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{"created":"2022-01-31T14:17:20.623096+00:00","id":"lit4533","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Henri, Victor","role":"author"},{"name":"Guy Tawney","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 394-405","fulltext":[{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Punkte bei der Ber\u00fchrung eines Punktes der Haut.\nVon\nVictor Henri und Guy Tawney.\nViele Autoren, die sich mit der Frage des Raumsinnes der Haut besch\u00e4ftigten, haben bemerkt, dass man manchmal bei der Ber\u00fchrung eines Punktes mit einer Spitze zwei Punkte wahrnimmt; diese Illusion hat den Namen \u00bbVexirfehier\u00ab bekommen, den wir auch in der vorliegenden Arbeit beibehalten.\nZwei verschiedene Erkl\u00e4rungen dieser Thatsache sind vorgeschlagen worden: die eine (Wundt1), G. E. M\u00fcller2)) sucht ihren Ursprung in rein physiologischen ErregungsVorg\u00e4ngen, sie soll eine Mitempfindung oder eine Irradiation der Empfindung sein; die andere erkl\u00e4rt sie durch psychische Vorg\u00e4nge, wie Contrast, Einbildungskraft etc. (Camerer3), Fechner4), Nichols5)).\nIn den bisherigen Arbeiten hat man gew\u00f6hnlich sehr wenig Aufmerksamkeit auf die Selbstbeobachtung gerichtet ; man begn\u00fcgte sich mit den Antworten: \u00bbeine Spitze\u00ab, \u00bbzwei Spitzen\u00ab oder \u00bbzweifelhaft\u00ab, manchmal hat man noch die Antwort \u00bbmehr als eine Spitze\u00ab\n1)\tWundt, Beitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, S. 48; Phys. Psych. 4. Aufl. II, S. 19 Anm.\n2)\tG. E. M\u00fcller, Ueber die Ma\u00dfbestimmungen des Ortssinnes der Haut. Pfl\u00fcg. Arch. Bd. 19, 1879, S. 217.\n3)\tCamerer, Zeitschr. f. Biologie Bd. XIX, S. 280 ff.\n4)\tFechner, Ueber d. Meth. d. r. u. f. F. in Anwendung auf den Raum-sinn d. Haut. Leipzig 1884, S. 129\u2014141.\n5)\tNichols, Our notions of number and space. Boston 1894, S. 156 ff.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Funkte etc.\n395\n(Camerer) gefordert, und die Versuchsperson hatte keine genauere Beschreibung der Empfindung zu geben. Aus den Zahlen der verschiedenen Antworten, die man unter gewissen Bedingungen erhielt, suchte man dann den Vexirfehler zu erkl\u00e4ren; es musste daher nothwendig viel Hypothetisches in solchen Erkl\u00e4rungen sein.\nWir dachten nun, dass der Frage vielleicht eine neue Seite abzugewinnen sei, wenn man die Versuchsperson ersuchte, nach jedem Versuch so vollst\u00e4ndig wie m\u00f6glich die Wahrnehmung zu beschreiben; sie musste also nicht nur angeben, ob sie eine oder zwei Spitzen wahrgenommen hatte, sondern auch, wie weit entfernt voh einander ihr die beiden Spitzen zu sein schienen, in welcher Richtung sie sich befanden, ob zwei qualitativ gleiche Punkte empfunden wurden oder ob die beiden Punkte qualitativ verschieden waren, z. B. einer sch\u00e4rfer oder stumpfer als der andere etc., ob die Empfindungen constant blieben oder schwankten u. s. w. Alle diese Angaben wurden sorgf\u00e4ltig notirt und dann zusammengestellt. Wegen dieser bei jedem Versuch erforderlichen Selbstbeobachtung haben wir die Zwischenzeit zwischen zwei Versuchen nie kleiner als. zwei Minuten gew\u00e4hlt.