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{"created":"2022-01-31T13:16:48.092396+00:00","id":"lit4536","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Heller, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 11: 531-562","fulltext":[{"file":"p0531.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\nVon\nTheodor Heller.\n(Schluss.)\nII. Ueber die Association von Tast- und Geh\u00f6rsvorstellungen.\nDer Raumvorstellung des Blinden ist durch die Gr\u00f6\u00dfen- und Entfernungsverh\u00e4ltnisse der Objecte eine nahe Schranke gezogen. Das Tastorgan entwickelt Vorstellungen von den Gegenst\u00e4nden nur dann, wenn dieselben die sensible Fl\u00e4che ber\u00fchren. In der Tastwahrnehmung liegt demnach kein Moment, das eine Verlegung der Eindr\u00fccke in wechselnde Entfernung analog dem Gesichtssinn erm\u00f6glichte. Eine gewisse Ausnahme bedingen hier nur die That-sachen der doppelten Ber\u00fchrungsempfindung1). Wenn sich der Blinde zur Herstellung seiner Schrift eines Griffels bedient, so verlegt er die Vorstellung des Schriftzeichens an die Spitze des Instruments, obzwar nat\u00fcrlich auch hier die Empfindung an der Oberfl\u00e4che der Haut stattfindet. Ebenso erkennt der Blinde bei Benutzung eines Stockes ein seiner Bewegung entgegenstehendes Hinderniss, schon bevor er dasselbe unmittelbar mit seiner sensiblen Fl\u00e4che ber\u00fchrt. Wird eine directe Abmessung des Instruments nicht gestattet, so st\u00fctzt sich die Vorstellung der Entfernung, welche bei der doppelten Ber\u00fchrungsempfindung zu Stande kommt, im wesentlichen auf jene Kraftempfindungen, welche aus der Muskelcontraction\n1) Vergleiche Lotze, Medicinische Psychologie, S. 428ff., Wundt, Physiologische Psychologie, II (4. Aufl.) S. 22.","page":531},{"file":"p0532.txt","language":"de","ocr_de":"532\nTheodor Heller.\nentspringen, die zum freien Festhalten des Instruments erforderlich ist. Hierbei kommen noch \u00fcberdies jene \u00e4u\u00dferen Tastempfindungen in R\u00fccksicht, welche dem Blinden eine Vorstellung von dem Stoff des Instruments verschaffen. In wiederholten Erfahrungen hat der Blinde eine Beziehung zwischen Gewichts- und L\u00e4ngenzunahme des aus einem bestimmten Stoff gefertigten Instruments herzustellen gelernt; \u00fcberdies gibt ihm die Wahrnehmung des Luftwiderstandes f\u00fcr die Entfernungssch\u00e4tzung einige Anhaltspunkte. Ein sicheres Urtheil erm\u00f6glichen aber all\u2019 diese Kriterien nicht, wovon man sich leicht \u00fcberzeugen kann, wenn die Versuchsperson nachtr\u00e4glich zur Aufsuchung des verwendeten Instruments aus einer Reihe analoger, blo\u00df der Gr\u00f6\u00dfe nach abgestufter St\u00e4be aufgefordert wird. Als Specialfall der doppelten Ber\u00fchrungsempfindung kann das sog. Ferntasten des Blinden gelten, f\u00fcr welches fr\u00fcher ein besonderer sechster Sinn als Fernsinn angenommen wurde1). Hier \u00fcbernimmt nicht ein starres Instrument die Vermittlung zwischen Object und Beobachter, sondern die leichtbewegliche Lufts\u00e4ule, wobei allerdings nicht mehr irgend eine Vorstellung des mittelbar betasteten Objectes zu Stande kommt, sondern blo\u00df die unbestimmte Wahrnehmung eines in der Bewegungsrichtung befindlichen Hindernisses. Alle diese Verh\u00e4ltnisse \u00e4ndern jedoch nichts an der Thatsache, dass der Tastsinn Vorstellungen nur bei Ber\u00fchrung der Objecte zu entwickeln im Stande ist. Diese Ber\u00fchrung kann aber in doppelter Weise erfolgen, entweder unmittelbar, wenn ein directer Contact zwischen Object und sensibler Fl\u00e4che besteht, oder mittelbar, wenn zwischen beide ein indifferentes Medium eingeschoben wird. Da nun eine Fernwahrnehmung durch den Tastsinn nicht m\u00f6glich ist, so ergibt sich von selbst, dass der Orientirung des Blinden, so lange dieselbe ausschlie\u00dflich auf haptische Verh\u00e4ltnisse begr\u00fcndet ist, nicht unerhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen m\u00fcssen. Die Vorstellung der Lage eines Objects im Raume beschr\u00e4nkt sich beim Blinden zun\u00e4chst auf die Vorstellung der eigenen Bewegung; innerhalb des weiteren Tastraumes kommen hierbei die Bewegungen der Arme, au\u00dferhalb desselben die Bewegungen des Gesammtk\u00f6rpers in Betracht. Zu einer Vorstellung entfernter Gegenst\u00e4nde gelangt der Blinde erst\n1) Vergleiche dar\u00fcber den folgenden Abschnitt, S. 544.","page":532},{"file":"p0533.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n533\ndann, wenn er sich denselben mit seinem ganzen K\u00f6rper accom-modirt hat. Die analoge Function, welche im Auge ein einfacher, in seiner Wirkungsweise freilich noch nicht v\u00f6llig aufgekl\u00e4rter Muskelmechanismus vollzieht, der, unserer Willk\u00fcr entr\u00fcckt, von selbst die entsprechenden Einstellungen des Sehorgans vornimmt, beansprucht beim Tastsinn die gesammte Masse des Leibes, dessen Bewegungen stets in bestimmter Absicht erfolgen. \u00bbTrotzdem dass auch dieser Unterschied im Grunde nur ein gradueller ist, so wird er doch im wirklichen Leben von so gro\u00dfer Bedeutung, dass er eine durchgreifende Scheidung beider Sinne nothwendig macht. Die Muskeln, welche das Auge f\u00fcr N\u00e4he und Ferne adaptiren, sind integrirende Theile dieses Sinnesorgans, ihre Verrichtungen sind daher so unmittelbar an die Function des Sehens selber gekn\u00fcpft, dass sie zugleich mit dieser mit einer Art mechanischer Nothwendigheit sich vollziehen und niemals zu bewussten Handlungen werden. Ganz anders verh\u00e4lt es sich mit der \u00e4u\u00dferen Haut. Die Muskeln der Fortbewegung des K\u00f6rpers stehen zu dieser nur in einer ganz \u00e4u\u00dferlichen Beziehung, in keiner anderen als zu jedem anderen Sinne, nur insofern n\u00e4mlich, als \u00fcberhaupt die mit dem Ortswechsel des Subjectes wechselnden Eindr\u00fccke auf einen Wechsel der Objecte schlie\u00dfen lassen. Hier gr\u00fcndet sich daher die Unterscheidung von N\u00e4he und Ferne erst auf ein aus einer Reihe gewollter und bewusster langsam vollzogener Bewegungen gest\u00fctztes bewusstes Urtheil.