbst hervorrufen, aber mit der Einschr\u00e4nkung, dass die T\u00e4uschung nur f\u00fcr ein St\u00fcck der Figur, bestehend aus nur zwei mit Transversalen versehenen L\u00e4ngsstreifen, stattfindet, dagegen f\u00fcr Nachbilder des vollst\u00e4ndigen Z\u00f6llner\u2019schen Modells (mehrere L\u00e4ngsstreifen) verschwindet. Man wei\u00df, dass, wenn die partielle Figur auf Glas gezeichnet oder aus gespannten Dr\u00e4hten zusammengesetzt ist, die\n1) Wundt, Grundz\u00fcge, Band II, 4. Aufl., S. 198.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nArmand Thi\u00e9ry.\nzwei L\u00e4ngsstreifen die Ebene zu verlassen scheinen und eine Drehung wie in dem Versuche von Helmholtz erfahren in der Weise, dass bald das obere Ende des ersten Streifens dem Beobachter entgegenkommt, w\u00e4hrend das obere Ende des zweiten zur\u00fccktritt, bald das Entgegengesetzte stattfindet, je nach der Richtung der Augen.\nHering1), der diesen Versuch ausf\u00fchrte, hat beobachtet, dass dieselbe Erscheinung f\u00fcr ein Nachbild der Figur wahrnehmbar ist. Das Nachbild wird in derselben Weise aufgefasst wie die Figur selbst. Da die Nachbilder der Figur dieselben perspectivischen Vorstellungen wie die Figur seihst hervorrufen, so m\u00fcssen diese Bilder auch dieselbe scheinbare Convergenz mit sich bringen. Solches findet in der That statt, aber nur f\u00fcr eine partielle, aus blo\u00df zwei L\u00e4ngsstreifen bestehende Figur. Die T\u00e4uschung verschwindet dagegen g\u00e4nzlich, wenn wir das Nachbild der ganzen Z\u00f6llner\u2019schen Figur untersuchen. Denn wir haben aus Experimenten ersehen, dass, sobald wir versuchen, Nachbilder auf eine aus mehreren Ebenen bestehende Figur zu projiciren, es uns nicht m\u00f6glich ist, in diesen Nachbildern die Deformationen hervorzurufen, welche den verschiedenen Ebenen entsprechen, auf die sie projicirt werden (siehe oben S. 315 f.). In der Z\u00f6llner\u2019schen Figur hat aber jeder L\u00e4ngsstreifen eine andere Ebene und f\u00fcr mehr als zwei Streifen, d. h. f\u00fcr mehr als zwei Ebenen w\u00e4re die stereoskopische Projection zu complicirt. Sie findet daher in der That nicht statt.\nAnzahl der Transversalen. Die T\u00e4uschung w\u00e4chst bis zu einer gewissen Grenze mit wachsender Anzahl der Transversalen. Da die Transversalen den Eindruck der Lage der verschiedenen die T\u00e4uschung veranlassenden Ebenen geben m\u00fcssen, so begreift man, dass sie einen unmittelbaren Einfluss auf die T\u00e4uschung aus\u00fcben, indem diese gr\u00f6\u00dfer wird, wenn eine wachsende Anzahl von Transversalen das deutlichere Hervortreten der Ebenen veranlasst. Z\u00f6llner meinte, dass die T\u00e4uschung \u00fcberhaupt zun\u00e4hme mit der Anzahl der Transversalen. Das ist jedoch nicht der Fall. Wenn man die Anzahl der Transversalen in der Figur von Pisco st\u00e4rker vermehrt, so wird man bald eine Verkleinerung der T\u00e4uschung beobachten.\n1) Hering, Beitr\u00e4ge zur Physiologie 1861. Heft I. Zur monocularen Stereoskopie.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n331\nErg\u00e4nzende quantitative Bestimmungen. Wir wollen jetzt einige erg\u00e4nzende Untersuchungen mittheilen, die wir zu machen Gelegenheit hatten. Wir h\u00e4tten dabei den Apparat ben\u00fctzen k\u00f6nnen,\nFig. 12.\ndessen sich Z\u00f6llner bei seinen Beobachtungen bediente und welcher sich auf dem Leipziger psychologischen Laboratorium befindet1).\n1) Siehe die Beschreibung, welche Z\u00f6llner von diesem Apparat inPoggen-d or ff\u2019s Annalen ver\u00f6ffentlicht hat. (Pogg. Ann. 1860. Bd. GIX, S. 500\u2014525; 1862 Bd. CXIV, S. 587\u2014591.)","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nArmand Thi\u00e9ry.\nWir haben aber den folgenden Apparat vorgezogen, dessen erste Idee von Don der s ausgeht, welcher ihn aber f\u00fcr andere Untersuchungen brauchte.\nMan denke sich einen quadratischen Rahmen aus Stahl (Fig. 12), welcher 33 cm im Lichten misst und bei 3 cm Breite 3 mm Dicke besitzt. Der Rahmen ist aus einem St\u00fcck gearbeitet. Einer der \u00e4u\u00dferen R\u00e4nder des Rahmens ist verl\u00e4ngert und tr\u00e4gt einen Kreisbogen, welcher in Viertelgrade getheilt ist. Ein anderer Rahmen von denselben Dimensionen wird durch vier Stahlst\u00e4be gebildet, welche durch Stifte in der Weise verbunden sind, dass sie ein bewegliches Ganze bilden. Zwei parallele Seiten des beweglichen Rahmens (man k\u00f6nnte ihn auch gegliederten Rahmen nennen) sind in ihrer Mitte auf der Mitte des festen Rahmens befestigt, und zwar so, dass sie sich um den Befestigungspunkt drehen k\u00f6nnen. Auf einem dieser St\u00e4be ist ein kleinerer Kreisbogen befestigt, der in seiner Mitte einen Strich tr\u00e4gt, welcher als Zeiger dient. Der bewegliche Bogen bewegt sich auf der Theilung des festen Bogens und zeigt durch seinen Zeiger die Amplitude der Rotation des gegliederten Rahmens an. Steht der Zeiger auf Null, so bildet der gegliederte Rahmen ein Quadrat ; entfernt sich der Zeiger nach rechts oder nach links von Null, so bildet der bewegliche Rahmen einen Rhombus. Die drehbar befestigten Seiten des beweglichen Rahmens stehen immer schr\u00e4g zu den Seiten des festen Rahmens, au\u00dfer wenn man dieselben \u00fcbereinander legt; hingegen stehen die nicht befestigten Seiten immer parallel zu den correspondirenden Seiten des festen Rahmens. Dem soeben beschriebenen Apparate haben wir die Z\u00f6llner\u2019sehe Figur angepasst in folgender Weise: An den Drehpunkten der beiden Rahmen haben wir eine horizontale feste Achse befestigt, gebildet durch einen Kupferstreifen von 4 mm Breite; dieser Streifen misst innerlich im Rahmen 30 cm. Daran befestigten wir, 6 cm von einander entfernt, 4 Streifen, welche senkrecht zur Achse stehen. Die beiden \u00e4u\u00dferen Streifen sind ebenfalls 6 cm vom inneren Rande des Rahmens entfernt. Diese Streifen haben eine L\u00e4nge von 30 cm und k\u00f6nnen sich um ihren Befestigungspunkt an der Achse drehen. Weiter kann ihr freies Ende nach Belieben an einem Punkte des beweglichen Rahmens befestigt werden; ein Streifen, welcher auf diese Weise befestigt worden ist, wird mit in die","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n333\nBewegung des beweglichen Rahmens hineingezogen und bleibt immer parallel zu der Seite dieses Rahmens, so dass der Zeiger auch die Rotation dieses Streifens anzeigt. Die Streifen bestehen aus zwei unabh\u00e4ngigen H\u00e4lften, von denen jede sich um den Befestigungspunkt an der Achse drehen kann, von denen ferner jede H\u00e4lfte f\u00fcr sich am beweglichen Rahmen befestigt werden kann oder nicht. Die nicht befestigten R\u00e4nder des beweglichen Rahmens sind in Millimeter eingetheilt; an diesen R\u00e4ndern gleiten in Holzwerk cubische Schlitten von 1 cm Kantenl\u00e4nge, welche man durch eine Schraube auf dem beweglichen Rahmen befestigen kann. An diesen Schlitten nun werden die Streifen befestigt. Sie tragen an ihrem freien Ende einen L\u00e4ngseinschnitt, in dem die Schraube geht, welche den Streifen am Schlitten befestigt. Um die Figur von Z\u00f6llner zu vervollst\u00e4ndigen, haben wir geschw\u00e4rzte Kupferstreifen machen lassen, welche den ersteren gleich und in einem Winkel von 30 Grad transversal gegen dieselben geneigt sind. Jeder Querstreifen ist 3 cm von seinem Nachbarstreifen entfernt. Wir haben f\u00fcr n\u00fctzlich gehalten, die transversalen Streifen nicht auf denjenigen Streifen zu befestigen, von welchen wir oben gesprochen haben und welche wir Hauptstreifen oder L\u00e4ngsstreifen nennen wollen im Gegensatz zu den transversalen oder Querstreifen. Wir haben diese Querstreifen paarweise an einander gel\u00f6thet, so dass sie einen Winkel von 60 Grad mit einander bilden. Nachdem nun die Querstreifen in dieser Weise zusammengel\u00f6thet waren, haben wir sie an den Hauptstreifen gel\u00f6thet und zwar in der Mitte der \u00e4u\u00dferen St\u00e4bchen vom Paare, so dass die beiden mittleren Hauptstreifen aufliegen auf den Querstreifen, aber ohne daran befestigt zu sein und ohne sie in ihre Bewegung um die Achse hineinzuziehen. AB sei die Achse; die \u00e4u\u00dferen Hauptstreifen werden in E und F, die mittleren in C und D befestigt; die Querstreifen werden unter sich zusammengel\u00f6thet in j, k, l und m\\ sie werden mit den Hauptstreifen zusammengel\u00f6thet in den Punkten f, g, h, i. Es wird nun zum Beispiel gen\u00fcgen, an dem beweglichen Rahmen das \u00e4u\u00dfere Ende Y eines mittleren Hauptstreifens zu befestigen. Zu diesem Zwecke haben wir den passenden Mechanismus in der Zeichnung angedeutet. Wenn wir das benachbarte \u00e4u\u00dfere Ende X frei lassen, begreift man, dass man den Apparat zur Messung der optischen T\u00e4uschungen","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nArmand Thi\u00e9ry.\nanwenden kann. Die Streifen XD und YC, die in Wirklichkeit parallel sind, werden in Folge von Z\u00f6llner\u2019s optischer T\u00e4uschung nicht parallel erscheinen. Man kann alsdann, indem man den beweglichen Rahmen in Bewegung setzt, die Seite DX in die Bewegung hineinziehen, bis dass diese Seite parallel erscheint zu der Seite CY. Man wird alsdann auf dem Quadranten, von welchem wir gesprochen haben, die Amplitude der T\u00e4uschung ablesen.\nBei unseren Versuchen hatte der Beobachter den Parallelismus der Hauptstreifen DX und CY zu beurtheilen; die Theile Y y X x erleiden, da sie nicht mit Querstreifen versehen sind, die scheinbare Ablenkung nicht, welche diese bewirken. Auch erscheinen sie, obwohl sie genau gerade sind, in den Punkten x und y geknickt. So erscheint z. B. DX im Punkte x getheilt in ein St\u00fcck Dx und in ein zweites St\u00fcck xX, welche beide verschiedene Richtung haben. Merken wir au\u00dferdem, dass 1) der Beobachter nur den Theil Cy Dx betrachtete und absah von den symmetrischen Theilen Cy' und Dx', 2) dass er als Fixationsstrecke die Achse CD betrachtete, gegen welche die Querstreifen convergirten.\nDer Versuch lehrt nun, dass die Resultate wechseln, je nachdem der Blick sich richtet auf X Y oder sich bewegt von xy gegen DE oder von DE nach xy.\nWie in dem Modell von Z\u00f6llner wird der Rahmen gehalten durch ein auf den Tisch gestelltes Stativ, so dass der Beobachter die Streifen, welche die Zeichnung bilden, als ein durchbrochenes Gebilde sieht. Ein Schirm von grauem Carton wird in einiger Entfernung dahinter gestellt, um als Hintergrund zu dienen.\nWie schon Z\u00f6llner und, Helmholtz darauf aufmerksam machen, beg\u00fcnstigt diese Darstellung als durchbrochenes Gebilde sehr die T\u00e4uschung; und infolge dieser Einrichtung der Zeichnung glaubt man leicht, gewisse Streifen h\u00e4tten verschiedene Entfernungen und deshalb verschiedene Richtungen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen. Wenn die Figur, anstatt als durchbrochenes Gebilde dargestellt zu sein, auf Papier gezeichnet ist, so f\u00e4llt auf, dass die Linien alle in der Fl\u00e4che des Papiers sich befinden, wodurch die T\u00e4uschung offenbar vermindert wird.