\nIm Anfang der Versuche wollten wir nur die Einfl\u00fcsse eines Versuchs auf den folgenden, der Nachempfindungen, des wissentlichen Verfahrens und noch einiger anderer Pactoren untersuchen; dagegen hatten wir in unser erstes Programm nichts \u00fcber den Einfluss der verschiedenen Punkte der Haut auf die Vexirfehler aufgenommen, so dass die wichtigsten Resultate unserer Arbeit f\u00fcr uns selbst ganz unerwartet waren.\nUm den Einfluss der verschiedenen Factoren zu bestimmen, f\u00fchrten wir zwei Arten von Versuchen aus: in der einen ber\u00fchrten wir die Haut bald mit einer, bald mit zwei Spitzen, wir nennen, nach Fechner, diese Reihen gemischte Vexirreihen; in der andern ber\u00fchrten wir w\u00e4hrend der ganzen Reihe die Haut nur mit einer Spitze, diese Reihen nennen wir reine Vexirreihen.\nIn den ersten Tagen ergab sich folgende Schwierigkeit. Wenn man bald mit zwei Spitzen, bald mit einer die Haut ber\u00fchrt, so fragt es sich: wo muss man diese eine Spitze aufsetzen? in der Mitte zwischen den zwei eben ber\u00fchrten Punkten, oder bald am einen, bald am andern? Wir entschieden uns daf\u00fcr, die Punkte","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nVictor Henri und Guy Tawney.\nprit Tinte zu markiren und beide Verfahrungsweisen anzuwenden. Bei den reinen Vexirreihen bestand eine \u00e4hnliche Schwierigkeit: musste man immer denselben Punkt der Haut ber\u00fchren, oder vielleicht mehrere Punkte? Wir w\u00e4hlten gew\u00f6hnlich zwei Punkte (A, B) in einer gewissen nicht zu gro\u00dfen Entfernung und ber\u00fchrten diese Punkte A und B abwechselnd. Wir w\u00e4hlten aber dieses Verfahren nur zum Zweck der Elimination etwaiger Raumfehler, nicht in der Absicht, die Verschiedenheit der Vexirfehler bei der Ber\u00fchrung von A und von B zu untersuchen.\nDie Versuche wurden mit drei Versuchspersonen gemacht: Herrn Stratton und uns beiden; da einer von uns (V. H.) fast keine Vexirfehler zeigte und da die Zahl der Versuche bei ihm nicht gro\u00df genug ist, so geben wir hier nur die Versuche der zwei anderen Versuchspersonen (Str. und T.). Wir sprechen zugleich bei dieser Gelegenheit Herrn Stratton unseren Dank f\u00fcr seine Mitwirkung aus. Die gebrauchte Stelle war die Volarseite des Armes, fast in der Mitte zwischen der Handwurzel und dem Ellenbogen, etwas n\u00e4her dem letzteren. Dies ist eine sehr bequeme Stelle : die Haut ist eben, ohne Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten, die Schwelle ist so gro\u00df, dass man keine gr\u00f6\u00dfere Genauigkeit in den Abmessungen der Distanzen als ein Millimeter zu haben braucht; die Stelle ist leicht zu finden, sie wird nicht viel w\u00e4hrend des Tages ber\u00fchrt, nicht viel gesehen etc.\nIn den untenstehenden Tabellen theilen wir die Resultate unserer Versuche mit. Zuerst wenden wir uns zu den unwissentlichen Reihen, wo die Versuchsperson nichts \u00fcber die Reihenfolge und \u00fcber die Resultate wusste; es war ihr nur gesagt, dass man als Reiz entweder zwei oder eine Spitze brauche.