\u00ab1) Die Vorstellung der Lage des Objects, welche sich zusammensetzt aus den Componenten der Richtung und Entfernung, enth\u00e4lt nun allerdings keinen Bestandtheil, der nicht schon bei der Auffassung der Objecte selbst in Anwendung k\u00e4me. Aber die wichtige Unterscheidung zwischen beiden Verh\u00e4ltnissen liegt doch darin, dass die Begrenzungslinien der Objecte Leitlinien f\u00fcr das Tastorgan darstellen und auf diese Weise den Weg unmittelbar vorzeichnen, den die tastende Hand oder der Gesammtk\u00f6rper bei der Auffassung einer Strecke zu durchmessen hat, w\u00e4hrend die Bestimmung der Richtung und Entfernung, die sich auf die Lage des Objects im Raume bezieht, in der Regel aller Anhaltspunkte entbehrt. Demnach muss der Blinde, wenn er die f\u00fchrende Hand des Sehenden\n1) Wundt, Beitr\u00e4ge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, 1862, S. 31 f.","page":533},{"file":"p0534.txt","language":"de","ocr_de":"534\nTheodor Heller.\nentbehrt, den Ort, an dem sich ein Gegenstand befindet, zu allererst geradezu entdecken. Da den Orientirungsbewegungen in einem unbekannten Raume im vorhinein kein bestimmter Plan zu Grunde gelegt werden kann, die Vorstellung der wechselseitigen Lage der Objecte sich aber reducirt auf die Vorstellung des k\u00fcrzesten Weges, der von einem Object zum andern f\u00fchrt, so wird der Blinde in den weitaus meisten F\u00e4llen gen\u00f6thigt sein, diese einfachen Beziehungen aus einer Summe ungleich verwickelterer Bewegungsverh\u00e4ltnisse abzuleiten. Die Auffindung aller Objecte in einem gr\u00f6\u00dferen Raume ist aber bei der ersten Orientirungsbewegung kaum m\u00f6glich. Jede folgende Entdeckungsreise bringt dem Blinden Kunde von neuen Gegenst\u00e4nden, und so stellt sich die Nothwendigkeit heraus, die sp\u00e4terhin bestimmten Lageverh\u00e4ltnisse einzuordnen in den ersten Orientirungsplan, woraus der Verstandes- und Phantasieth\u00e4tigkeit des Blinden eine neue complicirte Aufgabe erw\u00e4chst. Ueberdies kommt hierbei noch in Betracht, dass den Orientirungsbewegungen des Blinden nicht selten un\u00fcberwindliche Hindernisse entgegenstehen, dass ferner die Bef\u00fcrchtung eines Zusammenstosses mit den Gegenst\u00e4nden die Aufmerksamkeit blo\u00df auf jenen Complex von Empfindungen lenkt, der dem Blinden jeweils das Herannahen eines Hindernisses ank\u00fcndigt, w\u00e4hrend Dauer und Richtung der Bewegung, auf Grund deren der Blinde die Vorstellung der Entfernungsverh\u00e4ltnisse entwickelt, kaum eine hinreichende Beachtung erfahren. Wenn also \u00fcberhaupt die Vorstellung der Lage der Objecte im Raume zu Stande kommt, dann ist hierzu ein gro\u00dfer Aufwand von Zeit und intellectueller Kraft erforderlich, wobei es noch sehr fraglich erscheint, ob selbst unter den g\u00fcnstigsten Verh\u00e4ltnissen derselben eine vollst\u00e4ndige L\u00fcckenlosigkeit zugesprochen werden kann.\nDie ged\u00e4chtnissm\u00e4\u00dfige Festhaltung der Lagevorstellung jener Objecte, die sich auf einen weiten Raum vertheilen, bereitet dem Blinden derartige Schwierigkeiten, dass er sich h\u00e4ufig bei der Abmessung der Entfernungen blo\u00df auf die Feststellung der Schrittzahl beschr\u00e4nkt, die zur Zur\u00fccklegung der einzelnen Theilstrecken erforderlich ist. Aber nicht unter allen Umst\u00e4nden kommt bei der Orientirung das Gleichma\u00df der Schrittbewegung in Anwendung. Befinden sich die Objecte im Tastraum, dann reichen hierf\u00fcr die","page":534},{"file":"p0535.txt","language":"de","ocr_de":"Stadien zur Blinden-Psychologie.\n535\nArmbewegungen aus, welche in ihrer r\u00e4umlichen Beschr\u00e4nkung der Auffassung die wesentlich g\u00fcnstigeren Verh\u00e4ltnisse dar bieten. Der Blinde ist nun im Stande, zwischen Orientirungen au\u00dferhalb und innerhalb des Tastraumes ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltniss der Proportionalit\u00e4t herzustellen, wie in den fr\u00fcher erw\u00e4hnten F\u00e4llen bei der Entwicklung pr\u00e4ciser Simultan Vorstellungen zwischen weiterem und engerem Tastraum. Darauf gr\u00fcndet sich die Bedeutung der in verj\u00fcngtem Ma\u00dfe nachgebildeten Orientirungspl\u00e4ne, welche es dem Blinden einerseits erm\u00f6glichen, die zun\u00e4chst in einem der Auffassung g\u00fcnstigen Umfang dargestellten Verh\u00e4ltnisse auf Grund einer bekannten Ma\u00dfrelation auch auf den weiteren Raum auszudehnen, andererseits die dem letzteren angeh\u00f6renden verwickelten Lagebeziehungen dadurch dem Verst\u00e4ndnisse n\u00e4her zu bringen, dass dieselben durch die constructive Th\u00e4tigkeit der Phantasie auf den Tastraum zur\u00fcckbezogen werden.\nWiederholt treffen wir auf die Behauptung, dass nicht der Tast-, sondern der Geh\u00f6rssinn der eigentliche Orientirungssinn des Blinden sei. Zuerst hat sich J. C. W. K\u00fchnau in seinem sehr bemerkens-werthen .Buche: \u00bbDie blinden Tonk\u00fcnstler\u00ab in diesem Sinne ausgesprochen. K\u00fchnau steht auf dem Standpunkte, dass das Geh\u00f6r des Blinden die eigentliche Vertretung des fehlenden h\u00f6chsten Sinnes \u00fcbernehme, und dass dementsprechend die Blindenp\u00e4dagogik sich nicht auf den Tast-, sondern auf den Geh\u00f6rssinn gr\u00fcnden m\u00fcsse. Speciell f\u00fcr die Orientirung des Blinden sucht K\u00fchnau, die Ansichten Prey er\u2019s und M\u00fcnsterberg\u2019s anticipirend, nachzuweisen, dass den Geh\u00f6rswahrnehmungen besondere Eigenschaften zukommen, verm\u00f6ge deren die unmittelbare Bestimmung des Ortes, an dem sich die Schallquelle befindet, m\u00f6glich sein soll. Der Blinde steht der Welt als Zuh\u00f6rer, der Sehende als Zuschauer gegen\u00fcber, und in analoger Weise, wie die bestimmt localisirten Gesichtseindr\u00fccke die Bewegungen des Sehenden, so leiten die auf einen Ort im Raume bezogenen Schalleindr\u00fccke die Bewegungen des Blinden. Dennoch bestehen zwischen der Wirkungsweise beider Sinne tiefgreifende\n1) Berlin 1810. In \u00e4hnlicher Weise auch Ludwig v. Baczko: \u00bbUeher mich seihst und meine Ungl\u00fccksgef\u00e4hrten, die Blinden\u00ab. Leipzig 1807. Das Buch liegt mir jedoch nur im Auszuge vor.