\nHering hat \u00fcbrigens an bemerkenswerthen Beispielen gezeigt,","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n335\ndass man, damit die T\u00e4uschung hervorstechend werde, es m\u00f6glich machen muss, die verschiedenen Elemente der Figur auf verschiedene Entfernungen zu beziehen. Sobald durch die Einrichtung seines Versuches die verschiedene Entfernung aufh\u00f6rte, die wahrscheinliche Erkl\u00e4rung der Zeichnung zu sein, verminderte sich die T\u00e4uschung in gleichem Ma\u00dfe. Wir suchten nun diese Bedingung n\u00e4her zu pr\u00fcfen, indem wir uns nicht darauf beschr\u00e4nkten, die Z\u00f6llner\u2019sehe Figur in einer einzigen Ebene zu studiren (senkrecht zur Sehlinie), sondern indem wir die Amplitude der T\u00e4uschung bestimmten, wenn man die Fl\u00e4che der Zeichnung in Lagen brachte, wo es leichter m\u00f6glich scheinen konnte, dass die verschiedenen Elemente der Zeichnung nicht mehr genau in einer und derselben Ebene sich bef\u00e4nden. Schon Z\u00f6llner hatte festgestellt, dass die T\u00e4uschung zunimmt, wenn die Hauptstreifen sich einer Richtung n\u00e4hern, die 45 Grad gegen den Horizont geneigt ist; wir haben uns nun die Frage gestellt, ob eine derartige Variation der T\u00e4uschung nicht auch sich zeigen werde: 1) wenn die Fl\u00e4che des Modells mehr oder weniger schr\u00e4g geneigt ist gegen die Sehlinie, d. h. die Fl\u00e4che der Zeichnung senkrecht zur Fl\u00e4che des Tisches bleibt, aber mit der Verbindungslinie der beiden Augen-centren, der Grundlinie, beliebig zu ver\u00e4ndernde Winkel bildet, so dass sie dem Blick immer schr\u00e4ger erscheint, so als wenn der Beobachter sich immer mehr nach der Seite entfernte; 2) wenn die Fl\u00e4che des Modells nicht senkrecht zum Tische bleibt, sondern sich um eine zur Grundlinie parallele Achse dreht, so dass sie dem Blick immer schr\u00e4ger erscheint, so als wenn der Beobachter senkrecht immer h\u00f6her stiege. In diesen beiden F\u00e4llen hat der Beobachter nicht mehr alle Punkte der Figur in derselben Entfernung vor sich. Um zu beurtheilen, dass die Hauptstreifen parallel sind, gen\u00fcgt es nicht mehr, geradlinig zu messen, dass die Entfernung von der einen zur anderen eine und dieselbe ist, sondern man muss sich Rechenschaft geben von der Entfernung der beiden Enden eines und desselben Hauptstreifens; denn infolge dieser Entfernung k\u00f6nnen objectiv parallelen Linien divergirende Netzhautbilder entsprechen. Dadurch kommt ein neues Element hinzu, da es schwerer ist, durch Versuch in jedem Falle zu sch\u00e4tzen, welches die Neigung der Fl\u00e4che des Modells ist, und welchen Grad von","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nArmand Thi\u00e9ry.\nConvergenz Linien zeigen m\u00fcssen, die in Wirklichkeit parallel sein w\u00fcrden. In der ersten Serie von Versuchen, in denen das Modell senkrecht zur Tischfl\u00e4che bleibt, haben wir drei Unterabtheilungen oder Gruppen bilden m\u00fcssen. In der That, wenn wir die Fl\u00e4che des Modells sich drehen lie\u00dfen um eine senkrechte Achse, so war es nicht gleichgiltig, ob diese Achse parallel, senkrecht oder schr\u00e4g zu den gro\u00dfen Hauptstreifen stand, deren Parallelismus der Beobachter bestimmen soll. Wenn die Achse parallel zu den Hauptstreifen stand, so folgte daraus, dass alle Theile eines und desselben gro\u00dfen Streifens gleichweit entfernt vom Beobachter waren. Wenn hingegen die Achse senkrecht oder schr\u00e4g zu den Hauptstreifen stand, so hatte jeder der letzteren das eine seiner Enden dem Beobachter gen\u00e4hert, das andere entfernt. Wenn es nun wahr ist, dass diese Entfernung haupts\u00e4chlich dazu beitr\u00e4gt, dass die T\u00e4uschung entsteht, so m\u00fcssen die Resultate in den drei Serien von Versuchen verschieden sein. Und in Wirklichkeit kann man dies aus den weiter unten mitgetheilten Tabellen ersehen, welche die Versuche der drei Gruppen unserer ersten Serie vorf\u00fchren. Die Rotationsachse in diesen drei Gruppen war der senkrechte Arm des Stativs, welcher nach der Seite hin das Modell h\u00e4lt. Das Modell wurde an dem Arm des Stativs durch zwei Metallzangen befestigt, welche durch Schrauben geschlossen wurden.\nI. Serie. Erste Gruppe. F\u00fcr die erste Gruppe der Versuche befestigte man die beiden Zangen an dem Rande des Rahmens, der parallel zu den Hauptstreifen geht. Die erste Tabelle bringt die Resultate der ersten Gruppe von Versuchen und ist in vier gro\u00dfe senkrechte Columnen eingetheilt, welche die Resultate f\u00fcr vier Beobachter geben: Herr Dr. Meumann, Herr Dr. Spitzer, Herr Dr. Cohn, Herr stud. phil. Arrer. Jede dieser Columnen ist wiederum in zwei Unterahtheilungen getheilt; die erste davon gibt die mittlere Amplitude der T\u00e4uschung, die zweite die mittlere Variation f\u00fcr 12 Beobachtungen. Diese beiden Ma\u00dfbestimmungen sind in Graden, Minuten und Secunden ausgedr\u00fcckt. Gegen\u00fcber von jeder wagerechten Linie befindet sich in einer ersten Columne in Graden angezeigt, in welchem Ma\u00dfe die Fl\u00e4che des Modells gedreht worden ist im Verh\u00e4ltniss zu einer senkrechten Ebene, die durch die Verbindungslinie der Augencentren (Grundlinie) des","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n337\nBeobachters geht. Dieser Winkel zwischen beiden Fl\u00e4chen ist es, den wir in der 1. Columne mit Fl\u00e4chenwinkel (Fl.-W.) bezeichnen.\nTabelle I.\nFl.-W\tM.\t\tS.\t\tC.\t\tA.\t\n0\u00b0\t1 19,5\t7,5\t17,0\t21,1\t125,0 j 17,1\t\t127,1\t37,0\n10\u00b0\t\t\t24,2\t13,2\t132,5\t22,5\t129,3\t32,3\n20\u00b0\t41,4\t19,4\t36,9\t17,3\t135,3\t22,5\t144,9\t32,2\n30\u00b0\t\t\t38,5\t13,5\t195,1\t16,4\t142,5\t40,2\n40\u00b0\t115,8\t15,0\t44,9\t24,2\t217,5\t26,3\t168,9\t53,3\n50\u00b0\t\t\t1Q9,3\t16,0\t210,3\t21,2\t199,9\t22,1\n60\u00b0\t144,9\t17,2\t96,2\t13,2\t201,1\t18,2\t202,5\t31,4\n70\u00b0\t\t\t96,2\t10,2\t136,1\t46,5\t177,5\t58,2\n80\u00b0\t\t\t12,1\t48,3\t167,4\t39,7\t97,5\t22,1\nErgebnisse: 1) Die T\u00e4uschung ist nicht constant. 2) Sie zeigt ein Fortschreiten oder eine Abnahme, welche verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig bei den verschiedenen Beobachtern dieselben sind. 3) Sie erreicht ein Maximum bei ungef\u00e4hr 50\u00b0 (genau bei 40\u00b0 f\u00fcr den Beobachter C., 50\u00b0 f\u00fcr S., 60\u00b0 f\u00fcr A.). Leider konnten die Beobachtungen mit Herrn Dr. Meumann nicht zu Ende gef\u00fchrt werden; aber die theilweisen Ergebnisse scheinen die der \u00fcbrigen Beobachter zu best\u00e4tigen. Die beiden ersten Beobachter M. und S. sind kurzsichtig, C. und A. haben beide sehr gute normale Augen.\nDie T\u00e4uschung ist an absoluter Gr\u00f6\u00dfe viel geringer f\u00fcr die kurzsichtigen Beobachter. Bei S.1), welcher am meisten kurzsichtig ist, ist dieselbe auf ein Minimum reducirt. Es ist \u00fcbrigens eine allgemeine Erscheinung, welche man bei allen diesen Untersuchungen beobachten wird, dass sehr kurzsichtige Personen in geringerem Grade den T\u00e4uschungen unterworfen sind. Herr Itos tosky,\n1) Die Myopie des Dr. Spitzer betr\u00e4gt 4,5 Dioptrien, also nach alter Berechnung fast 9.","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nArmand Thi\u00e9ry.\nwelcher f\u00fcr das rechte Auge f\u00fcnf Dioptrien, f\u00fcr das linke zehn braucht, scheint in gleicher Weise in sehr geringem Grade diesen optischen T\u00e4uschungen unterworfen zu sein, aber leider konnten wir in dieser Beziehung keine systematischen Beobachtungen anstellen.\nDie vorhergehenden Resultate w\u00fcrden ohne Zweifel kaum verschieden sein, wenn es sich anstatt um Beobachtungen, die bei binocularem Sehen gemacht wurden, um monoculare Beobachtungen gehandelt h\u00e4tte. Experimente, die bei monocularem Sehen mit zwei Beobachtern (Arrer und Heller) gemacht wurden, haben n\u00e4mlich folgende Resultate ergeben:\nTabelle II.\nFl. -W.\tA.\t\tH.\t\n0\u00b0\t58,3\t15,0\t75,0\t31,1\no o\t84,9\t17,3\t52,5\t30,2\n40\u00b0\t129,9\t13,8\t120,3\t24,2\n60\u00b0\t198,8\t18,3\t197,3\t32,5\n80\u00b0\t127,5\t33,8\t175,4\t33,8\nWenn man diese Beobachtungen vergleicht mit den Beobachtungen von A. bei binocularem Sehen, so findet man, dass die Differenz haupts\u00e4chlich darin besteht, dass f\u00fcr wenig bedeutende Rotationen (bis 40\u00b0j die T\u00e4uschung weniger stark ist als bei binocularem Sehen, w\u00e4hrend bei gr\u00f6\u00dferen Rotationen (bis zu 80\u00b0) das Gegentheil der Fall ist.\nZweite Gruppe. F\u00fcr die zweite Gruppe von Versuchen befestigt man die Zangen an dem Rande des Rahmens, welcher senkrecht zu den Hauptstreifen geht, so dass diese letzteren auch senkrecht zur Rotationsachse stehen. Da in der zweiten Gruppe das eine Ende jedes Hauptstreifens vom Beobachter weiter entfernt und das andere demselben mehr gen\u00e4hert ist, so darf man nicht blo\u00df die Rotation in Betracht ziehen, welche die \u00e4u\u00dferen Enden der Hauptstreifen dem Beobachter n\u00e4hern und welche wir mit \u2014 10\u00b0 bis \u2014 80\u00b0 bezeichnen, sondern auch die entgegengesetzte","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n339\nRotation, welche die \u00e4u\u00dferen Enden der Hauptstreifen vom Beobachter entfernt, und welche wir mit + 10\u00b0 bis + 80\u00b0 bezeichnen wollen. Das Zeichen \u2014 findet sich auch vor gewissen Resultaten der Columne, welche die Gr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung anzeigt; dieses Zeichen deutet an, dass die T\u00e4uschung, anstatt im gew\u00f6hnlichen Sinne erfolgt zu sein, im entgegengesetzten Sinne stattgefunden hat, d. h. dass in diesem Falle die Parallelen nicht mehr nach der Richtung zu convergiren scheinen, nach welcher die Querstreifen diver-giren, sondern nach derselben Seite, nach welcher auch die Querstreifen convergiren.\nTabelle III.\nFl. -W. '\tA.\t\nO o OD\tS !\t\u2014 45,0\t3,2\n70\u00b0\t- ?,0\t7,2\n60\u00b0\t43,0\t2,1\nO o\t45,0\t9,9\n40\u00b0\t63,0\t7,2\n30\u00b0\t99,0\t22,8\n20\u00b0\t157,5\t15,0\n10\u00b0\t95,3\t20,5\n0\u00b0\t135,1\t2,1\n\u2014 10\u00b0\t117,0\t13,0\n1 Ni O o\t165,8\t10,0\n\u2014 30\u00b0\t135,0\t7,5\n1 O o\t63,5\t3,7\n\u2014 50\u00b0\t56,3\t7,5\n\u2014 60\u00b0\t- 1,5\t2,2\n1 o o\t\u2014 45,5\t6,5\no o OD 1\t\u2014 67,5\t7,4\nWundt, Philos. Studien. XI.\n23","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nArmand Thi\u00e9ry.\nTabelle IV.\nFl. - W.\ts.\t\nOO o o\t-2,3\t48,1\n70\u00b0\t7,4\t29,2\n60\u00b0\t19,5\t30,1\n50\u00b0\t32,0\t19,1\nO o\t42,0\t33,6\no \u00ae CO\t31,1\t28,5\nto \u00ae o\t29,7\t23,3\no\t34,4\t19,5\n0\u00b0\t52,5\t22,5\nErgebnisse: 1) Die T\u00e4uschung ist nicht constant, aber sie zeigt eine Abnahme, welche proportional dieselbe ist bei beiden Beobachtern. 