Open Access
{"created":"2022-01-31T14:16:40.958406+00:00","id":"lit4534","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Heller, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 406-470","fulltext":[{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\nVon\nTheodor Heller.\n(Fortsetzung.)\nMit 3 Figuren im Text.\n2. Das analysirende Tasten.\n^\\ir haben schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt, dass den beweglichsten Theilen des K\u00f6rpers auch das sch\u00e4rfste extensive Unterscheidungsverm\u00f6gen zukommt. Vierordt suchte dieser Thatsache in dem Gesetze einen bestimmten Ausdruck zu geben, dass die Feinheit der Ortsunterscheidung proportional sei dem Abstand eines Hautbezirkes von der Drehungsaxe, um welche der betreffende K\u00f6rpertheil bewegt wird1). Diese einfache Beziehung hat sich sp\u00e4terhin nicht best\u00e4tigt gefunden. Klinkenberg setzt an die Stelle des Yierordt\u2019schen Gesetzes die allgemeine Regel, dass man den Raumsinn als proportional dem Ma\u00dfe derUebung betrachten k\u00f6nne2). Bewegung und\u00fcebung stehen aber in einer sehr nahen Beziehung. Die beweglichsten Hautpartien sind f\u00fcr die Zwecke des r\u00e4umlichen Tastens am g\u00fcnstigsten gelegen, von ihnen wird deshalb der h\u00e4ufigste Gebrauch gemacht, und hier m\u00fcssen sich demnach die Einfl\u00fcsse der Uebung am deutlichsten \u00e4u\u00dfern. Die Annahme liegt nicht ferne, dass sich der Reichthum an Nerven und besonderen Tastapparaten, welche der feineren Ortsunterscheidung zu Grunde liegen, in Anpassung an die Tastbed\u00fcrfnisse\n1)\tVierordt, Grundriss der Physiologie, 5. Aufl., S. 342.\n2)\tKlinkenberg, Der Raumsinn der Haut und seine Modification durch \u00e4u\u00dfere Reize. Diss. Bonn 1883, S. 20.","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n407\nentwickelt habe. Wir k\u00f6nnen vielleicht annehmen, dass die Nerven-vertheilung in der Haut urspr\u00fcnglich eine gleichm\u00e4\u00dfige war, sich jedoch an jenen Stellen ein besonderer Nervenreichthum ausgebildet habe, welche den objectiven Verh\u00e4ltnissen des Tastens am besten entsprechen. Bei dem im vorliegenden Abschnitt zu behandelnden analysirenden Tasten kommt der Raumsinn der Haut nicht in R\u00fccksicht, aber wir d\u00fcrfen nicht vergessen, dass die Unterscheidung des synthetischen und analysirenden Tastens lediglich unserer Abstraction entspringt. In der That ist eine Modification des synthetischen Tastens vorhanden, welche den Uebergang zwischen beiden Tastarten vermittelt: wir haben dieselbe in dem directen Tasten bereits kennen gelernt. Wenn wir den Vergleich mit den Verh\u00e4ltnissen des Lichtsinnes weiterf\u00fchren, so k\u00f6nnen wir jene punktf\u00f6rmige Stelle des Tastfingers, welche successive mit den Theilen eines Objectes in Ber\u00fchrung kommt, als Fixationspunkt der Hand bezeichnen1). Beim analysirenden Tasten geben die Conturen der Gegenst\u00e4nde die Bahnen an, l\u00e4ngs welcher sich der Tastfinger bewegt; in \u00e4hnlicher Weise wie beim Sehen gewinnen die ersteren daher die Bedeutung von Fixationslinien.\nEs ist leicht einzusehen, dass die Tastbewegungen in viel weiterem Umfange ge\u00fcbt werden k\u00f6nnen, als dies f\u00fcr den Raumsinn der ruhenden Hand m\u00f6glich ist. Aber nur dort erlangen die Bewegungen eine specielle Bedeutung f\u00fcr die Raumvorstellung des Blinden, wo sie sich zu associiren verm\u00f6gen mit einem Simultanbild des Objects. Dies kann entweder unmittelbar in der Wahrnehmung erfolgen, indem der Blinde direct vom synthetischen zum analysirenden Tasten \u00fcbergeht, oder in jenen F\u00e4llen, in denen dem analysirenden Tasten ein synthetischer Tastvorgang nicht mehr entspricht, auf mittelbarem Wege durch einen Akt associativer Beziehung, welcher subjectiv die M\u00f6glichkeit zur Vollziehung einer psychischen Synthese gew\u00e4hrt. F\u00fcr die Entwicklung der Raumvorstellung des Blinden ist die Gr\u00f6\u00dfe der Objecte von hoher Bedeutung, und nach dieser richten sich vor allem die verschiedenen Bedingungen der Tastanalyse. Eine geringe Anzahl kleiner Objecte kann in doppelter\n1) Streng genommen hat die tastende Hand zwei Fixationspunkte. Vergleiche unten S. 421 f.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nTheodor Heller.\nWeise betastet werden, indem der urspr\u00fcngliche Simultaneindruck in der bereits fr\u00fcher angegebenen Weise seine Verdeutlichung erf\u00e4hrt. Hier bleibt der Tastvorgang vor allem auf die Hand selbst beschr\u00e4nkt. Bei Zunahme der Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse kommen Bewegungen der Arme zur Abmessung der Objecte in Verwendung. Eine weitere Gruppe von Gegenst\u00e4nden ist durch Ver\u00e4nderungen der Lage einzelner Theile des K\u00f6rpers nicht mehr erfassbar, hier tritt die N\u00f6thigung ein zur Bewegung des Gesammtk\u00f6rpers. Aber dieser Vorgang erweist sich zur vollkommenen Abmessung der betreffenden R\u00e4ume nicht mehr als ausreichend, weil der Auffassung der dritten Dimension fast un\u00fcberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehen, welche nur theilweise durch associative und apperceptive Beziehungen \u00fcberwunden werden k\u00f6nnen. Der weitaus gr\u00f6\u00dfte Theil der dem Blinden gegen\u00fcberstehenden Objectivit\u00e4t bleibt jedoch vollst\u00e4ndig au\u00dferhalb jeder Tastm\u00f6glichkeit, weil die Verh\u00e4ltnisse ihrer Lage und Entfernung die Beth\u00e4tigung irgend eines messenden Verfahrens nicht mehr zulassen. Zur Verdeutlichung namentlich der beiden ersterw\u00e4hnten F\u00e4lle, die bei der Raumanschauung des Blinden zun\u00e4chst in Betracht kommen, erscheint es w\u00fcnschenswerth, dem Umfang der hierbei m\u00f6glichen extensiven Vorstellungen einen bestimmten Ausdruck zu geben.\nLoeb bezeichnet \u00bbden Inbegriff der Punkte, die wir mit der Spitze des Zeigefingers erreichen k\u00f6nnen, wenn wir uns unseren K\u00f6rper starr und nur Hand und Arme vollkommen beweglich denken, in Anlehnung an die Terminologie Hering\u2019s als \u00bbF\u00fchlraum der Hand\u00ab1). Statt \u00bbFiihlraum\u00ab wollen wir jedoch, um Missverst\u00e4ndnissen zu begegnen, die Bezeichnung \u00bbTastraum\u00ab anwenden. Der Tastraum erh\u00e4lt durch die Bewegungsgesetze der Arme eine bestimmte Form. Das Schultergelenk als Kugelgelenk erm\u00f6glicht eine allseitige freie Bewegung, welche unter normalen Verh\u00e4ltnissen nur nach r\u00fcckw\u00e4rts eine Verschiebung \u00fcber den Querdurchmesser des Leibes hinaus nicht zul\u00e4sst. Jeder der Arme f\u00fcr sich w\u00fcrde bei vollkommener Streckung Curven beschreiben, welche bei dichter Uebereinanderlagerung die \u00e4u\u00dfere Begrenzung des Ausschnittes einer\n1) Loeb, Untersuchungen \u00fcber den F\u00fchlraum der Hand, Pfl\u00fcger\u2019s Archiv XLI, S. 107.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psyehoiogie.\n409\nHohlkugel erg\u00e4ben. Bewegt man die beiden Arme gleichzeitig von ihrer \u00e4u\u00dfersten Ablenkung gegen die Medianebene des K\u00f6rpers, so schneiden sich in derselben ihre Bahnen, und der beidarmige Tastraum stellt sich als eine Verbindung von zwei Hohlkugelausschnitten dar, die in der Mittelebene des K\u00f6rpers Zusammentreffen und nach r\u00fcckw\u00e4rts durch die K\u00f6rperebene abgeschlossen erscheinen. Innerhalb dieses Tastraumes ist durch wechselnde Beugung und Streckung der Extremit\u00e4ten eine Abmessung nach allen Richtungen m\u00f6glich. Aus Gr\u00fcnden, die wir alsbald er\u00f6rtern wollen, wird es sich empfehlen, den beidarmigen als weiteren von dem engeren Tastraum zu unterscheiden, der durch die M\u00f6glichkeit gekennzeichnet ist, Objecte sowohl mit H\u00fclfe des analysirenden als auch des synthetischen Tastens aufzufassen. Der engere Tastraum ist, wie leicht ersichtlich, keineswegs in Bezug auf den weiteren Tastraum unver\u00e4nderlich bestimmt, doch kommt wegen der Symmetrie der Tastbewegungen vornehmlich jene Lage desselben in R\u00fccksicht, welche der Medianebene des K\u00f6rpers entspricht. Wir werden sp\u00e4terhin sehen, dass bei der Auswahl jener Anpassungserscheinungen, welche durch den Ausfall des wichtigsten Raumsinnes beim Blinden bedingt sind, das Gesetz der Kraftersparung vorzugsweise ma\u00dfgebend wird. Wegen der Kleinheit und Beweglichkeit der im engeren Tastraum zur Auffassung gelangenden Objecte kann der Blinde Streckungen der Arme vermeiden, welche einen gr\u00f6\u00dferen Aufwand von Muskelenergie zur Compensation der Schwere erforderlich machen. Deshalb sucht der Blinde bei der Anwendung der unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen erfolgenden Tastart seine Anne wo immer m\u00f6glich zu unterst\u00fctzen. Diese Unterst\u00fctzung geschieht bei vollkommen freier Lage des K\u00f6rpers in der Weise, dass der Blinde seine Oberarme an die Seiten des Rumpfes anlegt, wodurch nun allerdings aus praktischen Gr\u00fcnden eine bestimmte Lage des engeren Tastraumes gegeben ist.\nDie Betrachtung des analysirenden Tastens wird nothwendig von den Bewegungen im engeren Tastraum ausgehen m\u00fcssen, denn nur hier sind unmittelbar alle Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen einer pr\u00e4cisen Raumvorstellung gegeben, indem sich durch Benutzung des Raumsinnes der Handfl\u00e4chen auch ein Gesammtbild der betasteten Objecte gewinnen l\u00e4sst. In der That liegen innerhalb des engeren Tastraumes die Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr die Beziehung zwischen synthetischem","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nTheodor Heller.\nund analysirendem Tasten au\u00dferordentlich g\u00fcnstig: es bedarf nur kleiner Ueberg\u00e4nge, um von einer Tastart zur anderen zu gelangen. Die Beobachtung der Tastbewegungen der Blinden wird aber dadurch erschwert, dass dieselben mit gro\u00dfer Schnelligkeit erfolgen. Fordert man die Versuchspersonen zu einer Verlangsamung ihrer Tastbewegungen auf, so ergibt sich h\u00e4ufig die sonderbare Thatsache, dass die Blinden unsicher werden und jene Regelm\u00e4\u00dfigkeit der Anordnung ihrer Tastbewegungen vermissen lassen, die unter normalen Umst\u00e4nden sofort auff\u00e4llt. Dies deutet vielleicht darauf hin, dass eine gewisse Raschheit des Ablaufs der Tastvorg\u00e4nge noth-wendig ist, um ihre einheitliche Beziehung zu erm\u00f6glichen. Ferner sind die Tastbewegungen sicherlich zum Theil automatisch geworden, was sich darin \u00e4u\u00dfert, dass dieselben in den F\u00e4llen vollkommener Tastentwicklung nach einem \u00fcbereinstimmenden Schema erfolgen, ohne dass sich die Blinden hier\u00fcber Rechenschaft geben. Aehnlich wie der Klavierspieler oder Schreiber in seiner Th\u00e4tigkeit unsicher wird, wenn er jeder seiner Bewegungen mit Aufmerksamkeit folgt, so mag auch der Blinde in seinem r\u00e4umlichen Tasten beirrt werden, wenn er den Mechanismus seiner Tastvorg\u00e4nge beobachtet, wozu er sicherlich durch die Aufforderung zu einer Verlangsamung seiner Bewegungen angeregt wird. Nur in einem Falle zeigt sich eine spontane Herabsetzung der Bewegungsschnelligkeit, n\u00e4mlich dann, wenn man geeignete Versuchspersonen auffordert, Gegenst\u00e4nde in Thon nachzubilden. Hierbei erfolgt nothwendig eine besonders gr\u00fcndliche Auffassung der Objecte, jeder einzelne Theil erf\u00e4hrt eine wiederholte Messung, die Anordnung der Tastbewegungen l\u00e4sst jedoch dieselbe Regelm\u00e4\u00dfigkeit erkennen wie unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen.\nIn Bezug auf die Tastbewegungen ergeben sich bei verschiedenen Blinden nicht selten bemerkensweTthe Unterschiede, welche darauf hindeuten, dass nicht alle Blinden die gleiche Vollkommenheit der Tastentwicklung zu erreichen im Stande sind. Da wir nun unserer Betrachtung jene Tastart zu Grunde legen wollen, welche einer pr\u00e4cisen Raumauffassung entspricht, so werden wir schon an dieser Stelle jene Momente er\u00f6rtern m\u00fcssen, die bei der Auswahl der Blinden ma\u00dfgebend waren. Hier haben wir zun\u00e4chst die Frage zu beantworten, auf welche Weise eine Contr\u00f4le der Tastvorstellungen","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n411\ndes Blinden m\u00f6glich ist. Wir k\u00f6nnen jene Tastart als die vollkommenste betrachten, die von Blinden verwendet wird, welche zur Entwicklung ad\u00e4quater Raumvorstellungen bef\u00e4higt sind. Durch directe Methoden, etwa durch das Beschreiben oder das Wiedererkennen der Objecte, ist aber eine klare Einsicht in die Verh\u00e4ltnisse der Auffassung nicht zu erreichen. Bis jetzt hat man allgemein angenommen, dass der Blinde, welcher ein Object zu beschreiben oder wiederzuerkennen vermag, ein klares Bild des Objectes erlangt haben m\u00fcsse. Man dachte hierbei stets an die Verh\u00e4ltnisse des Sehenden, und wie in vielen F\u00e4llen, so hat auch hier das einfache Hin\u00fcbertragen von Beobachtungen an sehenden Individuen auf Blinde einen groben Irrthum geschaffen. Wenn der Sehende ein Object zum Zwecke der Beschreibung betrachtet, so pr\u00e4gt er sich das Bild desselben in allen Einzelheiten genau ein und liest bei der folgenden Beschreibung die hervorzuhebenden Kriterien von diesem Bilde gleichsam ab. Aber auch hier ist die genaue Beschreibung kein hinreichendes Zeugniss f\u00fcr das deutliche Vorstellen. Dies wird namentlich dann ersichtlich, wenn man den umgekehrten Weg geht als im angef\u00fchrten Falle, wenn n\u00e4mlich aus einer vorliegenden Beschreibung das Bild des Gegenstandes erst construirt werden soll. Die angef\u00fchrten Merkmale k\u00f6nnen dann ganz wohl ged\u00e4chtniss-m\u00e4\u00dfig eingepr\u00e4gt werden, ohne dass der Schilderung eine pr\u00e4cise Vorstellung zu entsprechen braucht. Auch hier erweckt die genaue Beschreibung oft den Schein des Verst\u00e4ndnisses. Wenn man nun dem Blinden ein Object, z. B. einen W\u00fcrfel, mit der Aufforderung vorlegt, denselben zum Zweck einer genauen Beschreibung zu betasten, bei welcher es sich um Angabe der Ecken-, Kanten-, Fl\u00e4chenanzahl, der Gr\u00f6\u00dfe und des Stoffes, aus welchem das Object gefertigt ist, handelt, so ereignet es sich h\u00e4ufig, dass der Blinde diese Bestimmungen successive von dem vorgelegten Object abliest, ohne dass eine genaue Vorstellung dieser genauen Beschreibung zu Grunde liegt. Der Blinde z\u00e4hlt nach der Reihenfolge der Fragepunkte die Zahl der Ecken, Kanten und Fl\u00e4chen, darauf nimmt er die Ma\u00dfbestimmung vor, wobei dem unge\u00fcbten Blinden die eng aneinander gelegten Finger gleichsam als Ma\u00dfstab dienen, zuletzt \u00fcberzeugt er sich durch den Klopfton oder durch besonderes Betasten von dem Stoff des Objectes, wenn auch diese Bestimmung","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nTheodor Heller.\nkaum einer besonderen Pr\u00fcfung bedarf, da die Tastempfindungen schon bei Beginn der Untersuchung die Beschaffenheit des Gegenstandes verrathen m\u00fcssen. Wir haben in diesem Beispiele ein relativ einfaches Object angezogen, dessen Vorstellung wohl den meisten Blinden gel\u00e4ufig sein d\u00fcrfte. Je verwickelter aber die Gegenst\u00e4nde werden, desto schwieriger und m\u00fchevoller wird dem Blinden ihre Auffassung, namentlich dann, wenn man der Betastung nicht die n\u00f6thige Zeit gew\u00e4hrt. In den meisten F\u00e4llen begn\u00fcgt sich daher der Blinde mit der Ablesung der hervorzuhebenden Kriterien.\nNoch weniger als die Beschreibung gibt das Wiedererkennen eines Objectes Zeugniss f\u00fcr die Existenz einer pr\u00e4cisen Vorstellung. Man hat h\u00e4ufig angenommen, dass das Wiedererkennen nur dann stattfinden k\u00f6nne, wenn ein deutliches Bild des Objectes reproducirt und mit der unmittelbaren Anschauung verglichen wird. Aber schon eine genaue Selbstbeobachtung ergibt, dass das Wiedererkennen nicht auf einer VoTStellungsvergleichung, sondern auf einem speei-fischen Gef\u00fchl, das man als \u00bbWiedererkennungsgef\u00fchl\u00ab1) bezeichnet hat, beruht. Abgesehen von dieser allgemeinen Erw\u00e4gung ergeben eine Anzahl von Beobachtungen an Blinden die vollste Gewissheit, dass sich in F\u00e4llen niederer Tastentwicklung das Wiedererkennen \u00fcberhaupt nicht auf das vollst\u00e4ndige Object, sondern blo\u00df auf ein uns vielleicht vollkommen nebens\u00e4chlich erscheinendes Merkmal desselben bezieht. Fehlt dem Blinden aus subjectiven oder objectiven Gr\u00fcnden die M\u00f6glichkeit, das Object in toto aufzufassen, so begn\u00fcgt er sich mit der Aufsuchung eines bestimmten, den Tastbedingungen g\u00fcnstig gelegenen Theiles, der in seinem Bewusstsein die Vorstellung des Gesammtobjectes vertritt und sich h\u00e4ufig selbst mit dem Namen des betreffenden Gegenstandes deckt. Aus der Praxis des Blindenunterrichtes lie\u00dfe sich eine gro\u00dfe Zahl belehrender Beispiele anf\u00fchren, die allesammt die Thatsache best\u00e4tigen k\u00f6nnen, dass das Wiedererkennen durchaus kein zuverl\u00e4ssiges Kriterium enth\u00e4lt f\u00fcr das Vorhandensein ad\u00e4quater Vorstellungen.\n1) Wundt, Physiol. Psychologie II (4. Auf 1.) S. 442. Hoff ding f\u00fchrt das Wiedererkennen auf eine besondere Qualit\u00e4t, die er \u00bbBekanntheitsqualit\u00e4t\u00ab nennt, zur\u00fcck, welche auf der Erleichterung gewisser centraler Vorg\u00e4nge beruhen soll. Vierteljahrsschrift f. Wissenschaft!. Philosophie Bd. XIII. S. 427.)","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n413\nIn neuerer Zeit hat die Blindenp\u00e4dagogik eine Disciplin ausgebildet, welche, abgesehen von ihrem hohen Werthe f\u00fcr die Entwicklung des r\u00e4umlichen Tastens, auch f\u00fcr die Zwecke der Vor-stellungscontrole in ausgezeichneter Weise bef\u00e4higt erscheint. Wenn der Blinde in der Lage ist, ein ihm vorgelegtes Object plastisch nachzubilden, so kann man sich der Ueberzeugung hingeben, dass derselbe zu einer ad\u00e4quaten Vorstellung des betreffenden Gegenstandes gelangt ist. Die Betrachtung der Tastbewegungen, welche jene Blinden \u00fcben, die auf diese Art einen Beweis f\u00fcr ihre exacte r\u00e4umliche Auffassung erbracht haben, l\u00e4sst erkennen, dass diese Bewegungen stets in einer bestimmten regelm\u00e4\u00dfigen Anordnung erfolgen, die bei allen Blinden, welche auf der gleichen H\u00f6he der Tastentwicklung angelangt sind, \u00fcberdies noch einen \u00fcbereinstimmenden Charakter aufweist. Dieses spontan hervorgebrachte Tastsystem wird nun die Grundlage f\u00fcr unsere n\u00e4chsten Betrachtungen bilden, w\u00e4hrend wir uns erst im folgenden Abschnitt den Thatsachen der Tastentwicklung zuwenden wollen.\nMan hat den Vorgang beim analysirenden Tasten sehr einfach derart beschrieben, dass man angab, der Blinde bewege die Spitze seines Tastfingers l\u00e4ngs der Begrenzungslinien des Gegenstandes, dessen Conturen er auf diese Weise gleichsam nachzeichne, um derart ein Bild des betasteten Objectes zu erhalten1). Das synthetische Tasten wird hierbei als eine unvollkommene Vorstufe dieser genaueren Tastart aufgefasst. Das also beschriebene Tasten entspricht nun in der That den denkbar einfachsten Verh\u00e4ltnissen, da es unter allen Umst\u00e4nden innerhalb der Bewegungssph\u00e4re des Armes anwendbar ist. Wenn aber eine solche Nachzeichnung m\u00f6glich sein soll, dann darf der Gegenstand w\u00e4hrend des Tastaktes seine Lage zum Beobachter nicht \u00e4ndern. Nun ergibt eine einfache Beobachtung, dass hierbei nicht alle Bewegungen des Tastfingers in derselben bequemen Weise erfolgen k\u00f6nnen, indem namentlich zur Compensation der Armschwere ein wechselnder Aufwand von Energie erforderlich ist. Demnach werden die einzelnen Bewegungen, selbst innerhalb der-\n1) Diderot, Lettre sur les aveugles. Friedrich Schuster, Ueber die Sinneswahrnehmung des Blinden, Berlin 1880, S. 12. Aehnlich auch Hocheisen, Der Muskelsinn des Blinden, S. 31.