\nDie Tabellen I und II enthalten die Resultate der reinen Vexirreihen. Es wurden zwei Punkte A und B in gewissen Entfernungen abwechselnd mit einer Spitze ber\u00fchrt. In den Tabellen sind die Zahlen der Vexirversuche, die der Vexirfehler f\u00fcr A und f\u00fcr B, dann die Richtungen, in denen die Punkte der Vexirfehler zu sein schienen, gegeben; diese Richtungen waren longitudinal (=1), d. h. parallel dem Arme, quer (= q) und diagonal (=d); da man die beiden Punkte der Vexirfehler bald als gleich, bald als verschieden wahrnahm, so sind in den Tabellen die Zahlen dieser verschiedenen F\u00e4lle angegeben.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Punkte etc.\n397\nReine Vexirreihen. Zwei Punkte A und B werden abwechselnd mit einer Spitze ber\u00fchrt.\nTabelle I. Versuchsperson T.\nDatum\t\tDistanz AB\t\tZahl d.Vexir-versuche\tZa Vei A\thl :irfe B\ter liier 01 l P m\tRichtung f\u00fcr A\tRichtung f\u00fcr B\t\tbe A\tide ;leic B\tSumme ^ ^\tbe ver A\tide schi B\tP. ed. <u p Ul\n13.\tIII.\t25\tmm\t12\t4\t5\t9\t47\t21,\t3?\t4\t5\t9\t\u2014\t\u2014\t\u2014\n14.\tIII.\t42\t\u00bb\t19\t6\t7\t13\t17, 4 y, 1 (7\t11\t\t2\t5\t7\t4\t2\t6\n15.\tIII.\t42\t\u00bb\t9\t6\t2\t8\t6?\tu,\t11\t\u2014\t1\ti\t6\t1\t7\n16.\tIII.\t42\t\u00bb\t6\t3\t3\t6\t3?\tH\t%\t1\ti\t2\t2\t2\t4\n18.\tIII.\t42\t\u00bb\t10\t3\t5\t8\t3?\t\u00bb,\t1<1\t1\t3\t4\t2\t2\t4\n19.\tIII.\t42\t\u00bb\t9\t4\t5\t9\t41\t21,\t2y,l(7\t\u2014\t4\t4\t4\t1\t5\n22.\tIII.\t42\t\u00bb\t13\t5\t8\t13\t\u00f6q\t37, 5 q\t\t2\t4\t6\t3\t4\t7\nSumme\t\t\t\t78\t31\t35\t66\t5 Z, 25g\u2019, 1 e?\t201,14y,\\d\t\t10\t23\t33\t21\t12\t33\nTabelle II. Versuchsperson Str.\nDatum\t\tDistanz AB\t\tZahl d.Vexir- versuche\tZf Vei A\tihl drfe B\t1er liier 01 1 02\tRichtung f\u00fcr A\t\tRichtung f\u00fcr B\tbe ? A\tide deic B\tP. h <D s a 3 i\u00bb\tbe vei A\t>ide \u2022schi B\tP. ed. 01 I Ul\n2.\tV.\t20\tmm\t10\t5\t3\t8\t3 q,\t2(7\t3 q\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t\u2014\n3.\tV.\t10\t\u00bb\t12\t5\t6\t11\tZI, 2q\t\t57,\t1(7\t5\t5\t10\t\u2014\t1\t1\n4.\tV.\t10\t\u00bb\t10\t3\t5\t8\t2?,\t1(7\t17, ly, 3(7\t3\t3\t6\t\u2014\t2\t2\n3.\tV.\t30\t\u00bb\t12\t3\t6\t9\t17, 1 q,\t1(7\t37, 2y, 1(7\t1\t6\t7\t2\t\u2014\t2\n4.\tV.\t30\t\u00bb\t12\t3\t6\t9\t'\t3(7\t37, 2y, D7\t3\t6\t9\t\u2014\t\u2014\t\u2014\n3.\tV.\t50\t\u00bb\t12\t6\t4\t10\t37, 2?,\t1(7\t27,\t2(7\t6\t4\t10\t\u2014\t\u2014\t\u2014\n4.\tY.\t50\t\u00bb\t10\t5\t4\t9\t1Z,\t2(7\t27, 2y\t4\t3\t7\t1\t1\t2\nSumme\t\t\t\t78\t30\t34\t64\t87,12\u00e7, 10e7\t\t167,1 Oy, 8(7\t22\t27\t49\t3\t4\t7","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nVictor Henri und Guy Tawney.