2) Diese Abnahme ist constant bei dem Beobachter A. von 0\u00b0 bis + 80\u00b0 und von 0\u00b0 bis zu \u2014 80\u00b0; sie ist sch\u00e4rfer hervortretend von 0\u00b0 bis zu \u2014 80\u00b0. Die Abreise des zweiten Beobachters gestattete uns leider nicht, die Beobachtungen von 0\u00b0 bis \u2014 80\u00b0 mit demselben zu machen. Aber die gemachten Beobachtungen von 0\u00b0 bis + 80\u00b0 zeigen ein Fortschreiten, welches dasselbe ist wie bei A. 3) Wie in der ersten Gruppe sind die Ziffern, welche die Intensit\u00e4t der T\u00e4uschung angeben, bei A. h\u00f6here als hei S, Doch ist im Gegensatz zur ersten Gruppe die mittlere Variation eine bedeutendere f\u00fcr S. als f\u00fcr A.\nDritte Gruppe. Die Hauptstreifen sind 45\u00b0 geneigt gegen die senkrechte Achse, um welche die Fl\u00e4che des Modells rotirt.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n341\nTabelle V.\nFl. -W.\ts.\t\tA.\t\tH.\t\n0\u00b0\t79,5\t34,5\t144,1\t23,2\t188,4\t33,3\n30\u00b0\t32,5\t27,2\t145,1\t31,2\t97,5\t30,0\nO o\t4,2\t8,2\t247,2\t34,2\t194,2\t30,6\no o to\t77,1\t41,0\t151,2\t37,3\t247,5\t25,5\no o 00\t90,1\t41,3\t107,1\t32,4\t265,2\t15,4\nErgebnisse: 1) Die T\u00e4uschung ist nicht constant. 2) Anstatt ein gleichf\u00f6rmiges Fortschreiten bei den verschiedenen Beobachtern aufzuweisen wie in den beiden vorhergehenden Gruppen, ist hier die Abstufung verschieden. Bei dem Beobachter S. nimmt die T\u00e4uschung best\u00e4ndig ab von 0\u00b0 bis zu 40\u00b0, wo sie ein Minimum erreicht, und w\u00e4chst dann best\u00e4ndig von 40\u00b0 bis 80\u00b0. F\u00fcr den Beobachter H. ist das Minimum bei 20\u00b0 erreicht, und alsdann nimmt die T\u00e4uschung best\u00e4ndig zu. F\u00fcr den Beobachter A. ist das Maximum bei 40\u00b0 erreicht. Im Gro\u00dfen und Ganzen h\u00e4lt die T\u00e4uschung bei S. und ungef\u00e4hr auch bei H. dieselbe Abstufung ein, welche sich in der ersten Gruppe von Versuchen zeigte, als die Rotationsachse parallel zu den Hauptstreifen ging.\nBei dem Beobachter A. hingegen schlie\u00dft sich die T\u00e4uschung der Abstufung der zweiten Gruppe von Versuchen an, da diese Achse senkrecht zu den Hauptstreifen stand. Wir werden darauf zur\u00fcckkommen, zu diesen vermittelnden Resultaten die Erkl\u00e4rung zu geben; beachten wir nur, dass sie sich in Uebereinstimmung befinden mit den Umst\u00e4nden, unter welchen die Versuche der dritten Gruppe stattfanden; denn in dieser Gruppe hatte die Rotationsachse eine Mittellage zwischen der parallelen Lage [erste Gruppe] und der senkrechten Lage [zweite Gruppe].\nWir wollen als Anhang zu dieser Gruppe die Versuche erw\u00e4hnen, die wir nach Z\u00f6llner wiederholt haben. Bei diesen Versuchen bleibt die Fl\u00e4che des Modells parallel zu der senkrechten Ebene, welche durch die Verbindungslinie der Augencentren (Grundlinie)\n23*","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nArmand Thi\u00e9ry.\ngeht; die Hauptstreifen erhalten verschiedene Neigungen zur Senkrechten von 0\u00b0 bis 90\u00b0. Die Resultate best\u00e4tigen diejenigen von Z\u00f6llner, n\u00e4mlich dass die T\u00e4uschung ein Maximum erreicht bei 45\u00b0, sie zeigen weiter, dass die T\u00e4uschung weniger stark erscheint bei einer wagerechten Richtung (Neigung von 90\u00b0) als bei der senkrechten Richtung der L\u00e4ngsstreifen.\nIm allgemeinen wird der Parallelismus zweier beliebiger gerader Linien am genauesten gesch\u00e4tzt, wenn dieselben horizontal oder vertical liegen (Mach, Sitzungsber. der Wiener Akadem. Bd. XIII. S. 215\u2014224). F\u00fcr eine Neigung von 45\u00b0, welche von der verti-calen oder horizontalen Lage am weitesten abweicht, ist die Ungenauigkeit der Sch\u00e4tzung also am gr\u00f6\u00dften. Hering hat in seinen weiter unten beschriebenen Untersuchungen angegeben, dass horizontale und verticale Linien in der Regel in der Zeichnungsehene zu bleiben, schr\u00e4ge dagegen dieselbe zu verlassen scheinen, und zwar so, dass durch diese plastische Ansicht das obere oder untere Ende der schr\u00e4gen Linien hervor- bez. zur\u00fccktritt, was eine entsprechende Richtungsver\u00e4nderung der Linien hervorruft. Bei einer schr\u00e4gen Richtung der Parallelen ist es daher wahrscheinlicher, dass die beiden Enden jeder Linie vom Beobachter ungleich entfernt liegen, und die ungleiche Entfernung, welche in der Z\u00f6llner-schen Figur perspectivisch dargestellt ist, wird dadurch verst\u00e4rkt. Darum ist auch die T\u00e4uschung gr\u00f6\u00dfer bei einer senkrechten als bei einer wagerechten Richtung der langen Linien der Z\u00f6llner-schen Figur. Denn die Entfernung eines Gegenstandes beurtheilen wir nach dem scheinbaren Ansteigen der ebenen Bodenfl\u00e4che oder bei \u00fcber uns gelegenen Objecten, die wir mit aufw\u00e4rts gewandtem Blick betrachten m\u00fcssen, nach ihrem scheinbaren Abfall gegen den Horizont (Wundt, Grundz\u00fcge 4. Aufl. II. Bd. S. 199). Sind die Parallellinien der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur wagerecht, so sind wir eher geneigt die beiden Enden jeder Linie vom Beobachter gleich entfernt zu sch\u00e4tzen; daher muss die T\u00e4uschung in diesem Fall am geringsten sein.\nAuch aus den directen Untersuchungen von Holtz geht hervor, dass bei seitlicher horizontaler Lage die Vorspiegelung einer ungleichen Entfernung viel schwieriger ist (G\u00f6ttinger Nachrichten 1893. S. 50). \u00dcbrigens bestanden diese Versuche in einer Art","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n343\nUmkehrung der Z\u00f6llner\u2019schen Figur. Bei dieser sind alle Enden der Linien in Wirklichkeit in einer und derselben Ebene, und die T\u00e4uschung besteht darin, dass der Abstand der Parallelen von einander an einem Ende entfernter und daher gr\u00f6\u00dfer gesch\u00e4tzt wird. Umgekehrt waren bei Holtz zwei vom Beobachter ungleich entfernte Scheiben ihrer ohjectiven Gr\u00f6\u00dfe nach ungleich, und die T\u00e4uschung bestand darin, dass sie gleich entfernt, n\u00e4mlich gleich gro\u00df erschienen. Quantitative Messungen mit Scheiben von verschiedenen Gr\u00f6\u00dfen ergaben, dass zwei ungleich entfernte Gegenst\u00e4nde (hei gleichem Sehwinkel) leichter gleich entfernt erscheinen, wenn man sie neben einander in derselben horizontalen Lage sieht.\nII. Serie. In dieser zweiten Serie wollen wir untersuchen, welche Modification die T\u00e4uschung erleidet, wenn die Fl\u00e4che des Modells sich um eine horizontale Achse dreht, welche parallel zur Verbindungslinie der Augencentren geht. Weiter ist in den folgenden Versuchen die Rotationsachse senkrecht zu den Haupt*-streifen.\nIn der ersten Columne der folgenden Tafeln zeigen wir in Graden die Winkel an, welche die Fl\u00e4che des Modells mit einer senkrechten Ebene bildet, die parallel zur Verbindungslinie der Augencentren liegt. Wir bezeichnen mit 0\u00b0 die senkrechte Lage der Fl\u00e4che des Modells; das Verlassen dieser Lage bezeichnen wir mit positiven Zeichen, wenn die Neigung in der Weise stattgefunden hat, dass der obere Theil des Modells vom Beobachter weiter entfernt liegt als der untere Theil; im entgegengesetzten Falle wenden wir negative Zeichen an. In der zweiten Columne bedeutet, wie in den vorhergehenden Tabellen, ein negatives Zeichen, dass die T\u00e4uschung im entgegengesetzten Sinne stattgefunden hat, als dies gew\u00f6hnlich der Fall war.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nArmand Thi\u00e9ry.\nTabelle VI.\nF].-W.\tA.\t\nO O o\t0,2\t7,5\n90\u00b0\t30,0\t15,1\no o 00 :\t79,2\t20,1\n70\u00b0\t97,1\t19,8\n60\u00b0\t109,5\t20,7\nO O IC\t81,5\t38,4\n40\u00b0\t77,2\t12,1\no \u00ae CO\t52,8\t15,4\ni \u00ae o\t52,3\t23,3\n10\u00b0\t105,3\t27,2\n0\u00b0\t127,1\t37,0\n\u2014 10\u00b0\t120,0\t15,1\no O GN 1\t129,4\t23,7\n\u2014 30\u00b0\t72,5\t15,1\n\u2014 40\u00b0\t112,7\t10,5\nO \u00ae iO 1\t52,5\t22,5\n\u2014 60\u00b0\t39,9\t22,7\nErgebnisse: 1) Die T\u00e4uschung nimmt ab nach beiden Seiten von 0\u00b0, in welcher Lage keine Neigung stattfindet. Hier weist die T\u00e4uschung ein Maximum auf. 2) Auf der Seite, wo die Neigungen negativ bezeichnet sind, nimmt die T\u00e4uschung viel mehr und viel schneller ab als auf der Seite, wo die Neigungen positive Vorzeichen haben. 3) Die T\u00e4uschung erreicht ein zweites Maximum bei + 60\u00b0, w\u00e4hrend sie best\u00e4ndig im Abnehmen begriffen ist und kein Maximum erreicht bei den Neigungen mit negativen Vorzeichen.\nEine Beobachtung auf absch\u00fcssigem Terrain ergab dasselbe Resultat. Priestley (Geschichte der Optik. Uebers. v. Kl\u00fcgel. Leipzig","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen\n345\n1776. S. 501) schreibt n\u00e4mlich Folgendes: \u00bbAn einem abh\u00e4ngenden Grunde wird der Winkel der wahren und scheinbaren Grundfl\u00e4che zuerst immer kleiner bis auf einen gewissen Grad des Abhanges, da beide in einander fallen, so dass parallele Linien, die man auf einer Fl\u00e4che in dieser Lage z\u00f6ge, immer parallel zu bleiben scheinen w\u00fcrden. Senkt sich aber der Grund noch tiefer herunter, so wird die Abweichung der scheinbaren Grundfl\u00e4che von der wahren wieder zu wachsen anfangen, und zwar wird, was merkw\u00fcrdig ist, die scheinbare Ebene unter der wahren liegen, so dass die scheinbar parallelen Linien auf letzterer zusammenlaufen werden.\u00ab Leider hat Priestley \u00fcber quantitative Bestimmungen keinerlei Mittheilungen gemacht1).\nDie folgende Tabelle berichtet \u00fcber dieselben Versuche, nur mit dem Unterschiede, dass sie nur von 0\u00b0 bis -f- 140\u00b0 stattfinden konnten. Die Abreise des Herrn Dr. Spitzer erm\u00f6glichte es nicht, auch von 0\u00b0 bis \u2014 60\u00b0 zu experimentiren. Die Resultate entsprechen denjenigen der vorhergehenden Tabelle. Doch wird man daraus ersehen, dass die absolute Gr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung eine geringere ist als bei dem Beobachter A. Dies war ja immer der Fall, wie oben bemerkt wurde.\nTabelle VII.\nFl.-W.\tS.\t\nK o o\t\u2014 125,2\t32,5\n120\u00b0\t\u2014 120,3\t21,5\no o o\t\u2014 114,3\t30,0\n80\u00b0\t22,3\t30,0\n60\u00b0\t86,2\t19,5\n\u00a9 O\t26,8\t8,7\n20\u00b0\t34,5\t22,5\n0\u00b0\t17,0\t21,1\n1) Bei steigenden Ebenen bemerkte Priestley, dass eine Steigerung von 30\u00b0 auffallender Weise \u00fcbersch\u00e4tzt und sogar f\u00fcr eine von 60\u00b0 gehalten wurde.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nArmand Thi\u00e9ry.