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nTheodor Heller.\nselben Ebene, mit ungleicher Anstrengung vollf\u00fchrt. Folgt der Tastfinger einer verticalen Begrenzungslinie in der Richtung von oben nach unten, so geschieht die Bewegung jedenfalls leichter als im analogen Falle in umgekehrter Richtung, wo der Arm mit betr\u00e4chtlichem Kraftaufwand gehoben werden muss. In \u00e4hnlicher Weise vollziehen sich die Bewegungen in der horizontalen Ebene leichter als die Abmessungen von Strecken in der Yerticalebene bei Hebung der Hand. Um diese Verh\u00e4ltnisse an einem Beispiele zu erl\u00e4utern, nehmen wir wieder an, dass der Blinde einen W\u00fcrfel mittelst der oben beschriebenen Tastart aufzufassen habe. Hier sind die geometrischen Taststrecken einander vollkommen gleich, physiologisch unterscheiden sie sich aber durch den wechselnden Kraftaufwand, der bei den einzelnen Bewegungen nothwendig ist. Dabei wollen wir davon absehen, dass die Betastung des ruhenden Objectes zum Theil Stellungen der Hand erfordert, die dem Blinden h\u00f6chst unbequem und hindernd erscheinen m\u00fcssen. Wie wir schon fr\u00fcher gesehen haben, k\u00f6nnen sich Kraft- und Bewegungsempfindungen, die beiden Factoren der inneren Tastempfindungen, welche unabh\u00e4ngig von einander ver\u00e4nderlich sind, wechselseitig leicht beeinflussen1). Dies \u00e4u\u00dfert sich speciell in unserem Falle darin, dass T\u00e4uschungen entstehen \u00fcber die Gr\u00f6\u00dfe der durchmessenen Strecken. Hierbei erscheinen im allgemeinen die thats\u00e4chlich geometrisch gleichen, jedoch mit gr\u00f6\u00dferem Kraftaufwand betasteten Strecken physiologisch als die gr\u00f6\u00dferen. Dies wird zun\u00e4chst deutlich an den analogen, jedoch in entgegengesetzter Richtung durchmessenen verticalen Begrenzungslinien, wenn der Tastfinger, von einem Punkt des Objectes ausgehend, sich continuirlich weiterbewegt. Sobald man die Versuchsperson daran verhindert, bei wiederholtem Tasten einen anderen Ausgangspunkt zu w\u00e4hlen, muss derselben das vor ihr befindliche Gebilde als eine geometrische Unm\u00f6glichkeit erscheinen, zumal sich die T\u00e4uschung immer nur auf die Gr\u00f6\u00dfe, nicht aber auf die Richtung der betasteten Strecken bezieht.\nDiese T\u00e4uschungen \u00e4u\u00dfern sich sehr merklich selbst dann, wenn, wie im vorliegenden Beispiel, die Tastbewegungen blo\u00df in das aus fr\u00fcheren Erfahrungen hinl\u00e4nglich bekannte Bild eines\n1) S. 251 f.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Biinden-Psychologie.\n415\nObjectes gleichsam eingetragen werden, das schon durch die einleitenden Tastversuche reproducirt werden muss. Eine unmittelbare Auffassung der Gegenst\u00e4nde scheint bei ausschlie\u00dflicher Anwendung der oben angegebenen Tastart kaum m\u00f6glich zu sein. Um sich hiervon zu \u00fcberzeugen, bedarf es blo\u00df der festen Einstellung einfacher, den Versuchspersonen jedoch unbekannter Objecte, die nur mit H\u00fclfe absoluter Bewegungen, wie wir diese zur Unterscheidung von den sogleich zu er\u00f6rternden relativen Tastbewegungen bezeichnen wollen, betrachtet werden d\u00fcrfen. Nach jedem derartigen Tastakt erfolgt ein l\u00e4ngeres Besinnen, und fragt man die Versuchspersonen nach dem Inhalt desselben, so stellt sich heraus, dass der Blinde eine Umsetzung der Tasteindr\u00fccke in die ihm gel\u00e4ufige normale Tastart versucht, was ihm allerdings nur bei Associationen mit naheliegenden Tastvorstellungen in halbwegs befriedigender Weise gelingen d\u00fcrfte. Gestattet man nachtr\u00e4glich den Versuchspersonen die freie Wahl der Tastart, so m\u00fcssen dieselben in der Regel zugeben, dass sie bei der ersten Betastung einen wesentlich anderen Eindruck empfangen haben. Zumeist scheint die einheitliche Beziehung der einander zeitlich folgenden Tastbewegungen nicht unbedeutenden Schwierigkeiten zu begegnen.\nWenn die Tastt\u00e4uschungen sich auch in der Verticalebene besonders intensiv geltend machen, so fehlen sie doch auch nicht bei den analogen Bewegungen in der Horizontalebene, wenngleich sich hier zwischen geometrischer und physiologischer Gr\u00f6\u00dfe der Taststrecken keine betr\u00e4chtlicheren Unterschiede ergeben. Auf diesen Umstand wurde ich durch eine Beobachtung aufmerksam gemacht, f\u00fcr deren Mittheilung ich Herrn Oscar Schorch zu Dank verpflichtet bin. Bei dem im Abschnitt \u00fcber die Blindenschrift des N\u00e4heren zu besprechenden Heboldschreiben1) wird als Vor\u00fcbung eine Umzeichnung der im Blechlineal ausgeschnittenen Rechtecke vorgenommen, wobei man der gleichm\u00e4\u00dfigen Orientirung halber eine bestimmte Ecke als Ausgangspunkt der Schreibbewegung anzugeben pflegt. Bei diesen ersten Schreib\u00fcbungen geschieht es nun in der Regel, dass der Sch\u00fcler den zum Schreiben verwendeten Farbstift an der linken unteren Ecke des Ausschnittes abbricht.\n1) S. 454.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nTheodor Heller.\nDies erfolgt aus dem Grunde, weil die Hemmung der Abw\u00e4rtsbewegung eher eintritt als der Blinde vermuthet, der sich bem\u00fcht, die in entgegengesetzter Richtung gezeichneten V erticalstrecken einander vollkommen gleich zu machen. Es liegt nun nahe, diese Verh\u00e4ltnisse im Experiment zu wiederholen, wobei jedoch blo\u00df die Grenzen der Aufw\u00e4rtsbewegung markirt werden, w\u00e4hrend man die Abw\u00e4rtsbewegung nur der Richtung nach bestimmt. Das letztere erweist sich darum als n\u00f6thig, weil sonst bei der Nachbildung der angegebenen Strecke weitere complicirende Bedingungen hinzutreten, die in der geradlinigen Projection der durch die Bewegungsgesetze des Armes verursachten krummlinigen Abweichung ihren n\u00e4chsten Anlass finden.\nBei der Sch\u00e4tzung von Lineardistanzen ergaben sich bei einer Versuchsperson (Oscar Sch.) die folgenden relativen Unterschiede:\nRichtung der verglichenen Strecken\t\t\tGr\u00f6\u00dfe der Normaldistanzen:\t\t\t\t\t\t\t\n\t\t\t4 cm\t6 cm\t8 cm\t10 cm\t14 cm\t16 cm\t18 cm\t20 cm\nHorizontal- j\tVertical-\t|\tEbene:\tNorm. D.: vertical\tj Vergl. D. :\t\u00bb k\tV20\tV20\tVie\tV12 \u2022 5\tVu-67\tVll -45\tV10\tV10\n\t\tNorm. D.: horizontal Vergl. D. : vertical\tf\tV20\tlh>-i\tVau\tView\tVlB\tV\u00ab\tVl5\t*/l4 \u2022 08\n\t\tNorm. D. : vertical\tJ Vergl. D.:\t\u00bb\tf\t\t\tV40\tV33 \u2022 3\tV28\tV26 \u2022 7\tV2 2-5\tV22\nAehnliche Versuche hat auch Loeb unternommen1), der jedoch nicht die Unterschiede der blo\u00df bez\u00fcglich der Richtung verschiedenen Strecken, sondern die Differenzen \u00bbder ausgef\u00fchrten und der gewollten Bewegungen\u00ab in gleicher Richtung zu bestimmen suchte. Hierbei fand er die \u00fcbereinstimmenden Verh\u00e4ltnisse bei der Ausmessung des optischen und haptischen Raumes und gelangt deshalb zu dem \u00fcbereinstimmenden Erkl\u00e4rungsprincip, dass \u00bbdie Unterschiede\n1) Loeb, a. a. O. S. 107ff., ferner Bd. XLVI S. 1 ff.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n417\nder ausgef\u00fchrten und der gewollten Bewegung nach Gr\u00f6\u00dfe und Richtung abh\u00e4ngen von dem Verk\u00fcrzungsgrad der die Bewegung ausf\u00fchrenden Muskeln. Die Abh\u00e4ngigkeit ist derart, dass bei dem Willen, Bewegungen von gleicher Gr\u00f6\u00dfe auszuf\u00fchren, die ausgef\u00fchrte Bewegung um so kleiner ausf\u00e4llt, je mehr die Muskeln zu Beginn der Bewegung schon verk\u00fcrzt waren, dass sie um so gr\u00f6\u00dfer ausf\u00e4llt, je mehr die Muskeln zu Beginn der Bewegung verl\u00e4ngert waren\u00ab1). Es ist hier nicht der Ort, die Behauptung Loeb\u2019s einer eingehenden Besprechung zu unterziehen, es sei mir nur gestattet, darauf hinzuweisen, dass die angef\u00fchrten Thatsachen eine weit einfachere Erkl\u00e4rung zulassen, der Loeb zum Theil dadurch aus dem Wege geht, dass er annimmt, die Schwere des Armes werde stets auf reflectorischem Wege com-pensirt2). Jedenfalls ist begr\u00fcndete Ursache vorhanden, die Berechtigung der energischen Ablehnung zu bezweifeln, welche Loeb dem sehr einfachen Princip der Erkl\u00e4rung des Unterschiedes der physiologischen Gr\u00f6\u00dfe geometrisch gleicher Strecken nach den verschiedenen Graden der zur Durchmessung derselben erforderlichen Anstrengung zu Theil werden l\u00e4sst3). Wundt hat gewisse geometrisch-optische T\u00e4uschungen auf die verschiedene Gr\u00f6\u00dfe der Muskelanstrengung zur\u00fcckgef\u00fchrt, welche das Auge braucht, um sich nach den verschiedenen Richtungen im Sehfeld zu bewegen4). Wenn auch das Gef\u00fchl der Anstrengung bei den Augenbewegungen nicht deutlich zu Tage treten sollte, so ist ein solches doch unzweifelhaft bei den in verschiedenen Richtungen erfolgenden Armbewegungen vorhanden, und da Loeb in beiden F\u00e4llen \u00fcbereinstimmende Verh\u00e4ltnisse erkennt, so ist ein Schluss von den Thatsachen des Tastma\u00dfes auf die des Augenma\u00dfes gewiss berechtigt, zumal uns die allgemeinsten Bedingungen des Tastens jene des Sehens in sehr vergr\u00f6berter und daher der Betrachtung ungleich geeigneterer Weise vor Augen f\u00fchren.\nSelbst auf die Gefahr hin, von unserer urspr\u00fcnglichen Untersuchung etwas weiter abzuschweifen, kann ich es nicht unterlassen, hier eine sehr interessante Tastt\u00e4uschung zu erw\u00e4hnen, die mir\n1)\tA. a. O. Bd. XLVI, S. 1.\n2)\tLoeb und Koranyi, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf den zeitlichen Verlauf der geradlinigen Willk\u00fcrbewegungen unseres Armes, a. a. O. S. 101.\n3)\tA. a. O. S. 21.\t4) Wundt, Phys. Psych. II (4. Aufl.) S. 13S.","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nTheodor Heller.\nzum eisten Mal bei dem Vergleich der aus continuirlichen tastbaren Linien zusammengesetzten Buchstaben der Kleinschrift mit den analogen aus Punktdistanzen bestehenden auffiel. Hier zeigt sich, dass zwei in dieser Weise verschiedene, der Gr\u00f6\u00dfe nach jedoch gleiche Buchstaben als verschieden gro\u00df aufgefasst werden, und zwar erscheint das aus Punktdistanzen zusammengesetzte Zeichen dann als das gr\u00f6\u00dfere, wenn man die Betastung blo\u00df mit bewegtem Finger gestattet. Um die Verh\u00e4ltnisse zu vereinfachen, kann man dem Blinden statt der Buchstaben einen continuirlichen und einen aus Punktdistanzen bestehenden Strich, beide von etwa 2 cm L\u00e4nge, zur Vergleichung vorlegen. Hier tritt dieselbe T\u00e4uschung ein wie im vorerw\u00e4hnten Fall. Denkt man sich diese Striche in die Horizontalebene projicirt, so zeigt sich bei der optischen die gleiche T\u00e4uschung wie vorher bei der haptischen Betrachtung. Es scheint deshalb f\u00fcr die optische und die haptische T\u00e4uschung dieselbe Erkl\u00e4rung zul\u00e4ssig zu sein: die Bewegung erf\u00e4hrt bei der Punktstrecke fortw\u00e4hrende Hemmungen, dieselbe muss deshalb anstrengender sein als jene, bei welcher Auge oder Hand ungehemmt ihren Weg durchmessen k\u00f6nnen1). Aber dies gilt nur, wenn man kleine Distanzen verwendet. Bei einem gewissen Mittelma\u00df der Strecken findet sich ein IndifFerenzpunkt; jenseits desselben kehrt sich das Verh\u00e4ltniss der Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzung geradezu um, die leere Strecke erscheint gr\u00f6\u00dfer als die eingetheilte. Dies gilt nur in Bezug auf die haptische, nicht aber in Bezug auf die analoge optische T\u00e4uschung. Der IndifFerenzpunkt ist bei verschiedenen Versuchspersonen verschieden gelegen: er schwankt in der Regel zwischen 5'/2 und 7 cm. Meumann hat in seinen Zeitsinnsversuchen dieselben Ueberg\u00e4nge von der Ueber- zur Untersch\u00e4tzung der ein-getheilten Zeitstrecke bemerkt2). Demnach k\u00f6nnte man diese T\u00e4uschung nicht als eine Raum-, sondern als eine Zeitt\u00e4uschung auffassen und annehmen, dass hierbei nur die Dauer der Bewegung in Frage komme. Aber aus den bisherigen Zeitsinnsversuchen hat sich ergeben, dass die Zeitsch\u00e4tzung zum Theil als eine Function des Wechsels und der Spannung der Aufmerksamkeit anzusehen\n1)\tWundt, a. a. O. S. 145.\n2)\tMeumann, Phil. Studien, VIII. S. 458 f.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n419\nist1). Die Verh\u00e4ltnisse der Erwartungsspannung begr\u00fcnden nun sicherlich auch den eigent\u00fcmlichen Wechsel der haptischen T\u00e4uschung. Je l\u00e4nger die continuirliehe Taststrecke ist, desto st\u00e4rker macht sich w\u00e4hrend der Bewegung die Erwartung nach dem Abschluss derselben geltend. Bei den Punktstrecken wird dieser Abschluss von Punkt zu Punkt gleichsam vorbereitet und auf diese Weise die Intensit\u00e4t der Erwartungsspannung der Vergleichsstrecke gegen\u00fcber herabgesetzt. Hierbei muss aber die durch die verschiedenen Verh\u00e4ltnisse der Anstrengung bedingte T\u00e4uschung schlie\u00dflich \u00fcberwunden, ja jenseits einer gewissen Grenze, die wiederum von der gesammten psychischen Disposition des Beobachters abh\u00e4ngt, geradezu in ihr Gegentheil umgewandelt werden.\nW\u00e4ren die absoluten Tastbewegungen der einzige Weg, auf welchem der Blinde zu r\u00e4umlichen Anschauungen gelangen kann, so m\u00fcsste schon die Entwicklung der einfachsten extensiven Vorstellungen gro\u00dfen Schwierigkeiten begegnen. Dies gilt namentlich in Bezug auf die Entstehung des Urtheils \u00fcber die gerade oder gekr\u00fcmmte Richtung der Linien und Fl\u00e4chen. Lotze hat in seiner medicinischen Psychologie der Raumvorstellung des Blindgeborenen eine umfangreiche Betrachtung gewidmet2). \u00bbSehr einfach w\u00e4re es\u00ab, meint Lotze, \u00bbgeradlinig m\u00fcsse die Kante eines Objectes erscheinen, an der der tastende Finger hinlaufe, ohne eine merkliche Aenderung in der Art des Wechsels der Muskelgef\u00fchle zu erleiden. Allein gerade dieser gleichf\u00f6rmige Aenderungslauf der Muskelgef\u00fchle findet hier nicht statt. Lassen wir, indem wir von links nach rechts das tastende Glied fortf\u00fchren, Hand und Finger in derselben relativen Stellung, und bewegen sie nur durch den Unterarm an der Kante des Objects fort, so w\u00fcrde dieser, falls das Ellbogengelenk unverr\u00fcckt bliebe, einen Kreisbogen zu beschreiben suchen, und w\u00fcrde deshalb rechts und links weniger, in der Mitte der Kante dagegen weit st\u00e4rker auf sie dr\u00fccken. Um den Druck gleichf\u00f6rmig an der ganzen L\u00e4nge der Kante herzustellen, m\u00fcsste daher der Ellbogen in dem Ma\u00dfe zur\u00fcckweichen, als die tastende Hand von links sich der Mitte n\u00e4hert, und wieder vorw\u00e4rts gehen, sobald sie \u00fcber die Mitte hinaus nach rechts kommt. Die Wahr-\n1) Wundt, a.a. O. S. 411.\t2) Lotze, Medic. Psychol. S. 420, dann 426f.\nWundt, Philos. Studien. XI.\t28","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nTheodor Heller.\nnehmung der geraden Kante geschieht daher nicht durch einen gleichf\u00f6rmigen Wechsel in Art und Gr\u00f6\u00dfe eines Muskelgef\u00fchls, sondern durch eine ungleichf\u00f6rmige Combination mehrerer. Nun hat Weber sehr sch\u00f6n gezeigt, dass eine ebene Glasplatte, die erst schwach, dann st\u00e4rker, dann wieder schw\u00e4cher andr\u00fcckt, an der der ruhende Finger vor\u00fcbergef\u00fchrt wird, uns convex zu sein scheint und bei entgegengesetztem Wechsel des Drucks concav. Warum nimmt nun das tastende Glied die gerade Kante nicht als convex wahr, da entweder ihre Mitte einen st\u00e4rkeren Druck aus\u00fcbt oder einen gleichen nur, indem das Ellbogengelenk nach hinten weicht? Wir sehen hieraus, welche Schwierigkeiten den einfachsten Raumvorstellungen hier schon entgegenstehen, und wie vieler einander corrigirender Erfahrungen es bedarf, um den Werth der verschiedenen Muskelgef\u00fchle, welche durch die Tastbewegung entstehen, auf eine der Natur der Objecte angemessene Weise in Rechnung zu bringen. Betrachten wir als Beispiel der Kr\u00fcmmungen den Kreis, so treten gleiche Schwierigkeiten hervor. Wie auch immer der Tastsinn eine Linie umlaufen m\u00f6ge, durch Bewegung des Fingers allein oder der Hand, des Unterarmes oder des ganzen Armes; niemals entspricht dem gleichf\u00f6rmigen Kr\u00fcmmungsfortschritt ein ebenso gleichf\u00f6rmiger, stets in demselben Sinne geschehender Aende-rungslauf der Muskelgef\u00fchle\u00ab. Diesen Ausf\u00fchrungen Lotze\u2019s d\u00fcrfte wohl nichts Wesentliches beizuf\u00fcgen sein. Die von Weber beobachtete T\u00e4uschung bez\u00fcglich der Richtung einer geradlinigen Kante trifft bei Blinden ebenso zu wie bei Sehenden, wenn man nach einiger Uebung den Druck continuirlich abzustufen vermag. Bei der Durchmessung einer gr\u00f6\u00dferen geradlinig verlaufenden Strecke, z. B. einer Tischkante, hat der Blinde aus zahlreichen fr\u00fcheren Erfahrungen den Wechsel seiner \u00bbMuskelgef\u00fchle\u00ab in richtiger Weise deuten gelernt, es entsteht demnach nicht dieselbe T\u00e4uschung wie im vorigen Falle. Wohl aber macht sich eine solche geltend, wenn es sich um die Umschreibung einer krummlinigen Bahn handelt. Dann erscheint eine v\u00f6llig kreisrunde Fl\u00e4che an der Stelle der \u00e4u\u00dfersten Ablenkung der Bewegung gleichsam zusammengedr\u00fcckt, ungef\u00e4hr in Gestalt einer der Kreisform sich n\u00e4hernden Ellipse.\nAus allen diesen Thatsachen muss sich mit Bestimmtheit ergeben, dass die absoluten Tastbewegungen dem Blinden zu einer ad\u00e4quaten","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n421\nAuffassung r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse nicht verhelfen k\u00f6nnen. That-s\u00e4chlich ist bei keinem einzigen Blinden die ausschlie\u00dfliche Verwendung dieser Tastart zu constatiren, selbst nicht bei jenen, welche auf einer tiefen Stufe der Tastentwicklung stehen geblieben sind. Wir wenden uns demnach im Folgenden der Betrachtung jenes Tastverfahrens zu, das allein die Entwicklung pr\u00e4ciser Raumvorstellungen erm\u00f6glichen kann. Hierbei m\u00fcssen wir, wie schon fr\u00fcher erw\u00e4hnt, von der innerhalb des engeren Tastraumes anwendbaren Tastart ausgehen, welche einen unverkennbaren Hinweis auf die Bedeutung des Zusammenwirkens von synthetischem und analysi-rendem Tasten enth\u00e4lt. Nicht ein Tastfinger allein kommt hierbei in Anwendung, sondern stets werden beim Betasten zwei Finger in Anspruch genommen. Das Messinstrument wird innerhalb des engeren Tastraumes gebildet durch das Entgegenstellen des Daumens und Zeigefingers, welch\u2019 letzterem h\u00e4ufig der Mittelfinger assistirt. Der zu betastende Gegenstand wird an zwei entgegengesetzten Stellen erfasst, und nun gleiten die beiden Finger \u00fcber die entgegengesetzten Conturen hinweg, wobei die Entfernung der Finger im Vergleich zu ihrer Anfangslage ein Ma\u00df abgibt f\u00fcr die Verlaufsrichtung der Begrenzungslinien. Ist eine Aenderung der ersten Entfernung nicht erforderlich, behalten die Finger w\u00e4hrend der Bewegung ihre Lage bei, so laufen die Begrenzungslinien einander parallel; entfernen sich die Finger, so ergibt sich eine Divergenz, n\u00e4hern sich dieselben, so ergibt sich eine Convergenz der Begrenzungslinien. Auf diese Weise erfolgt aber keine absolute Auffassung der Bewegungen, sondern stets wird die Bewegung des einen in Relation gesetzt zu der Bewegung des anderen Fingers. Bei dieser Beurtheilung kommt dem Blinden das genaue Bewusstsein von der jeweiligen Lage seiner Tastfinger vorz\u00fcglich zu statten; eine gro\u00dfe Anzahl Blinder besitzt in diesem Convergenzmechanismus einen wunderbar feinen absoluten Gr\u00f6\u00dfenma\u00dfstab. Ich habe mich in der Wiener Blindenanstalt (Hohe Warte) \u00fcberzeugt, dass die Blinden auf diese Weise Entfernungen auf Millimeter genau zu sch\u00e4tzen im Stande sind. Die gr\u00f6\u00dfte Unterschiedsempfindlichkeit herrscht bei m\u00f6glichster N\u00e4he der beiden Tastfinger. So sind viele Blinde im Stande, die wechselnde Dicke von Papiersorten zu unterscheiden, die nur mit H\u00fclfe subtilster Ma\u00dfverfahren f\u00fcr gew\u00f6hnlich festgestellt werden k\u00f6nnte, wobei die\n28*","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nTheodor Heiler.