\nWundt, Philos. Studien. XI.\n36","page":535},{"file":"p0536.txt","language":"de","ocr_de":"536\nTheodor Heller.\nUnterschiede, welche es begreiflich machen, dass sich der Lichtberaubte nicht mit derselben Sicherheit in der Welt der Dinge zurechtfinden kann als der Sehende, \u00bbwelchem durch die Verleihung des h\u00f6chsten Sinnes die Erkennung des au\u00dfer ihm Befindlichen blo\u00df aufnehmend m\u00f6glich ist, w\u00e4hrend dem Blinden bei allem Denken und Gr\u00fcbeln der unendliche Wechsel nicht blo\u00df von Licht und Farbe, sondern auch von Form und Gestalt zeitlebens ein mit sieben Siegeln verschlossenes Geheimniss bleibt und immerdar bleiben muss\u00ab. Der Sehende braucht blo\u00df aufzublicken, um das Bild seiner Umgebung in gr\u00f6\u00dfter Deutlichkeit und Vollkommenheit zu empfangen. Der Blinde hingegen wartet mit gespannter Aufmerksamkeit auf jeden Ton, auf jedes Ger\u00e4usch, das aus seiner n\u00e4chsten Umgebung zu ihm dringt, jedes derselben erscheint ihm wie eine Offenbarung aus einer unbekannten Welt und bildet den Ausgangspunkt umfangreicher Speculationen, welche den Zweck verfolgen, das Geh\u00f6rte bis in seine letzten Elemente zu zerlegen und seiner Erkenntniss nutzbar zu machen.\nIn neuerer Zeit hat sich auch Hitschmann der Ansicht angeschlossen, dass die Vorstellung des Raumes weit mehr von dem Geh\u00f6r als von dem Tastsinn abh\u00e4nge, abgesehen davon, dass diese Vorstellung im Geistesleben des Blinden eine viel geringere Rolle spiele als in dem des Sehenden1). Die fr\u00fcher mehrfach betonte Eigenth\u00fcmlichkeit des Blinden, \u00bbPersonen nach ihrer Sprechweise beschreiben, ihre k\u00f6rperliche Erscheinung gleichsam aus dem Klang der Stimme heraussch\u00e4len zu wollen\u00ab, hat auch Hitschmann beobachtet, doch f\u00fcgt er ausdr\u00fccklich hinzu, \u00bbdass die so gewonnenen Formen f\u00fcr ihn durchaus nichts Plastisches haben, sondern sich verfl\u00fcchtigen, sobald er aufh\u00f6rt, seine Aufmerksamkeit angestrengt auf sie zu concentriren\u00ab2).\nBeruhen die vorerw\u00e4hnten Behauptungen auf unmittelbaren Beobachtungen, welche die blinden Autoren bei sich selbst angestellt haben, so gelangt M\u00fcnsterberg auf Grund der mit Recht angefochtenen physiologischen Voraussetzung, dass die Schalllocalisation eine Function jener Muskelempfindungen sei, welche die im Am-\n1)\tZeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd.III, S. 392.\n2)\tEbendaselbst S. 393.","page":536},{"file":"p0537.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychoiogie.\n537\npullenapparat reflectorisch ausgel\u00f6sten. Kopfbewegungen begleiten, zu dem Satze, dass wir mit demselben Recht, mit dem wir von einem Tast- und Gesichtsraum sprechen, auch von einem Geh\u00f6rsraum sprechen k\u00f6nnten. \u00bbEs ist durchaus keine so fern liegende Fiction\u00ab, meint M\u00fcnsterberg, \u00bbeinen Blindgeborenen sich vorzustellen, dessen K\u00f6rperoberfl\u00e4che an\u00e4sthetisch ist. Der Betreffende w\u00fcrde eine vollst\u00e4ndige Raumanschauung auf Grund seiner Geh\u00f6rseindr\u00fccke erlangen und m\u00fcsste, wenn er den Tastsinn sp\u00e4terhin dazu erlangt, seine Tasteindr\u00fccke erst langsam in den Geh\u00f6rsraum einzutragen lernen. Sogar f\u00fcr den normalen Blindgeborenen wird die Raumanschauung vielleicht von den Schalleindr\u00fccken nicht weniger beeinflusst als von den Tasteindr\u00fccken, da der Geh\u00f6rsraum, \u00e4hnlich wie der Gesichtsraum, in gewissem Sinne dem Tastraum weit \u00fcberlegen ist, insofern durch Wahrnehmung der Schallrichtung und Schallentfernung jeder Raumpunkt fern wie nahe uns mit dem Ohr feststellbar wird, w\u00e4hrend die Kenntniss des Tastraums nur auf die vom K\u00f6rper ber\u00fchrten Punkte beschr\u00e4nkt bleibt. Der Blinde ordnet zum gro\u00dfen Theile seine Tasteindr\u00fccke in den Geh\u00f6rsraum ein\u00ab1).\n1) M\u00fcnsterberg, Beitr\u00e4ge zur experimentellen Psych. Heft 2. 1889. S. 184. Wie ich glaube, entspringen die Kopfbewegungen beim Sehenden zun\u00e4chst nicht akustischen, sondern optischen R\u00fccksichten. Nach dem Gesetz der Correspondenz von Apperception und Fixation \u00bbstellen sich die Gesichtslinien von selbst auf dasjenige Object ein, welchem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden\u00ab. (Wundt, Physiologische Psychologie, II (4. Aufl.) S. 122.) Jedenfalls wird nun durch einen besonders auffallenden Geh\u00f6rseindruck die Aufmerksamkeit in eindeutiger Weise bestimmt. Gen\u00fcgen f\u00fcr die genaue Auffassung des betreffenden Objects nicht mehr die Augenbewegungen allein, dann treten eben corrigirende Bewegungen des Kopfes hinzu. Da nun wegen der symmetrischen Anordnung der beiden h\u00f6chsten Sinnesorgane zugleich die Ohren in eine der Schallwahmehmung g\u00fcnstige Lage gebracht werden, so entwickeln sich wohl zwischen beiden Verh\u00e4ltnissen der Auffassung alsbald bestimmte associative Beziehungen. Dass \u00fcbrigens die Kopfbewegungen keinem zwingenden reflectorischen Mechanismus entspringen, sondern im besten Falle blo\u00df als automatische Functionen anzusehen sind, geht aus einer gro\u00dfen Anzahl von Erfahrungen hervor. Es w\u00e4re doch sehr sonderbar, wenn etwa bei einer milit\u00e4rischen Uebung jeder durch einen Flintenschuss veranlasste Schalleindruck eine reflektorische Kopfbewegung ausl\u00f6ste. Man ist schlie\u00dflich sehr wohl im Stande, alle derartigen Ger\u00e4usche mit gro\u00dfer Aufmerksamkeit zu verfolgen, ohne auch nur eine Tendenz zu entsprechenden Kopfbewegungen zu versp\u00fcren. Die M\u00fcnsterberg\u2019schen Versuche haben sich bei einer Pr\u00fcfung durch Titchener (Mind, Vol.XVI, 1891, S.526) als unzureichend herausgestellt, wobei namentlich die Ergebnisse bei einer einohrig tauben Versuchsperson entscheidend waren.\n36*","page":537},{"file":"p0538.txt","language":"de","ocr_de":"538\nTheodor Heller.