\nWenn das Gesichtsfeld ungleich entfernte Gegenst\u00e4nde enth\u00e4lt, so geht der Blick nat\u00fcrlicher Weise von den n\u00e4heren zu den entfernteren Punkten. Wird in unseren Experimenten der Apparat um eine verticale Achse gedreht, dann sind seine beiden- seitlichen Kanten vom Beobachter ungleich entfernt, und der Blick geht von der einen zur anderen seitlichen Kante, d. h. in wagerechter Richtung. Stehen dann die L\u00e4ngsstreifen auch vertical, so wird die T\u00e4uschung vergr\u00f6\u00dfert. Denn wir haben gesehen, dass diese gr\u00f6\u00dfer ist, wenn die Augen senkrecht zu den L\u00e4ngsstreifen die Figur durchlaufen. Liegen dagegen die L\u00e4ngsstreifen horizontal, so nimmt die T\u00e4uschung ab. Denn die Augen bewegen sich an den L\u00e4ngsstreifen entlang, und dann wird, wie wir gesehen, die T\u00e4uschung geringer. Befinden sich die L\u00e4ngsstreifen endlich in einer Zwischenlage, d. h. zum Horizont geneigt, so ergibt sich entweder eine constante Verminderung oder eine constante Vergr\u00f6\u00dferung der T\u00e4uschung, je nach der Augenbewegung der verschiedenen Versuchspersonen. In allen anderen Versuchen, von denen wir berichteten, haben die Hauptstreifen ihre Theile nicht mehr gleichweit vom Beobachter entfernt. F\u00fcr alle anderen Neigungen wirkt daher die wirkliche Entfernung der vorgestellten entgegen und vermindert so die T\u00e4uschung.\nDas zweite relative Maximum erscheint in den Versuchen der 2. Serie hei 60\u00b0 und erkl\u00e4rt sich leicht. Die T\u00e4uschung besteht darin, dass in Folge der Querstreifen die Geraden parallel scheinen, w\u00e4hrend sie in Wirklichkeit nach der Seite hin convergiren, nach welcher auch die Querstreifen convergiren. Nehmen wir an, die Fl\u00e4che des Papiers werde dargestellt durch die Neigung von 0\u00b0. Bei der Neigung von 60\u00b0 um die Achse wird diese in der Fl\u00e4che des Papiers geblieben sein, aber die oberen Enden werden in Wirklichkeit weiter entfernt sein vom Beobachter, w\u00e4hrend die Entfernung der beiden unteren Enden dieselbe geblieben ist. Daraus geht hervor, dass die Entfernung der oberen Enden in dem Netzhautbilde eine kleinere werden wird. Man wird wahrnehmen, dass die Divergenz der L\u00e4ngsstreifen gleich ist einer gr\u00f6\u00dferen Divergenz bei der Neigung 0\u00b0. In derselben Weise wird diese Ursache bei den Neigungen von 0\u00b0 bis 90\u00b0 zunehmen beim Verlassen von 0\u00b0. Sie wird um so mehr ein wirken, als die Entfernung der beiden unteren Endpunkte verschieden ist von derjenigen der beiden oberen. Beim","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"lieber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n347\nVerlassen von 60\u00b0 h\u00f6rt sie auf sehr bemerklich zu wachsen. Da nun die T\u00e4uschung fortf\u00e4hrt unabh\u00e4ngig von dieser Ursache abzunehmen, wie vorher bemerkt, so bezeichnet 60\u00b0 ein Maximum.\nDieselbe Ursache wirkt in entgegengesetztem Sinne von 0\u00b0 bis \u2014 90\u00b0. Anstatt die Abnahme der T\u00e4uschung aufzuhalten, beschleunigt sie diese Abnahme. Bei \u2014 60\u00b0 z. B. wird eine wirkliche Divergenz ein Netzhautbild ergeben, welches einer gr\u00f6\u00dferen Divergenz bei einer Neigung von 0\u00b0 entspricht; denn in Wirklichkeit sind die oberen Endpunkte dem Beobachter n\u00e4her. Wenn die L\u00e4ngsstreifen objectiv parallel w\u00e4ren, so w\u00fcrden diese beiden Linien divergent erscheinen. Zieht man nun diese absolute Ver\u00e4nderung des Gesichtswinkels je nach der Lage des Modells in Betracht, so kann man annehmen, dass die T\u00e4uschung in dieser Serie von Versuchen, wie in allen Gruppen, wo die Rotationsachse nicht parallel zu den Hauptstreifen stand, abnimmt.\nIn allen unseren Versuchen war es die ungleiche Entfernung der beiden Enden, welche wir abwechselnd sich ver\u00e4ndern lie\u00dfen, und wie wir gesehen haben, zeigten die Resultate in jedem Falle die entsprechenden Variationen in der quantitativen Intensit\u00e4t der T\u00e4uschung, je nachdem die Rotationsachse zu den Hauptstreifen parallel war oder nicht. Das ist also ein weiterer Umstand, welcher die Richtigkeit unserer Ausf\u00fchrungen best\u00e4tigt.\nEs er\u00fcbrigt nun noch zum Schl\u00fcsse, mehrere von verschiedenen Forschern \u00fcber die Z\u00f6llner\u2019sche Figur aufgestellte Theorien zu \u00fcberblicken. Die Hypothese von Helmholtz haben wir schon erw\u00e4hnt.\nLipps1) folgt in vielem der Ansicht von Helmholtz, weicht aber von ihm dadurch ab, dass er die L\u00e4ngsstreifen als Bewegung betrachtet, welche in der Richtung dieser Linien erfolgt. Au\u00dferdem sagt er, dass die Transversalen eine Abweichung der Bewegung der gro\u00dfen Striche darstellen, dass diese Abweichung aber allm\u00e4hlich und dergestalt unmerklich sei, dass wir sie nicht wahrnehmen k\u00f6nnen. Die Transversalen schienen uns die Verl\u00e4ngerung der L\u00e4ngsstreifen zu sein, und daher r\u00fchre es, dass die L\u00e4ngsstreifen\n1) Lipps, Aesthetische Eactoren der Raumanschauungen. Helmholtz\u2019 Festschrift 1891.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nArmand Thi\u00e9ry.\nim entgegengesetzten Sinne der Transversalen geneigt zu sein scheinen. Ebenso wenig, sagt Lipps, merkt man eine kleine Aenderung in der H\u00f6he eines musikalischen Tones. Dieser Vergleich ist aber ganz unzul\u00e4ssig, da der L\u00e4ngsstreifen 1) nicht in sich selber eine Kraft, eine Bewegung oder eine Vorstellung ist, wie die Vorstellung einer Tonh\u00f6he, obgleich dies von Lipps vom \u00e4sthetischen Standpunkte aus behauptet wird, und da 2) selbst wenn dies der Fall w\u00e4re, doch die Richtung des L\u00e4ngsstreifens in Wirklichkeit unver\u00e4ndert gebliehen ist, w\u00e4hrend die Tonh\u00f6he eine wirkliche Ver\u00e4nderung erfahren hat.\nDiese allgemeine psychologische Theorie erkl\u00e4rt also auf keine Weise die untersuchten Einzelheiten der Z\u00f6llner\u2019schen Figur; \u00fcbrigens setzt sie voraus, dass die Figur vom Auge in der Richtung der L\u00e4ngsstreifen durchlaufen werde. Die bekannte Thatsache, dass die T\u00e4uschung gerade kleiner wird, wenn das Auge in der erw\u00e4hnten Richtung sich bewegt1), widerspricht schon der Lipps\u2019schen Theorie. Schlie\u00dflich, wenn selbst die Hypothese von Lipps anzunehmen w\u00e4re, w\u00fcrde sie doch die T\u00e4uschung nicht erkl\u00e4ren. Wenn wir auch nach Lipps verm\u00f6ge eines unerh\u00f6rten und beispiellosen Irrthums die Transversalen als die Verl\u00e4ngerung der L\u00e4ngsstreifen ansehen sollten2), so k\u00f6nnten in Folge dessen die Theile des Hauptstreifens doch nur in einem Bruchtheile von ihrer Richtung abweichen; in der Z\u00f6llner\u2019schen Figur aber scheint der Hauptstreifen in seiner ganzen L\u00e4nge nach links abzuweichen.\nHoppe3) hat die Helmholtz\u2019sche Theorie theilweise ge\u00e4ndert. Anstatt eines Bewegungscontrastes, welcher die Transversalen mitf\u00fchre und die L\u00e4ngsstreifen in entgegengesetzter Richtung neige, nimmt er einen Richtungscontrast an.\nDie Erkl\u00e4rungen von Helmholtz und Hoppe nehmen eine gewisse Analogie zwischen der T\u00e4uschung der Z\u00f6llner\u2019schen Figur und den Bewegungs- und Farhencontrasten an. Wenn gewisse Elemente eines aus verschiedenen Objecten zusammengestellten Ganzen uns zu der Vorstellung veranlassen, dass das gesammte Ganze von einer\n1)\tHelmholtz\u2019 oben erw\u00e4hnter Versuch.\n2)\tNiemals hat man ein Beispiel von zwei sich unter einem Winkel von 30\u00b0 schneidenden Geraden gesehen, die dennoch als eine Linie erschienen w\u00e4ren.\n3)\tHoppe, Physiol. Optik. 1887.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n349\ngemeinsamen Bewegung ergriffen sei, so sollen wir glauben, dass gewisse Elemente, welche wir unbewegt bleiben sehen, eine Eigenbewegung nach einer Richtung haben, die entgegengesetzt zu der Bewegung des ganzen Systems ist. In gleicher Weise, wenn gewisse Elemente einer Zeichnung uns annehmen lassen, dass die ganze .Zeichnung eine wachsende Entfernung nach einer gegebenen Gegend hin darstelle, sollen nach dieser Gegend gerichtete Parallelen, welche nicht gegen diesen Punkt convergiren, als divergirende Grade erscheinen, wie dies in der Z\u00f6llner\u2019schen Figur stattfindet. Dies entspricht ganz der Helmholtz\u2019schen Erkl\u00e4rung des Farbencon-trastes: wenn wir uns vorstellen, das ganze Sehfeld werde durch eine farbige Substanz hindurchgesehen, so ist es nothwendig, damit gewisse Theile wei\u00df erscheinen, dass sie in Wirklichkeit die Com-plement\u00e4rfarbe der durchsichtigen Substanz haben, und wir sehen sie daher in der That in dieser Complement\u00e4rfarbe.\nKundt1) schlug vor, die Z\u00f6llner\u2019sche Figur mittelst eines hypothetischen Gesetzes zu erkl\u00e4ren: Nach dieser Hypothese soll das Auge die Abst\u00e4nde nach der L\u00e4nge der Linien beurtheilen, welche die \u00e4u\u00dferen Enden des Bildes auf der Netzhaut verbindet. Im Gegens\u00e4tze zu der zuvor erw\u00e4hnten Hypothese l\u00e4sst sich nun die Kundt\u2019sche Theorie sehr leicht experimentell pr\u00fcfen. Die in diesem Sinne mehrfach gemachten Beobachtungen stimmen aber mit ihr so wenig \u00fcberein, dass dieselbe definitiv aufgegeben worden ist.\nHering2), der fr\u00fcher die Kundt\u2019sche Hypothese angenommen hatte, hat sie in seinen sp\u00e4teren Arbeiten nicht mehr beibehalten; er neigt zur perspectivischen Erkl\u00e4rung hin, von welcher er in seinen Studien \u00fcber monoculare Stereoskopie mehrere Grundz\u00fcge festgestellt hat.\nMehrere Forscher haben auch eine Uebersch\u00e4tzung der spitzen Winkel als T\u00e4uschungsursache der Z\u00f6llner\u2019schen Figur angenommen. Diese Uebersch\u00e4tzung an sich werden wir weiter unten untersuchen.\nGr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung bei monocularem und binocu-larem Sehen. Die T\u00e4uschung findet sowohl monocular wie binocular statt (Z\u00f6llner). Bei binocularem Sehen sind wir im Stande,\n1)\ta. a. O. S. 1.\n2)\ta. a. O. S. 12.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nArmand Thicry.\ndas wirkliche Relief direct wahrzunehmen. Beim hinocularen Anblick eines nahe liegenden Gem\u00e4ldes ist es daher augenf\u00e4llig, dass dasselbe \u00fcberhaupt kein Relief besitzt, sondern wirklich eine Ebene ist, und dadurch wird es schwieriger, die dargestellten Gegenst\u00e4nde perspectivisch zu sehen1), so dass die Eindr\u00fccke des binocularen Sehens der monocularen Stereoskopie vielmehr schaden. Kunstfreunde und Maler wissen, dass das perspectivische Relief eines Gem\u00e4ldes niemals auffallender ist, als wenn man ein Auge schlie\u00dft. Dasselbe muss f\u00fcr das Z\u00f6llner\u2019sche Muster gelten, welches ebenfalls eine perspectivische Figur ist.\nAuf Grund von quantitativen Messungen haben wir nur best\u00e4tigen k\u00f6nnen, dass in der Z\u00f6llner\u2019sehen Figur die T\u00e4uschung in der That gr\u00f6\u00dfer sein kann f\u00fcr das monoculare Sehen.\nIst der Gegenstand sehr weit entfernt, so kommt der Abstand der zwei Augen nicht so sehr in Betracht. Die Halbbilder sind in beiden Augen fast identisch, und es fehlt auch die starke Variation der Convergenz zur Feststellung des wahren Reliefs; es bleiben daher einfach die Bedingungen der monocularen Stereoskopie.