\nEs sind bei jeder Versuchsperson sieben reine Vexirreihen, zusammen 78 Einzelversuche gemacht worden; die erste hat 66 Mal und die zweite 64 Mal zwei Punkte wahrgenommen. In der H\u00e4ufigkeit der Vexirfehler f\u00fcr die Punkte A und B sieht man keinen Unterschied, beide ergeben fast dieselben Zahlen der Vexirfehler; aber es zeigt sich ein deutlicher Unterschied in den Richtungen dieser Fehler bei den beiden Punkten A und B. Dieser Unterschied ist besonders deutlich bei T.; man sieht n\u00e4mlich, dass von den 31 Vexirfehlern, die bei der Ber\u00fchrung von A begangen waren, 5 Mal die Punkte in longitudinaler und 25 Mal in querer Richtung zu liegen schienen, dagegen f\u00fcr die Vexirfehler bei der Ber\u00fchrung von B 20 Mal in longitudinaler und 14 Mal in querer Richtung. Dieser Unterschied ist kein zuf\u00e4lliger, man sieht das, wenn man die einzelnen Reihen f\u00fcr sich nimmt, wo \u00fcberall derselbe Unterschied vorhanden ist.\nEbenso zeigt die Tabelle I einen deutlichen Unterschied in den Vexirfehlern f\u00fcr A und f\u00fcr B in Bezug auf die Gleichheit oder Verschiedenheit der wahrgenommenen Punkte. Es wurden n\u00e4mlich bei der Ber\u00fchrung von A 10 Mal zwei gleiche und 21 Mal zwei verschiedene Punkte wahrgenommen, bei der Ber\u00fchrung von B 23 Mal zwei gleiche und 12 Mal zwei verschiedene Punkte. In der Tabelle II ist dieser Unterschied nicht zu sehen, weil die Versuchsperson Str. \u00fcberhaupt sehr selten zwei verschiedene Punkte wahrnahm. Diese Resultate zeigen deutlich, dass die Vexirfehler in gewissen constanten Beziehungen zu den ber\u00fchrten Punkten stehen; sie sind also an den peripheren Vorgang gebunden.\nIn den Tabellen III und IV haben wir die scheinbaren Entfernungen der beiden Punkte in den Vexirfehlerf\u00e4llen zusammengestellt. Es wurden die zwei Punkte als gleich oder verschieden, als getrennt oder durch eine Linie verbunden wahrgenommen, endlich wurde manchmal ein scharfer Punkt mit einer leisen Ber\u00fchrung nebenempfunden. Die Zahlen der ersten horizontalen Linie bezeichnen die Entfernungen, in denen die beiden Punkte zu sein schienen ; die \u00fcbrigen Zahlen bezeichnen, wie viel Mal die Punkte in einer bestimmten Entfernung erschienen, also z. B. die Versuchsperson T. hat nach der ersten Reihe von Tabelle III 11 Mal die Punkte","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Punkte etc.\t399\ngleich und durch einen Zwischenraum von 10 mm getrennt wahrgenommen.\nReine und gemischte Vexirreihen. Tabelle III. Versuchsperson T.\nU rtheile\tScheinbare Entfernung der Punkte\t\t\t\t\t\t\tSumme\n\tne- ben\t5 mm\t10 mm\t15 mm\t20 mm\t25 mm\t30 mm\t\nGleiche Punkte getrennt ....\t7\t9\ta\t4\t7\t\t\t38\nGleiche Punkte verbunden . . .\t5\t4\t7\t3\t5\t\t\t24\nVerschiedene Punkte getrennt .\t5\t4\t6\t8\t12\t\t\t35\nVerschiedene Punkte verbunden\t\u2014\t\u2014\t2\t1\t1\t\t\t4\nEin Punkt mit Nebenempfindung\t1\t1\t5\t3\t1\t\t\t11\nSumme\t18\t18\t31\t19\t26\t\t\t112\nGesammtzahl der gemachten Vexirversuche 154.\nTabelle IV. Versuchsperson Str.\nUrtheil e\tScheinbare Entfernung der Punkte\t\t\t\t\t\t\t\tSumme\n\tne- ben\t5 mm\t8 mm\t10 mm\t15 mm\t20 mm\t25 mm\t30 mm\t\nGleiche Punkte getrennt ....\t3\t6\t12\t14\t7\t6\ti\ti\t50\nGleiche Punkte verbunden . . .\t6\t7\t3\t4\t3\t1\t\u2014\t\u2014\t24\nVerschiedene Punkte getrennt .