\nGegen M\u00fcnsterberg\u2019s Behauptung von der Existenz eines selbst\u00e4ndigen Geh\u00f6rsraumes erheben sich nun einige wichtige Bedenken. Zun\u00e4chst erscheint die Annahme einer Raumvorstellung sehr sonderbar, welche wohl die Auffassung der Lage der Objecte, nicht aber die der Objecte selbst in sich begreift. Sodann ist es noch fraglich, ob der mit einer vollst\u00e4ndigen An\u00e4sthesie behaftete Blinde durch die reflectorisch ausgel\u00f6sten Kopfbewegungen etwas anderes wahrnimmt als die Richtung der Schallquelle. Die Entfernungslocalisation ist sicherlich bei dem Geh\u00f6rsraum Sache der Erfahrung, indem die Intensit\u00e4t des Schalleindrucks in Beziehung gesetzt wird zur Dauer der Bewegung, welche zur Erreichung der Schallquelle nothwendig ist. N\u00e4hme der Geh\u00f6rsraum beim Blinden dieselbe dominirende Stellung ein wie der GesichtsTaum beim Sehenden, dann m\u00fcsste man bei jenen Individuen, welche in Folge allzugro\u00dfer F\u00fcrsorge oder grober Vernachl\u00e4ssigung nicht zu selbst\u00e4ndigen Bewegungen angehalten wurden, immer constatiren k\u00f6nnen, dass dieselben den Ort der Schallerregung ohne bedeutenden Irrthum bestimmen. Ich habe mich nun bei einem Blinden, der nicht einen Schritt ohne F\u00fchrung zu unternehmen wagte, davon \u00fcberzeugt, dass derselbe fast niemals entscheiden konnte, von welcher Seite er, namentlich aus gr\u00f6\u00dferer Entfernung, angerufen wurde. Sehr belehrend erscheinen mir auch die Ergebnisse einiger Versuche, welche ich an demselben Blinden im Sommersemester 1892 vornahm. Ich f\u00fchrte in der Mitte eines ger\u00e4umigen Zimmers geradlinige Schrittbewegungen aus, bei welchen die St\u00e4rke der Schritte in mannigfacher Weise abgestuft wurde. Der an der Zimmerwand sitzende Blinde sollte die Richtung meiner Schrittbewegung auf einem Kartenblatt registriren, in welches zur besseren Orientirung eine horizontale Linie eingepr\u00e4gt war. Hierbei traten nun die seltsamsten Localisationst\u00e4uschungen zu Tage. Aus den Zeichnungen lie\u00df sich im allgemeinen entnehmen, dass die Abschw\u00e4chung des Schrittger\u00e4usches auf Entfernung, die Verst\u00e4rkung auf Ann\u00e4herung meiner Bewegung bezogen wurde. Wenn nun auch speciell die Localisation des Schrittger\u00e4usches bei anderen Blinden mit viel gr\u00f6\u00dferer Sicherheit erfolgte1), so zeigten sich doch bei der\n1) Dieselbe Versuchsreihe wurde bei der Versuchsperson Oscar Sch. wiederholt. Dieser gab an, dass das subjectiv abgeschw\u00e4chte Schrittger\u00e4usch \u00bbanders","page":538},{"file":"p0539.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n539\nAnwendung von Stimmgabelkl\u00e4ngen charakteristische Localisations-t\u00e4uschungen. Selbst die einfachsten Beziehungen, wie Rechts und Links, Yorne und Hinten, wurden h\u00e4ufig miteinander verwechselt. Die auch bei Blinden zu beobachtende Thatsache, dass Ger\u00e4usche im allgemeinen besser localisirt werden als T\u00f6ne, ist nun vollends mit der M\u00fc ns t erb erg\u2019sehen Ansicht unvereinbar, da jene deutlich f\u00fcr die Einfl\u00fcsse der Erfahrung auf die Schalllocalisation spricht. Zieht man noch die an fr\u00fcherer Stelle (S. 229 f.) angef\u00fchrten Gr\u00fcnde in Betracht, so muss ein unabh\u00e4ngig von Tast- oder Gesichtsvorstellungen existirender Geh\u00f6rsra\u00fcm v\u00f6llig illusorisch erscheinen. Da der Tastsinn der einzige Raumsinn des Blinden ist, so k\u00f6nnen die Geh\u00f6rswahrnehmungen ihre r\u00e4umlichen Eigenschaften nur dadurch empfangen, dass sie sich aufs engste mit den entsprechenden Tastvorstellungen associiren, in analoger Weise wie auch beim Sehenden die Schalleindr\u00fccke lediglich durch ihre Beziehung auf den entwickelten Gesichtsraum zu r\u00e4umlichen Functionen gelangen* 1). Die Associationen des Geh\u00f6rs mit den Raumsinnen sind jedoch f\u00fcr den Sehenden und Blinden von sehr ungleicher Bedeutung. Dieselben tragen beim ersteren insofern einen provisorischen Charakter, als es in der Regel dem Belieben des Sehenden \u00fcberlassen bleibt, sich von Art und Lage der Schallquelle durch den Gesichtssinn allein zu \u00fcberzeugen. Die Wahrnehmungsgebiete beider Sinne erg\u00e4nzen sich gew\u00f6hnlich in Bezug auf ihre Auffassung, sie greifen jedoch nicht ineinander \u00fcber. Ganz anders beim Blinden : hier besteht thats\u00e4ch-lich zwischen Tast- und Geh\u00f6rssinn eine Art reciproker Function. Der letztere entleiht von ersterem zun\u00e4chst r\u00e4umliche Eigenschaften, tritt aber dann selbst in den Dienst der Raumvorstellung, und da die auf diese Weise erm\u00f6glichte indirecte r\u00e4umliche Auffassung dem Blinden bedeutend leichter f\u00e4llt als die unmittelbar durch den Tastsinn vollzogene, so entspricht es wieder dem Gesetz der Kraftersparung, dass schlie\u00dflich das Geh\u00f6r weit mehr f\u00fcr die objective Er-kenntniss des Blinden in Betracht zu kommen scheint, als der\nklinge\u00ab als die Ver\u00e4nderung des Schalls bei Entfernung des Experimentators. In den meisten F\u00e4llen unterschied er auch die beiden Ursachen der Schallmodification, aber zuweilen kamen auch bei ihm Verwechslungen vor.\n1) Wundt, Physiologische Psychologie, II (4. Aufl.) S. 93 ff.","page":539},{"file":"p0540.txt","language":"de","ocr_de":"540\nTheodor Heller.\nTastsinn, zumal das Bestreben, seiner sehenden Umgebung m\u00f6glichst wenig aufzufallen, den erwachsenen Blinden zu einer Beschr\u00e4nkung seiner Tastth\u00e4tigkeit veranlasst.