\nDieser Umstand erkl\u00e4rt, wie es kommt, dass die T\u00e4uschung hei binocularem Sehen in weiter Entfernung so gro\u00df ist, w\u00e4hrend f\u00fcr das monoculare Sehen ein gr\u00f6\u00dferer Abstand des Apparates einer solchen Steigerung der T\u00e4uschung nicht entspricht. Wir haben selbst diese Differenz mittels des Donders\u2019schen Rahmens beobachten k\u00f6nnen, welchem die Z\u00f6llner\u2019sche Figur in der auf Seite 332 beschriebenen Weise angepasst war. Je nachdem sich die Figur nahe oder weit vom Beobachter befand, wurden bedeutende Differenzen in der T\u00e4uschung constatirt. Man kann dies aus der folgenden Tabelle ersehen, in welcher oben die Resultate f\u00fcr eine Distanz von 80 cm, unten f\u00fcr eine doppelt so gro\u00dfe verzeichnet sind. (S. Tab. VIII.)\nFigur nahe oder fern. Vielleicht muss man einem analogen Umstande die Thatsache zuschreiben, dass die T\u00e4uschung \u00fcber die absolute Gr\u00f6\u00dfe weniger stark ist f\u00fcr Kurzsichtige. Indem diese die Bilder (Objecte) in eine sehr kleine Entfernung bringen, sind\n1) Zwei ungleich entfernte Gegenst\u00e4nde erscheinen bei gleichem Sehwinkel am ehesten gleich gro\u00df bei monocularem Sehen ; sonst um so eher, je gr\u00f6\u00dfer die absolute Entfernung ist. (Holtz, G\u00f6ttinger Nachrichten. 1893. S. 500.)","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n351\nTabelle VIII.\n\tl| H.\t,\tA.\t\t\t\tC.\t\n80 cm\t120,2\t22,1 '\t127,1\t34,0\t228,0\t19,5\n160 cm\t176,3\t34,2\t202,5\t213,0\t294,2\t48,1\nsie an sehr verschiedene Bilder f\u00fcr beide Augen gew\u00f6hnt, und andererseits, da sie nicht genau die Linien und Einzelheiten sehr entfernter Objecte unterscheiden, sind sie nicht so gew\u00f6hnt, das Erhabene, K\u00f6rperliche weit entfernter Gegenst\u00e4nde mittels der secun-d\u00e4ren Kriterien1), n\u00e4mlich mittels der perspectivischen Linien zu reconstruiren; sie sind also der T\u00e4uschung der Z\u00f6llner\u2019schen Figur nicht so ausgesetzt.\nNeigung der Querstriche. Als Z\u00f6llner seinen ersten Auf- \u2022 satz ver\u00f6ffentlichte, waren in der von ihm gezeichneten Figur die Transversalen 22\u00b0 30' zu den L\u00e4ngsstreifen geneigt, so dass die Transversalen mit einander einen Winkel von 45\u00b0 bildeten. In seinem zweiten Artikel aber hat Z\u00f6llner bewiesen, dass diese Neigung nicht dem Maximum der T\u00e4uschung entspricht, sondern dass diese gr\u00f6\u00dfer erscheint f\u00fcr eine Neigung von 30\u00b0. Ebenso ist f\u00fcr jede andere perspectivische Zeichnung die Neigung von 30\u00b0 am g\u00fcnstigsten. So ist z. B. in der Treppenfigur (Fig. 7, S. 320) 30\u00b0 die Gr\u00f6\u00dfe des Winkels, welcher von der Querlinie a\u00df und der bei normaler Lage der Treppe horizontalen Linie gebildet wird. Auf dieser horizontalen Linie w\u00fcrde die Querlinie a\u00df als Punkt erscheinen, wenn die Treppe nicht, als von rechts oben gesehen, gezeichnet w\u00fcrde, sondern geradeaus gesehen, so dass die ganze Treppe im Profil als eine einzige gebrochene Linie erscheinen w\u00fcrde. Alsdann w\u00fcrde jede senkrechte Ebene als eine senkrechte Linie, jede wagerechte Ebene aber als eine wagerechte Linie erscheinen.\nEbenso wird jede Ebene der Z\u00f6llner\u2019schen Figur durch einen der L\u00e4ngsstreifen der Figur dargestellt werden, wenn diese Ebene\n1) Nach der Bezeichnung von Wundt sind die Augenbewegungen und die Disparit\u00e4t der Bilder das prim\u00e4re Kriterium des Reliefs der K\u00f6rper, die per-spectivischen Linien, Farben, Schatten sind secund\u00e4re Kriterien.","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nArmand Thi\u00e9ry.\no ge dreht wird, dass sie in eine verticale Ebene zu liegen kommt und dem Auge im Profil als eine einzige Linie erscheint. \u00dcber die von einem derartigen Winkel (30\u00b0) am st\u00e4rksten hervorgerufene Stereoskopie wird unten mehr die Rede sein.\nAbstand der Zeichnungsebene vom Beobachter. Kundt1) hat beobachtet, dass die T\u00e4uschung verschwindet, 1) wenn das Z\u00f6llner'sehe Modell diesseits eines gewissen Abstandes vom Beobachter sich befindet, und 2) wenn der Abstand zwischen dem Beobachter und dem Modell eine gewisse Gr\u00f6\u00dfe \u00fcberschreitet. \u00bbDass das Maximum der T\u00e4uschungen nicht ganz in der N\u00e4he, sondern in einiger Entfernung stattfindet, muss unerkl\u00e4rt bleiben\u00ab2), meint Kundt.\nMan wird aber diese Eigenth\u00fcmlichkeit sehr leicht mit der oben erw\u00e4hnten in Einklang bringen, wenn man sich nur erinnern will, dass sie f\u00fcr jede perspectivische Zeichnung beobachtet werden kann. Diesseits eines gewissen Abstandes ist es uns unm\u00f6glich, die ge-sammte Ansicht eines Gem\u00e4ldes perspectivisch zu sehen; \u00fcberschreitet der Abstand eine gewisse Gr\u00f6\u00dfe, so verschwindet der Effect der Perspective. Man wei\u00df, dass jede perspectivische Zeichnung in der Weise ausgef\u00fchrt ist, dass sie von einem gewissen Abstande aus betrachtet werden soll. Au\u00dferhalb dieses Abstandes verschwindet mehr oder weniger der perspectivische Effect.\nIn einer letzten Serie von Experimenten haben wir untersucht, ob, wenn das Modell platt auf den Tisch gelegt wird, die T\u00e4uschung variirt, je nachdem die Querstreifen gegen den Beobachter convergiren oder divergiren. Den oben beschriebenen Rahmen ben\u00fctzten wir auch f\u00fcr diese neue Serie von Experimenten. W\u00e4hrend wir die Achse mit den St\u00e4ben, welche die Hauptstreifen und die Querstriche der Z\u00f6llner\u2019schen Figur darstellten, entfernt hatten wurden die beiden beschriebenen cubischen Schlitten beibehalten. Diese trugen jeder ein Stahlh\u00e4kchen, an welchem ein dicker schwarzer Faden in der Mitte von kleinen elastischen F\u00e4den aus Gummi in der Weise befestigt war, dass er immer gespannt war, wenn der gegliederte Rahmen um seine beiden Befestigungspunkte\n1)\ta. a. O. S. 1.\n2)\tPogg. Ann. CXX. S. 154.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n353\nauf dem festen Rahmen bewegt wurde. Wenn der Zeiger auf 0 stand, hatte der Faden eine zu den Seiten des festen Rahmens parallele Richtung. Wenn der bewegliche Rahmen sich drehte, bewegte sich auch der Faden in dem Ma\u00dfe, wie durch den Zeiger angegeben wurde. Der mit dem Faden versehene Rahmen wurde platt auf den Tisch gelegt, so dass er ein quadratf\u00f6rmiges Brettchen aus d\u00fcnnem Holz von 24 cm Seitenlange einfasste. Auf diesem Brettchen war ein schwarzer Faden gleich dem ersten gespannt; doch bewegte sich dieser feste Faden nicht auf dem Brettchen mit dem gegliederten Rahmen. Die beiden F\u00e4den waren in einer Entfernung von 6 cm angebracht und zwar so, dass sie parallel waren bei der Rotation 0\u00b0 des gegliederten Rahmens. Unter den beiden schwarzen F\u00e4den glitt nun ein Blatt Papier, auf dem zwei Systeme kleiner paralleler Striche gezeichnet waren, in der Weise angeordnet, dass sie Querstriche zu den beiden schwarzen F\u00e4den bildeten. Die beiden Systeme dieser Querstreifen waren convergent, so dass sie mit den beiden schwarzen F\u00e4den das Modell von Z\u00f6llner darstellten.\nEs folgen die Resultate, bei welchen jede Ziffer das Mittel von zw\u00f6lf Beobachtungen ist.\nTabelle IX.\n\tH.\t\tE.\t\nConvergenz\t15,1\t3,8\t25,3\t11,3\nDivergenz\t33,1\t7,4\t31,5\t20,2\nDie T\u00e4uschung wechselt demnach; sie steigert sich, wenn die Querstriche gegen den Beobachter divergiren.\n\u00a7 2. Richtungst\u00e4uschungen an parallelen Linien, welche durch convergirende Transversalen durchschnitten werden.\nWir haben nun das vorige Experiment variirt, indem wir die auf das Blatt Papier gezeichnete Figur auf verschiedene Weise ver\u00e4nderten. Anstatt die Querstriche parallel unter sich zu zeichnen,","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nArmand Thi\u00e9ry.\nlie\u00dfen wir dieselben sich in B\u00fcndeln schneiden, wie es die Figuren 13, 14, 15 unten darstellen. Je nachdem der Knotenpunkt dieser B\u00fcndel innerhalb (Fig. 13) oder au\u00dferhalb der Parallelen (Fig. 14, 15) gelegen war, erhielten w\u00fcr zwei verschiedene Figuren. Jede Figur wurde in zwei Lagen beobachtet, je nachdem die Knotenpunkte nahe (Fig. 13, 15) oder entfernt (Fig. 14) vom Beobachter gelegen sind.\nTabelle X.\nFigur\tBeobachter A.\t\tBeobachter E.\t\nFig. 13\t1,1\t12,1\t30,3\t22,1\nFig. 13\t7,5\t3,2\t72,1\t45,3\nFig. 14\t31,9\t10,0\t12,1\t35,2\nFig. 14\t47,0\t22,6\t24,2\t20,2\n1) F\u00fcr die Fig. 13 variirt die T\u00e4uschung wie in der vorhergehenden Tabelle, wo die Querstriche parallel sind. 2) F\u00fcr die Fig. 14 variirt die T\u00e4uschung nicht in derselben Weise bei den beiden Beobachtern. Woher kommt es, dass in diesem Fall die Resultate\nnicht f\u00fcr beide Beobachter \u00fcbereinstimmen? Wir haben diese Frage durch Ver\u00e4nderung der Fig. 14 zu beantworten gesucht. Anstatt die Querstriche bis dahin fortzusetzen, wo die Linien des einen B\u00fcndels die des andern schneiden, haben wir sie nur gezeichnet bis","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen,\n355\nzu einer Entfernung von 2 cm von dem Faden, welchen sie durch-schneiden (Fig. 15).\nHier die Beobachtungen, welche wir jetzt erhielten:\nTabelle XI.\n\tA.\t\tC.\t\tH.\t\tE.\t\nFig. 15\t60,3\t9,5\t56,3\t7,4\t54,2\t7,4\t6,3\t14,0\nFig. 15\t62,6\t15,2\t57,1\t11,2\t127,3\t8,3\t60,1\t9,7\nDiese Zahlen befinden sich in \u00dcbereinstimmung mit denen auf den vorhergehenden Tabellen; d. h. die T\u00e4uschung ist gr\u00f6\u00dfer, wenn die B\u00fcndel vom Beobachter entfernter sind. In den Tabellen, welche vorhergehen, ist die T\u00e4uschung st\u00e4rker, wenn die Querstriche sich schneiden, und wenn sie gegen den Beobachter diver-giren. Die Ursache dieser Thatsache kann nicht veranlasst werden durch die Convergenz, welche das Netzhautbild der Hauptstreifen nach den entfernteren Enden dieser Hauptstreifen hin zeigt, und zwar wegen der objectiv gr\u00f6\u00dferen Entfernung dieser Enden. Man erkennt leicht, dass diese Ursache den entgegengesetzten Erfolg haben w\u00fcrde. Denn sie wirkt in derselben Weise ein, wenn es sich handelt um Querstriche, die divergiren, als um solche, die convergiren gegen den Beobachter. In beiden F\u00e4llen w\u00fcrde diese Ursache die Netzhautbilder der beiden Hauptstreifen gegen den Beobachter hin divergiren lassen, was die T\u00e4uschung beg\u00fcnstigen w\u00fcrde im Fall gegen den Beobachter convergenter Querstriche und vermindern w\u00fcrde im Falle divergenter Querstriche. Aber genau das Entgegengesetzte findet statt, n\u00e4mlich bei divergenten Querstrichen ist die T\u00e4uschung am st\u00e4rksten. Es muss also eine andere st\u00e4rkere Ursache geben, die im entgegengesetzten Sinne wirkt. Verm\u00f6ge der Perspective stellen die gegen den Beobachter divergenten Querstriche eine Entfernung gegen den Horizont dar, und zwar nach der Richtung, nach welcher die Querstriche convergiren. Nun aber beg\u00fcnstigen in den von uns angestellten Versuchen die Umst\u00e4nde diese Vorstellung; denn in der Zeichnung haben die Hauptstreifen in Wirklichkeit ihr entferntestes Ende in\nWundt, Philos. Studien. XI.