\t3\t6\t3\t\u2014\t3\t2\ti\t\u2014\t18\nVerschiedene Punkte verbunden\t\t\t\t\t\t\t\t\t\nEin Punkt mit Nebenempfindung\t\u2014\t\u2014\t1\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t\u2014\t1\nSumme\t12\t19\t19\t18\t13\t9\t2\ti\t93\nGesammtzahl der gemachten Vexirversuche 116.\nDie obenstehenden Tabellen enthalten die Resultate der s\u00e4mmt-lichen Vexirversuche, also der gemischten und reinen Vexirreihen.","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nVictor Henri und Guy Tawney.\nMan k\u00f6nnte sich fragen, ob nicht ein gewisser Unterschied durch diese verschiedenen Anordnungen der Vexirversuche entstehen k\u00f6nnte. Die Zahl unserer Versuche ist zu gering, um eine sichere Antwort auf diese Frage zu geben; wir bemerken nur, dass f\u00fcr beide Versuchspersonen die relative Zahl der Vexirfehler gr\u00f6\u00dfer bei den reinen Vexirreihen als in den gemischten war; wir erhielten n\u00e4mlich folgende Zahlen:\nVersuchsperson T.\nZahl der Vexirversuche Zahl der Vexirfehler Gemischte Vexirreihen .... 76\t'\t46\nReine Vexirreihen........ 78\t66\nVersuchsperson Str.\nZahl der Vexirversuche Zahl der Vexirfehler Gemischte Vexirreihen .... 38\t29\nReine Vexirreihen....... 78\t64\nDasselbe Resultat haben schon Cam er er und Fechner erhalten und dasselbe durch den Contrast erkl\u00e4rt1). Wir k\u00f6nnen nichts Sicheres \u00fcber die Ursache sagen, da unsere Versuche nicht zahlreich genug sind, und da wir immer nur mit einer und derselben Zwischenzeit gearbeitet haben.\nWenn wir die Tabellen III und IV n\u00e4her betrachten, so sehen wir deutlich, dass die scheinbare Entfernung der Punkte in den Vexirfehlern nicht eine gewisse bestimmte Grenze \u00fcberschritten hat, diese Grenze ist f\u00fcr beide Versuchspersonen gleich 20 mm. Es ist dies ein Resultat, das in einer engen Beziehung zu dem von Nichols2) steht, der in seinen Versuchen fand, dass man auf Verschiedenen Hautstellen die Entfernung der Punkte bei den Vexirfehlern fast gleich der Schwelle der betreffenden Stelle angibt. Da wir die Versuche nur an einer Hautstelle gemacht haben, so haben wir kein Urtlieil \u00fcber diese Frage. Wir bemerken nur, dass die Versuche von Nichols von den hier beschriebenen sehr verschieden sind. Seine Versuchspersonen waren n\u00e4mlich \u00fcberzeugt, dass\n1) Rechner, loc. cit. S. 131.\n2) Nichols, loc. cit. S. 161.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugvvahrnehmung zweier Punkte ete.\n401\nman nur mit zwei Punkten die Haut ber\u00fchrte und nie blo\u00df einen Punkt brauchte, es war also in seinen Versuchen ein Factor, der die Versuchsperson in gewisser Richtung suggerirte.\nEin zweites auffallendes Resultat, das gleich f\u00fcr die beiden Versuchspersonen ist, ist die relative Zahl der F\u00e4lle, in denen zwei verschiedene Punkte und in denen zwei gleiche Punkte wahrgenommen wurden. Die Versuchsperson T. hat 62 Mal zwei gleiche Punkte und 39 Mal zwei verschiedene Punkte, Str. 74 Mal zwei gleiche und 18 Mal zwei verschiedene wahrgenommen ; man sieht also, dass bei den Vexirfehlern zwei gleiche Punkte \u00f6fter als zwei verschiedene Punkte wahrgenommen werden. Endlich sieht man noch deutlich, dass die gleichen Punkte viel \u00f6fter als die verschiedenen durch eine Linie verbunden zu sein scheinen.