\nDie Geh\u00f6rswahrnehmungen k\u00f6nnen sich nun in doppelter Weise mit r\u00e4umlichen Beziehungen verbinden. Ein Schall kann zun\u00e4chst die Vorstellung der Lage des betreffenden Objects hervorrufen, dann aber auch das ungef\u00e4hre Gesichts- oder Tastbild desselben. Bei den Gesichtsvorstellungen fallen die r\u00e4umlichen Bestimmungen der Form und Gestalt, dann der Lage insofern nicht auseinander, weil wir jedes Object als in bestimmter Entfernung befindlich auffassen m\u00fcssen. Hier associiren sich demnach die Schalleindr\u00fccke stets mit einheitlichen Gesichtsvorstellungen. Der Tastsinn vermag jedoch nur durch Ber\u00fchrung Vorstellungen von den Gegenst\u00e4nden zu entwickeln, jeder Tasteindruck wird zun\u00e4chst an die sensible Fl\u00e4che verlegt. Die Ermittlung der Lage tritt als ein neuer Vorstellungsakt hinzu, indem hierbei die relative Auffassung jener Bewegungen noth wendig wird, welche den Blinden zu den betreffenden Objecten gelangen lassen. Die beiden Bestimmungen unterscheiden sich aber auch in ihrer subjectiven Beziehung. Gelingt es dem Blinden, die Tastvorstellungen innerhalb des Tastraums zu objectiviren, so werden die Orientirungsbewegungen doch stets als subjective Th\u00e4tigkeiten aufgefasst. Die Geh\u00f6rswahrnehmungen vereinigen nun beide Seiten des r\u00e4umlichen Vorstellens gewisserma\u00dfen in sich: jeder Schalleindruck ist gleichsam der Tr\u00e4ger sowohl der Lage- als auch der Gestaltsvorstellung, und auf diese Weise wird eine mittelbare Projection in die Entfernung mit H\u00fclfe des Geh\u00f6rssinns m\u00f6glich, die durch den Tastsinn allein niemals zu Stande kommen kann.\nDie am h\u00e4ufigsten zu beobachtenden simultanen Associationen disparater Vorstellungen, die man seit Herbart als Complicationen bezeichnet, sind auch beim Sehenden jene, welche zwischen Gesichtsund Geh\u00f6rssinn bestehen. So reproducirt z. B. der Klang der Stimme einer bekannten Person sofort das Gesichtsbild der letzteren, hier existirt eine v\u00f6llig eindeutige Beziehung zwischen Geh\u00f6rs- und Gesichtsvorstellung. Da aber das Interesse des Sehenden weit mehr den Gesichts- als den Geh\u00f6rseindr\u00fccken zugewandt ist, so entspricht h\u00e4ufig einer gro\u00dfen Mannigfaltigkeit von Gesichtsbildern ein nur geringer Wechsel charakteristischer Schallvorstellungen. Verfolgen","page":540},{"file":"p0541.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n541\nwir mit Aufmerksamkeit die Ger\u00e4usche, welche aus einer belebten Stra\u00dfe zu uns dringen, so werden wir die Deutung derselben nicht immer mit Sicherheit vornehmen k\u00f6nnen. Das Ger\u00e4usch eines vor\u00fcberrollenden Wagens, das wir im Wohnzimmer vernehmen, repro-ducirt nicht selten die verschiedensten Gesichtsbilder und veranlasst uns, an das Fenster zu treten, um unmittelbar die Vorstellung des betreffenden Objectes zu empfangen. Beim Blinden kehrt sich dieses Verh\u00e4ltniss geradezu um: einer gro\u00dfen Mannigfaltigkeit von Geh\u00f6rseindr\u00fccken entsprechen einige wenige typische Raumvorstellungen. Es ist demnach kaum denkbar, dass sich alle T\u00f6ne und Ger\u00e4usche, die zu den Ohren des Blinden dringen, mit ad\u00e4quaten Tastvorstellungen verbinden.\nVon einer Anzahl namentlich sehr musikalischer Blinden wird nun behauptet, dass ihre Vorstellungen von der Au\u00dfenwelt lediglich Geh\u00f6rsvorstellungen seien. Mit den Namen der Dinge verbinden sie angeblich gar nichts R\u00e4umliches, sondern blo\u00df jene T\u00f6ne und Ger\u00e4usche, die f\u00fcr die betreffenden Objecte besonders charakteristisch sind. Spricht der Blinde von irgend einer Person, so denkt er hierbei vor allem an ihre Stimme und zuweilen auch an die eigent\u00fcmliche Art ihres Schrittger\u00e4usches. In \u00e4hnlicher Weise reducirt sich auch die Vorstellung der Thiere auf die Auffassung ihrer Stimmen, welche manche Blinden mit sinnlicher Lebhaftigkeit zu reproduciren verm\u00f6gen. Hier ist nun der Blinde offenbar nicht im Stande, durch den Tastsinn jene Modificationen von Form und Gr\u00f6\u00dfe aufzufassen, welche dem Sehenden unterscheidende Merkmale darbieten. Die sich von Fall zu Fall \u00e4ndernde Mannigfaltigkeit der Schalleindr\u00fccke charakterisirt weit besser die Eigenart dieser Objecte als noch so genaue Tastwahrnehmungen. Man sollte nun glauben, dass die einseitige Bevorzugung der Geh\u00f6rsvorstellungen auf jene F\u00e4lle beschr\u00e4nkt bleibe, in denen der Entwicklung der Tastvorstellungen gr\u00f6\u00dfere Schwierigkeiten irgend welcher Art erwachsen, oder in denen die Geh\u00f6rswahrnehmungen das Wesen der Objecte besser als die entsprechenden Tastperceptionen ausdr\u00fccken. Dies ist auch bei den meisten Blinden der Fall. In der weitaus gr\u00f6\u00dferen Mehrheit gibt eben die Bevorzugung der Geh\u00f6rsvorstellungen nur den immensen Schwierigkeiten Ausdruck, welche vielen Blinden die constructive Entwicklung complicirter Tastvorstellungen bereitet. Die","page":541},{"file":"p0542.txt","language":"de","ocr_de":"542\nTheodor Heller.\nGeh\u00f6rsvorstellungen sind ihnen ein Nothbehelf, ein Surrogat f\u00fcr die zweifellos auch beim Blinden sehr wichtige Raumvorstellung. Aber bei Einigen soll die Auffassung durch das Geh\u00f6r auch dann bevorzugt sein, wenn die M\u00f6glichkeit zur Entwicklung entsprechender Tastwahrnehmungen vorhanden ist; selbst bei der Auffassung kleiner Objecte, welche der Tastf\u00e4higkeit am besten angepasst sind, kommen nicht die Beziehungen der Gr\u00f6\u00dfe und Form, sondern blo\u00df die Geh\u00f6rsqualit\u00e4ten in R\u00fccksicht, welche beim Aufstellen, R\u00fccken oder Beklopfen hervorgebracht werden.\nEs ist nun kaum anzunehmen, dass diese Blinden zur Entwicklung von Tastvorstellungen \u00fcberhaupt ungeeignet w\u00e4ren. Die Noth-wendigkeit der t\u00e4glich vorzunehmenden Tasthandlungen zwingt alle Blinden zu solchen. Jene Verrichtungen des gew\u00f6hnlichen Lebens, die wir unter optischer Contr\u00f4le vornehmen, muss der Blinde mit H\u00fclfe des Tastsinns vollziehen. Wie sollte er sonst einen Gegenstand an seinen richtigen Ort setzen, wie die Entfernung der Tasten am Klavier auffassen, wie endlich lesen oder schreiben, wenn ihm alle Bef\u00e4higung zur Bildung haptischer Vorstellungen abginge? Wenn aber diese Blinden auch durchaus nicht der F\u00e4higkeit, Tastvorstellungen zu entwickeln, ermangeln, so fehlt ihnen doch h\u00e4ufig genug die Gabe, diese Vorstellungen im Bewusstsein festzuhalten, das Formenged\u00e4chtniss, welches dem Sehenden in so vorz\u00fcglichem Ma\u00dfe zukommt. Dieses Formenged\u00e4chtniss ist bei musikalischen Blinden oft am schlechtesten entwickelt, eben darum, weil sich ihre Aufmerksamkeit vornehmlich den Tonverh\u00e4ltnissen zuwendet. Der blinde Musiker betrachtet h\u00e4ufig auch die Welt fast nur vom Standpunkt des Musikers, ihm sind Ger\u00e4usche und T\u00f6ne weit interessanter als Raumverh\u00e4ltnisse, und durch fortw\u00e4hrende Uebung bildet sich oft ein staunenswerthes Ged\u00e4chtniss f\u00fcr Geh\u00f6rsqualit\u00e4ten aus, das sich freilich auf Kosten des Formenged\u00e4chtnisses stetig erweitert und befestigt1).