\n24","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nArmand Thi\u00e9ry.\nder Richtung, nach welcher die Querstreifen eine wachsende Entfernung darstellen. Umgekehrt haben im Falle gegen den Beobachter convergenter Querstriche die Hauptstreifen in Wirklichkeit ihr n\u00e4chstes Ende in der Richtung des Beobachters. In diesem Falle muss also die T\u00e4uschung geringer werden. Es er\u00fcbrigt noch ein Wort zu sagen \u00fcber die Fig. 14 und 15.\nIn der Figur 14 schneidet jeder Querstrich des einen B\u00fcndels einen Querstrich des andern in der Weise, dass er mit demselben gegen den Beobachter convergirt. Aber weiter schneiden sich die Querstriche jedes B\u00fcndels unter sich im Knotenpunkte in der Weise, dass sie in Bezug auf den Beobachter divergiren. Wenn also dieser an erster Stelle die beiden B\u00fcndel sah, so folgte er den Querstreifen der beiden Hauptstreifen, beim Verlassen dieser beiden B\u00fcndel sah er sie convergiren gegen sich.\nWenn hingegen der Beobachter an erster Stelle irgend einen der Kreuzungspunkte der Querstriche sah, folgte er diesen bis zu ihren zwei B\u00fcndeln, und er sah so die Querstriche divergiren gegen sich. Je nach der Richtung, in welcher er die Figur durchlief, hatten also die Querstriche einen anderen Einfluss auf die T\u00e4uschung. Daher die nicht \u00fcbereinstimmenden Resultate der verschiedenen Beobachter.\nIn der Figur 15 hingegen war diese Zweideutigkeit nicht mehr m\u00f6glich. Das Auge durchlief die Hauptstreifen, wurde viel mehr angezogen durch das freie Ende der Querstriche und durch den zwischenliegenden leeren Raum, und das hatte eine Gleichf\u00f6rmigkeit in den Resultaten zur Folge.\nIn der Lage der Fig. 15 z. B. stellten die gegen den Horizont convergenten Querstriche eine Entfernung in dieser Richtung dar, und da die Fig. sich in Wirklichkeit nach dieser Richtung hin entfernte, so wurde die T\u00e4uschung entsprechend den Resultaten vergr\u00f6\u00dfert, die jene uns bot. Beachten wir, dass die Fig. 13 die H\u00e4lfte einer sogenannten \u00bbHer in g\u2019sehen\u00ab Figur ist, so wird man leicht sehen, dass die T\u00e4uschung in der Figur von Hering derselben Natur ist, wie in der von Z\u00f6llner. Dasselbe gilt f\u00fcr die Figur 14, die die H\u00e4lfte einer Wundt\u2019schen Figur ist, von der wir unten sprechen werden.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n357\nA\n\u00a7 3. Richtungst\u00e4uschungen an den Transversalen selbst (Poggendorff\u2019s Figur.)\nPoggendorff hat beobachtet, dass, wenn die L\u00e4ngsstreifen der Z\u00f6llner\u2019schen Figur etwas breit sind, wie in der Figur 1 (S. 8), die Transversalen eine scheinbare Abweichung zeigen, indem die beiden St\u00fccke jeder Transversalen zu beiden Seiten eines L\u00e4ngs-stTeifens nicht mehr zu einander geh\u00f6rige Verl\u00e4ngerungen zu sein scheinen. Die Punkte, in denen jedes St\u00fcck den L\u00e4ngsstreifen ber\u00fchrt, scheinen l\u00e4ngs des Striches verschoben zu sein, so aber, dass beide St\u00fccke zu einander parallel zu bleiben scheinen. Nicht das St\u00fcck b (Fig. 16), sondern c scheint also die Verl\u00e4ngerung von a zu sein. Diese T\u00e4uschung haben wir quantitativ festzustellen gesucht. F\u00fcr diese Bestimmung bedienten a wir uns der anfangs beschriebenen Einrichtung: In den gro\u00dfen Holzrahmen brachten wir eine Zeichnung auf Papier, welche zwei gerade Parallelen von 20 cm L\u00e4nge darstellte, die 2 cm von einander entfernt waren; auf derselben Zeichnung war ein gerader Querstreifen gezogen, welcher in einer der Parallelen endigte und mit derselben einen Winkel von 30\u00b0 bildete, l\u00e4ngs der anderen Parallelen lie\u00df man einen\tI6\nPapierstreifen hin und her gleiten, welcher einen Querstreifen trug, parallel zu dem ersten. Wenn man nun den Papierstreifen bis dahin gleiten l\u00e4sst, wo sich, wie der Beobachter glaubt, der Querstreifen auf dem beweglichen Papier in der Verl\u00e4ngerung des festen Querstreifens befindet, so wird man stets finden, dass der bewegliche Querstreifen nicht mit der Geraden zusammenf\u00e4llt, die in Wirklichkeit die Verl\u00e4ngerung des Querstreifens ist, und die Gr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung wird durch den Abstand der wirklichen von der scheinbaren Verl\u00e4ngerung gemessen werden k\u00f6nnen. Um diese Distanz aus dem Abstande der beiden Verl\u00e4ngerungen auf den Parallelen zu berechnen, gen\u00fcgt es, durch den Sinus des Winkels zu dividiren. Da hier der Winkel 30\u00b0 betr\u00e4gt, so hat man einfach jenen Abstand mit 2 zu multipliciren. Umgekehrt erh\u00e4lt man aus dem abgeschnittenen St\u00fcck auf den Parallelen die senkrechte Distanz, indem man durch 2 dividirt. Wir haben der Einfachheit wegen letzteres vorgezogen, da\n24*","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nArmand Thi\u00e9ry.\nja in der Richtung der Parallelen der Querstreifen sich bewegt und die T\u00e4uschung in dieser Form an dem Apparate gemessen werden kann.\nErste Gruppe. Wir ben\u00fctzten nach einander verschiedene Streifen und Zeichnungen, indem wir die L\u00e4nge der Querstreifen von 2,5 bis 7,5 cm variiren lie\u00dfen; weiter wurden die Experimente wiederholt, indem wir den Parallelen Entfernungen von 2, 4, 6, 8 cm gaben.\nIm Folgenden ist jede Ziffer das Mittel aus 12 Beobachtungen. In einer ersten Columne ist der Abstand der Parallelen in cm angegeben, in den andern die Gr\u00f6\u00dfe der T\u00e4uschung in mm. Am Kopf jeder Columne steht die L\u00e4nge der Querstreifen in cm. Die Zeichnungen befanden sich platt auf dem Tisch, und die Parallelen hatten eine Richtung, welche vom Beobachter nach dem ihm gegen\u00fcberliegenden Horizonte ging. Von den zwei L\u00e4ngen, welche durch eine Parenthese verbunden sind, gilt die erste f\u00fcr die vom Beobachter am weitesten entfernten Transversalen.\nTabelle XII. Beobachter E.\n\t1 2,5 1 2,5\tj 2,5 1 7,5\t( 7,5 1 7,5\n2\t11,5\t1,5\t8,6\t1,4\t10,3\t1,4\n4\t28,3\t3,2\t20,0 2,1\t23,7\t2,9\n.6\t33,2\t6,4\t19,2\t3,2\t38,2\t5,2\n8\t35,7\t5,7\t28,0\t5,6\t42,0\t7,4\nErgebnisse: 1) Die T\u00e4uschung w\u00e4chst mit dem Abstand der Parallelen. 2) Die T\u00e4uschung erreicht ein Maximum, wenn die beiden Querstreifen gleich sind. 3) F\u00fcr den Abstand 2 und 4 cm wird das Maximum erreicht, wenn die Querstreifen 2,5 cm messen, hingegen f\u00fcr den Abstand 6,8 cm findet sich das Maximum bei einer L\u00e4nge derselben von 7,5 cm.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n359\nTabelle XIII. Beobachter A.\n\t( 2,5 1\t) 7,5\t(\u25a0 7,5 1 7,5\tj 7>5 1 2,5\n6\t32,5\t2,5\t34,2\t4,2\t22,5\t2,2\nDiese Tabelle best\u00e4tigt die Ergebnisse der vorhergehenden; weiter\n\u00ce7 5\n2\u20195 als f\u00fcr\n!2 5\n7\u20195, d. h. wenn der entferntere Querstreifen l\u00e4nger ist als der n\u00e4here.\nIn einer andern Folge von Versuchen blieb die untere Transversale constant und zwar gleich 2,5 mm.\nTabelle XIV. Beobachter A.\n\t( 5,0 t 2,5\t( 2,5 i 2,5\t( 7,5 1 2,5\n4\t14,5\t1,7\t30,7\t2,7\t25,4\t1,9\nDie T\u00e4uschung sinkt also auf ein Minimum bei einer Gr\u00f6\u00dfe der Transversalen von 50 mm und nicht, wie man annehmen k\u00f6nnte, bei einer Gr\u00f6\u00dfe von 75 mm.\nZweite Gruppe. Wir werden jetzt die Lage variiren lassen, welche die Parallelen in Bezug auf den Beobachter einnehmen; deswegen lassen wir die Figur sich drehen in der Ebene des Tisches. Wir geben in Graden diese Rotation an; 0\u00b0 entspricht der Lage, welche die Figur in den vorhergehenden Versuchen einnahm. 30\u00b0 entspricht einer Lage, in welcher die Transversalen gegen den Horizont gegen\u00fcber dem Beobachter gerichtet sind, d. h. einer Lage, in welcher die Transversalen dieselbe Richtung haben wie die Parallelen in den vorhergehenden Versuchen. 90\u00b0 entspricht einer Parallelen, die parallel zur Verbindungslinie der Augencentren gezogen ist. Wir haben f\u00fcr diese Experimente eine constante L\u00e4nge von 50 mm f\u00fcr die beiden Transversalen angenommen.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nArmand Thi\u00e9ry.\nTabelle XV.\nBeobachter A.\n\t0\u00b0\t\t30\u00b0\t\to o 05\t\t120\u00b0\t\n2\t75,0\t1,5\t2,1\t1,3\t13,7\t2,4\t2,3\t1,7\n4\t13,33\t2,21\t4,2\t1,0\t11,6\t1,9\t4,7\t2,5\nc\u2018 C\nErgebnisse: 1) Die T\u00e4uschung wird bedeutend vermindert f\u00fcr 30\u00b0 und 120\u00b0.\t2) Die T\u00e4uschung scheint fast dieselbe zu sein f\u00fcr\n30\u00b0 wie f\u00fcr 120\u00b0.\nErl\u00e4uterung. Man erkl\u00e4rt gew\u00f6hnlich diese T\u00e4uschung, indem man sagt, dieselbe sei von der Uebersch\u00e4tzung spitzer Winkel abh\u00e4ngig. Aber auch diese Uebersch\u00e4tzung spitzer Winkel ist mit einer falschen Stereoskopie innig verbunden, wie deutlich aus einer von von Recklinghausen beobachteten That-sache hervorgeht. \u00bbUm den k\u00f6rperlichen Effect der Perspective direct zu beweisen, muss ich anf\u00fchren\u00ab, schreibt Recklinghausen, \u00bbdass es m\u00f6glich ist durch successive Ver\u00e4nderungen der Winkel eine Bewegung in der Tiefe herbeizuf\u00fchren. Bewegt man eine an einer in der Medianebene des K\u00f6rpers befindlichen Geraden befestigte zweite Gerade um den Befestigungspunkt in der Ebene beider, so kann man, besonders bei der Betrachtung mit einem Auge, durch diese successive Ver\u00e4nderung der Winkel die bewegte Linie in schr\u00e4ger Richtung durch die Ebenen hindurchwandern lassen1). Dass die schr\u00e4ge Linie die Ebene zu durchbohren scheint, hat zur Folge, dass der spitze Winkel, der zwischen den beiden Linien liegt, vergr\u00f6\u00dfert erscheint. Um sich die T\u00e4uschung zu erkl\u00e4ren, denke man sich ein rechtwinkliges Dreieck heE (Fig. 17), welches sich um die Seite he dreht, so dass dasselbe einen halben Kegel, die Seite eE einen halben\n1) von Recklinghausen, Archiv f\u00fcr Ophthalmologie. 1859 S. 164.