\nRelativit\u00e4t der Beurtheilung noch wesentlich dadurch erh\u00f6ht wird, dass sich die Tastfinger gegen einander sehr rasch verschieben. Die Unterschiedsempfindlichkeit nimmt nach oben hin merklich ab, was sich aus der Mitwirkung zunehmender Spannungsempfindungen erkl\u00e4ren d\u00fcrfte. F\u00fcr mittlere Strecken von 35\u201480 mm besteht eine Constanz der absoluten Unterschiedsempfindlichkeit, indem eine Zuoder Abnahme der Distanzen um 1 mm noch eben merklich als gr\u00f6\u00dfer oder kleiner erscheint.\nDie eben beschriebene Art des analysirenden Tastens, die wir als Convergenztasten bezeichnen m\u00f6chten, geht nun h\u00e4ufig in das synthetische Tasten \u00fcber, indem der Gegenstand einfach so lange nach r\u00fcckw\u00e4rts geschoben wird, bis er die Handfl\u00e4che ber\u00fchrt. An dem Tastgesch\u00e4fte betheiligen sich beide H\u00e4nde gleichzeitig; die eine Hand \u00fcbernimmt die Fixirung des Objectes, w\u00e4hrend die andere Hand die Tastanalyse vollzieht. Hierbei zeigt sich bei den auf der gleichen H\u00f6he der Tastentwicklung angelangten Blinden das Bestreben, bei den Tastbewegungen die Horizontalebene beizubehalten, wodurch die andere Hand die Function empf\u00e4ngt, die g\u00fcnstige Lage f\u00fcr die Tastanalyse durch fortw\u00e4hrende Drehung des Objectes herzustellen. Im Verlaufe des Tastaktes ist zu beobachten, dass beide H\u00e4nde in ihren Aufgaben wechseln, dass ferner von Zeit zu Zeit eine Umschlie\u00dfung und Andr\u00fcckung des Objectes erfolgt. Die Tastsynthese leitet auch in der Regel den Tastakt ein. Den Hintergrund des Complexes innerer Tastempfindungen, den die Tastanalyse hervorbringt, bildet demnach das schematische Gesammtbild des Gegenstandes, auf welches alle Tastbewegungen bezogen werden.\nLie\u00dfe der Blinde jedem Objecte, das ihm zur Betastung vorgelegt wird, eine allseitige eingehende Betrachtung zu Theil werden, so w\u00e4re nicht blo\u00df ein gro\u00dfer Aufwand von Zeit, sondern auch von M\u00fche erforderlich. Das Tasten des Blinden befolgt aber das Gesetz der m\u00f6glichsten Kraftersparung. Eine Aeu\u00dferung desselben fanden wir schon in der zweckm\u00e4\u00dfigen Auswahl der Tastbewegungen1), ferner in der Unterst\u00fctzung der Arme bei der Betastung kleiner beweglicher Objecte2). Das synthetische Tasten erm\u00f6glicht nun, wie wir an fr\u00fcherer Stelle dargelegt haben3), ein Urtheil \u00fcber die\n1)\tS. 234.\n2)\tS. 408 f.\n3)\tS. 252.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n423\nRegelm\u00e4\u00dfigkeit oder Unregelm\u00e4\u00dfigkeit der zur Auffassung gelangenden Gegenst\u00e4nde. Diese gleich zu Anfang des Tastaktes erfolgende Bestimmung macht sich geltend bei der folgenden Tastanalyse, indem sich der Blinde bei einem regelm\u00e4\u00dfigen K\u00f6rper blo\u00df mit einer theilweisen Abmessung desselben begn\u00fcgt und diese dann associativ auf den Gesammtk\u00f6rper ausdehnt. Dabei erh\u00e4lt der Tastakt einen um so fl\u00fcchtigeren Charakter, je mehr der Blinde in der Auffassung k\u00f6rperlicher Gebilde ge\u00fcbt ist.\nInnerhalb des engeren Tastraumes bleibt der Tastvorgang im wesentlichen auf die Hand selbst beschr\u00e4nkt. Dies ist nicht mehr m\u00f6glich bei jenen Tastmessungen, die im weiteren Tastraum erfolgen. Aber auch hier benutzt der Blinde einen Convergenzmechanismus, \u00e4hnlich dem im engeren Tastraum durch die Entgegenstellung von Zeigefinger und Daumen geschaffenen, der ebenfalls eine relative Auffassung der Bewegungen erm\u00f6glicht. Die Tastanalyse im weiteren Tastraum beruht n\u00e4mlich auf der functionellen Verbindung der beiden Tastorgane. Unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden ist hier eine vollkommen symmetrische Coordination der Tastbewegungen zu constatiren, was auf die gemeinsame Innervation der beiden Bewegungsapparate hindeutet. Die Messungen im engeren und im weiteren Tastraum bestehen nicht isolirt neben einander, sondern gehen continuirlich in einander \u00fcber. Es ist so dem Blinden die M\u00f6glichkeit geboten, eine Anzahl von Objecten in doppelter Weise zu messen, entweder durch Benutzung des Convergenzmechanismus der Hand oder des Convergenzmechanismus der Arme. So k\u00f6nnen denn die beiden Ma\u00dfst\u00e4be sehr einfach auf einander bezogen werden, die Maximal-werthe des einen sind zugleich die Minimalwerthe des anderen.\nWenn auch eine unverkennbare Analogie zwischen den Abmessungen im engeren und im weiteren Tastraume besteht, so ergibt doch weiterhin schon eine oberfl\u00e4chliche Betrachtung, dass die Tastanalyse im weiteren bedeutend gr\u00f6\u00dferen Schwierigkeiten begegnen muss als die im engeren Tastraum. Stellen wir uns z. B. vor, der Blinde h\u00e4tte auf diese Weise einen Wandschrank zu betasten, so erscheint bei ruhender Lage des K\u00f6rpers unter g\u00fcnstigsten Verh\u00e4ltnissen nur die ausreichende Betastung der vorderen Begrenzungsfl\u00e4che m\u00f6glich. In Folge der symmetrischen Anordnung der Tastbewegungen ist es zun\u00e4chst erforderlich, dass der Blinde die","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nTheodor Heller.\nMedian ebene seines K\u00f6rpers und die des zu messenden Objectes in \u00fcbereinstimmende Lage bringt, was er dadurch herbeif\u00fchrt, dass er die Stellung seines K\u00f6rpers so lange ver\u00e4ndert, bis die Spannungsempfindungen in beiden Extremit\u00e4ten einander vollkommen entsprechen. Bei der Auswahl der Bewegungsrichtungen leitet den Blinden wieder das Gesetz der Kraftersparung: er w\u00e4hlt diejenige, welche die geringste Anstrengung erfordert. Der Blinde tastet f\u00fcr gew\u00f6hnlich in der Verticalebene nicht von unten nach oben, ebenso wenig wie er in der Horizontalebene von der Beugung zur Streckung \u00fcbergeht. Wenn bei den Bewegungen der Arme die inneren und \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen beiderseits den gleichen Verlauf zeigen, so schlie\u00dft der Blinde auf die Parallelit\u00e4t der beiden Begrenzungs-linien, im anderen Falle auf die Divergenz oder Convergenz derselben. Die deutliche Symmetrie der Tastbewegungen, von welcher man sich im Experiment leicht \u00fcberzeugen kann, wenn man die eine Hand passiv bewegt und die andere die entsprechend zugeordnete Bewegung activ ausf\u00fchren l\u00e4sst, hat, wie es scheint, einen inneren und einen \u00e4u\u00dferen Grund. Der erstere ist gegeben durch den bilateral-symmetrischen Bau des K\u00f6rpers, der letztere durch die analoge Zusammensetzung der meisten Objecte, an welchen sich die Tastmessungen des Blinden f\u00fcr gew\u00f6hnlich zu beth\u00e4tigen haben.\nBei unver\u00e4nderter Stellung des Beobachters ist eine Abmessung des Objectes nach allen Dimensionen nur bei besonderer Auswahl des Gegenstandes m\u00f6glich. Hierbei erfolgt die H\u00f6henbestimmung unter den einfachsten Umst\u00e4nden. Der Blinde f\u00fchrt blo\u00df eine Vergleichung durch zwischen der H\u00f6he des Objectes und seiner K\u00f6rperh\u00f6he. Durch verticale Streckung der Arme kann dieser H\u00f6henma\u00df stab eine entsprechende Erg\u00e4nzung erfahren. Bei der Breitenabmessung bedient sich der Blinde in der Regel der Arm-convergenz, f\u00fcr die Tiefenabmessung ergibt die L\u00e4nge der Arme einen Ma\u00dfstab. Nach Ber\u00fchrung der hinteren Begrenzungslinien dr\u00fcckt der Blinde seine Arme derart fest an das Object an, dass sich auch die vorderen Begrenzungslinien scharf markiren. Daneben kommt auch h\u00e4ufig das Bewegungsma\u00df in Anwendung, indem der Beobachter durch gleichm\u00e4\u00dfige Beugung und Anziehung der Arme von den hinteren zu den vorderen Begrenzungslinien \u00fcbergeht. Aber bei allen diesen Bestimmungen zeigt sich das Bestreben, die Ab-","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n425\nmessungen zur\u00fcckzuf\u00fchren auf ein einheitliches Normalma\u00df, das dem Blinden durch die Armconvergenz gegeben ist. In den meisten F\u00e4llen ver\u00e4ndert der Blinde bei der Tiefenmessung die Stellung seines K\u00f6rpers und bestimmt nunmehr die Tiefe ebenso wie vorher die Breite des Objectes. Lange nicht so einfach ist die Ueberf\u00fchrung der H\u00f6henmessung in das Normalma\u00df. Man kann zwar h\u00e4ufig beobachten, dass der Blinde die H\u00f6henbestimmung auch in der Weise vornimmt, dass er mit der einen Hand die obere Begrenzungslinie ber\u00fchrt, w\u00e4hrend er mit der anderen die untere Begrenzungslinie zu erreichen sucht. Gelingt dies nicht, so kommt als H\u00fclfs-bestimmung die Beugung des Gesammtk\u00f6rpers hinzu. Aber hier kommt in R\u00fccksicht, dass der Breitenma\u00dfstab ausgedehnter ist als der auf diese Weise hergestellte H\u00f6henma\u00dfstab, was sich unmittelbar aus unserer Darstellung des beidarmigen Tastraumes ergibt. Daraus resultirt nun eine nicht unbedeutende Schwierigkeit f\u00fcr die gleichm\u00e4\u00dfige Raumbestimmung. Diese haben einige Blinde mittelst eines sehr einfachen Verfahrens, auf das sie eigenes Nachdenken gef\u00fchrt hat, zu bew\u00e4ltigen gesucht, indem sie durch Anwendung zweier der Breiten- und H\u00f6henspannung der Arme entsprechenden Ma\u00dfst\u00e4be, die abwechselnd zur Messung derselben Dimension verwendet werden, sich das Verh\u00e4ltniss von Breiten-und H\u00f6henbestimmung klarzumachen bestrebt sind. Daraus geht aber hervor, dass der Blinde die Vorstellung eines gr\u00f6\u00dferen Objectes m\u00fchsam, geradezu berechnend aus einer Summe von Einzelbestimmungen zusammensetzen muss. Dies erfordert einen bedeutenden Aufwand intellectueller Kraft, welcher h\u00f6her ist, als im allgemeinen namentlich von Blindenlehrern angenommen zu werden pflegt. Die Schwierigkeiten der Raumauffassung sind zum Theil so gro\u00dfe, dass es hierbei gar nicht zu einer einheitlichen Vorstellungsbildung kommt, sondern dass sich der Blinde mit H\u00fclfsvorstellungen, sog. Surrogatvorstellungen begn\u00fcgt, die sich entweder auf einen bestimmten Theil des Objectes beschr\u00e4nken oder auf die Perception jener K\u00f6rperstellungen, welche der Blinde gew\u00f6hnlich den Objecten gegen\u00fcber einnimmt. Die letzteren treten zwar im selben Verh\u00e4ltnisse in den Hintergrund, als der Blinde zur Construction objectiver Vorstellungen bef\u00e4higt wird, ein vollst\u00e4ndiges Verschwinden derselben ist aber nur selten zu constatiren. F\u00fcr gew\u00f6hnlich verbindet der Blinde die Namen","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nTheodor Heller.\nder Objecte mit diesen Surrogatvorstellungen, und nur dann, wenn er sich \u00fcber die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Gegenst\u00e4nde eine bestimmte Rechenschaft zu geben hat, tritt die N\u00f6thigung zu einer pr\u00e4cisen Vorstellungsentwicklung hervor. Auch hierin erblicken wir einen Ausdruck des schon mehrfach erw\u00e4hnten Gesetzes der Kraftersparung. Nur bei einem einzigen mir bekannten Blinden, Herrn Dr. Meyer in Berlin, erlangen die Vorstellungsconstructionen nahezu den Charakter der Urspr\u00fcnglichkeit. Von allen Objecten seiner Umgebung besitzt Dr. Meyer pr\u00e4cise, wie er sich ausdr\u00fcckt \u00bbgeometrische\u00ab Vorstellungen, aber dies bezeichnet einen durch die hohe mathematische Begabung des genannten Blinden erkl\u00e4rlichen Ausnahmefall1).\nDa im weiteren Tastraum eine Beziehung der Tastmessungen auf einen einheitlichen Simultaneindruck nicht mehr m\u00f6glich ist, so m\u00fcssen wir annehmen, dass sich hier die Raumauffassung des Blinden reducirt auf eine Succession von Bewegungsvorstellungen. Nun haben wir schon fr\u00fcher erkannt, dass eine unverkennbare Verwandtschaft zwischen den Ma\u00dfbestimmungen im engeren und im weiteren Tastraum besteht. In beiden F\u00e4llen werden Conver-genzma\u00dfe verwendet, deren Bestimmungen continuirlich in einander \u00fcbergehen. Eine mittelbare Beziehung zwischen Armconvergenz und Simultanem druck kann dann erfolgen, wenn zur Abmessung kleiner Objecte Finger- und Armconvergenz alternirend gebraucht werden. Blo\u00df zwischen den Convergenzbewegungen der Finger und dem Simultaneindruck besteht eine directe Beziehung, da aber in den vorerw\u00e4hnten Mittelf\u00e4llen diese Art der Abmessung von jener anderen, welche durch die Gegenbewegungen der Arme erm\u00f6glicht wird, abgel\u00f6st werden kann, so stellt sich auf diese Weise eine associative Beziehung zwischen dem im weiteren Tastraum angewendeten Convergenzma\u00df und dem Simultaneindruck im engeren Tastraum heraus. Unter allen Umst\u00e4nden besteht aber zwischen den Messungen im engeren und weiteren Tastraum eine durchgehende Proportionalit\u00e4t. Da nun im engeren Tastraum die f\u00fcr die Raumauffassung g\u00fcnstigsten Verh\u00e4ltnisse obwalten, so wird es\n1) Herr Dr. Meyer, im ersten Lebensjahr erblindet, promovirte 1893 an der Berliner Universit\u00e4t mit der Dissertation: Untersuchung der algebraischen Integrirbarkeit der linearen homogenen Differentialgleichungen vierter Ordnung mit H\u00fclfe von Differentialinvarianten.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n427\nbegreiflich, dass der Blinde eine enge Beziehung zwischen den einander subordinirten Tastr\u00e4umen herzustellen sucht, so zwar, dass er jede Ma\u00dfbestimmung im weiteren TastTaum durch eine wirklich ausgef\u00fchrte oder nach Analogie ausgef\u00fchrter blo\u00df vorgestellte Bewegung in den engeren Tastraum zu \u00fcbertragen strebt. Eine pr\u00e4-cise Simultanvorstellung wird dadurch entwickelt, dass der beim synthetischen Tasten gewonnene allerdings nur schematische Ge-sammteindruck mit den analysirenden Tastbewegungen zu einem neuen Product, das die Eigenschaften seiner Componenten in sich vereinigt, verschmilzt. Nun ist es aber nach l\u00e4ngerer Uebung wohl m\u00f6glich, dass nach einem bekannten Associationsgesetze der fehlende eine Factor reproducirt, in unserem Falle also die Successivvorstellung in eine Simultanvorstellung selbst dann \u00fcbergef\u00fchrt wird, wenn die Vorstellung des Objectes unmittelbar blo\u00df durch das analysirende Tasten gewonnen worden ist. Sobald also eine Ueberf\u00fchrung der f\u00fcr den weiteren Tastraum unmittelbar angestellten Abmessungen in den engeren Tastraum erfolgt, ist die M\u00f6glichkeit gegeben, den durch die Wahrnehmung gewonnenen Successiveindruck in ein Simultanbild umzuwandeln, wobei regelm\u00e4\u00dfig eine Verkleinerung des Vorstellungsbildes eintritt. Wir sagen ausdr\u00fccklich die M\u00f6glichkeit, weil es einen gewissen Grad intellectueller F\u00e4higkeit, eine leichte Beweglichkeit der Phantasie beansprucht, um diese associative Beziehung durchzuf\u00fchren. Es bedeutet demnach eine v\u00f6llig unberechtigte Generalisirung, wenn man von einer F\u00e4higkeit der Blinden spricht, gegebene Gr\u00f6\u00dfen in der Phantasie willk\u00fcrlich zu vergr\u00f6\u00dfern oder zu verkleinern, wobei eine solche Ver\u00e4nderung in beliebigen Ausdehnungen erfolgen sollx). Wir trelfen in der That auf eine gro\u00dfe Anzahl von Blinden, welche pr\u00e4cise Raumvorstellungen nur von jenen Objecten zu entwickeln im Stande sind, die unmittelbar dem engeren Tastraum angeh\u00f6ren. Die Unf\u00e4higkeit, ad\u00e4quate Vorstellungen von gr\u00f6\u00dferen Objecten zu gewinnen, \u00e4u\u00dfert sich unverkennbar in der Art ihrer Tastbewegungen, die sich in den meisten F\u00e4llen darauf beschr\u00e4nken, ein besonders auffallendes Merkmal des Gegenstandes aufzusuchen, das dann allerdings eine genauere Betastung erf\u00e4hrt. Sehr bemerkenswerth ist nun die Thatsache,\n1) Friedrich Schuster, Ueber die Sinneswahmehmung des Blinden, S.31 ff.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nTheodor Heller.\ndass man diese Blinden h\u00e4ufig zu einer planm\u00e4\u00dfigen Betastung gr\u00f6\u00dferer Objecte spontan veranlassen kann, wenn man ihnen verkleinerte Modelle vorlegt und sie zu einer vergleichenden Messung von Original und Modell auffordert. Sind diese Uebungen durch l\u00e4ngere Zeit und an mehreren Objecten vorgenommen worden, so bleibt den Messungen im weiteren TastTaum ihr planm\u00e4\u00dfiger Charakter, der Blinde construirt dabei in der Phantasie gleichsam ein Modell des betreffenden Gegenstandes1).\nDie hohe Bedeutung, welche der Beziehung zwischen weiterem und engerem Tastraum, die wir kurz als Tastraumzusammenziehung kennzeichnen k\u00f6nnen, zukommt, hat ihren Ausdruck gefunden in der Geschichte des Anschauungsunterrichtes in den Blindenschulen. Man hatte in fr\u00fcherer Zeit geglaubt, dem r\u00e4umlichen Vorstellen dadurch eine besondere Unterst\u00fctzung zu gew\u00e4hren, dass man gr\u00f6\u00dfere Modelle von Objecten, die au\u00dferhalb der Tastm\u00f6glichkeit des Blinden gelegen sind, dem weiteren Tastraum entsprechend anfertigte. Diese Modelle bew\u00e4hrten sich jedoch in der Praxis des Blindenunterrichtes nicht, und schon G u il li\u00e9 meint, dass man dem Blinden auf diese Weise \u00e4hnlich zu helfen suche, wie dem Tauben, dem man durch Anwendung starker Ger\u00e4usche etwa das H\u00f6ren beibringen wollte2). So haben denn in neuerer Zeit rein praktische Bed\u00fcrfnisse dazu gef\u00fchrt, die dem Anschauungsunterricht zu Grunde liegenden Modelle stetig zu verkleinern, wenn man auch lange noch nicht allseitig dazu gelangt ist, dieselben der doppelten M\u00f6glichkeit des synthetischen und analysirenden Tastens entsprechend zu gestalten. Dass dies in der That erforderlich ist, lassen jene Modelle erkennen, welche Blinde selbstth\u00e4tig angefertigt haben. Wir haben schon fr\u00fcher Gelegenheit gehabt, auf die Bedeutung des Modellirens f\u00fcr die Vor-stellungscontrole der Blinden hinzuweisen. Eine neue wichtige Seite dieser Disciplin lernen wir jetzt kennen: sie dient auch dazu, den Blinden zur Entwicklung pr\u00e4ciser Raumvorstellungen, denen nothwendig der Charakter der Simultaneit\u00e4t zukommen muss, zu\n1) Diese Versuche wurden in der Wiener Blindenanstalt auf Veranlassung des Directors S. Heller von Herrn Lehrer Lasch vorgenommen und haben fast ausnahmslos zu g\u00fcnstigen Resultaten gef\u00fchrt.\n2} G u i 11 i \u00e9, Essai sur l\u2019instruction des aveugles, \u00fcbers, v. K n i e, Bresl. 1820, S.105.","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n429\nverhelfen. Alle Modelle, welche die Blinden unter Zugrundelegung eines selbstgew\u00e4hlten Verkleinerungsma\u00dfes gr\u00f6\u00dferen Objecten nachgebildet haben, zeigen sich dem engeren Tastraum entsprechend. Aus eineT gro\u00dfen Anzahl von genauen Selbstbeobachtungen meiner besten Versuchspersonen Anna P. und Oscar Sch. geht zweifelsohne hervor, dass bei Blinden eine unmittelbare Simultanvorstellung der Form der Objecte auf enge Grenzen beschr\u00e4nkt bleiben muss. Will der Blinde sich ein Object im weiteren Tastraume in wahrer Gr\u00f6\u00dfe vorstellen, so reducirt sich seine Vorstellung auf die Succession der Tastbewegungen, welche bei der Abmessung desselben erforderlich waren. Lenkt er seine Aufmerksamkeit auf die Verh\u00e4ltnisse der Form, so muss er eine Verkleinerung des Objectes in der oben bezeichnten Weise vornehmen; eine unmittelbare Simultanvorstellung ist immer nur im engeren Tastraum m\u00f6glich.