\n1) Wenn wir somit auch den Mittheilungen dieser Blinden in ausf\u00fchrlicher Weise Rechnung tragen, so muss doch hier ausdr\u00fccklich erw\u00e4hnt werden, dass zwei sehr intelligente Blinde, Oscar Sch. und Dr. M., es auf Grund eigener Erfahrungen f\u00fcr unm\u00f6glich halten, dass der Blinde sich Ger\u00e4usche und T\u00f6ne \u00bbfrei in der Luft umherschwebend\u00ab vorstelle. Das Verlangen, jedem Ger\u00e4usch einen k\u00f6rperlichen Tr\u00e4ger zu substituiren, ist bei den genannten Herren so stark,","page":542},{"file":"p0543.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Bliuden-Psychologie.\n543\nBisweilen erhalten die secund\u00e4ren r\u00e4umlichen Eigenschaften des Geh\u00f6rssinns wahrscheinlich darum nahezu den Charakter des Urspr\u00fcnglichen, weil sich die Associationen von Tast- und Geh\u00f6rsvorstellungen gew\u00f6hnlich schon in fr\u00fcher Jugend bilden. Es ist fast selbstverst\u00e4ndlich, dass die Mutter ihrem blinden Kinde einen t\u00f6nenden Gegenstand als erstes Spielzeug in die Hand gibt. Hier verschmelzen zun\u00e4chst die Tast- und Geh\u00f6rsempfindungen in einen ungetrennten Complex und erst auf einer sp\u00e4teren Stufe der Bewusstseinsentwicklung erfolgt die Scheidung der Empfindungen nach den beiden Sinnesgebieten. Das lebhafte Wohlgefallen, welches das blinde Kind bei allen Schalleindr\u00fccken \u00e4u\u00dfert, veranlasst wohl seine sehende Umgebung, die Tastobjecte wo immer m\u00f6glich auch zum Ert\u00f6nen zu bringen. Auf diese Weise werden aber schon in fr\u00fcher Jugend jene Complicationen angebahnt, welche sp\u00e4terhin f\u00fcr die Baumvorstellung des Blinden eine so hohe Bedeutung gewinnen. Ebenso empf\u00e4ngt das blinde Kind die primitivsten Lagevorstellungen h\u00e4ufig schon bei seinen ersten Spielen. Veranlasst man dasselbe, nach dem Spielzeug den Schalleindr\u00fccken folgend zu haschen, so entwickelt sich wahrscheinlich bei \u00f6fterer Wiederholung dieser Uebung eine zun\u00e4chst noch unbestimmte Vorstellung der Richtung, die bei den ersten selbst\u00e4ndigen Bewegungsversuchen durch bestimmte Beziehungen zum binauralen H\u00f6ren n\u00e4her definirt wird.\nEs w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, wenn wir an dieser Stelle alle Einzelheiten ber\u00fchren wollten, welche bei den Associationen der Tast- und Geh\u00f6rsvorstellungen des Blinden in Betracht kommen. Gewiss verlohnte es sich der M\u00fche, diese Verh\u00e4ltnisse zum Gegenstand einer besonderen eingehenden Darstellung zu machen. Wir wollen hier nur die Thatsache feststellen, dass das Geh\u00f6r einen wichtigen Ein-\ndass sie die Vorstellung des Schallerregers, wenn dieselbe nicht durch unmittelbare Anschauung gewonnen werden konnte, nach Analogie mit bekannten Complicationen oft m\u00fchevoll construiren. Der Unterschied zwischen den Vorstellungen der musikalischen und der technisch besonders beanlagten Blinden d\u00fcrfte demnach nur ein gradweiser sein, indem bei den ersteren die Geh\u00f6rs-, bei den letzteren die Tastcomponente das Uebergewicht gewinnt. Die behauptete Selbst\u00e4ndigkeit der Geh\u00f6rsvorstellungen lie\u00dfe sich auf die durch das vorwiegend musikalische Interesse gelenkte Aufmerksamkeit und auf eine gewisse Einseitigkeit der Selbstbeobachtung zur\u00fcckf\u00fchren.","page":543},{"file":"p0544.txt","language":"de","ocr_de":"544\nTheodor Heller.\nfluss auf die Raum Vorstellung des Blinden gewinnt1). Zwischen Tast- und Geh\u00f6rssinn besteht eine innige Wechselwirkung: der Geh\u00f6rssinn entleiht von dem einzigen Raumsinn des Blinden auf einer fr\u00fchen Stufe der Bewusstseinsentwicklung seine r\u00e4umlichen Beziehungen, und indem er dann der vorzugsweise Fernsinn des Blinden wird, erm\u00f6glicht er auch den Tastvorstellungen in gewissen Grenzen eine Projection in die Entfernung und verleiht ihnen zweifellos auch zum Theil ihren objectiven Charakter. F\u00fcr die Entwicklung jener Anpassungserscheinungen, zu denen der Blinde durch den Ausfall des wichtigsten Raumsinnes gen\u00f6thigt ist, ergibt demnach die Wirkungsweise des Lichtsinns in gewissem Sinne das Vorbild, nicht etwa darum, weil dem Lichtlosen irgend eine bestimmte Vorstellung dieser Wirkungsweise vorschwebt, sondern weil die Bed\u00fcrfnisse der objectiven Erkenntniss in der Ausbildung des Sehorgans eine fast ideale Verwirklichung erlangt haben. So finden wir in dem engen Bezirk jener Anpassungserscheinungen den Charakter der Zielstrebigkeit, der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit ohne unmittelbare Absicht, wieder, welche alle objective und subjective Entwicklung bestimmt2).\nIII. lieber den sogenannten Fernsinn der Blinden.\nDie Lehre von den besonderen Seelenkr\u00e4ften der Blinden, welche die \u00e4ltere Blindenp\u00e4dagogik ausgebildet hatte, st\u00fctzt sich nicht zum mindesten auf Beobachtungen \u00fcber den sog. Fernsinn des Blinden. Der italienische Physiolog Spallanzani machte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Entdeckung, dass Flederm\u00e4use Hindernissen auch in der Dunkelheit mit gro\u00dfer Geschicklichkeit ausweichen k\u00f6nnen. \u00bbUm zu sehen, ob es das Gesicht sei, welches sie leitet, blendete er die Flederm\u00e4use. Er fand aber, dass sie auch dann in derselben Weise und mit derselben Geschicklichkeit die Hindernisse vermeiden. Er spannte F\u00e4den in seinem Zimmer aus und fand, dass\n1)\tSchon Kant hat diesen Umstand in seiner Anthropologie (Hartenstein Bd. VII, S. 4S7) erw\u00e4hnt. M\u00f6glicherweise hat ihn hierbei sein Verkehr mit dem blinden Baczko, der als Lehrer an der K\u00f6nigsberger Kriegsakademie wirkte, bestimmt.