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n361\nKegelmantel beschreibt. Der Gesichtswinkel, unter dem der Winkel hEe gesehen wird, erreicht ein Maximum, wenn die Linie Ee in die Zeichnungsebene f\u00e4llt; sobald die Linie Ee die Zeichnungsebene verl\u00e4sst, indem das Dreieck heE sich auf den Beobachter zu oder vom Beobachter weg bewegt, wird dieser Gesichtswinkel sich fortgesetzt verkleinern und gleich 0 werden, sobald die Linie eE mit dem Dreieck heE in eine Ebene zu liegen kommt, die senkrecht zur Zeichnungsebene liegt. Obgleich nun aber dieser Gesichtswinkel abnimmt, halten wir doch den Winkel selbst nicht f\u00fcr verkleinert, sondern wir wissen, dass z. B. eine Lage der Linie eE in eE\" (vor der Zeichnungsebene) oder in eE' (hinter der Zeichnungsebene) immer dem wirklichen Winkel hEe entspricht, und wir sch\u00e4tzen in Folge dessen den Winkel hEe\" wie auch den Winkel hEe' immer entsprechend gro\u00df. In gleicher Weise verh\u00e4lt es sich mit dem untern Dreieck v'NR und mit der Linie RN. Beide St\u00fccke der Transversalen scheinen nun in derselben Weise die Zeichnungsebene zu durchbohren; wir werden also diese Winkel, die sie mit den Parallelen bilden, aus den oben angef\u00fchrten Gr\u00fcnden \u00fcbersch\u00e4tzen. Wir sch\u00e4tzen den Winkel nicht nach seinem Gesichtswinkel, sondern in der Gr\u00f6\u00dfe, welche er haben w\u00fcrde, wenn der eine Schenkel, n\u00e4mlich das St\u00fcck der Transversalen, in die Zeichnungsebene zu liegen k\u00e4me. Und das entspricht geometrisch einer Drehung, welche wir in Gedanken so lange vollziehen, bis die Figur in der zur Grundlinie parallelen Ebene liegt. Dadurch werden auch die spitzen Winkel vergr\u00f6\u00dfert und die stumpfen Winkel verkleinert. Wenn bestimmte Theile einer Figur die Zeichnungsebene zu verlassen scheinen, erfahren auch diese Theile Ver\u00e4nderungen, welche einer solchen Drehung entsprechen.\nMan denke sich in Figur 17 zwei senkrecht liegende parallele Linien, die wie das Rechteck aac'c' eine zur Grundlinie parallele Ebene darstellen. Diese Ebene wird also in der Papierebene erscheinen. Dagegen eine Linie eE', deren oberes Ende vom Beobachter entfernter erscheint, entspricht auf der Papierebene einer Richtung eE und wird von uns als solche gesch\u00e4tzt; denn w\u00e4re E' wirklich in der Entfernung, dann w\u00e4re eE der objective Winkel zwischen dieser Linie eE' und der Verticalen. Dass die Enden der Transversalen nicht in der Ebene der beiden Linien erscheinen,","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nArmand Thi\u00e9ry.\nwurde experimentell von Hering best\u00e4tigt, indem er die auf der R\u00fcckseite einer nicht polirten Glasplatte gezeichnete Figur monocular betrachtete. \u00bbSo sehe ich\u00ab, schreibt er, \u00bbin \u00fcberraschender Weise ein k\u00f6rperhaftes Bild: der dicke Strich (er hatte die Fl\u00e4che zwischen den Parallelen mit Tinte ausgef\u00fcllt, so dass ein rechteckiger dicker Strich entstand) liegt in der Glasebene, das obere Ende des Querstrichs dahinter und das untere davor, oder beide vorn oder beide hinten, was hier alles gleichwerthig ist und theils von Nebenumst\u00e4nden, theils von meiner Willk\u00fcr abh\u00e4ngt').\u00ab\nDasselbe kann man an zwei etwas breiten St\u00e4bchen, z. B. zwei Bleistiften, beobachten. Da die zwei vertical liegenden Parallelen in der Ebene der Zeichnung liegen, so wird von uns dieser Theil unmittelbar nach dem Gesichtswinkel gesch\u00e4tzt, w\u00e4hrend die Theile, die au\u00dferhalb dieser zwei Linien liegen, au\u00dferdem nach ihrer vorgestellten Entfernung gesch\u00e4tzt werden. Daher kommt es, dass die Richtung einer solchen Querlinie, deren mittlerer Theil nicht gezeichnet wird, an den beiden gezeichneten Theilen eine solche Richtungsver\u00e4nderung zu erfahren scheint, dass diese beiden Theile um die Punkte, in denen sie die Ebene erreichen, eine Drehung in dem Sinne einer Vergr\u00f6\u00dferung des spitzen Winkels erfahren. Dass die scheinbare Drehung des oberen und des unteren Theiles um diese zwei Punkte sich vollzieht, hat zur Folge, dass die T\u00e4uschung proportional sein muss der Distanz, welche zwischen den zwei parallelen Linien liegt.\nNeigung der Figur in der Zeichnungsebene. Solche durch die Gew\u00f6hnung eingewurzelte Associationen machen sich auch noch in anderer Beziehung bei der Erscheinung geltend. So beruht es auf einer bekannten Association von Bildern, welche bewirkt, dass die Parallelen, welche die Transversalen unterbrechen, mit dem Eindr\u00fccke verkn\u00fcpft werden, als bildeten sie eine Figur, die vor einer andern gelegen ist und einen Theil davon unsichtbar macht. Sully citirt nach Helmholtz1 2) mehrere derartige Beispiele. Eine andere Association ist die, welche bewirkt, dass schr\u00e4ge Linien den\n1)\tHering, Von der ein\u00e4ugigen Stereoskopie. Beitr\u00e4ge 1861. S. 71. Diese verschiedenen Auffassungen h\u00e4ngen von Augenbewegungen ab. Wir werden sehen, dass die erste Auffassung den meisten F\u00e4llen entspricht.\n2)\tSully op. cit. pag. 58 Fig. 4 und 2.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n363\nEindruck her vorrufen, als seien sie Gerade, die sich entfernen. Einen interessanten Umstand erfahren wir durch Wundt. Erweist n\u00e4mlich darauf hin, dass die T\u00e4uschung, wenn auch viel schw\u00e4cher, fortbesteht, wenn die Parallelen verschwinden (Fig. 18). Das von uns Gesagte l\u00e4sst sich in gleicher Weise auch auf diesen Fall anwenden. Denn wenn mit den schr\u00e4gen Linien durch Association der Eindruck einer Entfernung verbunden ist, so werden die St\u00fccke NN', EE' (Fig. 17), von denen das eine in der Verl\u00e4ngerung des andern liegt, um die Punkte N und E Rotationen erleiden, welche die betreffenden St\u00fccke gem\u00e4\u00df dem von uns Gesagten (\u00fcbertrieben dargestellt) in EE\" und NN\" erscheinen lassen. Eine Erkl\u00e4rung, welche sich darauf beschr\u00e4nken w\u00fcrde, die Uebersch\u00e4tzung der spitzen Winkel als Grund der T\u00e4uschung anzuf\u00fchren, w\u00fcrde \u00fcber die Figur nicht Rechenschaft geben, da es in dieser Figur keine spitzen Winkel gibt. Querlinien entsprechen gew\u00f6hnlich Linien, die nach dem Horizont zu sich entfernen.\nDiese Querlinien werden also auch auf Grund von Associationswirkungen unter diesem Gesichtspunkte gesehen. Versuche von Hering best\u00e4tigen dies. Wenn man die auf Glasplatten gezeichneten oder aus seidenen Dr\u00e4hten resp. d\u00fcnnen Metallst\u00e4bchen zusammengesetzten Kreuze betrachtet, so sieht man den horizontalen und den verticalen Theil in der Ebene bleiben, w\u00e4hrend die schiefen Arme aus der Ebene herausgehen1).\nDaraus erkl\u00e4rt sich, dass in unseren Versuchen, wenn die transversale Linie in der Zeichnungsebene um 30\u00b0 resp. 120\u00b0 gedreht wird, keine T\u00e4uschung mehr zu beobachten ist; denn in diesem Falle liegt die Transversale senkrecht resp. wagerecht. Die stereoskopische Ansicht erreicht dagegen ein Maximum, wenn die eine Linie senkrecht oder wagerecht, und die andere um 30\u00b0 geneigt ist2).\n1)\tHering\u2019s Physiol. Optik S. 580. Hermann\u2019s Handb. d. Physiol. 1879. Bd. Ill, 1. S. 579. Fig. 61.\n2)\tVergl. das oben Gesagte \u00fcber die Neigung der Transversalen in der Z\u00f6llner\u2019schen Figur, ebenso die sp\u00e4teren Ausf\u00fchrungen (Cap. II) \u00fcber die Neigung der Schenkel in den M\u00fcller-Lyer\u2019schen Figuren.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nArmand Thi\u00e9ry.\nHering beobachtete z. B., dass die Stereoskopie der Ansicht geringer wird, wenn beide Linien geneigt sind. Dass die T\u00e4uschung proportional der stereoskopischen Ansicht ab- und zunimmt, geht aus unsern Untersuchungen hervor. Wenn die Parallelen, wie in den vorhergehenden Versuchen, eine Rotation um 30\u00b0 oder 120\u00b0 erleiden, so vermindert sich die Association, welche uns diese Linien in einer vom Beobachter gleichweit entfernten Ebene sehen l\u00e4sst; denn nun liegen die Parallelen schr\u00e4g im Verh\u00e4ltniss zu der transversalen Linie, welche bei 30\u00b0 vertical, bei 120\u00b0 horizontal geworden ist, und wir haben gesehen, dass mit schr\u00e4gen Linien der Eindruck verkn\u00fcpft ist, als seien ihre Enden in ungleicher Entfernung vom Beobachter.\nGr\u00f6\u00dfe der Schenkel der Transversalen. In den Versuchen von Recklinghausen und Hering wird die stereoskopische Ansicht noch sch\u00e4rfer sichtbar, wenn das Auge sich auf den Ort heftet, wo die Geraden sich schneiden, ebenso in dem oben citirten Versuche, welchen Helmholtz an der Z\u00f6llner-schen Figur anstellte. Die T\u00e4uschung wurde erzeugt, wenn das Auge sich auf die Achse heftete, welche Hauptstreifen schnitt. Aus demselben Grunde, wie in den Versuchen von Helmholtz, vergr\u00f6\u00dfert sich die T\u00e4uschung, welche die senkrechten Distanzen \u00fcbersch\u00e4tzen l\u00e4sst, wenn man in der Mitte der senkrechten Distanz eine horizontale Linie in Kreuzesform anbringt (Wundt). Wenn nun aber eines der St\u00fccke kurz (2,5 cm) und das andere sehr lang (7,5 cm) ist, werden die Augen nicht die mittlere Lage innehalten, welche den Punkten entspricht, in denen die Parallelen die Transversalen schneiden, vielmehr werden sie die ganze Transversale durchlaufen, und dies erkl\u00e4rt, dass dieser Fall einem Minimum der T\u00e4uschung entspricht. Bringt man in der Richtung der Transversalen zwei Gegenst\u00e4nde an, welche man fixirt, z. B. die zwei Zeigefinger, so verschwindet die T\u00e4uschung fast ganz, wenn man sich bestrebt, die Transversale zu durchlaufen und dabei zuerst den Finger zu fixiren, von welchem man ausgeht, und dann denjenigen, bei welchem man ankommt. Ebenso haben wir gesehen, dass die T\u00e4uschung der Z\u00f6llner\u2019schen Figur bedeutend abnimmt, wenn man dieselbe in der Richtung der Hauptstreifen durchl\u00e4uft. Verl\u00e4ngert man die Transversalen (Fig. 19), so kann man die vom Scheitel-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n365\npunkte entfernteren Theile derselben besonders fixiren. In der N\u00e4he der schwarzen Linie erscheint dann die Transversale so eingehogen, wie wir etwas \u00fcbertrieben in Fig. 19B gezeichnet haben; w\u00e4hrend zugleich, wie Helmholtz fand, die vom Scheitelpunkte entfernteren Enden der transversalen Linie ganz richtig als Verl\u00e4ngerungen von einander erscheinen, so dass nur durch jene Einbiegungen in der N\u00e4he der sie schneidenden starken Linie der Schein entsteht, als tr\u00e4fen sie nicht aufeinander1). Es ist zu vermuthen, dass schon die Griechen sich hiervon Rechenschaft gegeben haben, indem sie an der Stirnseite der Tempel die schr\u00e4gen Kanten (Geisa) des Giebels gegen ihre unteren Enden hin abflachten2), so dass durch diese objective Kr\u00fcmmung die beiden schr\u00e4gen Geisa in ihrer ganzen Ausdehnung als genau gerade erscheinen3).\nGr\u00f6\u00dfe des obern und untern Thei-les der Transversalen. Falls die St\u00fccke der Transversalen ungleich sind und zwar 7,5 cm und 2,5 cm, so haben wir gesehen,\tFig. 19.\ndass die T\u00e4uschung ein wenig st\u00e4rker ist,\nwenn das kleinere St\u00fcck sich oben an der Figur befindet. (Tab. XIII.)