\nGehen wir jetzt zu den Versuchen, die mit dem wissentlichen Verfahren angestellt wurden, \u00fcber. In diesen Versuchen wollten wir den Einfluss des Wissens und der Erwartung auf die Vexir-fehler bestimmen. Man zeigte vor jedem Versuche der Versuchsperson den Reiz, den man aus\u00fcben wollte, also eine Spitze oder zwei Spitzen, die eine bestimmte Distanz hatten; dann ber\u00fchrte man die Haut. Die Versuchsperson sah aber ihren Arm nicht w\u00e4hrend der Ber\u00fchrung. In einigen Reihen wurde wirklich derjenige Reiz ausge\u00fcbt, der gezeigt worden war, in anderen dagegen ein verschiedener. Die Versuchsperson wusste nichts hiervon, sie war \u00fcberzeugt, dass man immer den gezeigten Reiz aus\u00fcbte. Um ein Recht zu einem Vergleich der Resultate der Versuche, bei denen eine Suggestion stattfand, mit denen der wirklich wissentlichen Versuche (wo der ausge\u00fcbte Reiz gleich dem gezeigten war) zu haben, machten wir gemischte Reihen, in denen ein Versuch mit Suggestion, dann ein wirklich wissentlicher, dann wieder einer mit Suggestion etc. gemacht wurden.\nWir geben in den Tabellen V und VI die Resultate derjenigen Reihen, in denen immer nur ein Punkt ber\u00fchrt und der Versuchsperson bald eine, bald zwei Spitzen gezeigt wurden. In diesen Tabellen sind in der erstenColumne die Entfernungen der gezeigten Punkte gegeben; in der ersten Horizontallinie stehen die scheinbaren Entfernungen der wahrgenommenen Punkte, die Zahlen der Tabellen bezeichnen, wie viel Mal bei einer gewissen gezeigten","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nVictor Henri und Guy Tawney.\n(also auch erwarteten) Entfernung die Versuchsperson zwei Punkte in einer bestimmten Entfernung empfunden hat; so z. B. wenn die Punkte 25 mm weit gezeigt waren und in Wirklichkeit nur ein Punkt ber\u00fchrt wurde, so hat T. ein Mal einen Punkt, zwei Mal zwei Punkte 10 mm weit, zwei Mal 15 mm weit, ein Mal 20 mm weit, drei Mal 25 mm weit und endlich einmal 30 mm weit wahrgenommen.\nVersuche, in denen ein Punkt ber\u00fchrt wird und bald ein, bald zwei Punkte gezeigt werden.\nTabelle V. Versuchsperson T.\nEntfernung der zwei Punkte\tScheinbare Entfernung der zwei wahrgenommenen Punkte\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t\tSumme\n\tEin Punkt\tneben\t3 mm\t5 mm\t8 mm\t10 mm\t15 mm\t20 mm\t25 mm\t30 mm\t40 mm\t50 mm\t\n5 mm\t1\t\ti\t\t\t\t\t\t\t\t\t\t2\n10 mm\t\t\t\ti\t[\ti\t\t\t\t\t\t\t3\n15 mm\t\t\ti\t\ti\t\ti\t\t\t\t\t\t3\n20 mm\t4\t1\t\t\ti\ti\ti\t1\ti\ti\ti\t\t12\n25 mm\t1\t\t\t\t\t2\t2\ti\t3\ti\t\t\t10\n30 mm\t4\t\t\t\t\t\t2\ti\t2\ti\t\t\t10\n35 mm\t\t\t\t\ti\t1\t\t\t\t\t\t\t2\n40 mm\t\t\t\ti\t\t1\t\t2\t\t\ti\t\t5\n45 mm\t\t\t\t\t\t\t1\t\t\t\t1\t\t2\nSumme\t10\t1\t2\t2\t4\t6\t7\t5\t6\t3\t3\t\t49\nEin Punkt gezeigt\t24\t\t\t\t\t1\t\t2\t\t\t\ti\t28","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Punkte etc.\t403\nTabelle VI. Versuchsperson Str.