\n2)\tPaulsen, Einleitung in die Philosophie, S. 224.","page":544},{"file":"p0545.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n545\ndie Flederm\u00e4use zwischen denselben herumflatteiten und auch an die F\u00e4den nicht anschlugen.\u00ab >). Guilli\u00e9 constatirte bei einigen seiner Z\u00f6glinge ebenfalls das Vorhandensein eines sechsten, des sog. Fernsinns1 2), und damit war den mystischen Speculationen, welche von Mesmer, der sich auch mit Blinden besch\u00e4ftigt hatte3), angeregt wurden, Th\u00fcr und Thor ge\u00f6ffnet. Sp\u00e4terhin f\u00fchrte man die Verfeinerung des Tastsinns der Blinden auf die psychologischen Fac-toren der Uebung und Aufmerksamkeit zur\u00fcck, aber die Gruppe der Erscheinungen, die sich auf den sog. Fernsinn bezogen, schien dennoch einer derartig einfachen Deutung zu widerstreben4). Es wurde daran festgehalten, dass der Fernsinn dem Blinden nicht blo\u00df die Existenz eines entgegenstehenden Hindernisses anzeige, sondern unter gewissen Umst\u00e4nden auch eine directe Wahrnehmung desselben erm\u00f6gliche. In neuerer Zeit hat sich ergeben, dass alle derartigen Urtheile auf der Benutzung secund\u00e4rer Kriterien beruhen, so z. B. auf der ungef\u00e4hren Vorstellung von der Anordnung der Einrichtungsgegenst\u00e4nde in einem Zimmer, dann auf begleitenden Geh\u00f6rs- oder Temperaturempfindungen; \u00fcber die eigentliche Natur des \u00bbFernsinns\u00ab ist man jedoch noch nicht ins Klare gekommen. Gew\u00f6hnlich erblickt man in den \u00bbFerngef\u00fchlen\u00ab oder \u00bbFernempfindungen\u00ab eine eigenth\u00fcmliche Wirkungsweise des Tastsinns und nimmt als den bestimmten Sensationsort derselben die Gesichtshaut, namentlich die Stirne, an. Die folgenden Ausf\u00fchrungen verfolgen den Zweck, jenen Complex von Empfindungen, der dem Blinden die Ann\u00e4herung eines Hindernisses ank\u00fcndigt, einer Analyse zu unterziehen und auf diese Weise einen bestimmten Einblick in diese bis jetzt noch nicht aufgekl\u00e4rten Verh\u00e4ltnisse zu erm\u00f6glichen.\nDa die Bezeichnungen \u00bbFernsinn\u00ab, \u00bbFerngef\u00fchle\u00ab, \u00bbFernempfin-dungen\u00ab sehr leicht zu Missverst\u00e4ndnissen Anlass geben k\u00f6nnen, um so mehr weil sie auch der Terminologie des modernen Spiritismus\n1)\tBr\u00fccke, Vorlesungen \u00fcber Physiologie, Wien 18S7, IL Bd., S. 271.\n2)\tGuilli\u00e9, Essai sur l\u2019instruction des aveugles, Paris 1817.\n3)\tBekannt ist der unheilvolle Einfluss, welchen Mesmer auf die blinde Maria Theresia v. Paradies gewonnen hatte. Unter dem Vorgeben, ihr das Gesicht wiedergeben zu k\u00f6nnen, behandelte er das ungl\u00fcckliche M\u00e4dchen durch l\u00e4ngere Zeit, und als alle seine Versuche fruchtlos blieben, verfiel die Paradies in tiefe Melancholie, die bis an ihr Lebensende anhielt.\n4)\tZeune, Beiisar, Ueber den Unterricht der Blinden, Berlin, S. 122.","page":545},{"file":"p0546.txt","language":"de","ocr_de":"546\nTheodor Heller.\neigent\u00fcmlich sind, so wollen wir jene Empfindungen, welche dem Blinden die Ann\u00e4herung eines Objects in der Bewegungsrichtung in constanter Weise anzeigen, als \u00bbAnn\u00e4herungsempfindungen\u00ab bezeichnen. Damit ist durchaus nicht gesagt, dass die hierbei in Betracht kommenden Empfindungen etwa einen neuen Inhalt aufweisen, es soll vielmehr nur die Veranlassung gekennzeichnet werden, welche diesen Empfindungscomplex von Fall zu Fall hervorruft. Es ist klar, dass diese Ann\u00e4herungsempfindungen f\u00fcr den Blinden von h\u00f6chster Bedeutung sind, dass sie sich im Dienste des Schutzes und der Selbsterhaltung entwickelt haben. Sie geben dem Blinden in jenen F\u00e4llen, in welchen nicht deutliche Geh\u00f6rs- oder Temperaturempfindungen das Vorhandensein eines Hindernisses vorher anzeigen, gleichsam ein Signal, das ihn zu rechtzeitigem Ausweichen veranlasst und vor schweren Besch\u00e4digungen beh\u00fctet.\nDass die Ann\u00e4herungsempfindungen weder auf einer besonderen Tastqualit\u00e4t beruhen, noch einem bestimmten Hautbezirk urspr\u00fcnglich eigenth\u00fcmlich sind, ergeben mit Gewissheit jene Beobachtungen, welche sich auf die allm\u00e4hliche Entwicklung der ersteren beziehen. Gehen wir wieder von jenen Blinden aus, welche, unf\u00e4hig zu selbst\u00e4ndigen Bewegungen, bei jedem Schritt auf die f\u00fchrende Hand des Sehenden angewiesen, in die Blindenanstalt gelangen. Die ersten freien Gehversuche, welche das Kind unternehmen muss, bieten das Bild vollkommener H\u00fclflosigkeit. Die F\u00fc\u00dfe werden tastend vorgeschoben, die H\u00e4nde gleichsam abwehrend nach vorne gestreckt. Auf diese Weise werden aber fein empfindende Th eile der sensibeln Fl\u00e4che wie besondere Sinnesorgane dem \u00fcbrigen K\u00f6rper vorausgeschickt. Der Blinde verh\u00e4lt sich hier kaum anders wie ein Insect, das seine F\u00fchler ausstreckt, um bei der ersten Ber\u00fchrung eines entgegenstehenden Objects sofort seine Bewegungsrichtung zu \u00e4ndern. Sp\u00e4terhin h\u00e4lt der Blinde in seinen Bewegungen schon dann inne, wenn er die Hindernisse noch nicht ber\u00fchrt. Jedenfalls hat er bereits die Deutung jener Tastempfindungen erlernt, welche regelm\u00e4\u00dfig die Ann\u00e4herung gr\u00f6\u00dferer Objecte begleiten und dem ver\u00e4nderten Luftdruck ihre Entstehung verdanken. In \u00e4hnlicher Weise verwendet aber auch der Sehende bisweilen die Vola manus zur Wahrnehmung schwacher Luftbewegungen. Durch pr\u00fcfende Bewegungen der ausgestreckten Hand ist man nicht selten in der Lage, die Wind-","page":546},{"file":"p0547.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Bliudcn-Psychologie.