\nDer gew\u00f6hnlichen Perspective gem\u00e4\u00df verkn\u00fcpft sich der Eindruck der Entfernung leichter mit dem Ende, welches gegen die H\u00f6he der Figur gerichtet ist, und dies wird leichter sein, wenn dieser Theil eine geringere Gr\u00f6\u00dfe hat. Wir werden sp\u00e4ter auf die Thatsache zur\u00fcckkommen, dass die obere H\u00e4lfte des Sehfeldes gew\u00f6hnlich entfernteren Gegenst\u00e4nden entspricht. Wir haben au\u00dferdem gesehen, dass diese Ansicht von Hering stereoskopisch beobachtet wurde, und nicht die umgekehrte, in welcher der untere Theil hinter die Zeichnungsebene zur\u00fcck und der obere Theil vor\n1)\tPhys. Opt. I. S. 564.\n2)\tVergl. Hoffer, Forster\u2019s Bauzeitung, 1838 S. 388.\n3)\tWir sprechen hier blo\u00df von der Kr\u00fcmmung der schr\u00e4gen Kanten; von der Kr\u00fcmmung der horizontalen Kante an demselben Giebeldreiecke werden wir sp\u00e4ter eine andere Erkl\u00e4rung kennen lernen.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nArmand Thi\u00e9ry.\ndieselbe herausgetreten w\u00e4re. Die Z\u00f6llner\u2019sehe T\u00e4uschung findet gleichwohl das eine wie das andere Mal statt.\nVerh\u00e4ltniss der Gr\u00f6\u00dfe der Transversalen zur Distanz der Parallelen. Wenn die St\u00fccke gleich sind, h\u00e4ngt das Maximum der T\u00e4uschung von dem Abstande der Parallelen ab. Bei einem Abstande von zwei oder vier cm findet das Maximum f\u00fcr eine Gr\u00f6\u00dfe der St\u00fccke von 2,5 cm statt, w\u00e4hrend bei einem Abstande von 6 oder 8 cm das Maximum eintritt f\u00fcr St\u00fccke von 7,5 cm. Da in unsern Versuchen die Parallelen constant gleich 20 cm bleiben, so wird man bemerken, dass, wenn der Abstand der Parallelen von einander 2 cm betr\u00e4gt, zwischen dem Ende der einen Parallelen und dem Punkte, wo die Transversale diese Parallele erreicht, eine Distanz von 8 cm liegt (genau 8,268 cm). Wenn hingegen der Abstand 8 cm betr\u00e4gt, so liegt zwischen dem Endpunkte der Parallelen und dem Punkte, wo diese von der Transversalen erreicht wird, nur eine Distanz von 3 cm (genau 3,017 cm). Man sieht thats\u00e4chlich, dass die T\u00e4uschung ihr Minimum erreicht, wenn die St\u00fccke der Transversalen dieselbe Gr\u00f6\u00dfe haben wie die Distanz zwischen dem oberen Ende der Parallelen und dem Punkte, wo sie von der Transversalen getroffen werden. Die Ursache davon ist verwandt mit derjenigen, welche wir soeben betrachtet haben. Wenn das St\u00fcck der Transversalen von derselben Gr\u00f6\u00dfe ist wie der Theil der Parallelen, so heftet sich das Augenmerk auf den Vereinigungspunkt der Parallelen und der Transversalen1).\nLipps hat in Zweifel gezogen, dass die spitzen Winkel gr\u00f6\u00dfer und die stumpfen Winkel kleiner gesehen w\u00fcrden, als sie in Wirk-\n1) Eine letzte Bemerkung \u00fcber die mittlere Variation sei hier noch beigef\u00fcgt. Wir haben gesehen, dass die T\u00e4uschung w\u00e4chst im Verh\u00e4ltniss zum Abstande der Parallelen; wir haben ebenso gesehen, dass die T\u00e4uschung ein Maximum war f\u00fcr eine Gr\u00f6\u00dfe der St\u00fccke der Transversalen, die gleichkam dem abgeschnittenen St\u00fccke der Parallelen; man sieht in gleicher Weise (Tab. XIII), dass in diesen F\u00e4llen die mittlere Variation in \u00e4hnlicher Weise wie die T\u00e4uschung selbst w\u00e4chst. Diese Resultate scheinen anzudeuten, dass die T\u00e4uschung in Bezug auf ihre Elemente das Web er\u2019sehe Gesetz befolgt. Aber die Constanten in unseren Experimenten m\u00fcssten noch weiter ver\u00e4ndert werden, um die Untersuchungen nach dieser Richtung hin fortzusetzen; \u00fcber 8 cm Abstand hinaus w\u00fcrde die Transversale die Parallelen nicht mehr erreichen. Diese Frage ist \u00fcbrigens zu umfangreich, um in unserer Arbeit ersch\u00f6pfend behandelt zu werden.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n367\nlichkeit sind, weil er zwei Ausnahmen gefunden zu haben glaubte1). Hering machte n\u00e4mlich darauf aufmerksam, dass ein in einen Kreis eingeschriebenes Quadrat in Beziehung auf das Centrum ein wenig convex erscheint, und dass der umschriebene Kreis an den Winkeln des Quadrates eine Abplattung zeigt (Fig. 20). Wundt hat nun bemerkt, dass diese Pseudoskopie sich durch die Ueber-sch\u00e4tzung der spitzen Winkel erkl\u00e4rt, welche durch die an jeder Ecke des Quadrates sich schneidenden Bogen und Sehnen gebildet werden. Lipps h\u00e4lt dem eine Figur entgegen, in welcher man\nFig. 21.\nFig. 20.\ndieselbe Abplattung bemerkt, wo indessen nach Lipps die Erkl\u00e4rung von Wundt nicht anwendbar sein w\u00fcrde (Fig. 21). Jeder der vier Bogen, sagt Lipps, bildet mit der anliegenden Graden einen spitzen Winkel. Wenn nun die Erkl\u00e4rung von Wundt richtig w\u00e4re, so w\u00fcrde in Folge der Uebersch\u00e4tzung dieses spitzen Winkels der Kreis an dem Ber\u00fchrungspunkte nicht abgeplattet erscheinen, sondern die Kr\u00fcmmung w\u00fcrde im Gegentheil daselbst st\u00e4rker zu sein scheinen. Die Schlussfolgerung von Lipps l\u00e4sst indessen die Thatsache au\u00dfer Acht, dass das Auge naturgem\u00e4\u00df, um z. B. den links oben gelegenen Viertelskreis zu durchlaufen, nicht den Weg von der oben links gelegenen Schr\u00e4gen zu der am unteren Ende des Bogens links oben gelegenen einschl\u00e4gt, sondern vielmehr bei ungezwungener Bewegung die Richtung von der oben rechts gelegenen Schr\u00e4gen zur links unten\n1) Lipps, Aesthetische Factoren der Raumanschauung, S. 52 ff.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nArmand Thi\u00e9ry.\ngelegenen nimmt. Es wird folglich der Bogen in Beziehung auf diejenigen beiden Geraden gesehen werden, mit welchen er stumpfe Winkel bildet, und der Bogen wird daher wegen der Untersch\u00e4tzung der stumpfen Winkel abgeplattet erscheinen. Um sich zu \u00fcberzeugen, dass dem wirklich so ist, gen\u00fcgt es, die Figur so zu bedecken, dass man nicht mehr als einen einzigen Bogen mit zwei ansto\u00dfenden Schr\u00e4gen sieht: eine Art bildlicher Darstellung des Buchstabens K, wenn dessen senkrechter Strich gekr\u00fcmmt wird. Man sieht alsdann, da das Auge nicht mehr die ganze Figur zu durchlaufen hat, dass jedes Bogenst\u00fcck, vom Scheitelpunkt an gerechnet, nur durch die benachbarte Gerade beeinflusst wird ; der Einfluss der spitzen Winkel zeigt sich dann, und die Kr\u00fcmmung des Kreises scheint nun bedeutend st\u00e4rker zu sein an dem Scheitelpunkte, genau entsprechend der Erkl\u00e4rung von Wundt1).\nWir werden sogleich sehen, dass dieselbe Grundursache die zweite Thatsache erkl\u00e4rt, welche von Lipps gegen Wundt ins Feld gef\u00fchrt wurde. Wenn man nach Lipps an den zwei Winkeln eines seitlich offenen Rechtecks symmetrisch zwei gleiche schr\u00e4ge Linien zeichnet, an dem Endpunkte der einen eine verl\u00e4ngerte Horizontale und an dem Ende der andern ein gleichfalls offenes sehr niedriges Rechteck anbringt (Fig. 22), so wird die an dem letzteren endigende Schr\u00e4ge l\u00e4nger und steiler erscheinen. Indem n\u00e4mlich die Verticale zugleich Fixationslinie ist, also nothwendiger-weise vorher von dem Blick durchlaufen wird, der von einer Schr\u00e4gen\n1) Diese T\u00e4uschung ist sehr intensiv bei der Construction einer Br\u00fccke: wenn die Stra\u00dfe, welche \u00fcber die Br\u00fccke f\u00fchrt, horizontal ist, wird sie eine leichte gegen den Himmel concave Kr\u00fcmmung zu haben scheinen, sie wird sich also zu senken scheinen in der H\u00f6he des Br\u00fcckenbogens. Bei einigen alten Br\u00fccken haben die Ingenieure unterlassen, dieser T\u00e4uschung dadurch abzuhelfen, dass sie auf der Mitte der Br\u00fccke das Niveau derselben erh\u00f6hten; diese Br\u00fccken scheinen sich in Folge dessen zu senken. Ebenso erscheinen die wagerechten Reihen der Mauersteine, wenn sie von einem Bogen tangirt werden, gekr\u00fcmmt und an ihren Endpunkten gegen den Himmel erh\u00f6ht. In der Markthalle zu Leipzig wird diese T\u00e4uschung noch dadurch verst\u00e4rkt, dass diese Enden die Seiten eines triangul\u00e4ren Giebels ber\u00fchren. Aehnliche, doch kleinere Kr\u00fcmmungen bemerkt man auch an Br\u00fccken, wo \u00fcberhaupt keine spitzen Winkel vorhanden sind. Die Uebersch\u00e4tzung der spitzen Winkel ist also nicht die einzige Ursache, welche diese T\u00e4uschung veranlasst. Wir werden sehen, wie diese seheinbaren Kr\u00fcmmungen von einer anderen T\u00e4uschungsursache hervorgerufen werden (Cap. III'","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\n369\nzur anderen geht, so wird der Blick von ihr aus vorzugsweise auf die obere Schr\u00e4ge hingelenkt, da das kleinere Rechteck hier die Horizontale st\u00e4rker hervorheht. Die obere Schr\u00e4ge wird daher in ihrer Richtung weniger von der Verti-\ncalen abweichen als die untere, und die ...\nuntere Ecke wird demnach, wie Lipps bemerkt hat, weiter nach rechts heraus-treten als die obere.\nMan kann in den folgenden von Wundt herr\u00fchrenden Figuren ein \u00fcberaus treffendes Beispiel derselben Art sehen. Man denke sich zwei gleiche\nFiguren 23 und 24, in welchen die Bruch- ____\nst\u00fccke der Linien ab in der Verl\u00e4ngerung\nvon einander liegen. Diese Linien ab ------\u2014\nsind in gleicher Weise geneigt. Die imagin\u00e4ren Horizontalen, welche durch die\nEndpunkte der senkrechten Striche gehen, sind in Figur 24 ebensoweit entfernt wie die wirklichen Horizontalen in Figur 23. Keines der Bruchst\u00fccke c scheint in der Verl\u00e4ngerung von a zu liegen. Aber in Figur 23 erscheint b nach rechts, in Figur 24 nach links\nFig. 22.\nc\nFig. 23.\n\u00a3\nFig. 24.\nverschoben, weil in dem ersteren Falle a und b als Linien gesehen werden, die spitze Winkel mit den wirklich vorhandenen Horizontalen bilden, w\u00e4hrend in dem zweiten Falle die imagin\u00e4ren Horizontalen nicht den Blick fesseln und die Linien a und b infolgedessen als Linien gesehen werden, die stumpfe Winkel mit den senkrechten Strichen bilden. Wenn der Endpunkt von a und b mit dem Endpunkt eines senkrechten Striches sich nicht deckt, so wird","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nArmand Thi\u00e9ry. Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen.\ndie T\u00e4uschung geringer, was mit der gegebenen Erkl\u00e4rung \u00fcbereinstimmt, weil in diesem Falle die Beziehung des senkrechten Striches zu der Linie ab weniger direct ist.\nWir werden unten weiter pr\u00fcfen, wie die Verticale des kleinen Rechtecks und die Verl\u00e4ngerung der untern Horizontalen zu der T\u00e4uschung in der Figur von Lipps (Fig. 22) beitragen. Einstweilen sei bemerkt, dass die T\u00e4uschung fast vollst\u00e4ndig verschwindet, wenn man die Figur in der Weise bedeckt, dass die Verticale des gro\u00dfen Rechtecks und deren Schnittpunkt mit den schr\u00e4gen Linien unsichtbar werden, was direct zu Gunsten der von uns ge\u00e4u\u00dferten Meinung spricht.","page":370}],"identifier":"lit4531","issued":"1895","language":"de","pages":"307-370","startpages":"307","title":"Ueber geometrisch-optische T\u00e4uschungen [In drei Teilen]","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:35:08.052289+00:00"}