\nAuf den ersten Blick scheint diese eigenth\u00fcmliche Tastraum-zusammenziehung zum Zweck der Entwicklung simultaner Vorstellungen sehr befremdlich. Aber es ist nicht schwer zu zeigen, dass \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse auch bei den Vorstellungen des Lichtsinnes obwalten. Man hat bisweilen die Vorstellungen des Tast-und Gesichtssinnes derart unterschieden, dass man angab, die ersteren seien unter allen Umst\u00e4nden Successiv-, die letzteren Simultanvorstellungen. Dass dies in Bezug auf den Tastsinn nicht zutrifft, d\u00fcrfte sich aus den bisherigen Ausf\u00fchrungen zur Gen\u00fcge ergeben haben. Ebenso wenig beh\u00e4lt jene Behauptung in Betreff der Vorstellungen des Lichtsinnes Recht. Vergeblich werden wir uns bem\u00fchen, das Gesammtbild eines gro\u00dfen Gegenstandes in unmittelbarster N\u00e4he zu gewinnen. Stellen wir uns z. B. einen gro\u00dfen Baum unmittelbar vor unserem Beobachtungsstandpunkt vor, so sehen wir uns gezwungen, das Bild des Objectes gleichsam aus seinen Theilen zusammenzusetzen. Wollen wir uns eine Simultanvorstellung des Gegenstandes erm\u00f6glichen, so m\u00fcssen wir in der Phantasie das Object in eine gr\u00f6\u00dfere Entfernung r\u00fccken, woraus sich nothwendig ergibt, dass wir das Simultanbild wesentlich verkleinert erhalten. Ebenso stellen wir uns ein Haus, einen Berg etc. f\u00fcr gew\u00f6hnlich ungef\u00e4hr in der Gr\u00f6\u00dfe eines Photogramms vor, die Vorstellung der Entfernung des Beobachters von dem Object erm\u00f6glicht aber einen Schluss auf die wahren Gr\u00f6\u00dfenveTh\u00e4ltnisse des letzteren.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nTheodor Heller.\nWir verlassen hiermit das eigentliche Gebiet des analysirenden Tastens und wenden uns jenen Tastmessungen zu, bei welchen Bewegungen des Gesammtk\u00f6rpers nothwendig werden und speciell die Schrittbewegung zur Ma\u00dfbestimmung Verwendung findet. Die Gebr\u00fcder Weber haben bereits nachgewiesen, dass die Schrittbewegung eine Pendelbewegung darstellt, und wie wir f\u00fcr gew\u00f6hnlich die letztere zur Zeitmessung benutzen, so bietet auch die erstere Verh\u00e4ltnisse dar, welche die Ausbildung pr\u00e4ciser Zeitvorstellungen vor allem beg\u00fcnstigen. Zun\u00e4chst kommt hier der regelm\u00e4\u00dfige Wechsel von Erwartungsspannung und -erf\u00fcllung in Betracht, ferner die Rhythmik der Bewegungsempfindungen und der durch das Aufsetzen der F\u00fc\u00dfe veranlassten Geh\u00f6rseindr\u00fccke. Aehnlich wie die Raumvorstellung resultirt auch die Zeitvorstellung aus einer associativen Verschmelzung der obenerw\u00e4hnten Componenten. Diese muss aber zum Unterschiede von der erstgenannten als eine intensive bezeichnet werden, da die einzelnen Factoren blo\u00df eine intensive, nicht aber eine qualitative Abstufung erkennen lassen, welch\u2019 letztere zu einer r\u00e4umlichen Ordnung der Eindr\u00fccke Veranlassung geben k\u00f6nnte. Der Blinde bestimmt L\u00e4nge und Breite eines Raumes nach der zur Durchmessung desselben erforderlichen Schrittzahl. Da der Blinde die L\u00e4nge seiner Schritte genau kennt, so ist er jeder Zeit im Stande, die auf diese Weise abgemessenen Dimensionen in den \u00fcblichen Ma\u00dfeinheiten auszudr\u00fccken. Es macht dem Blinden nach einiger Uebung auch durchaus keine Schwierigkeiten, Pl\u00e4ne in entsprechend verj\u00fcngtem Ma\u00dfstabe herzustellen, welche bei einer nachfolgenden genauen Messung sich als vollkommen richtig erweisen. Wenn also auch urspr\u00fcnglich das Hervortreten des Bewegungsfactors die Ausbildung der Zeitvorstellung beg\u00fcnstigt, so ist der Blinde dennoch durch eine Reihe intellectueller Operationen bef\u00e4higt gleichsam Zeit- in Raumverh\u00e4ltnisse umzusetzen.\nWie wir schon zu Beginn dieses Abschnittes erw\u00e4hnt haben, ist eine unmittelbare Bestimmung der H\u00f6he durch die Schrittmessung f\u00fcr gew\u00f6hnlich nicht zu erreichen. Auf Umwegen verhelfen sich in diesem Falle einige Blinde zu einer Bestimmung der dritten Dimension. Sehr interessant sind hier die Mittheilungen des Blinden Karl H. Dieser konnte sich zun\u00e4chst von der H\u00f6he eines Zimmers keine bestimmte Vorstellung machen. Einmal stand eine Leiter in","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n431\nder Stube und nun kletterte Karl H. hinauf, bis er die Decke erreichte. Beim Treppensteigen fiel ihm nun dieses Erklettern der Leiter ein, und er machte hierbei die Beobachtung, dass die Sprossen der letzteren ungef\u00e4hr doppelt so weit von einander entfernt waren als die Stufen der Treppe. Auf diese Weise gelangte er dazu, die H\u00f6he des Zimmers mit der einer Stiege in Beziehung zu setzen. Da der Blinde nun fernerhin erkannte, dass die H\u00f6he eines Stiegenabsatzes der Zimmerh\u00f6he ungef\u00e4hr entsprechen m\u00fcsse, so hatte er hierdurch ein Ma\u00df f\u00fcr die letztere gewonnen. Die Zahl der Stufen, welche von einem Stockwerk zum andern f\u00fchren, hat der genannte Blinde f\u00fcr alle ihm bekannten H\u00e4user im Ged\u00e4chtniss. Wenn ihm die Anzahl der Stockwerke bekannt ist, so kann er sich durch Rechnung auch eine beil\u00e4ufige Vorstellung von der H\u00f6he der H\u00e4user bilden. Doch ist ihm diese H\u00f6henbestimmung nicht allzu wichtig. Er begn\u00fcgt sich, wenn er die Gr\u00f6\u00dfe eines Raumes messen will, in der Regel mit der Bestimmung von L\u00e4nge und Breite.\nNebst der Dauer der Bewegung, welche gemessen wird durch die zur Zur\u00fccklegung einer Strecke erforderliche Schrittzahl, kommen bei diesen Bestimmungen noch in Betracht die charakteristischen Tastempfindungen der F\u00fc\u00dfe, welche sich von Fall zu Fall \u00e4ndern und eine qualitative F\u00e4rbung der sonst blo\u00df intensiv abgestuften Empfindungen bedingen. Dieselben werden daher auch zu unterscheidenden Merkmalen der verschiedenen Bewegungen des Blinden. Durchmisst der Blinde eine gedielte Stube, so sind die \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen andere als bei der Bewegung auf einem Kiesweg oder einer gepflasterten Stra\u00dfe. Damit verbinden sich auch charakteristische Geh\u00f6rsempfindungen, und alle diese Componenten gehen in die Vorstellung des zur\u00fcckgelegten Weges ein. Aber in den meisten F\u00e4llen treten auch hier jene eigenthiimlichen Surrogatvorstellungen in Kraft, welche ein Zeugniss f\u00fcr die Unf\u00e4higkeit des Blinden ablegen, sich von den betreffenden r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnissen entsprechende Vorstellungen zu bilden. Die Betrachtung der hierher geh\u00f6rigen Surrogatvorstellungen w\u00fcrde uns an dieser Stelle zu weit f\u00fchren; wir wollen dieselben im Anschluss an die schon im weiteren Tastraum vielfach zur Ausbildung gelangenden Vorstellungsh\u00fclfen sp\u00e4ter in einem besonderen Abschnitte behandeln.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nTheodor Heller.\n3. Die Entwicklung des Tastraumes.\nUeber die Raumvorstellung des Blindgeborenen sind zahlreiche Behauptungen aufgestellt worden, die einander oft geradezu widersprechen und weniger auf directen Beobachtungen, als vielmehr auf Schl\u00fcssen beruhen, die man nach einer mehr oder minder gr\u00fcndlichen Analyse des Tastsinnes, welche \u00fcberdies zumeist von den Verh\u00e4ltnissen der Sehenden ausging, zu machen sich f\u00fcr berechtigt hielt. Hierbei wurden h\u00e4ufig gewissen apperceptiven Th\u00e4tigkeiten, wie der Aufmerksamkeit und der Phantasie, Eigenschaften zuge-sohrieben, die denselben den Charakter von besonderen Seelenkr\u00e4ften verleihen, welche die Vorstellungswelt des Blinden \u00fcber die Grenzen jeder Wahrnehmungsm\u00f6glichkeit hinaus erweitern sollen.\nExtrem entgegengesetzt der von der \u00e4lteren Blindenp\u00e4dagogik vertretenen Ansicht, dass ein Parallelismus zwischen Tast- und Gesichtsraum in der Weise existire, dass jeder Vorstellung, welche der Sehende durch das Gesicht erh\u00e4lt, unter Umst\u00e4nden auch beim Blinden eine extensive Vorstellung entsprechen k\u00f6nne, ist die Behauptung des Leipziger Philosophen und Arztes Ernst Platner, der dem Blinden jedwede Raumvorstellung abspricht. \u00bbWas die gesichtslose Vorstellung von Raum oder Ausdehnung betrifft, so hat mich die Beobachtung und Untersuchung eines Blindgeborenen, die ich drei Wochen lang fortgesetzt, auf\u2019s Neue \u00fcberzeugt, dass der Gef\u00fchlssinn f\u00fcr sich allein alles dessen, was zu Ausdehnung und Raum geh\u00f6rt, durchaus unkundig ist, nichts von einem \u00f6rtlichen Auseinandersein wei\u00df, und, um es kurz zu fassen, dass der gesichtslose Mensch gar nichts von der Au\u00dfenwelt wahrnimmt, als das Dasein von etwas Wirkendem, was von dem dabei leidenden Selbstgef\u00fchl unterschieden sei \u2014 und im \u00fcbrigen blo\u00df die numerische Verschiedenheit, soll ich sagen der Eindr\u00fccke oder der Dinge1)?\u00ab Diese Behauptung Platner\u2019s, welche um so vager erscheint, als derselbe nicht angibt, welcher Art die von ihm angestellten Beobachtungen waren, hat auch in neueren psychologischen Werken\n1) Ernst Platner, Philosophische Aphorismen, I, Leipzig 1793, S. 446f.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n433\nEingang gefunden1). W\u00e4re jedoch Platner\u2019s Ansicht richtig, so m\u00fcsste eine allgemeine Blindenbildung fast als ein Ding der Unm\u00f6glichkeit erscheinen. Wie sollte der Blinde Vorstellungen befriedigender Art -von den umgebenden Objecten gewinnen, wie sollte er \u00fcber ihre r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse etwas aussagen k\u00f6nnen, ohne die F\u00e4higkeit, irgend eine r\u00e4umliche Beziehung aufzufassen? Die Thatsachen, dass Blinde sich geometrische Kenntnisse aneignen k\u00f6nnen, dass auch Beispiele zu verzeichnen sind von Blindgeborenen, die in der Nachbildung plastischer Objecte nicht Unbedeutendes leisteten, widerlegen Platner\u2019s Behauptung zur Gen\u00fcge2). Aber selbst in dem Falle, dass Platner\u2019s Beobachtungen als v\u00f6llig richtige anzuerkennen w\u00e4ren, h\u00e4tte der Leipziger Philosoph einen schweren Fehler dadurch begangen, dass er nach den Beobachtungen an einem Individuum einen Schluss auf das psychologische Verhalten aller anderen Blinden zu machen sich f\u00fcr berechtigt h\u00e4lt. Der analoge Fehler ist in der Folgezeit wiederholt begangen worden: h\u00e4ufig hat man die Ergebnisse der Beobachtung an einem Blinden auf die Gesammtheit aller Blinden ausgedehnt. Die Bedingungen des r\u00e4umlichen Tastens sind aber nicht derart in der Organisation angelegt, wie dies in Bezug auf die Verh\u00e4ltnisse des Sehens bei allen Normalsichtigen der Fall ist. Die Sch\u00e4rfung des extensiven Unterscheidungsverm\u00f6gens, die zweckm\u00e4\u00dfige Anordnung der Tastbewegungen, kurz die Bedingungen jeder pr\u00e4cisen r\u00e4umlichen Auffassung durch den Tastsinn sind ein Product der individuellen Entwicklung. Beim Tasten tritt nahezu das umgekehrte Verh\u00e4ltniss ein wie bei der Auffassung der Objecte durch den Gesichtssinn. Hier sind die physiologischen Bedingungen des Sehens in erster Linie bestimmend f\u00fcr die Auffassung der Objecte3), dort gibt die Beschaffenheit der Objecte die Bedingungen an, unter welchen sich\n1)\tH\u00f6ffding, Psychologie, deutsch von Bendixen, Leipzig 1887, S. 248.\n2)\tM\u00f6glicherweise sind Platner\u2019s Ansichten zum Theil zur\u00fcckzuf\u00fchren auf seinen Widerspruch gegen die Apriorit\u00e4tslehre Kant\u2019s. Vergl. Max Heinze, Ernst Platner als Gegner Kant\u2019s, Univ.-Programm Leipzig 1880, S. 15. Es ist klar, dass, wenn der Raum thats\u00e4chlich eine a priori \u00bbim Gem\u00fcth bereit liegende\u00ab Anschauungsform w\u00e4re, der Blinde seine Empfindungen ebenso urspr\u00fcnglich in eine r\u00e4umliche Ordnung bringen m\u00fcsste wie der Sehende.\n3)\tWundt, Phys. Psych. II (4. Aufl.; S. 169.","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nTheodor Heller.\ndie Tasthandlung entwickelt. So k\u00f6nnen wir bis zu einem gewissen Grade jene in einer weit zur\u00fcckreichenden generellen Entwicklung entstandene Organisation des Sehens in der Entwicklung des Tastens wiederholt finden, und man wird kaum Unrecht thun, wenn man diesen Vorgang der Tastentwicklung mit einem werdenden Auge vergleicht.\nPlatner hatte angedeutet, dass dem Blinden \u00bbdie Zeit statt des Raumes diene\u00ab. Diese Ansicht bringt Hagen in sehr nachdr\u00fccklicher Weise zur Geltung. \u00bbBlinde sprechen zwar von Oert-lichkeiten, von Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt der Dinge, allein bei einiger Aufmerksamkeit findet man bald, dass sie davon sprechen wie von der Farbe, d. h. sie gebrauchen die Worte der Sehenden f\u00fcr ganz andersartige Vorstellungen. Was uns Raum ist, ist bei ihnen blo\u00df Zeit. Wenn der Blinde von der Entfernung eines Gegenstandes'' spricht, so kann er sich unm\u00f6glich die Linie bis zu ihm hin in der Art wie wir vorstellen, sondern er denkt sich die Zeit, die er bis zu ihm brauchen, die Menge der Bewegungen, die er n\u00f6thig haben w\u00fcrde, um zu ihm zu gelangen. Spricht er von der Gr\u00f6\u00dfe seiner Handfl\u00e4che, so ist es die Zeit, die er braucht, um mit der anderen Hand die Peripherie derselben zu umschreiben, und spricht er von der Gestalt eines Dinges, so meint er die Bewegungen seines Fingers oder seiner Hand, die er machen muss, um den Conturen desselben f\u00fchlend zu folgen. Wenn er sagt, es thue ihm da oder dort weh, so meint er, es schmerzt ihn ein Theil seines K\u00f6rpers, zu welchem mit der Hand zu gelangen er so und so viel Zeit n\u00f6thig hat. Dies m\u00f6ge hinreichen, um die Art zu bezeichnen, auf welche die angeblichen Raumvorstellungen des Blinden zu erkl\u00e4ren sind1)\u00ab. Zu diesen Ausf\u00fchrungen wird Hagen dadurch gedr\u00e4ngt, dass er dem Tastsinn jede F\u00e4higkeit abspricht, selbst\u00e4ndige r\u00e4umliche Vorstellungen zu vermitteln, was dadurch erkl\u00e4rlich wird, dass er von der Betrachtung des Tastens der Sehenden ausgeht, bei welchem festgewordene Associationen von Tast- und Gesichtsvorstellungen wirksam sind. \u00bbDas Gef\u00fchl selbst gibt nie Auskunft \u00fcber den bestimmten Ort einer Empfindung, sondern dies thut stets nur die\n1) Hagen, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch der Physiologie II, Braunschweig 1844, S. 718.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Stadien zur Blinden-Psychologie.\n435\ndurch lange Uebung mit ihr verbundene Gesichtsempfindung, so dass wir keinen Theil des K\u00f6rpers f\u00fchlen k\u00f6nnen, ohne ihn uns zugleich durch das Gesicht zu denken\u00ab. Der Standpunkt Hagen\u2019s ist somit nahezu entgegengesetzt dem Condillac\u2019s. Demnach bewegt sich die empiristische Raumtheorie thats\u00e4chlich in einem circulus vitiosus. In Bezug auf den Gesichtssinn behauptet dieselbe, dass wir uns die primitivsten r\u00e4umlichen Vorstellungen mit H\u00fclfe des Tastsinnes verschafft h\u00e4tten, ohne des N\u00e4heren zu erkl\u00e4ren woher dieselben stammen, die doch nicht ebenfalls durch die Erfahrung bestimmt sein k\u00f6nnen. Hagen l\u00e4sst nun die Tastvorstellungen erst durch die Existenz eines Gesichtsraumes r\u00e4umliche Bedeutung gewinnen, er macht daher die Einfl\u00fcsse der Erfahrung in v\u00f6llig entgegengesetzter Richtung geltend wie jene, welche den Tastsinn f\u00fcr den fundamentalen Raumsinn angesehen hatten.\nWenn man annimmt, dass der Blinde blo\u00df durch seine Tastbewegungen zu einer Auffassung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Au\u00dfenwelt gelangen kann, so ergibt sich als nothwendige Con-sequenz, dass er auf diese Weise nur zeitliche, nicht aber r\u00e4umliche Vorstellungen zu entwickeln vermag. W\u00fcrde eine Reihe blo\u00df intensiv abgestufter Empfindungen die N\u00f6thigung zu einer r\u00e4umlichen Ordnung enthalten, dann m\u00fcsste man, wie schon Lotze gegen die Herbart\u2019sehe Theorie anf\u00fchTt, sich auch die Tonscala r\u00e4umlich vorstellen k\u00f6nnen1). Es bedeutet demnach einen offenbaren Widerspruch, wenn behauptet wird, dass sich die Raumvorstellungen des Blinden lediglich auf Tastbewegungen gr\u00fcnden. Diesen Ansichten hat sich in neuerer Zeit auch Hocheisen angeschlossen. Zwei Wege k\u00f6nnen \u2014 nach Hocheisen \u2014 beim r\u00e4umlichen Tasten eingeschlagen werden. Der erste ist folgender: das Object kommt mit der Haut in Ber\u00fchrung und hinterl\u00e4sst einen Abdruck auf derselben. Der zweite Weg entspricht der schon fr\u00fcher dargelegten Tastart2). Aus der Gr\u00f6\u00dfe und Richtung der vollf\u00fchrten Bewegungen wird auf Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt des Gegenstandes geschlossen. Nach der Meinung Hocheisen\u2019s kommen nun beide Wege vereint beim Tasten des Sehenden in R\u00fccksicht,\n1)\tLotze, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch d. Physiol. Ill S. 177.\n2)\tS. 413 ff.\nWundt, Philos. Studien. XI.\n29","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nTheodor Heller.\nw\u00e4hrend der Blinde immer nur den zweiten oben erw\u00e4hnten Weg, nie jedoch oder nur gezwungen den ersten benutzt1). Diese Behauptung sucht Hocheisen durch eine Untersuchung des Lesens der Blinden, die den Thatsachen nicht in hinreichender Weise gerecht wird, zu erweisen.\nIn Bezug auf den ersten Weg ist es nun sehr zweifelhaft, ob uns wirklich \u00bbdie gegenseitige Lage und die Abst\u00e4nde unserer Haut (soll wohl hei\u00dfen Hautbezirke) genau bekannt sind\u00ab, so dass wir daraus \u00bbauf die Gestalt und die Lage des Gegenstandes selbst schlie\u00dfen\u00ab2). Zu einer derartigen Kenntniss gelangen wir erst durch die physiologische Untersuchung, und derjenige, welcher von der Existenz seines Raumsinnes keine Ahnung hat, ist ebenso zur r\u00e4umlichen Unterscheidung bef\u00e4higt wie jener, welcher sich \u00fcber diese Verh\u00e4ltnisse auf das genaueste unterrichtet hat.\nWenn der Blinde in der That immer nur von dem zweiten Wege Gebrauch machte, so w\u00e4re kaum einzusehen, wie derselbe denn den Gegenstand in die Tastlage bringt. Das Object muss zun\u00e4chst erfasst werden, um in die dem r\u00e4umlichen Tasten entsprechende Stellung zu gelangen. Und sollte diese Umfassung des Gegenstandes, die sich schon aus mechanischen Gr\u00fcnden als noth-wendig erweist, vom Blinden v\u00f6llig unbeachtet bleiben? F\u00fcr dieses Verhalten w\u00e4re eine zureichende Ursache kaum aufzufinden. Eine halbwegs eingehende Beobachtung, die freilich das verlangsamte Tasten zun\u00e4chst ber\u00fccksichtigen muss, l\u00e4sst vielmehr deutlich erkennen, dass der Blinde die Gewinnung des Simultaneindruckes durchaus nicht verschm\u00e4ht. In Wirklichkeit sprechen nun die Ergebnisse der Hocheisen\u2019schen Untersuchungen in keiner Weise gegen die Benutzung der beiden beim r\u00e4umlichen Tasten m\u00f6glichen Wege von Seite des Blinden. Dass der Raumsinn der Haut keine hochgradige Verfeinerung erkennen l\u00e4sst, legt nicht etwa ein Zeugniss daf\u00fcr ab, dass das simultane Tasten beim Blinden \u00fcberhaupt nicht in Verwendung kommt, sondern best\u00e4tigt nur die Thatsache, dass diese Tastart f\u00fcr sich allein nicht zur Entwicklung ad\u00e4quater Raumvorstellungen ausreicht.