\nEntfernung der\tScheinbare Entfemun\t\t\t\t\tg der zwei wahrgenommenen Punkte\t\t\t\t\t\t\tQi\nzwei Punkte\tEin\t\u00d6 Qi rO\t3\t5\t8\t10\t15\t20\t25\t30\t40\t50\t3 ZG\n\tPunkt\tQi \u00d6\tmm\tmm\tmm\tmm\tmm\tmm\tmm\tmm\tmm\tmm\t\n5 mm\t2\t\t\ti\t2\ti\t\t\t\t\t\t\t6\n10 mm\t3\t\t\t\t\t2\ti\t\t\t\t\t\t6\n15 mm\t2\t\t\t\t\t2\t\t2\t\t\t\t\t6\n20 mm\t1\t\t\t\t1\t1\t\t1\ti\ti\t\t\t6\n25 mm\t2\t\t\t\t\t\t\t1\t2\ti\t\t\t6\n30 mm\t1\t\t\ti\t\t3\t3\t1\t2\t6\t2\t2\t21\nSumme\t11\t\t\t2\t3\t9\t4\t5\t5\t8\t2\t2\t51\nEin Punkt gezeigt\t14\tI 2 1 1\t\t3\t\t1\t\t1\t\t2\t\t\t23\nDiese Tabellen zeigen deutlich, dass die Erwartung von zwei Punkten einen sehr bedeutenden Einfluss auf die Zahl und Art der Vexirfehler hat. Wir sehen n\u00e4mlich, dass bei T. in den 49 Versuchen, in denen zwei Spitzen gezeigt wurden und nur ein Punkt ber\u00fchrt wurde, 10 Mal ein Punkt und 39 Mal zwei Punkte wahrgenommen wurden; die andere Versuchsperson, Str., hat in 51 Versuchen 11 Mal einen Punkt und 40 Mal zwei Punkte angegeben; dagegen in den Versuchen, wo eine Spitze gezeigt und auch ein Punkt ber\u00fchrt wurde, hat T. 24 Mal in 28 Versuchen und Str. 14 Mal in 23 Versuchen einen Punkt empfunden.\nAus denselben Tabellen sieht man, dass, je weiter die gezeigten Spitzen sind, also je weiter die Versuchsperson die Punkte erwartet, um so weiter auch die Entfernungen der zwei scheinbaren Punkte angegeben werden.\nAlle diese Resultate f\u00fchren uns zu den zwei folgenden Schl\u00fcssen:\n1)\tDie Vexirfehler sind in erster Linie an rein physiologische Unterschiede gebunden.\n2)\tDas Vorkommen der Vexirfehler wird in betr\u00e4cht-licherWeise durch das Wissen und durch das Erwarten bestimmter Empfindungen beeinflusst, obgleich anderer-\nWundt, Philos. Studien. XL\t27","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nVictor Henri und Guy Tawney.\nseits deren Vorkommen nicht ganz durch das Wissen ausgeschlossen wird.\nWir werden versuchen, die Beweise dieser beiden Schl\u00fcsse hier zu geben:\n1. Der erste Schluss folgt zuerst aus den Resultaten, die in den Tabellen I und II enthalten sind. Wir haben gesehen: wenn zwei Punkte A und B, die nicht weit von einander entfernt sind, abwechselnd mit einer Spitze ber\u00fchrt werden, so kann es Vorkommen, dass die Vexirfehler, die bei der Ber\u00fchrung von A geschehen, von denjenigen, die hei der Ber\u00fchrung von B begangen werden, gewisse constante Verschiedenheiten zeigen; diese Verschiedenheiten k\u00f6nnen in der Richtung der wahrgenommenen zwei Punkte oder in der Gleichheit dieser Punkte bestehen. Wenn man die Vexirfehler blo\u00df durch psychische Vorg\u00e4nge erkl\u00e4rte, so w\u00e4re kein Grund vorhanden, dass man die beiden Punkte in Folge der Vexirfehler hei der Ber\u00fchrung von A mehr in der Querrichtung, dagegen hei der Ber\u00fchrung von B mehr in der longitudinalen Richtung wahrnimmt.