\n1)\tHocheisen, Der Muskelsinn der Blinden, S. 29f.\n2)\ta. a. O. S. 31.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Studie\u00bb zur Blinden-Psychologie.\n437\nSchon Diderot hatte in seiner lettre sur les aveugles die Behauptung aufgestellt, dass der Blinde seine Raumvorstellung erweitern k\u00f6nne, indem er den unmittelbar afficirten Theil seiner Haut, z. B. die Fingerspitze, in der Phantasie ausdehne. Innerhalb der Grenzen der Wahrnehmungsm\u00f6glichkeit kann dies ohne Zweifel erfolgen, der Blinde braucht hier nur Reproductionen fr\u00fcherer Tasteindr\u00fccke zu H\u00fclfe zu nehmen. Wenn man aber behauptet, dass die Gef\u00fchlsfl\u00e4che, welche unser Arm darbietet, durch die Phantasie vergr\u00f6\u00dfert werden k\u00f6nne, um derart einen ganzen haptischen analog dem optischen Raum auszubilden1), so schreibt man damit der Phantasie eine Leistung zu. von der nicht zu begreifen ist, auf welche Art dieselbe zu Stande kommen soll. Das optische Bild des Armes kann allerdings allseitig ausgedehnt werden, aber auch hier geben die Bedingungen des Sehens die Grenze an, innerhalb deren diese Erweiterung m\u00f6glich ist. Wir k\u00f6nnen in der Vorstellung B\u00e4ume bis an den Himmel wachsen lassen, aber niemals dar\u00fcber hinaus. F\u00fcr den Blinden ist es schlechterdings unm\u00f6glich, zu einer Totalvorstellung des Raumes \u00e4hnlich der des Sehenden zu gelangen. Die Unterscheidung der Raumvorstellungen des Blinden in \u00bbwirkliche\u00ab und in \u00bbPhantasievorstellungen\u00ab erscheint uns demnach keineswegs berechtigt. Nach Stumpf\u2019s Ansicht bedeutet f\u00fcr den Blindgeborenen \u00bbmein K\u00f6rper als Raumvorstellung nichts anderes als die Summe seiner wirklichen Raumvorstellungen. Dagegen alles R\u00e4umliche, was nur in der Phantasie vorgestellt werden kann (vorausgesetzt, dass es nicht innerhalb der durch den Hautsinn gegebenen Grenzen vorgestellt wird), betrifft \u00e4u\u00dfere K\u00f6rper\u00ab2). Raumvorstellungen der letzteren Art existiren aber beim Blinden \u00fcberhaupt nicht. Simultanvorstellungen k\u00f6nnen nur innerhalb der Grenzen des Raumsinnes der Haut entwickelt werden, und hier kommt vor allem der Raumsinn der Handfl\u00e4chen in Betracht, welcher nahezu ausschlie\u00dflich beim r\u00e4umlichen Tasten der Blinden Verwendung findet.\nNach diesen Ausf\u00fchrungen bedarf wohl die Behauptung Oehl-wein\u2019s, dass der Blinde bei gr\u00f6\u00dferen Objecten nach Betasten aller\n1)\tStumpf, Ueber den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Leipzig 1873, S. 284.\n2)\tStumpf, a. a. O. S. 303.\n29\u00bb","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nTheodor Heller.\nBestandteile sich die entsprechende GesammtVorstellung \u00bberst zu-sammenphantasiren muss\u00ab *), keiner besonderen Widerlegung. Aehn-lich wie die Phantasie in den vorliegenden F\u00e4llen hat Bur dach die Aufmerksamkeit des Blinden f\u00fcr die Bildung einheitlicher Raum Vorstellungen in Anspruch genommen1 2). Wegen der Schwierigkeit der Vorstellungsgewinnung ist beim Blinden sicherlich eine gr\u00f6\u00dfere Concentration der Aufmerksamkeit auf die Tastvorg\u00e4nge nothwendig, als beim Sehenden auf die Wahrnehmungen des Lichtsinnes. Aber weder die Aufmerksamkeit noch irgend eine andere psychische Function kann die einheitliche Zusammenfassung der einander zeitlich folgenden Eindr\u00fccke bewerkstelligen, wenn diese nicht entweder unmittelbar in der Anschauung erfolgt oder doch erfolgen kann. Dieser Nothwendigkeit entspringt beim Blinden eben jene eigenth\u00fcmliehe Tastraumzusammenziehung, deren Bedeutung wir im Vorhergehenden bereits ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert haben.\nAlle diese Hypothesen k\u00f6nnen \u00fcber die wahre Natur des r\u00e4umlichen Vorstellens der Blinden keinen hinreichenden Aufschluss geben. Schon von vornherein erscheint es kaum denkbar, derart verwickelte Verh\u00e4ltnisse, wie sie die Raumvorstellung des Blindgeborenen darbietet, mit wenigen Worten abzufertigen, um so weniger, als eine v\u00f6llige Gleichartigkeit des r\u00e4umlichen Tastens bei den einzelnen Blinden nicht zu constatiren ist. Von den F\u00e4llen niederster Tastentwicklung bis zu jener H\u00f6he der Ausbildung des r\u00e4umlichen Tastens, welche wir in den vorhergehenden Betrachtungen gekennzeichnet haben, f\u00fchrt eine Reihe von Entwicklungsstufen, und diese spiegeln die individuelle Tastentwicklung bei den zu pr\u00e4cisen r\u00e4umlichen Auffassungen gelangenden Blinden wieder, welche jene Taststadien alsbald zu Gunsten h\u00f6herer Stufen der Ausbildung ihres r\u00e4umlichen Tastens \u00fcberwinden. Diese individuelle Tastentwicklung ist zumeist der unmittelbaren Beobachtung entr\u00fcckt, weil sie sich h\u00e4ufig schon in der fr\u00fchesten Kindheit des Blinden vollzieht, namentlich dann, wenn die Auswahl der ersten Spiele eine entsprechende Beth\u00e4tigung des r\u00e4umlichen Tastens zul\u00e4sst. Der Blindenp\u00e4dagoge hat jedoch nicht selten Gelegenheit, F\u00e4lle versp\u00e4teter\n1)\tOehlwein, Meine Erfahrungen und Ansichten \u00fcber das Wesen der Vier-und Schwachsinnigen, Weimar 1883, S. 90.\n2)\tBurdach, Blicke ins Lehen III, S. 5.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Biinden-Psyehologie-\n439\nTastentwicklung zu beobachten. Scherer f\u00fchrt in seiner sehr beachtenswerthen Schrift \u00bbDie Zukunft der Blinden\u00ab Beispiele von geistig und k\u00f6rperlich weit zur\u00fcckgebliebenen Blinden an1), welche zu Beginn ihres Unterrichtes Objecten, die ihnen zur Betastung dargeboten werden, v\u00f6llig rathlos gegen\u00fcberstehen. Die erste Tast-th\u00e4tigkeit, welche sich nun bei diesen Individuen zeigt, besteht darin, dass sie die Gegenst\u00e4nde mit den H\u00e4nden umfassen. Die Verh\u00e4ltnisse der Form scheinen dem Blinden zun\u00e4chst ziemlich gleichg\u00fcltig zu sein; weit mehr interessirt ihn die wechselnde Beschaffenheit der Oberfl\u00e4che, ihre Temperatur, Rauhheit oder Gl\u00e4tte. Sehr bemerkenswerth ist auch der Umstand, dass viele auf dieser tiefen Stufe der Tastentwicklung befindliche Blinde einen Geh\u00f6rseindruck von dem Object zu empfangen streben, indem sie dasselbe entweder mit dem Finger abklopfen oder nachdr\u00fccklich auf eine Unterlage stellen. Es ist nun durch die Auswahl passender Tastobjecte, welche, aus dem gleichen Stoffe gefertigt, dieser Art der Unterscheidung keine gen\u00fcgende Grundlage gew\u00e4hren, nicht allzu schwer, die Aufmerksamkeit der Blinden spontan auf die Formverh\u00e4ltnisse der Gegenst\u00e4nde zu lenken. Vor allem tritt hier der Unterschied des Eckigen und Runden hervor, was sich darin \u00e4u\u00dfert, dass der Blinde innerhalb dieser Kategorien zun\u00e4chst kaum im Stande ist weitere Unterscheidungen zu \u00fcben. Je mehr sich aber die F\u00e4higkeit des Blinden vervollkommnet, \u00fcber die ihm vorgelegten Tastobjecte in zuverl\u00e4ssiger Weise Rechenschaft zu geben, desto deutlicher macht sich auch eine Ver\u00e4nderung in der Tastart bemerkbar, indem neben der Tastsynthese auch die Tastanalyse in ihre Rechte tritt. Auf diese Weise erfolgt die Entwicklung des r\u00e4umlichen Tastens zuv\u00f6rderst im engeren Tastraum; als Endresultat derselben ergibt sich die Ausbildung jenes Tastsystems, das wir schon fr\u00fcher als den Bed\u00fcrfnissen der r\u00e4umlichen Auffassung vollkommen entsprechend erkannt haben. Wenn aber der Tastentwicklung nicht ein bestimmter Lehrgang zu Grunde liegt, so muss dieselbe mehr oder minder dem Zufall \u00fcberlassen bleiben. Dies \u00e4u\u00dfert sich darin, dass verschiedene Blinde nach der Art ihrer vorwiegenden Besch\u00e4ftigung h\u00e4ufig eine verschieden hohe Stufe der\n1) 7. Auflage, Berlin 1863, S. 23 ff.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nTheodor Heller.\nTastentwicklung erreichen. Der blinde Handwerker ist immer bef\u00e4higt zur Auffassung einfacher r\u00e4umlicher Verh\u00e4ltnisse. Hingegen lernte ich einen begabten blinden Musiker kennen, der bei der Betastung der einfachsten Objecte eine staunenswerthe Ungeschicklichkeit an den Tag legte und hierbei selbst zugestand, dass er den Baumverh\u00e4ltnissen seiner Umgebung nicht das mindeste Interesse entgegenbringe. Ein anderer sehr intelligenter Blinder, welcher sich gr\u00fcndliche Sprachkenntnisse erworben hatte, ist gleichfalls \u00fcber die tiefste Stufe der Tastentwicklung nicht hinausgelangt. Bei all\u2019 diesen Blinden scheint eine exacte objective Beziehung der Eindr\u00fccke kaum zu erfolgen, die Vorstellung des th\u00e4tigen Subjects bleibt hier jedenfalls im Vordergrund. Dies ist nun bez\u00fcglich des weiteren Tast-iaumes auch bei jenen Blinden der Fall, die zur Entwicklung ad\u00e4quater Vorstellungen im engeren Tastraum bef\u00e4higt, aber eine vergleichende Beziehung der beiden Tastr\u00e4ume nicht zu vollf\u00fchren im Stande sind. Die Vorstellung des Objects reducirt sich dann auf die s\u00fcbjectiven Bewegungsvorstellungen. Erst durch den Akt der Tastraumzusammenziehung erlangen die Vorstellungen im weiteren Tastraum ihre objective Bedeutung. Die unmittelbare Kaumvorstellung des Blindgeborenen beschr\u00e4nkt sich demnach auf jenen engen Umkreis, der bestimmt ist durch die doppelte M\u00f6glichkeit des synthetischen und analysirenden Tastens. Im Uebrigen k\u00f6nnen selbst die verwickeltsten associativen und apperceptiven Bewusstseinsvorg\u00e4nge den Vorstellungen, welche der Blinde von den Objecten seiner Umgebung empf\u00e4ngt, nicht jenen Charakter der Simultaneit\u00e4t verleihen, welcher nothwendig f\u00fcr jede pr\u00e4cise Baumvorstellung vorausgesetzt werden muss.\nInnerhalb des engeren Tastraumes wird die Mannigfaltigkeit der Tastempfindungen durch eine psychische Synthese zu der Einheit der r\u00e4umlichen Vorstellung verbunden. Eine psychische Synthese liegt aber ebenfalls der Existenz des Gesichtsraumes zu Grunde, indem sich auch hier qualitativ mannigfaltige periphere Sinnesempfindungen und qualitativ einf\u00f6rmige Bewegungsempfindungen, die sich durch ihre eindimensionale Abstufung zu einem allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenma\u00df eignen, einheitlich verbinden '). So wird es denn erkl\u00e4r-\n1) Wundt, Phys. Psych. II (4. Aufl.) S. 217 ff.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n441\nlieh, dass Tast- und Gesichtsraum trotz der Ungeheuern Unterschiede ihrer Ausdehnung dennoch in formaler Beziehung \u00fcbereinstimmen, so grundverschieden auch das Empfindungsmaterial ist, aus welchem dieselben bestehen, eine Thatsache, die sich vor allem darin kundgibt, dass die Geometrie des Blinden dieselbe ist wie die des Sehenden.\n4. Zur Geschichte der Blindenschrift.\nDie Geschichte der Blindenschrift spiegelt deutlich die Entwicklung der gesammten Blindenp\u00e4dagogik. Die Erfindung der Punktschrift durch Louis Braille bewirkte einen bemerkens-werthen Umschwung in der Blindenbildung, und Jahrzehnte lang sah die letztere ihre vornehmste Aufgabe darin, ein den Tastverh\u00e4ltnissen des Blinden entsprechendes Schriftsystem zu construiren, wobei freilich alle diese Versuche schlie\u00dflich dazu gef\u00fchrt haben, die Brailleschrift in unver\u00e4nderter Gestalt beizubehalten.\nSchon lange bevor Valentin Hauy den von Maria Theresia v. Paradies ausgesprochenen Gedanken einer allgemeinen Blindenbildung praktisch verwirklichte, hatte es nicht an Versuchen gefehlt, dem Blinden eine eigenth\u00fcmliche tastbare Schrift darzubieten. Aus dem Jahre 1580 stammt die erste Nachricht \u00fcber eine derartige Blindenschrift. Francesco Lucas wurde durch die Beobachtung eines B\u00fcnden, welcher die schwach vertieften Zeichen eines starken Druckes zu unterscheiden im Stande war, auf den Einfall gebracht, ein Blindenalphabet aus Holzt\u00e4felchen herzustellen, in welche er die verschiedenen Sehriftzeichen vertieft einschnitt1). Obzwar Lucas berichtet, dass die Schrift nach kurzer Uebung von den meisten Blinden mit Sicherheit gelesen wurde, gerieth diese Erfindung dennoch v\u00f6llig in Vergessenheit. In ihrer consequenten Weiterbildung h\u00e4tte dieselbe vielleicht fr\u00fche schon zu einer allgemein brauchbaren Blindenschrift, der Grundlage eines geordneten Blinden-\n1) Guilli\u00e9, Essai sur l\u2019instruction des aveugles, Paris 1817, S. 105. Eine ganz \u00e4hnliche Blindenschrift, bei welcher die Zeichen in Wachstafeln gegraben wurden, erfand Georg Phil. Harsd\u00f6rffer, N\u00fcrnberg 1651, Delitiae Mathe-maticae et Physicae, II. Theil. (Citirt nach A. B\u00fcttner, Beitrag zur Geschichte der Blindenschriften, Organ der Taubstummen- und Blindenanstalten, XXII, S.78)","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nTheodor Heller.\nUnterrichtes, gef\u00fchrt. Der erste originelle Versuch, eine den Tastbedingungen des Blinden Rechnung tragende Schrift einzuf\u00fchren, welche nicht blo\u00df eine Uebersetzung der Schrift Sehender ins Tastbare bedeutet, somit ein fr\u00fcher Vorl\u00e4ufer der sp\u00e4terhin so wichtig gewordenen Erfindung Braille\u2019s, ist die von dem blinden Musiker Vionville entworfene \u00bbBindfadenschrift\u00ab1). Die Buchstaben bestanden aus Knoten von verschiedener Dicke, welche in verschiedenen Entfernungen in einen langen Faden gekn\u00fcpft wurden. Diese Schrift brachte Vionville auch seinem blinden Freunde bei, mit welchem er auf diese Weise eine rege Correspondenz unterhielt. F\u00fcr die Herstellung von Noten lie\u00df sich diese Schrift sehr einfach verwenden; die Tonarten wurden durch Gebrauch von F\u00e4den verschiedenen Materials und verschiedener Dicke gekennzeichnet. Sehr bezeichnend ist der Umstand, dass der genannte Blinde f\u00fcr Molltonarten Seidenf\u00e4den gebrauchte, ein jedenfalls bemerkenswerthes Beispiel f\u00fcr jene Analogien der Empfindung, welche bei den Surrogatvorstellungen eine hohe Bedeutung gewinnen. Auch diese interessante Erfindung gerieth in der Folgezeit in Vergessenheit, so dass Maria Theresia v. Paradies und ihre Lehrer sich des Verdienstes r\u00fchmen zu k\u00f6nnen glaubten, zum ersten Mal den Versuch gemacht zu haben, eine eigentliche Blindenschrift einzuf\u00fchren. Der von Maria Theresia v. Paradies zuerst benutzte Apparat ist offenbar nach dem Vorbild der noch heute beim ersten Leseunterricht in den Schulen der Sehenden angewendeten Lesetafeln construirt. In eine durch Querleisten in einzelne Felder getrennte Papptafel wurden viereckige Karten eingeschoben, die in erhabener Pr\u00e4gung die Buchstaben des Alphabets enthielten, und durch deren Combination sehr einfach W\u00f6rter und S\u00e4tze dargestellt werden konnten.\n1) H. W. Rotermund, Nachrichten von einigen Blindgeborenen oder in der zarten Jugend des Gesichts Beraubten, Bremen 1815. Ganz unabh\u00e4ngig von V. brachten sp\u00e4ter zwei in der Edinburger Anstalt erzogene Blinde die Bindfadenschrift in Anwendung. (Dufau, Essai sur l\u2019\u00e9tat physique, moral et intellectuel des aveugles-n\u00e9s, Paris 1837, S. 137.) Auf einem \u00e4hnlichen Princip beruht die von dem blinden Violinspieler Dumas in Bordeaux verwendete Notenschrift, doch gebrauchte dieser statt einfacher Knoten Korkst\u00fcckchen, kleine M\u00fcnzen und gezackte Lederstreifen, die er nach Art eines Rosenkranzes an Schn\u00fcren aufreihtc-(Guilli\u00e9, a. a. O. S. 167.)","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-l\u2019sychologie.\n443\nDer mit der Paradies befreundete N. Weiss en bur g benutzte \u00fcberdies zum Verkehr mit Sehenden eine andere Vorrichtung. Die Querleisten auf der von ihm angewendeten Schreibtafel waren nicht festgeleimt, sondern zwischen den Leisten und der Tafel befand sich ein enger Spalt, welcher das Einschieben eines Blattes erm\u00f6glichte, das oben und unten mit einem Stift befestigt wurde, so dass eine Verschiebung des Papiers w\u00e4hrend des Schreibens nicht m\u00f6glich war. In dieser Vorrichtung schrieb Weissenburg mit einem abf\u00e4rbenden Stift nach Art der Sehenden. Die Querleisten begrenzten die H\u00f6he der Buchstaben und fixirten die Richtung des Schreibens. Ferner benutzte er die Zeichen des Antiquaalphabets, bei dem die Rundungen durch eckige Linien ersetzt waren.\nHau y machte seine ersten Lehrversuche an Blinden mit der Par a di es\u2019sehen Sehreib-Lesetafel. Da sich jedoch bald die Noth-wendigkeit herausstellte, Lese- und Lehrb\u00fccher f\u00fcr Blinde zu schaffen, so sah sich Hauy veranlasst, die Drucke zun\u00e4chst auf Metallplatten zu stanzen und diese dann in einer Presse auf feuchtem Papier abzuziehen, wodurch die M\u00f6glichkeit erzielt wurde, mehrere Exemplare desselben Buches mit Leichtigkeit herzustellen1). Im Uebrigen behielt Hauy die von Paradies und Weissenburg angegebenen Behelfe bei.\nKlein2) entfernte sich bald von der Paradies\u2019sehen Schreibmethode. Die Nachtheile derselben lagen auf der Hand: da die einzelnen Schriftzeichen durch gro\u00dfe Entfernungen getrennt waren, so kamen die Blinden nie \u00fcber das Buchstabiren hinaus. Die Zusammensetzung der Buchstabenk\u00e4rtchen erforderte ferner so viel Zeit, dass die meisten Blinden auf die Anfertigung einer tastbaren Schrift \u00fcberhaupt verzichteten. Dazu kam noch, dass die fabriksm\u00e4\u00dfig hergestellten B\u00fccher denselben Inhalt auf die H\u00e4lfte des Raumes zusammendr\u00e4ngten. Klein construirte nun einen Schreibapparat nach dem Vorbild der in den Buchdruckereien \u00fcblichen Setzk\u00e4sten.\n1)\tEine analoge Vorrichtung wird gegenw\u00e4rtig zur fabriksm\u00e4\u00dfigen Herstellung von Brailleb\u00fcchem verwendet. Die Metallplatten k\u00f6nnen in ganz derselben Weise bedruckt werden, wie das Papier in der Armitage\u2019schen Schreibtafel, nur wird der Griffel nicht mit der Hand, sondern durch eine Hebelvorrichtung mittelst der F\u00fc\u00dfe in einer schweren Metallf\u00fchrung auf die Platte gedr\u00fcckt.\n2)\tKlein gr\u00fcndete im Jahre 1804 die erste deutsche Blindenanstalt in Wien.","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nTheodor Heller.\nDie verwendeten Bleilettern enthielten an ihrem unteren Ende Combinationen von Nadeln, die eng aneinander gef\u00fcgt Formen der Buchstaben darstellten. Das Schreiben erfolgte in der Weise, dass die Lettern in das Papier eingesetzt wurden, welches sich auf einer Filzunterlage befand und mit einem von Querst\u00e4ben durchsetzten Rahmen bedeckt werden konnte. Aus rein technischen Gr\u00fcnden war Klein demnach gezwungen, die continuirlichen Striche der Hau y\u2019sehen Schrift durch Punktdistanzen zu ersetzen.\nIn der Pariser Blindenanstalt konnte man sich wegen der Kostspieligkeit des Klein\u2019sehen Schreibapparates nicht ohne weiteres zu dessen Einf\u00fchrung entschlie\u00dfen. Es wurden daher die blinden Elementarlehrer dieser Anstalt, Louis Braille und Charles Barbier, damit beauftragt, die Brauchbarkeit der neuen Schreibvorrichtung zu erproben und vor allem nachzusehen, ob die Vortheile derselben nicht auch durch einen minder kostspieligen Apparat erreicht werden k\u00f6nnten. Der erste Schritt, welchen die beiden Lehrer zur Vereinfachung der Blindenschrift unternahmen, war der, dass sie unter allen jenen Schriftarten, die Klein zur Einf\u00fchrung in die Blindenanstalten empfohlen hatte, blo\u00df die Antiquaschrift beibehielten und den Zeichen derselben \u00fcberdies noch die einfachste Form zu geben bestrebt waren. Weiterhin ergab ein Vergleich der Ha uy\u2019sehen Strich- und der Kl ein\u2019sehen Punktbuchstaben, dass die letzteren dem Leser bedeutend weniger Schwierigkeiten bereiteten als die ersteren. Klein hatte die einzelnen Punkte dicht neben einander gereiht; die Bed\u00fcrfnisse des Lesens f\u00fchrten nun Barbier dazu, die Punkte weiter von einander zu entfernen, und so kam er schlie\u00dflich auf den Einfall, blo\u00df die charakteristischen Endpunkte der Zeichen beizubehalten, die unwesentlichen Mittelpunkte wegzulassen. In dieser neuen Gestalt sahen nun die Buchstaben des Antiquaalphabets derart ver\u00e4ndert aus, dass der Gedanke nahe lag, die eonventionellen Zeichen \u00fcberhaupt zu entfernen und dieselben durch eine Anordnung von Punkten zu ersetzen, die den Bed\u00fcrfnissen der Blinden vollkommen entsprach. Diese neue Aufgabe \u00fcbernahm Louis Braille1). Er legte seinem Schrift-\n1) Ueber den Fortgang dieser Arbeiten erstattete der damalige Director der Pariser Blindenanstalt P. A. Dufau in den Jahren 1820, 1823 und 1830 Berichte an die Pariser Akademie der Wissenschaften. (Dufau, a. a. O. S. 134.)","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n445\nsystem zun\u00e4chst die Achtzahl der Punkte zu Grunde, alsbald erkannte er jedoch, dass sich schon aus sechs Punkten alle m\u00f6glichen Zeichen der Buchstaben- und Notenschrift combiniren lassen.\nDie Grundlage des Systems bilden die ersten zehn Sehrift-zeichen des Alphabets von A bis J (1. Gruppe). Der untere linke Punkt zu jedem dieser Zeichen hinzugesetzt, gibt die folgenden Buchstaben if bis T (2. Gruppe). Die beiden untersten Punkte mit den f\u00fcnf ersten Grundzeichen verbunden geben die \u00fcbrigen Buchstaben U bis Z (3. Gruppe), die noch \u00fcbrigen Zeichen derselben Gruppe, sowie die Zeichen der 4. Gruppe, gebildet durch die Hinzuf\u00fcgung des untersten rechten Punktes, sind speciell f\u00fcr die franz\u00f6sische Sprache zur Bezeichnung der ver\u00e4nderten Vocale und des \u00e7 und W bestimmt. Als Interpunctionszeichen dienen abermals die zehn Grundzeichen, aber eine Linie tiefer gesetzt (5. Gruppe). In\nunver\u00e4nderter Stellung, aber mit Vorgesetztem Zifferzeichen j \u2022 j bedeuten dieselben die zehn Ziffern (6. Gruppe).\n1. Gruppe. A\tB :\tC\"\tD'\\\tE *\nF\\\u2018\tG : :\tH\\.\t1 .*\ty-\n2. Gruppe. K' \u2022\tL : \u2022\tM\" \u2022\tN'\\ \u2022\tO'\npy \u2022\t\u00df\u201d \u2022\tR \u2022\ts y \u2022\tT.\n3. Gruppe. U' \u2022 \u2022\tv\\ \u2022 \u2022\tX\" \u2022 \u2022\tV : \u2022 \u2022\tz;\n\u00c7\t\u00c9w\t\u00c0:.\t\u00c8 y\t\u00fc.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nTheodor Heller.\n4. Gruppe.\t\t\t\nA A* \u2022\tA\tA E\\\tI \" \u2022 \u2022\tA o *: \u2022\t\u00db \u2018\n\u00cbV \u2022\t/ ::\t\u00fc\\. \u2022 \u2022\t\u0152. ' \u2022\tw.\n) \u2022\t> -\tI * \u2022 \u2022 \u2022\t\u00d4 * \u2022 \u2022\t\u00c6 \u2022\n5. Gruppe.\tInterpuncti\ton:\t\n) *\t\u2022 \u2022 \u2022\t\u2022 \u2022 \u2022 \u2022\t2 \u2022 \u2022\nr \u2022 \u2022 \u2022 .\tC ) \u2022 \u2022\t\u2022 \\y . .\t>> . .\t* . \u2022\tC C \u2022\n\t\u2022 Zifferzeichen \u2022 \u2022 \u25a0\t\t\n6. Gruppe.\tZiffern:\t\t\n1 '\ti>:\t3\u2022\u2022\t\t5\\\n6V\t7::\ts:.\t9 . *\t0.\nAlle diese Zeichen liegen in einer und derselben geometrischen\nGrundform\t\u2022 j. Braille hat sein Schriftsystem fernerhin in sehr\neinfacher Weise f\u00fcr die Notenschrift dienstbar gemacht. Die sieben T\u00f6ne innerhalb einer Octave sind durch die Buchstaben von D bis K symbolisirt. Die anderen Buchstaben werden zur Bezeichnung der Tonart, des Taktes, des Notenwerthes und schlie\u00dflich als Octav-zeichen in mannigfacher Combination benutzt1).\n1) Louis Braille, Nouveau proc\u00e9d\u00e9 pour repr\u00e9senter par des points la forme m\u00eame des lettres. Paris 1839.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n447\nDer von Braille construite Schreibapparat, der mit der Gr\u00f6\u00dfe der sp\u00e4ter zu besprechenden Heb old-Tafel \u00fcbereinstimmt, hat eine Breite von 21,5, eine H\u00f6he von 25,5 cm. Der untere Theil desselben ist von einer Blechtafel gebildet, die in einer Entfernung von 2 mm von scharfen Rinnen durchzogen ist. Auf erstere passt ein Rahmen, welcher in regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden beiderseits L\u00f6cher tr\u00e4gt, bestimmt zur Aufnahme des einfachen Lineals, dessen rechteckige Ausnehmungen der Grundform des Alphabets entsprechen und zu diesem Zwecke noch in der Mitte der Seitenkanten mit Einkerbungen versehen sind.\nDas zum Beschreiben bestimmte Blatt wird zwischen Rahmen und Tafel eingeklemmt, das Schreiben erfolgt mit einem stumpfen Metallstift, der das Papier an den entsprechenden Stellen vertieft. Die M\u00e4ngel dieses Apparates, welche sich namentlich in den verschwommenen Punkten \u00e4u\u00dfern, die stets der Breite nach auseinander flie\u00dfen, dann in der zeitraubenden Handhabung des Lineals, das immer abgehoben und nach Aufsuchung der n\u00e4chsten Befestigungspunkte wieder eingesetzt werden muss, haben zu einer Verbesserung gef\u00fchrt, welche wir Herrn Dr. Armitage in London verdanken. Zur Anfertigung der Brailleschrift bedient man sich jetzt eines durch einen Stift verbundenen Doppellineals, dessen unterer Theil in regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden die der Grundform angepassten vertieften Punktgruppen enth\u00e4lt, denen im oberen Lineal wieder mit schwachen Einkerbungen versehene Ausnehmungen entsprechen (Fig. 1). Dieses Doppellineal tr\u00e4gt an der Unterseite zwei Zapfen, die in regelm\u00e4\u00dfig von einander entfernten L\u00fccken zu beiden Seiten der Tafel eingesetzt werden\nFig. 1. Doppellineal (offen). a Obertheil mit rechteckigen Ausnehmungen, b Untertheil mit vertieften Punktgruppen, c einzelne Ausnehmung, d einzelne Punktgruppe.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nTheodor Heller.\nk\u00f6nnen. Das Papier wird am oberen Rande der Tafel durch eine Klappe befestigt und zwischen den beiden Theilen des Doppellineals eingeklemmt. Die Breite des Lineals \u00fcberragt die der Tafel beiderseits um 2 cm, die letztere hat eine Breite von 25,5, eine H\u00f6he von 35 cm, die H\u00f6he des Lineals betr\u00e4gt 3 cm. Ein Lineal enth\u00e4lt in zwei Reihen je 35 L\u00f6cher, die Reihen sind durch einen Zwischenspalt von 1 cm getrennt. Jede L\u00fccke des Lineals ist 3 mm breit, 7 mm hoch, das Lineal kann neunmal angelegt, es k\u00f6nnen 18 Zeilen geschrieben werden. Bei der Verschiebung braucht der Schluss des Doppellineals nicht gel\u00f6st zu werden. Durch eine einfache Vorrichtung ist es m\u00f6glich, das Blatt auf beiden Seiten zu beschreiben, ohne dass die Drucke in einander flie\u00dfen (Fig. 2).\nDurch Braille's Erfindung war dem Blinden eine Schrift geboten, welche durch die Verwendung punktf\u00f6rmiger Reize und einer der simultanen Auffassung g\u00fcnstigen Anordnung der Punkte den Verh\u00e4ltnissen des Tastsinnes in vollkommenster Weise Rechnung trug. Der wahre Werth dieses Schriftsystems wurde aber in der Folgezeit durchaus nicht erkannt: im besten Falle sah man in demselben eine Art Stenographie, welche neben der \u00fcblichen Schreibmethode von dem Blinden nach freier Wahl erlernt werden konnte. Dennoch gab die Erfindung Braille\u2019s zur Combination einiger neuer Schriftarten Veranlassung, die eine mittlere Stellung zwischen der Braille- und Kleinschrift einnehmen. F\u00fcr alle diese wurde geltend gemacht, dass sie sich in der Praxis des Blindenunter-richts aufs beste bew\u00e4hrt h\u00e4tten. Diesen neuen Schriftsystemen ist die Tendenz eigenth\u00fcmlich, die verwickelteren Zeichen auf einige einfache Grundformen zur\u00fcckzuf\u00fchren. In diesem Sinne wurde zun\u00e4chst die Kleinschrift einer Revision unterzogen. Ent-\n\to\to fpSHESf!\ta\n\t0\tIo 0 ol\to\t\n\t\"\t\u2018\u2014u\u2014\t\no\t\to\no\t\t0\n,-\u00a3l-\t\t-2-\no\t\tO\no\t\to\n0\t\to\no\t\to\no\t\to\no\t\t0\nc\t\tc\nFig. 2. Verbesserter Braille-Apparat. a Klapp Vorrichtung zur Aufnahme des Papiers (offen), b Doppellineal, c L\u00f6cherreihe zur Aufnahme des Doppellineals.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n449\nsprechend den Buchstaben J) L, V, 0, C, P nahm man f\u00fcr dieselbe sechs geometrische \u00bbGrundformeln\u00ab an, und zwar a) die senkrechte Linie, b) den rechten Winkel, c) den spitzen Winkel, d) den Kreis, e) den Halbkreis, f) den Henkel. Demzufolge ergaben sich f\u00fcr die Klein\u2019sche Schrift die folgenden ver\u00e4nderten Zeichen:\n1\tJ\tL\tF E\tT E\nFig. 3.')\nNoch tiefer greifende Ver\u00e4nderungen hat Moon durchgef\u00fchrt. Sieben Buchstaben des lateinischen Alphabets behielt derselbe als Grundformeln unver\u00e4ndert bei: I, J, L, V, C, U, O (Gruppe 1). \u2014 A,N,Z (Gruppe 2) sind nur wenig und nicht bis zur Unkenntlichkeit ver\u00e4ndert; I), JE, K] T, X, R, B, F, G, M. S (Gruppe 3) bestehen nur aus Theilen der gleichnamigen Buchstaben des gro\u00dfen oder kleinen Alphabets; H, P, Q, W, Y (Gruppe 4) haben schlie\u00dflich ganz fremdartige Formen:\n1) Die den einzelnen Gruppen Vorgesetzten Buchstaben beziehen sich auf die oben angegebenen Grundformeln. Vergleiche: Bericht des Dresdener Blinden-lehrer-Congresses 1876, S. 38, ferner die dem Berichte beigegebene Beilage 1A.\u2014 Die Mitte zwischen der also ver\u00e4nderten Klcinschrift und der im Folgenden beschriebenen Moon\u2019schen Blindenschrift h\u00e4lt das von dem Buchdrucker James Gall in Edinburg erfundene Triangularsystem. (Vgl. Pablasek, Die F\u00fcrsorge f\u00fcr die Blinden, Wien 1867, S. 320.)","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nTheodor Heller.\nI\tJ\tZ\tV\tc\tU 0\t\nGruppe. 1.\t|\tJ\tL v\tC\tw O\t\nA N\tz\t\t\t\nGruppe. 2.\t|\\J\tT\t\t\t\nD E\tK\t1\tX\tR B\tF G M\tS\nGroppe 3.\t|\u201c\tK T\tX\tK b\tf a nix\nH P\tQ w\tY\t\t\nGroppe\tQ f\t.\t\u2022> A\tJ\t\t\n\tInter\tpunction:\t\t\n\t?\t? >\t\t(\u25a0\t)\n\u25a0 \u2022\t\t\u2022\t\u2022 \u2022\t\u2022 \u2022 \u2022 \u2022 \u2022 \u2022\n\tZ]\tffern:\t\t\n12\t3\t\u00ab\ts\t\tG\t7\t8\t9\t0\nl \\ \\\tJ L\t\tr\t\\ \\ o\nDie Beobachtung, dass die Blinden beim Lesen dann, wenn sie das rechte Ende der Zeilen erreicht haben, mit der Hand wieder an den Anfang der n\u00e4chsten zur\u00fcckkehren m\u00fcssen, brachte Moon auf den sonderbaren Einfall, die Hand des Blinden auch bei der R\u00fcckkehr zu besch\u00e4ftigen. Demnach sollten die Zeilen abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links gelesen werden. Weiterhin ergab sich f\u00fcr das Zur\u00fccklesen die Modification, dass die Buchstaben die Spiegelbilder der rechtsl\u00e4ufig gelesenen Zeichen darstellten. Auf diese Weise wurde aber die Verwechslung der","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n451\neinzelnen Schriftzeichen geradezu herausgefordert, was leicht aus den folgenden Zeichen zu entnehmen ist:\n{\u00a3)\tr <\u2014\u00ab\u00ab = yfc\u2014\tn\tm\n(K)\tK.\t<\u2014\u00abK = M\u2014>\u25a0\t>\t(-V)\tu. s. w.1\n(L)\tL <\u2014=.\t\u2014>-\tj\tw\nTrotz der unverkennbaren M\u00e4ngel dieser Schrift fand dieselbe dennoch in England weite Verbreitung und verdr\u00e4ngte alsbald das vorher meistens angewendete Alston\u2019sche und das Lucas\u2019sche System das sich in sehr eigenth\u00fcmlicher Weise aus Punkten und Strichen zusammensetzte. Gerade von England ging aber um die Mitte der sechziger Jahre die Reception der Brailleschrift aus. Der Londoner Arzt Dr. Armitage hatte um diese Zeit das Ungl\u00fcck sein Augenlicht nahezu vollst\u00e4ndig einzub\u00fc\u00dfen, und er sah sich deshalb veranlasst, eine der gebr\u00e4uchlichen Blindenschriften zu erlernen. Da er alsbald das Ungen\u00fcgende der herrschenden Schriftsysteme erkannte, so wandte er seine Aufmerksamkeit der \u00e4lteren Blindenschrift, namentlich der halbvergessenen Brailleschrift zu. Nachdem er f\u00fcr dieselbe den schon fr\u00fcher beschriebenen sehr brauchbaren Schreibapparat 2) construit hatte, suchte er der Br aille'sehen Punktschrift in den englischen Blindenanstalten Eingang zu verschaffen, was ihm, allerdings nicht ohne M\u00fche, schlie\u00dflich gelang. Aber auch in Deutschland und Oesterreich gab er Veranlassung, auf die Brailleschrift zur\u00fcckzukommen. Bevor man sich dort jedoch zur r\u00fcckhaltslosen Annahme derselben entschlie\u00dfen konnte, wurde eine Reihe angeblicher Verbesserungen vorgenommen, deren praktische Erprobung schlie\u00dflich zur unver\u00e4nderten Annahme des Braillesystems f\u00fchrte. So schlugen die deutschen Blindenp\u00e4dagogen 1876 vor, nicht den ersten Buchstaben des Alphabets die einfachsten Formen zu geben, sondern den am h\u00e4ufigsten angewendeten, und auf diese Weise ein der modernen Stenographie entsprechendes System zu entwerfen. Demnach ergab sich die folgende ver\u00e4nderte Anordnung der Schriftzeichen :\n1) Dresdener Congressbericht S. 42 f. Wundt, Philos. Studien. XI.\n2) S. 447 f.\n30","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nTheodor Heller.\ne\tn\tr\ti\ta\tt\td\tb\tu\n\u2022\t*\t*\t*\t\t\t\t\t\n\u2022\t\t\t\t\t\t\t\t\n0\ts\t/\ts\t~h\tk\tm\tP\tl\n\t\u2022\t\t\t\t\t\t\t\t\t\nV\tz\tc\tX\ty\tW\tei\tae\tau\n\n\t\u2022\u2014\t\u2014\u2022\t\t\t\t\t9\t\nue\teu\toe\tqu\tst\tsch\tch\n\t\t\t\t\t\t\t\t\n1\t\t:\ty\t?\t!\t?\t=\t(...)\n\t\t\t\t\t\t\t\t\n\t\t\t\t\t\t\t\t\nVernichtungszeichen Zifferzeichen\tO 1\n-------------\u00ab--------\u2022 --------\u2022-----\u2022----------------\u2022\u2019---------------\n----------------\u2022-------\u2022------------------------------\u2022----------------1\\\n--------.---------------------,------\u2022-------\u2022-------\u2022----------------;\n2\t3\t4\t5\t6\t7\t8\t9\nEine weitere Verbesserung hat Pablasek vorgeschlagen. Da die Buchstaben vertieft geschrieben werden, so ist beim Schreiben derselben das Rechts und Links naturgem\u00e4\u00df vertauscht, und es bereitet vielen Blinden im Anfang nicht unerhebliche Schwierigkeiten, die erforderliche Um\u00e4nderung von der Lese- in die Schreibform in der entsprechenden Weise vorzunehmen. So werden z. B. D und F, R und W h\u00e4ufig verschrieben, und bei weniger begabten Blinden, welche die Umdeutung der Buchstaben im Sinne der Spiegelschrift nicht auszuf\u00fchren im Stande sind, ist es oft n\u00f6thig, die Schriftzei-chen f\u00fcr das Schreiben besonders einzu\u00fcben, so dass sich die betreffenden Blinden von demselben Buchstaben zwei Symbole, ein\n1) Dresdener Congressbericht S. 56. Dieser Vorschlag, der gewiss von praktischer Bedeutung ist, konnte nicht durchdringen, weil die urspr\u00fcngliche Anordnung des Braille-Alphabets durch die in Deutschland verbreiteten englischen und franz\u00f6sischen B\u00fccher bereits allgemein Eingang gefunden hatte.","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n453\nSchreib- und ein Lesesymbol, einpr\u00e4gen m\u00fcssen. Um das Einheitliche des Schreibens und Lesens bei allen Blinden zu erm\u00f6glichen, hat Pablasek versucht, statt der vertieften Punkte im unteren Lineal des Schreibapparates erh\u00f6hte zu verwenden und hief\u00fcr den Griffel mit einer Concavit\u00e4t zu versehen. Die Schwierigkeit, welche das Aufsetzen des Griffels auf die erhabenen Punkte verursacht, l\u00e4sst jedoch diese Aenderung gerade f\u00fcr die minder bef\u00e4higten Blinden, f\u00fcr welche diese Erfindung zun\u00e4chst berechnet war, nicht em-pfehlenswerth erscheinen.\nDie Beobachtung, dass die Blinden den Lesefinger beim Lesen der Brailleschrift in gerader Linie weiterbewegen, f\u00fchrte den Amerikaner Will. B. Wait1) dazu, die Grundform des Alphabets derart zu ver\u00e4ndern, dass dieselbe nicht mehr drei Reihen von Doppelpunkten, sondern zwei Reihen zu je drei nebeneinander befindlichen Punkten aufweist. So ergab sich die folgende Modification des Braillesystems, die gleichfalls den gebr\u00e4uchlichsten Buchstaben die einfachsten Zeichen verleiht, und \u00fcberdies f\u00fcr einzelne h\u00e4ufig vor-\nkommende W\u00f6rter besondere K\u00fcrzungen\t\t\teinf\u00fchrt :\t\nA:::\tB :::\tCw. D:\t:: E:\\:\tFr.\nG :::\tHw.\tIw. J\\\t:: K::\\\tLy.\nMw.\tNW.\t0:r P:\t:: Q:::\tR : :\nSw.\tTw.\tUw. V'. Y: : ; Z:\t:: TV::: \u2022 \u2022 \u2022 \u2022\tX::\nthW.\tsh ; :\t:\tchw.\twk : ; :\tou ; ;\ning\\ : :\tand'. \\\t:\tof : : :\tthat'. ; ;\tthe '. '.\nDie durch starke Punkte hervorgehobenen Symbole sind hier in die gemeinsame Grundform (* * *) eingetragen.\n1) Derzeit Director der Blindenanstalt in New-York. Eine Simultanauffassung dieser Zeichen ist nicht m\u00f6glich, weil die Breite derselben dem Tastfinger nicht angepasst ist.\n30*","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nTheodor Heller.\nDie Praxis des Blindenunterrichts hat nun alle diese Verbesserungen abgelehnt und sich f\u00fcr die unver\u00e4nderte Beibehaltung der urspr\u00fcnglichen Br ai Ile\u2019sehen Symbole mit geringen Verschiebungen, wie sie die verschiedenen Sprachen erforderlich machen, endg\u00fcltig entschieden. Neuerer Zeit tritt das Bestreben hervor, dem Blinden eine Kurzschrift zu erm\u00f6glichen, indem durch Verwendung des phonetischen Princips und durch Einf\u00fchrung von Abbreviaturen f\u00fcr die gebr\u00e4uchlichsten Worte eine Zusammen-dr\u00e4ngung des Inhalts auf einen geringeren Raum herbeigef\u00fchrt werden soll. Eine endg\u00fcltige Entscheidung \u00fcber die Fragen der Kurzschrift bleibt noch der Zukunft Vorbehalten.\nDa f\u00fcr den Verkehr der Blinden mit Sehenden sich die Klein\u2019sche Schrift als nicht v\u00f6llig ausreichend erweist, so hat man in den franz\u00f6sischen Blindenanstalten das von Wei\u00dfenburg angewendete Verfahren beibehalten. In den deutschen Blindenanstalten findet jedoch zumeist die von dem Blindenlehrer Hebold '} vervollkommnte Schreibtafel Anwendung.\nDie zur Befestigung des Papiers dienende Holztafel ist hier von einer Metallfassung umgeben, in deren zu beiden Seiten befindlichen L\u00fccken die Forts\u00e4tze des Lineals eingreifen k\u00f6nnen, das in regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden 24 bis 44 rechteckige Ausnehmungen enth\u00e4lt. Die Seiten der Ausnehmungen sind wieder durch Einkerbungen genau in die H\u00e4lften getheilt, und diese bieten dem Griffel, der sich nicht den Kanten entlang bewegt, Ansatzpunkte. Auf diese Weise k\u00f6nnen 26 Zeilen geschrieben werden, die Anzahl der Zeilen verdoppelt sich jedoch bei den kleinsten Buchstaben, bei deren Anwendung das Blechlineal das Schreiben zweier Zeilen ohne Verschiebung erm\u00f6glicht. Da das HeboldschTeiben nur bei m\u00f6glichster Ausnutzung des Raumes gegen\u00fcber der Kleinschrift bemerkenswerthe Vortheile bietet, den meisten Blinden aber die Anfertigung kleiner Buchstaben sehr erhebliche Schwierigkeiten bereitet, die sich darin \u00e4u\u00dfern, dass die Schrift f\u00fcr Sehende kaum lesbar wird, so d\u00fcrfte die neuerdings geplante Einf\u00fchrung der Schreibmaschinen mit Klaviatur die schwerf\u00e4llige Heboldschrift wohl bald aus den Blindenschulen verdr\u00e4ngen, um so mehr, als hierdurch dem Blinden neue,\n1) E. Hebold, Schreibschule f\u00fcr Blinde, Berlin 1859.","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n455\nnamentlich wissenschaftliche Berufskreise er\u00f6ffnet werden k\u00f6nnen, welche ihm bis jetzt wegen der ungen\u00fcgenden Mittel zum schriftlichen Verkehr mit Sehenden verschlossen bleiben mussten.