\nEine zweite Thatsache, die auch auf die enge Beziehung der Vexirfehler zu physiologischen Unterschieden hinweist, ist das Vorkommen der Vexirfehler in den wissentlichen Versuchen; es kamen n\u00e4mlich einige F\u00e4lle vor, wo die Versuchspersonen, obgleich sie wussten, dass nur ein Punkt ber\u00fchrt wurde, und obgleich sie nur einen Punkt erwarteten, doch ganz deutlich zwei Punkte f\u00fchlten. Diese beiden Punkte waren manchmal ganz gleich, getrennt von einander, und sie blieben sogar, wenn die Versuchsperson die Haut selbst sah. \u00c4ehnliche Thatsachen hat einer von uns (V. H.) in seinen Versuchen \u00fcber die Localisation punktf\u00f6rmiger Ber\u00fchrungen beobachtet: die Versuchsperson musste in diesen Versuchen den ber\u00fchrten Punkt auf einer Photographie der Haut oder auf einem Modell des Armes zeigen; sie wusste, dass nur mit einem Punkt die Haut ber\u00fchrt wurde, sie erwartete nur einen Punkt, und doch kamen bei zwei Versuchspersonen F\u00e4lle vor, wo sie nicht einen, sondern zwei Punkte oder einen Punkt und eine leise Ber\u00fchrung empfunden hatten. Hier kann gewiss nicht von psychischen Vorg\u00e4ngen die Rede sein, denn diese m\u00fcssten eine entgegengesetzte Wirkung besitzen.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Punkte etc.\n405\nEine dritte Thatsache, die schwer durch psychische Vorg\u00e4nge zu erkl\u00e4ren w\u00e4re, ist die Gleichheit oder Verschiedenheit der empfundenen Punkte in den Vexirfehlern. Wir haben schon hervorgehoben, dass man bei der Ber\u00fchrung eines Punktes manchmal zwei Punkte wahrgenommen hat; diese zwei Punkte schienen manchmal der Versuchsperson qualitativ gleich zu sein, und in diesen F\u00e4llen schienen sie bald getrennt von einander, bald durch eine Linie verbunden, manchmal empfand die Versuchsperson zwei qualitativ verschiedene Punkte, so dass einer sch\u00e4rfer oder st\u00e4rker oder schmerzhaft, der andere stumpfer oder leiser war etc. Wenn diese Vexirfehler psychischen Ursprungs w\u00e4ren, so k\u00f6nnte man denken, dass man immer die beiden Punkte als qualitativ gleich oder immer als qualitativ verschieden wahrnehmen m\u00fcsste, und die von uns beobachtete Verschiedenheit in den Antworten w\u00e4re schwer zu erkl\u00e4ren.\n2. Der Einfluss, den die Erwartung und das Wissen auf die Vexirfehler aus\u00fcbt, ist sehr deutlich aus den Tabellen V und VI zu sehen. Die Erwartung eines Punktes und das Wissen, dass nur ein Punkt der Haut ber\u00fchrt wird, vermindern betr\u00e4chtlich die Zahl der Vexirfehler, aber sie schlie\u00dfen diese doch nicht ganz aus. Dagegen vermehrt die Erwartung zweier Punkte die Zahl derselben.\nWenn wir alle unsere Resultate zusammenfassen, so schlie\u00dfen wir, dass die Wahrnehmung zweier Punkte bei der Ber\u00fchrung eines Punktes der Haut zun\u00e4chst von physiologischen Bedingungen (wahrscheinlich den Nerven-verbindungen des ber\u00fchrten Punktes) abh\u00e4ngt, dass sie aber durch psychische Vorg\u00e4nge, wie Wissen und Erwartung, beeinflusst wird.\n27*","page":405}],"identifier":"lit4533","issued":"1895","language":"de","pages":"394-405","startpages":"394","title":"Ueber die Trugwahrnehmung zweier Punkte bei der Ber\u00fchrung eines Punktes der Haut","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:17:20.623102+00:00"}