\nDa weder die Klein- noch die Brailleschrift dem Blinden das ziffernm\u00e4\u00dfige Rechnen erm\u00f6glichen, so sah man sich veranlasst, hierf\u00fcr besondere Schreibapparate zu construiren. Mit H\u00fclfe derselben wird h\u00e4ufig der Rechenunterricht in analoger Weise ertheilt wie in den Elementarschulen der Sehenden. Den meisten Blinden bietet aber die ziffernm\u00e4\u00dfige Darstellung der Rechenoperationen keine Erleichterung, sondern eher eine Erschwerung ihrer Aufgabe. Herr Dr. Meyer in Berlin hat sich ohne die Anwendung irgend eines Rechenapparates die schwierigsten Capitel der Mathematik zu eigen gemacht. Den minder begabten Blinden bieten derartige Behelfe gleichfalls keine besonderen Vortheile, da die technischen Schwierigkeiten derselben die Aufmerksamkeit der Sch\u00fcler von ihren eigentlichen Aufgaben ablenken. Demnach d\u00fcrfte in den Blindenschulen auf das Kopfrechnen das Schwergewicht zu verlegen sein und dem ziffernm\u00e4\u00dfigen Rechnen nur eine untergeordnete Bedeutung zukommen.\nDer erste Rechenapparat f\u00fcr Blinde, welcher nur mehr ein historisches Interesse hat, stammt von dem bekannten blinden Mathematiker Saunderson'). Ein ziemlich gro\u00dfer Kasten war durch L\u00e4ngs- und Querleisten in einzelne F\u00e4cher getheilt, in welche Holzpfl\u00f6ckchen geschoben werden konnten, die an ihrem oberen Ende die tastbar dargestellten Zahlzeichen enthielten. Auf diese Weise war eine wechselnde Neben- und Untereinanderreihung der Ziffern und somit eine mathematische Schreibweise m\u00f6glich. Diesen Rechenapparat behielt, allerdings in verkleinertem Ma\u00dfe, die \u00e4ltere Blindenp\u00e4dagogik Jahrzehnte lang in Gebrauch. Die von Lachmann 1857 erfundene Rechentafel stellt eine Combination des Saun der so n\u2019sehen Apparates mit einem der Brailleschrift verwandten Punktsystem dar1 2). Auch diese erm\u00f6glichte eine mathematische Schreibweise nach Art der Sehenden, diente aber \u00fcberdies noch der\n1)\tEine Abbildung desselben findet sich in Klein, Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden, Wien 1819, Beilage I.\n2)\tLachmann, Die Blindentafel und die ektypographische Punktschrift, Braunschweig 1857, S. 21 ff.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nTheodor Heller.\neinfachen geometrischen Anschauung. Lachmann verwendete eine Metallplatte, die in regelm\u00e4\u00dfigen kleinen Abst\u00e4nden Vertiefungen enthielt, in welche Nadeln in verschiedener Gruppirung eingesetzt werden konnten. Je neun Punkte bildeten ein \u00bbZeichenfeld\u00ab, und durch mannigfache Zusammensetzungen der Nadeln innerhalb dieser Felder ergaben sich die verschiedenen Buchstaben- und Zahlensymbole. Zur Erleichterung der Orientirung wurde in der Mitte dieses quadratischen Feldes, das wieder durch die Punkte in vier kleinere Quadrate zerf\u00e4llt, eine Nadel mit gr\u00f6\u00dferem Kopfe als \u00bbOrientirungs-knopf\u00ab angebracht, welche ohne Hinzuf\u00fcgung anderer Nadeln Null bedeutet. Viel brauchbarer und einfacher ist die von Armitage erfundene Rechenschrift. Die von ihm verwendete Platte enth\u00e4lt in Abst\u00e4nden von 1 cm regelm\u00e4\u00dfige achteckige L\u00fccken, in welche kleine viereckige Lettern in wechselnder Stellung eingesetzt werden k\u00f6nnen, die an ihrem oberen Ende mit einem horizontalen Strich, an ihrem unteren mit zwei Punkten versehen sind. In verschiedener Richtung bedeuten dieselben die verschiedenen mathematischen Symbole.\nVon all\u2019 den Systemen, welche Blinde und Blindenfreunde f\u00fcr die Zwecke des Unterrichtes ersannen, haben nur zwei den Wechsel der Zeiten \u00fcberdauert. Der schwerf\u00e4llige Kl ein\u2019sehe Stacheltypenapparat bildet noch immer ein Inventarst\u00fcck der Blindenanstalten, und in den ersten Jahren seiner Ausbildung bleibt der Sch\u00fcler fast ausschlie\u00dflich auf denselben beschr\u00e4nkt, um erst dann, wenn ihm die Antiquaschrift hinl\u00e4nglich gel\u00e4ufig ist, mit der Brailleschrift bekannt gemacht zu werden. Es ist nun allerdings kaum einzusehen, warum auf die Erlernung der erstgenannten Schrift in der Regel ein so hoher Werth gelegt wird, dass die betreffenden Schreibe-und Lese\u00fcbungen die meiste Zeit des elementaren Blindenunterrichtes beanspruchen ; verwendet doch der Blinde, wenn er sich das Braillesystem in wenigen Stunden zu eigen gemacht hat, die Kl ein-sehe Schrift nur gezwungen und ungern. Ich kenne eine Anzahl von Blinden, welche, in der Brailleschrift sehr ge\u00fcbt, die Kleinschrift kaum mehr zu lesen im Stande sind. Doch w\u00fcrde es zu weit f\u00fchren, auf diese speciellen Fragen der Blindenp\u00e4dagogik hier n\u00e4her einzugehen. Der Praxis des Blindenunterrichtes muss die Entscheidung \u00fcberlassen werden, ob noch heute, da die Maschinenschrift dem","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n457\nBlinden ein neues g\u00fcnstiges Verkehrsmittel mit den Sehenden bietet, die Nothwendigkeit besteht, die Klein\u2019sehe Schrift im selben Umfange zu \u00fcben wie in fr\u00fcheren Zeiten.\n5. Das Lesen der Blindenschrift.\nBeim Lesen der Blindenschrift ist blo\u00df der Zeigefinger betheiligt. Wenn auch durch die eigenth\u00fcmliche Fingerstellung bei manchem Blinden der Schein entsteht, als ob sich auch die anderen Finger bei der Auffassung der Schriftzeichen betheiligten, so l\u00e4sst sich in diesen F\u00e4llen durch Ausschaltung des Lesefingers, wodurch der Zwang geschaffen wird, mit einem anderen z. B. dem Mittelfinger zu lesen, mit Sicherheit nachweisen, dass dieselben nur als St\u00fctzorgane fungiren. Da beim Lesen der vorgeschrittenen Blinden gro\u00dfe Verschiedenheiten Vorkommen, so wird es am zweckm\u00e4\u00dfigsten sein, zun\u00e4chst das Lesenlernen zu beobachten und dann erst nachzusehen, wie und aus welchen Gr\u00fcnden sich die Leseweisen der hinl\u00e4nglich ge\u00fcbten Blinden differenziren. Beim ersten Leseunterrichte kommt haupts\u00e4chlich die rechte Hand in Betracht. Diese f\u00fchrt die eigentlichen Lesebewegungen aus, w\u00e4hrend die linke Hand die Aufgabe \u00fcbernimmt, die Zeilen zu fixiren und der Rechten den Anfangspunkt ihrer Bewegung anzuweisen. Die Bewegungen, welche den Zweck haben, die Hand in der Leserichtung zu verschieben, erstrecken sich zun\u00e4chst auf den ganzen Arm. Sobald aber die schnellere Auffassung der Schriftzeichen nothwendig wird, beschr\u00e4nken sich diese Bewegungen blo\u00df auf den Unterarm, der sich um den festliegenden Ellbogen bewegt und einen Kreisbogen beschreibt, dessen Radius gleich ist der Verbindungslinie des Ellbogenst\u00fctzpunktes mit Anfang und Ende der Zeile, die in diesem Falle als Sehne eines Kreisbogens vom Radius des Unterarmes aufzufassen ist. Die horizontale Projection dieser Kreisbewegung erfolgt durch wechselnde Stellung des Lesefingers, der seine Streckung, wenn auch kaum merklich, in der Mitte der Zeile verringert, um dieselbe am Ende der Zeile wieder anzunehmen. Die Unterst\u00fctzung des Unterarmes beim Lesen hat offenbar den Zweck, den Lesefinger vollst\u00e4ndig zu entlasten und ihm die M\u00f6glichkeit zu geben, einen bestimmt regulirbaren Druck auf die Unterlage auszu\u00fcben. An der","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nTheodor Heller.\nUnterst\u00fctzung betheiligen sich auch die beim Lesen nicht in Betracht kommenden Finger, die gleichsam das Vehikel darstellen, auf welchem sich die Hand fortbewegt. Hat der Blinde die Zeichen zur Gen\u00fcge kennen gelernt, so nimmt nun auch die linke Hand am Lesen Theil. Diese liest aber weder so rasch noch so continuir-lich wie die rechte; man kann hierbei h\u00e4ufig beobachten, dass der Arm ruckweise seine Lage ver\u00e4ndert. Infolge der gr\u00f6\u00dferen Schwierigkeiten, die naturgem\u00e4\u00df der Bewegung der linken Hand entgegenstehen, eignet diese sich vorzugsweise zur Vornahme eines langsamen analysirenden Tastens, w\u00e4hrend die rechte Hand, welche rasch \u00fcber die Zeilen hingleitet, dem Blinden wenn auch nur fl\u00fcchtige Ge-sammtbilder der einzelnen Zeichen verschafft. Sowohl bez\u00fcglich des Tastens im allgemeinen, als auch der Verwendung der beiden Tastfinger beim Lesen zeigen sich bei den einzelnen Schriftarten wichtige Unterschiede, die wir im Folgenden des N\u00e4heren ber\u00fccksichtigen wollen.\na) Die KMn\u2019sche Schrift.\nKlein hatte sich nicht damit begn\u00fcgt, seinen Sch\u00fclern die tastbaren Antiquabuchstaben darzubieten. F\u00fcr gew\u00f6hnlich mussten die Blinden die Zeichen unserer gew\u00f6hnlichen Druckschrift lesen, und gerade diese Zumuthung beweist deutlich, wie wenig die erste Zeit der Blindenp\u00e4dagogik ihre Behelfe den Tastbed\u00fcrfnissen der Blinden entsprechend zu gestalten bestrebt war. Da die Blindenschrift durch Tastbewegungen gelesen wird, die blo\u00df in den Fingergelenken ausgef\u00fchrt werden, so m\u00fcssen hierbei die geradlinigen, besonders die verticalen Bewegungsrichtungen vor allen anderen bevorzugt wer4en. Aus diesem Grunde hat man wohl auch den Buchstaben der Klein-schen Schrift die jetzt allgemein eingef\u00fchrten schlanken Formen gegeben, sicherlich nicht darum, um dieselben, wie bisweilen behauptet worden ist, wohlgef\u00e4lliger zu gestalten. Aus der Nichtbeachtung der Bewegungsgesetze des Lesefingers ist auch der Irrthum Klein\u2019s und seiner Nachfolger hervorgegangen, dass die Zeichen um so leichter von Blinden aufgefasst werden k\u00f6nnten, je gr\u00f6\u00dfer sie seien. Die Gr\u00f6\u00dfe der Buchstaben muss den bei ruhender Hand ausf\u00fchrbaren Excursionen des Lesefingers entsprechen: auf rein praktischem Weg ist man gegenw\u00e4rtig zu einer dieser Anforderung ent-","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n459\nsprechenden Gr\u00f6\u00dfe der Schriftzeichen gelangt. Nichtsdestoweniger pflegt man gerade den ersten Leseversuchen Buchstaben von der Gr\u00f6\u00dfe unserer gebr\u00e4uchlichen Placatschrift zu Grunde zu legen und die Zeichen dann continuirlich zu verkleinern, bis man zu der normalen Schriftgr\u00f6\u00dfe gelangt ist. Wenn man auf diese Weise den p\u00e4dagogischen Grundsatz, dass stets vom Leichteren zum Schwereren \u00fcbergegangen werden solle, zu erf\u00fcllen hofft, so bleibt hier in der That die Frage offen, welche Zeichen dem Blinden die gr\u00f6\u00dferen Schwierigkeiten bereiten. Durch Excursionen des Fingers bei ruhender Hand sind, wie leicht zu zeigen, jene gro\u00dfen Buchstaben nicht abmessbar. Dennoch soll gerade an diesen die Lesestellung der Hand einge\u00fcbt werden. Es ist gewiss sehr misslich, dem Blinden gleich zu Beginn seines Unterrichtes Aufgaben zu stellen, die mit den Bedingungen des Fastens in keiner Weise \u00dcbereinkommen. Mehrere Blindenlehrer, die ich hier\u00fcber befragt habe, \u00fcberschlagen deshalb die in den Fibeln vorgedruckten gro\u00dfen Buchstaben und beginnen sofort erfolgreich mit dem normalen Antiquaalphabet.\nBei der Auffassung der Schriftzeichen lassen sich zwei Arten der Bewegung sehr deutlich unterscheiden. Die eine besteht in Beugungen und Streckungen, die im Interphalangealgelenk des Tastfingers ausgef\u00fchrt werden, die andere nach vollf\u00fchrter Beugung in eigenth\u00fcmlich zuckenden Progressivbewegungen. M\u00f6glicherweise hat die Beobachtung der letzteren Bewegungen, welche die continuir-lichen Linien in eine Aufeinanderfolge von Punkten aufzul\u00f6sen streben, Barbier dazu veranlasst, den Klein\u2019schen Punkt- vor den Hauy\u2019sehen Strichbuchstaben den Vorzug zu geben. Wozu dienen nun den Blinden die Beugungen und Streckungen, dann die Progressivbewegungen des Tastfingers? Auch hier treten uns jene wichtigen Beziehungen des synthetischen und analysirenden Tastens entgegen, die wir schon bei den allgemeinen Er\u00f6rterungen \u00fcber die Raum Vorstellung des Blinden kennen gelernt haben, diesmal aber in unverkennbarer Einfachheit und Deutlichkeit. Bei der Streckung des Fingers ber\u00fchrt die Volarseite des dritten Fingergliedes den ge-sammten Buchstaben. Hierdurch wird die Entwicklung eines schematischen Gesammtbildes erm\u00f6glicht, das zu seiner Verdeutlichung die nachfolgende Tastanalyse erfordert. Durch die zuckenden Tastbewegungen wird nun successive dieselbe engbegrenzte Hautstelle","page":459},{"file":"p0460.txt","language":"de","ocr_de":"460\nTheodor Heller.\nmit den Conturen des Buchstabens in Ber\u00fchrung gebracht. Es finden sich demnach hier jene beiden Componenten wieder, welche wir zur Entstehung einer pr\u00e4cisen Baumvorstellung als unbedingt nothwendig erkannt haben : die durch den Raumsinn der Haut extensiv geordneten Empfindungen und die zur Abmessung des Simultanbildes trefflich geeigneten blo\u00df intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen. Gerade an dem Beispiel des Lesens l\u00e4sst sich klar erweisen, dass den beiden obengenannten Factoren keine selbst\u00e4ndige Bedeutung zukommen kann, sondern dass dieselben gleicherma\u00dfen beitragen zur pr\u00e4cisen Vorstellung des Schriftzeichens. Man versuche es zun\u00e4chst mit dem Raumsinn der Haut. Fordert man einen selbst ge\u00fcbten Blinden auf, einen zusammenh\u00e4ngenden Text blo\u00df durch das Simultantasten zu entziffern, so stellt er fast unwillk\u00fcrlich den Finger steil und sucht die Buchstabenform auch durch das analysirende Tasten zu pr\u00e4cisiren. Wie intensiv das Verlangen nach der Tastanalyse wirksam ist, davon kann man sich leicht \u00fcberzeugen, wenn man das Interphalangealgelenk fest umschn\u00fcrt, eine Beugung also unm\u00f6glich macht. Wird der Blinde angewiesen, einen unbekannten Text nunmehr zu lesen, so ger\u00e4th alsbald nicht blo\u00df der Tastfinger in eine unruhig zuckende Bewegung, sondern diese erstreckt sich selbst auf die Hand, zum Schl\u00fcsse sogar auf den Unterarm des lesenden Blinden. Nur zwei einfache Buchstabenformen, I und 0, werden blo\u00df mit H\u00fclfe des Raumsinns der Haut wahrgenommen, alle anderen, wie die Versuchspersonen zugestehen, im g\u00fcnstigsten Falle errathen. Aber vielleicht gen\u00fcgt das analysirende Tasten allein f\u00fcr die ad\u00e4quate Auffassung der Schriftzeichen? Dann m\u00fcsste es als ein merkw\u00fcrdiger Luxus erscheinen, dass der Blinde das Simultanbild des Zeichens nicht verschm\u00e4ht, sondern durch den Wechsel der beiden Tastarten wenigstens im Anfang fortw\u00e4hrend auf das erstere zur\u00fcckzukommen strebt, ein Umstand der mit dem Gesetz der Kraftersparung, welches das Tasten des Blinden durchaus beherrscht, in einem unerkl\u00e4rlichen Widerspruch st\u00fcnde. Doch auf diese Thatsache werden wir sogleich Gelegenheit haben zur\u00fcckzukommen.\nSo wie die linke Hand ebenfalls in die Dienste des Lesens tritt, ist eine Arbeitstheilung zwischen beiden H\u00e4nden zu consta-tiren. Die nur zu langsamerem Fortschreiten bef\u00e4higte Linke \u00fcber-","page":460},{"file":"p0461.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n461\nnimmt die Analyse, die rasch bewegliche Rechte die Synthese. Die beiden Tastakte, welche im Anfang ein und derselbe Finger vorzunehmen hatte, vertheilen sich nunmehr auf die rechte und linke Hand. Doch ist die Arbeitstheilung keine ganz strenge: nach den jeweiligen Bed\u00fcrfnissen geht die Tastanalyse zuweilen in die Synthese, die Synthese in die Analyse \u00fcber. Wenn wir nun einen im Lesen der Kleinschrift sehr ge\u00fcbten Blinden beobachten, so zeigt sich, dass h\u00e4ufig eine Gleichartigkeit des Tastens beider H\u00e4nde besteht. Die Tastanalyse wird in \u00fcbereinstimmender Weise zur Auffassung der Buchstabenformen benutzt. Dies k\u00f6nnte nun auf den ersten Anschein als Zeugniss gegen unsere oben aufgestellte Behauptung gelten. Aber es ist wohl zu beachten, dass die ausschlie\u00dfliche Verwendung des analysirenden Tastens den Abschluss einer Entwicklung bedeutet, die wir schrittweise zu verfolgen Gelegenheit haben. Aus einem fr\u00fcheren Beispiel wissen wir bereits, dass zwei Eindr\u00fccke, die h\u00e4ufig mit einander verbunden gewesen sind, dergestalt mit einander verschmelzen, dass in solchen F\u00e4llen, in welchen nur der eine durch unmittelbare Sensation erregt wird, auch der andere durch Reproduction sich hinzugesellt1). Wenn also der vorgeschrittene Blinde sich bei der Auffassung der Kleinschrift blo\u00df mit dem analysirenden Tasten begn\u00fcgt, so folgt daraus durchaus nicht, dass hierbei das Simultantasten nicht mehr in Betracht kommt. Da beide Eindr\u00fccke h\u00e4ufig mit einander verbunden waren, so ist der Blinde im Stande, den einen Bestandtheil der associativen Verschmelzung zu reproduciren, wenn der andere gegeben ist. Allerdings verhalten sich die beiden Eindr\u00fccke in Bezug auf ihre Reproductionsf\u00e4higkeit speciell bei der Klein\u2019schen Schrift nicht v\u00f6llig gleichartig: das analysirende Tasten, vielmehr der durch dasselbe hervorgerufene Successiveindruck, vermag zwar mit Leichtigkeit das Simultanbild zu reproduciren, nicht aber umgekehrt das Simultanbild den Successiveindruck. Dies beweist das obenerw\u00e4hnte Experiment, in dem man dem Blinden die M\u00f6glichkeit gibt, das Schriftbild blo\u00df mit dem Raumsinn der Haut aufzufassen, w\u00e4hrend man die Successivauffassung verhindert. Selbst in den F\u00e4llen der h\u00f6chsten Entwicklung des Tastlesens sucht der Blinde dann eine Auffassung\n1) S. 427. Vergleiche Wundt, Phys. Psych. II (4. Aufl.) S. 37.","page":461},{"file":"p0462.txt","language":"de","ocr_de":"462\nTheodor Heller.\nmittelst der Bewegungsempfindungen geradezu zu erzwingen. Der Simultaneindruck allein gibt dem Blinden demnach keine entsprechende Vorstellung des Buchstabenzeichens, da derselbe nicht das Successivbild mit Sicherheit zu reproduciren vermag, wohl aber die Successivauffassung, welche das Simultanbild mit Leichtigkeit hervorruft.\n\u00df) Die Brailleschrift.\nNach vielen Schwierigkeiten hat in unseren Tagen die Brailleschrift endlich die dominirende Stellung in den Blindenanstalten erobert. Gegenw\u00e4rtig werden Blindenb\u00fccher nur noch in dieser Blindenschrift uax k\u00a3o%r]v hergestellt und nach verl\u00e4sslichen Z\u00e4hlungen sind im letzten Jahrzehnt dreimal so viel B\u00fccher nach Braille\u2019s System gedruckt worden, als in allen vorher gebr\u00e4uchlichen Schriftsystemen zusammengenommen. Da in den Blindenschulen zum Lesen der Brailleschrift erst dann \u00fcbergegangen wird, wenn die Klein\u2019sche Schrift mit hinl\u00e4nglicher Sicherheit gelesen werden kann, so wendet der Blinde bei der Auffassung der Punktzeichen anfangs dieselbe Tastart wie beim Lesen der Antiquabuchstaben an. Nur selten \u00fcbernimmt in der ersten Zeit derselbe Finger die Gesammtauffassung und das analysirende Tasten, gew\u00f6hnlich tritt sofort eine Arbeitstheilung in dem Sinne ein, dass die linke Hand mit zuckenden Bewegungen, die rechte ruhig \u00fcber das Papier hingleitend liest. Aber damit ist die letzte Entwicklung des Tastlesens noch nicht erreicht. Bei jenen Blinden, welche am raschesten zu lesen im Stande sind, bemerkt man nichts von jenen oben geschilderten zuckenden Tastbewegungen. Rechte und linke Hand fahren ruhig mit breit aufgelegten Fingern \u00fcber die Zeilen hinweg, und die beiden H\u00e4nde unterscheiden sich in Bezug auf ihre Auffassung nur durch die Schnelligkeit der Lesebewegung. Uebrigens ist die Betheiligung der beiden H\u00e4nde bei verschiedenen Individuen eine sehr ungleiche. Nicht sehr h\u00e4ufig tritt der Fall ein, dass sich die beiden H\u00e4nde in der Mitte der Zeile gleichsam abl\u00f6sen, indem die linke Hand bis dahin vereint mit der rechten vorw\u00e4rts bewegt wird, worauf dann die linke Hand zum Anfang der n\u00e4chsten Zeile \u00fcbergeht, w\u00e4hrend die rechte Hand allein den Rest der Zeile zu lesen \u00fcbernimmt. Bei weitaus den meisten Blinden sind rechter","page":462},{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n463\nund linker Lesefinger zur Auffassung der Schrift in gleichem Ma\u00dfe bef\u00e4higt. Das Notenlesen, bei welchem abwechselnd die eine Hand die Zeichen aufsucht, die andere die T\u00f6ne am Klavier angibt, macht eine gleichm\u00e4\u00dfige Ausbildung beider Lesefinger noth wendig. Wenn nichts desto weniger der linke Finger in der Regel genauer liest als der rechte, so hat dies lediglich seinen Grund in der ungleichen Raschheit der beidarmigen Lesebewegung. Hiervon kann man sich \u00fcberzeugen, wenn man blo\u00df mit einer Hand lesen l\u00e4sst, wobei nur die Bewegung der rechten Hand einigerma\u00dfen verlangsamt wird. Bei den in der Auffassung der Brailleschrift hinl\u00e4nglich ge\u00fcbten Blinden unterbleibt demnach in der Regel das analysirende Tasten. Nur dann, wenn ein Zwang zum Buchstabiren geschaffen wird, wie z. B. beim Vorkommen den Blinden nicht gel\u00e4ufiger Fremdw\u00f6rter oder bei abgegriffenen Buchstaben, die sich \u00fcber das Niveau des Papiers nicht gen\u00fcgend merklich erheben, treten wieder die analysirenden Tastbewegungen, die wir bei dem Lesen der Kleinschrift constant wahrzunehmen in der Lage waren, in ihre Rechte.\nNicht alle Blinden bringen es zu dieser letzten Stufe der Ausbildung. Einige verm\u00f6gen die Brailleschrift nicht anders zu lesen wie die Klein\u2019sche Schrift. Es sind namentlich solche Blinden, die, bevor sie noch zum Lesen der Brailleschrift gelangen, ein Handwerk erlernen mussten, was eine Verdickung und h\u00e4ufig auch eine Vernarbung der Fingerepidermis zur Folge hatte. Jene Blinden, welche schon vor der Aus\u00fcbung eines Handwerks in der Auffassung der Buchstaben derart ge\u00fcbt waren, dass sie mit ruhendem Finger zu lesen im Stande sind, kehren sp\u00e4terhin nicht mehr zu den Tastbewegungen zur\u00fcck, sondern lesen in gleicher Weise wie fr\u00fcher nur mit Anwendung eines st\u00e4rkeren Druckes, was deutlich aus den von diesen benutzten, in K\u00fcrze stark abgegriffenen Schriften zu ersehen ist. Beschr\u00e4nkt man sich bei der Beobachtung des Braillelesens auf jene Blinden, die eine hinl\u00e4ngliche Hebung in der Auffassung der Schriftzeichen erlangt haben, so m\u00fcsste man nothwendig zu dem gerade entgegengesetzten Resultate gelangen wie bei der Betrachtung der Kl ein\u2019sehen Schrift. Scheint hier jene Tastart, bei welcher die Bewegungsempfindungen im Vordergr\u00fcnde stehen, zur Auffassung der Buchstabenformen vollst\u00e4ndig zu gen\u00fcgen, so entsteht dort der Schein, als ob das Tasten mit H\u00fclfe des Raumsinnes, das","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464\nTheodor Heller.\nSimultantasten allein, dem Blinden eine ad\u00e4quate Vorstellung der betasteten Zeichen vermitteln k\u00f6nnte. Diese Schwierigkeiten lassen sich sehr einfach beseitigen, wenn wir der Betrachtung des Tastlesens den Gedanken der Entwicklung zu Grunde legen. Unzweifelhaft ergibt sich dann, dass weder die Tastanalyse noch die Tastsynthese eine selbst\u00e4ndige Stellung in Anspruch nehmen k\u00f6nnen, sondern dass beide erst in ihrer Wechselwirkung zum Zustandekommen einer befriedigenden extensiven Vorstellung beitragen.\nDie Entwicklung des Tastlesens ist offenbar einerseits beeinflusst durch das Verlangen, eine ad\u00e4quate Vorstellung von den zur Auffassung gelangenden Schriftzeichen zu erhalten, andererseits aber durch das Gesetz der Kraftersparung. Dem letzteren entsprechend begn\u00fcgen sich die Blinden nach l\u00e4ngerer Uebung schlie\u00dflich damit, nur den einen der Factoren, die nothwendig erscheinen zur Entwicklung einer pr\u00e4cisen Raumvorstellung, durch unmittelbare Sensation zu empfangen, w\u00e4hrend der andere blo\u00df durch Reproduction erg\u00e4nzt wird. Beim Lesen der Brailleschrift stellt sich das Repro-ductionsverh\u00e4ltniss wesentlich g\u00fcnstiger als beim Lesen der Klein\u2019-sehen Schrift, und eben darauf beruht die gro\u00dfe Bedeutung der ersteren f\u00fcr den Blinden. Wir sahen bei der Betrachtung des \u00e4lteren Schriftsystems, dass hier der Successiveindruck das Simultanbild, nicht aber umgekehrt das Simultanbild den Successiveindruck zu reproduciren vermag. So musste also beim Tastlesen das analysirende Tasten, welches einen gr\u00f6\u00dferen Aufwand von Energie gegen\u00fcber dem Simultantasten beansprucht, zu H\u00fclfe genommen werden. Beim Lesen der Brailleschrift ist die Reproductionsf\u00e4higkeit der beiden Factoren eine wechselseitige. Hier vermag der Successiv- den Simultaneindruck, aber auch der Simultan- den Successiveindruck hervorzurufen. Bei der Wahl zwischen beiden Tastarten leitet den Blinden das Gesetz der Kraftersparung: er entscheidet sich demgem\u00e4\u00df f\u00fcr das synthetische Tasten zur unmittelbaren Gewinnung der Eindr\u00fccke. In der That sind nun die Zeichen des Braillesystems, die sich aus wenigen Punkten einer bestimmten Grundform entsprechend zusammensetzen, der Hautsensibilit\u00e4t besonders angepasst. Wir haben schon bei der Betrachtung des synthetischen Tastens gesehen, dass die Sechszahl der Punkte nicht \u00fcberschritten werden darf, wenn eine simultane Auffassung des Eindrucks noch","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n465\nm\u00f6glich sein soll. Diese Sechszahl entspricht wohl der Thatsache, dass auch das Auge hei momentaner Erleuchtung im Maximum noch sechs relativ einfache Eindr\u00fccke (z. B. Buchstaben) festhalten kann. Die Entfernung der Punkte, die seit Braille unver\u00e4ndert beibehalten worden ist, l\u00e4sst einerseits eine deutliche Scheidung der Eindr\u00fccke zu, st\u00f6rt aber andererseits in keiner Weise die Uebersichtlichkeit des Gesammtbildes. Weiterhin ist der Blinde schon nach fl\u00fcchtiger Ber\u00fchrung im Stande, dem Zeichen nach der Ausdehnung der afficirten Hautstelle seine charakteristische Gruppe anzuweisen. Die Schnelligkeit des Lesens muss bei ausschlie\u00dflicher Verwendung der Tastsynthese eine bedeutend gr\u00f6\u00dfere sein als bei Zuh\u00fclfenahme der Tastanalyse, welche eine Unterbrechung der Continuit\u00e4t der Lesebewegung von Fall zu Fall erfordert. Je leichter nun dem Blinden die Auffassung der Buchstabenformen wird, desto mehr kann sich seine Aufmerksamkeit dem Inhalt des Gelesenen zuwenden. Beim Lesen der Klein'sehen Schrift sind in den meisten F\u00e4llen Associationen mit Geh\u00f6rsvorstellungen wirksam; nur unter der Bedingung ist h\u00e4ufig eine Berichterstattung \u00fcber den Inhalt des Gelesenen m\u00f6glich, dass der Blinde die gelesenen Worte halblaut vor sich hinspricht. In dieser Beziehung verh\u00e4lt er sich \u00e4hnlich wie mancher Sehende, dem die Auffassung der Schnftzeichen gr\u00f6\u00dfere Schwierigkeiten bereitet. Das Lesen der Brailleschrift erm\u00f6glicht endlich bei weitem umfangreichere Reproductionen und verursacht dadurch freilich eine noch gr\u00f6\u00dfere Fl\u00fcchtigkeit des Lesens, als dies bei der Klein'schen Schrift der Fall ist.\nDie n\u00e4heren Daten \u00fcber die Schnelligkeit des Lesens, aus welchen sich auch Schl\u00fcsse ziehen lassen \u00fcber den Umfang der hierbei in Betracht kommenden Reproductionen, ergibt die folgende Zusammenstellung. Die Lesezeit betrug \u00fcbereinstimmend 2 Minuten, zum Lesen wurden die in den beiden Schriftarten ge\u00fcbtesten Z\u00f6glinge der Wiener Blindenanstalt Hohe Warte herangezogen. Die Ziffern geben die Zahl der in dieser Zeit gelesenen W\u00f6rter an.","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nTheodor Heller.\nBezeichnung des Textes\tBraille- schrift\tKlein- schrift\nPoetischer Text: It\u00fcckcrt, \u00bbAm 19. October 1816\u00ab\t140\t77\nProsaischer Text: Krummacher, \u00bbDer bl\u00fchende Weinstock\u00ab\t159\t106\nSinnvolle zweisilbige W\u00f6rter\t92\t43\nSinnlose zweisilbige W\u00f6rter\t68\t39\nEin besonderes Augenmerk richtete ich auf die bei den Leseversuchen vorkommenden Verlesungen. Hierf\u00fcr wurden zwei besondere Zusammenstellungen verwendet, deren erste wieder zweisilbige sinnvolle, deren zweite zweisilbige sinnlose W\u00f6rter umfasste. Es ergaben sich dabei folgende allgemeine Gesichtspunkte:\n1)\tDie relative Zahl der Verlesungen war bei der Verwendung der Brailleschrift gr\u00f6\u00dfer als bei der Verwendung der Kleinschrift. Eine bestimmte Beziehung zur Schnelligkeit des Lesens lie\u00df sich nicht entdecken. H\u00e4ufig verlasen sich die langsam lesenden \u00f6fter als die rasch lesenden Versuchspersonen.\n2)\tEs ist nicht gleichg\u00fcltig, ob man von derselben Versuchsperson die sinnlosen oder die sinnvollen W\u00f6rter zuerst lesen l\u00e4sst. Im ersten Falle zeigt sich eine Zunahme der Verlesungen.\n3)\tDie Verlesungen bezogen sich fast nie auf den Anfang, sondern in der Regel auf die Mitte oder das Ende der W\u00f6rter.\n4)\tIn Bezug auf die erste Versuchsreihe zeigte sich h\u00e4ufig, dass die Blinden bestrebt waren, einen inneren Zusammenhang zwischen den gelesenen W\u00f6rtern herzustellen. Dieselben wurden hierbei in einzelne Gruppen zerlegt, von welchen einige ged\u00e4chtniss-m\u00e4\u00dfig festgehalten werden konnten. Nicht selten ereignete es sich, dass die Blinden dem Gang jener naheliegenden Associationen folgten, die bei der Auswahl des Lesestoffes wirksam gewesen waren.\n5)\tZahlreiche Verlesungen lassen sich auf den Einfluss dieser Associationen zur\u00fcckf\u00fchren. So folgten z. B. an einer Stelle die","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n467\nW\u00f6rter auf einander: Weinlaub, Rebe, Winzer, Keller. Statt\n\u00bbKeller\u00ab wurde \u00bbKelter\u00ab gelesen.\n6)\tBeim Lesen der sinnlosen W\u00f6rter waT bei einer Versuchsperson eine rhythmische Gliederung des Lesestoffes wahrzunehmen. Je vier W\u00f6rter wurden gleichsam als ein Takt zusammengefasst.\n7)\tStreute ich in die zweite Versuchsreihe einige sinnvolle W\u00f6rter ein, so ergab sich eine bedeutende Zunahme der Verlesungen zu Gunsten der letzteren. So wurden statt zweisilbiger Zusammenstellungen, welche sich von bekannten Eigennamen nur durch Ver\u00e4nderung der Vokale unterschieden, fast regelm\u00e4\u00dfig die betreffenden Eigennamen gelesen, so z. B. statt Radulf Rudolf, statt Rubirt \u2014 Robert. Diese Verlesungen ergaben sich vorzugsweise bei der Verwendung der Brailleschrift.\n8)\tEine Verwechslung symmetrischer Zeichen kam bei der Brailleschrift nur in den seltensten F\u00e4llen vor.\nB. Das Tasten mit Lippe und Zunge.\nWenn wir in den vorhergehenden Abschnitten die Fingerspitzen als die Stellen des deutlichsten Tastens bezeichneten, so trifft dies wohl f\u00fcr das manuelle Tasten, nicht aber f\u00fcr die gesammte periphere Sensibilit\u00e4t zu. Unter allen Hautstellen weist die Zungenspitze das feinste extensive Unterscheidungsverm\u00f6gen auf; diese vermag noch zwei Eindr\u00fccke als getrennt wahrzunehmen, welche der Fingerspitze in einen einzigen Eindruck zusammenflie\u00dfen1). Die Lippen nehmen in Bezug auf ihren Raumsinn erst die dritte Stelle ein. Aber sie erscheinen dadurch vor den erw\u00e4hnten Hautpartien bevorzugt, dass hier namentlich bei Ber\u00fchrung des gew\u00f6lbten Randes eine geringe Intensit\u00e4t gen\u00fcgt, um deutliche Unterscheidungen zu erm\u00f6glichen. Lippen und Zunge bilden ein physiologisch zusammengeh\u00f6riges Tastorgan, was daraus hervorzugehen\n1) Einen Hinweis auf die feine Sensibilit\u00e4t der Zungenspitze enth\u00e4lt die Thatsache, dass es selbst bei Verwendung zehnprocentiger Coc\u00e4fnl\u00f6sungen nicht gelungen ist, diese Hautstelle vollkommen zu an\u00e4sthesiren. Kiesow, Ueber die Wirkung des Cocain und der Gymnemas\u00e4ure. Philos. Studien, IX, S. 515. Wandt, Philos. Studien. XI.\t31","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\nTheodor Heller.\nscheint, dass eine Versuchsperson bei Afficirung der Unterlippe Bewegungen der Zunge kaum zu unterdr\u00fccken vermochte. Aber nicht bei allen Blinden findet sich diese Entwicklung eines besonderen Tastwerkzeuges f\u00fcr feine r\u00e4umliche Unterscheidungen. Unter 50 Z\u00f6glingen der Wiener Blindenanstalt Hohe Warte sind nur 8, 5 M\u00e4dchen und 3 Knaben, mit Lippe und Zunge in entsprechender Weise zu tasten bef\u00e4higt. Die Anwendung dieser Hautpartien f\u00fcr das r\u00e4umliche Tasten erfolgt immer spontan; Versuche, auch die anderen Blinden zu derartigen Tastleistungen zu bef\u00e4higen, wurden schlie\u00dflich als zwecklos aufgegeben.\nDas Lippen- und Zungentasten kommt haupts\u00e4chlich bei botanischen Untersuchungen in Betracht. Wird den betreffenden Blinden eine Bl\u00fcthe vorgelegt, so versuchen dieselben zun\u00e4chst die Verh\u00e4ltnisse der Form durch das manuelle Tasten festzustellen. Dies gelingt aber kaum in befriedigender Weise: durch die gr\u00f6bere Ber\u00fchrung der Finger erleidet das Object st\u00f6rende Formver\u00e4nderungen, und um diese Fehler auszugleichen, kommt nunmehr das Lippentasten, f\u00fcr welches schon eine leise Ber\u00fchrung gen\u00fcgt, in Verwendung1). Hier erfolgt aber auch die genaue Bestimmung der Oberfl\u00e4chenbeschaffenheit. Selbst bei der Betastung von Objecten, f\u00fcr deren genaue Auffassung das manuelle Tasten ausreicht, wird f\u00fcr die Bestimmung jener Qualit\u00e4ten, die sich zwischen Rauhheit und Gl\u00e4tte abstufen, das Lippentasten in Anwendung gebracht. Die genaue Analyse der Bl\u00fcthe ist nun Aufgabe des Zungentastens. Durch rasch erfolgende Bewegungen der Zunge z\u00e4hlt der Blinde die Blumen- und Kelchbl\u00e4tter, er dringt unter g\u00fcnstigen Verh\u00e4ltnissen auch in das Innere der Bl\u00fcthe ein und sucht die Anzahl der Staubgef\u00e4\u00dfe festzustellen. Wird dem Blinden gestattet, das Tastobject in seine Bestandtheile zu zerlegen, so erstrecken sich die Bestimmungen auf alle Theile der inneren Organisation. In dieser Weise hat vor meinen Augen ein blindes M\u00e4dchen, Wilhelmine Sch., die Bestimmung einer Bl\u00fcthe von Amygdalus communis bis in das kleinste Detail vorgenommen\"2).\n1} Bemerkenswerth erscheint es mir, dass die Lippen vor und w\u00e4hrend des Tastaktes wiederholt befeuchtet werden.\n2) Von dieser Tastart machte das M\u00e4dchen auch beim Einf\u00e4delu einer N\u00e4hnadel Gebrauch. Die Zungenspitze wurde l\u00e4ngs des oberen Theils der mit der","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n469\nDer Umstand, dass die zum Lippen- und Zungentasten bef\u00e4higten Blinden genaue zahlenm\u00e4\u00dfige Angaben betreffs der einzelnen Bliithenbestandtheile zu machen in der Lage sind, erweckt den Schein, als ob dieser Beschreibung auch eine genaue Vorstellung des Gesammtobjectes zu Grunde liege. Dass dies keineswegs der Fall ist, ergeben einige Mittheilungen, welche ich der oben erw\u00e4hnten Versuchsperson verdanke. Bei der Auffassung der \u00e4u\u00dferen Form einer Bl\u00fcthe leiten die Blinde h\u00e4ufig jene Vergleiche, welche die Sehenden mit bekannten Gebrauchsgegenst\u00e4nden vollzogen haben. So schwebte ihr bei der Untersuchung einer Campanula-Bl\u00fcthe die Vorstellung einer kleinen Glocke vor, bei anderen Bl\u00fcthen, deren Namen keinen bestimmten Hinweis auf ihre Grundform enthalten, sah sie sich oft veranlasst, ihren Lehrer zu fragen, mit welchem bekannten Gegenstand die Bl\u00fcthenform einige Aehnlichkeit habe. So waltet bei ihr das Bestreben ob, die complicirten Verh\u00e4ltnisse auf einige einfache Grundformen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Wenn sich die Blinde auch noch so sehr bem\u00fcht, alle Details in der Vorstellung festzuhalten, so entschwinden dieselben doch alsbald wieder ihrem Ged\u00e4chtnisse. Der Vorstellung der inneren Organisation einer Bl\u00fcthe scheinen fast un\u00fcberwindliche Schwierigkeiten zu begegnen. Alle diesbez\u00fcglichen Eindr\u00fccke, welche die Versuchsperson bei der unmittelbaren Beobachtung des Gegenstandes gewann, verfl\u00fcchtigten sich alsbald: \u00bbdas Tasten mit Lippe und Zunge kann \u00fcberhaupt nicht gemerkt werden\u00ab 1).\nNach diesen Mittheilungen erscheint es ziemlich zweifelhaft, ob das Lippen- und Zungentasten so bedeutende Vortheile darbietet, dass diese f\u00fcr die aufgewendete Zeit und M\u00fche entsch\u00e4digen. Zur Entwicklung pr\u00e4ciser Baumvorstellungen unterhalb der Grenzen des manuellen Tastens wird der Blinde hierdurch in keinem Falle bef\u00e4higt. Vielleicht ergeben sich hieraus neue Gesichtspunkte f\u00fcr den\nlinken Hand festgehaltenen Nadel hin- und herbewegt und nach Auffindung des Oehres rasch in dasselbe eingedr\u00fcckt. Nun brachte die rechte Hand den Faden heran und f\u00fchrte ihn unter Contr\u00f4le der Zunge in das Oehr, worauf der Faden mit den Z\u00e4hnen ergriffen und vollends durchgezogen wurde.\n1) Ich citire diesen Ausspruch der sehr intelligenten Versuchsperson w\u00f6rtlich aus meinem Versuchsprotokoll.","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nTheodor Heller. Studien zur B\u00fcnden-Psychologie.\nbotanischen Unterricht an Blindenschulen, der dringend einer Reform bedarf, wenn er nicht zum blo\u00dfen Wortunterricht werden soll1).\nDa bei den botanischen Untersuchungen die Tastanalyse in der Regel von schwachen Geschmacksempfindungen begleitet ist, so sah ich mich zu einer kleinen Untersuchung veranlasst, um festzustellen, welchen Einfluss die verschiedenen Geschmacksstoffe auf die extensive Unterschiedsempfindlichkeit gewinnen2). Zun\u00e4chst bepinselte ich die Zungenspitze mit einer Saccharinl\u00f6sung und fand, dass die Unterscheidung zweier punktf\u00f6rmiger Eindr\u00fccke hierdurch in keiner Weise beeintr\u00e4chtigt wird. Bei Einwirkung einer 3 und Saccharinl\u00f6sung zeigte sich dasselbe Verhalten3). Nach Bepinselung mit einer 3 % Salzl\u00f6sung wurden die Punkte zwar noch als getrennt wahrgenommen, aber die Eindr\u00fccke schienen an Intensit\u00e4t abzunehmen. Eine 2 % Chininl\u00f6sung gen\u00fcgte jedoch schon, um die beiden Eindr\u00fccke, welche, der Raumschwelle entsprechend, vorher noch deutlich als getrennt aufgefasst wurden, in einen Eindruck zusammenflie\u00dfen zu lassen. Ob diese Ergebnisse auf die Mitwirkung secund\u00e4rer Tastempfindungen bei der Einwirkung der Geschmacksstoffe oder auf eine Ablenkung der Aufmerksamkeit durch die unlustbetonten Geschmacksempfindungen hin weisen, kann diese einfache Untersuchung nicht entscheiden4).\n1)\tIn der Wiener Blindenanstalt Hohe Warte wird beim botanischen Unterricht seit Kurzem mit Erfolg ein vergleichendes Tasten zwischen Modell und Original vorgenommen.\n2)\tDie hierbei verwendeten L\u00f6sungen verdanke ich der G\u00fcte des Herrn Dr. Friedrich Kiesow.\n3)\tHier d\u00fcrfte es von Bedeutung sein, dass die Zungenspitze, die Stelle der sch\u00e4rfsten Tastunterscheidung, bei Manchen fast nur f\u00fcr S\u00fc\u00dfes erregbar ist. K\u00fclpe, Grundriss der Psychologie, Leipzig, 1893, S. 102.\n4)\tDoch wird man sich nach Kie sow\u2019s Untersuchungen Philosophische Studien, Bd. X, S. 329 ff.) wohl f\u00fcr das Erstere entscheiden m\u00fcssen.\n'Schluss folgt.)","page":470}],"identifier":"lit4534","issued":"1895","language":"de","pages":"406-470","startpages":"406","title":"Studien zur Blinden-Psychologie, Fortsetzung","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:16:40.958412+00:00"}