\n547\nrichtung mit einiger Sicherheit zu ermitteln. Ebensowenig, wie man in diesem Falle von einer besonderen eigenth\u00fcmlichen Wirkungsweise des Tastsinns zu sprechen berechtigt ist, wird man auch beim Blinden die schwachen Druckempfindungen, die bei der Ann\u00e4herung eines Objects auftreten, auf eine besondere Tastqualit\u00e4t zur\u00fcckf\u00fchren k\u00f6nnen. Die Blindenerziehung legt nun mit Recht gro\u00dfen Werth darauf, dass der Blinde sich in seiner \u00e4u\u00dferen Erscheinung m\u00f6glichst wenig von seiner sehenden Umgebung unterscheide. Auch setzen die Blinden ihren Ehrgeiz darein, so wenig als m\u00f6glich durch ungeschickte oder unsch\u00f6ne Bewegungen aufzufallen. So senkt denn der Blinde alsbald die anfangs immer vorgestreckt gehaltenen H\u00e4nde. Damit ist aber den schwachen Druckempfindungen, welche die Ann\u00e4herung eines Hindernisses anzeigen, der prim\u00e4re Sensationsort genommen und hierdurch wird der Blinde veranlasst, die gleichfalls mit hoher Druckempfindlichkeit begabte Stirnhaut zu verwenden, welche \u00fcberdies noch dem am meisten schutzbed\u00fcrftigen K\u00f6rper-theil selbst angeh\u00f6rt.\nEine Ann\u00e4herung zwischen Object und Beobachter kann entweder dadurch erfolgen, dass der letztere seine Stellung unver\u00e4ndert beibeh\u00e4lt, w\u00e4hrend das erstere sich bewegt, oder umgekehrt, indem das Object seinen Ort im Raume beibeh\u00e4lt und der Beobachter sich n\u00e4hert, endlich k\u00f6nnen sich beide Wege bei wechselseitiger Ann\u00e4herung combiniren. In allen diesen F\u00e4llen werden nun St\u00f6\u00dfe ausge\u00fcbt auf die zwischen Object und Beobachter befindliche Lufts\u00e4ule. Bei der Ann\u00e4herung des Objects an den ruhenden Beobachter finden die zur\u00fcckweichenden Luftpartikelchen einen Widerstand an der sensibeln Fl\u00e4che und werden hier als deutliche Druckempfindungen percipirt. N\u00e4hert sich der Beobachter einem ruhenden Object, so \u00fcbt er bei seiner Bewegung St\u00f6\u00dfe auf die zwischenliegende Luftschicht aus, diese werden von der starren Wand reflectirt und treffen dann die sensible Fl\u00e4che, wo sie wieder als Druck empfunden werden. Diese Druckempfindungen sind jedoch, weil ein Theil der Bewegung durch den Widerstand der umgebenden Luft und der Reflexionsfl\u00e4che aufgehoben wird, wesentlich schw\u00e4cher als im ersten Falle. Ueberdies ist die Wahrnehmung der directen Luftbewegung noch mit der eigenth\u00fcmlichen Empfindung der K\u00fchle verbunden, die durch die Abgabe eines Theiles der Eigenw\u00e4rme der","page":547},{"file":"p0548.txt","language":"de","ocr_de":"548\nTheodor Heller.\nHaut an die ber\u00fchrende k\u00e4ltere Luftschicht entsteht1). Es ist nun durchaus nicht der Fall, dass der Blinde \u00fcberall da, wo es sich um die Beurtheilung der Ann\u00e4herung eines Hindernisses handelt, in \u00fcbereinstimmender Weise von seinem \u00bbFernsinn\u00ab Gebrauch macht. Er befolgt auch hier das Gesetz der Kraftersparung, indem er, wenn sich ihm verschiedene Kriterien darbieten, die auf das Vorhandensein eines Hindernisses schlie\u00dfen lassen, dasjenige bevorzugt, welchem die gr\u00f6\u00dfte Deutlichkeit zukommt, zu dessen Auffassung also eine geringere Spannung der Aufmerksamkeit erforderlich ist. Da sich die Bewegung eines Objects f\u00fcr gew\u00f6hnlich durch specifische Ger\u00e4usche schon in weiterer Entfernung bemerkbar macht, so ist es erkl\u00e4rlich, dass hier der Blinde den Eintritt der Druckempfindungen nicht erst abwartet, um sich rechtzeitig vor einem Zusammensto\u00df zu bewahren. Demnach kommt den Ann\u00e4he-iungsempfindungen, die, wie wir sogleich sehen werden, sich nicht blo\u00df aus einer Tast-, sondern auch aus einer Geh\u00f6rscomponente zusammensetzen, nur in dem zweiten oben erw\u00e4hnten Falle eine thats\u00e4chlich selbst\u00e4ndige Bedeutung zu.\nAus den Selbstbeobachtungen zahlreicher Blinden geht zweifelsohne hervor, dass die Ann\u00e4herung eines Hindernisses nicht blo\u00df nach den schwachen Druckempfindungen, die in der Stirngegend auftreten, beuTtheilt wird, sondern auch nach der Modification des Schrittger\u00e4usches, die den ver\u00e4nderten Bedingungen der Schallreflexion entspricht. Auch wir sind bei Bewegungen in einem dunkeln Zimmer bei Concentration der Aufmerksamkeit auf die Beobachtung des Schrittger\u00e4usches nicht selten in der Lage, in der N\u00e4he der Zimmerwand eine eigenth\u00fcmliche D\u00e4mpfung des Schalles wahrzunehmen. Bei oberfl\u00e4chlicher Betrachtung scheint es nun, als ob diesen Geh\u00f6rswahrnehmungen eine derart bevorzugte Stellung in der Auffassung zuk\u00e4me, dass daneben den Tastempfindungen kaum eine besondere Bedeutung zugesprochen werden k\u00f6nne. 1st doch der Blinde im Stande, nach der Geh\u00f6rswahrnehmung die Ann\u00e4herung eines Objects schon auf 3\u20144 m zu constatiren, w\u00e4hrend sich die entsprechenden Druckempfindungen im g\u00fcnstigsten Falle\n1) In viel st\u00e4rkerem Ma\u00dfe nimmt man die analoge Empfindung der K\u00fchle beim Gebrauch eines F\u00e4chers wahr.","page":548},{"file":"p0549.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blindeu-Psychologie.\n549\nin einer Entfernung von 60\u201470 cm einstellen. Eine unmittelbare Analyse der Ann\u00e4herungsempfindungen ist aus dem Grunde kaum durchf\u00fchrbar, weil hier stets die Gef\u00fchlsbetonung pr\u00e4valirt, zumal sich noch die mehr oder minder deutliche Vorstellung eines m\u00f6glichen Zusammensto\u00dfes hinzugesellt, die associativ den directen Gef\u00fchlswerth dieses Empfindungscomplexes bedeutend steigert. Deshalb versuchte ich auf experimentellem Wege die Sonderung der beiden Factoren, welche bei den Ann\u00e4herungsempfindungen in Betracht kommen k\u00f6nnen, zu erreichen, indem ich zun\u00e4chst durch Ausschaltung der Tastempfindungen die Versuchspersonen blo\u00df auf die Geh\u00f6rswahrnehmung zur Beurtheilung eines entgegenstehenden Hindernisses an wies und dann durch Verschluss des Geh\u00f6rorganes die Tastcomponente zur Selbst\u00e4ndigkeit erhob.\nDie Versuche wurden in einem ger\u00e4umigen Zimmer, aus dem vorher alle Einrichtungsgegenst\u00e4nde entfernt waren, unternommen; das Hinderniss bestand in einer mit einem Gestell versehenen Schulwandtafel von circa 1,65 m H\u00f6he und 1 m Breite. Bei den ersten Versuchsreihen wurde die Tastperception dadurch verhindert, dass den Versuchspersonen eine breite Elanellbinde um die Stirne geschlungen wurde, \u00fcberdies mussten die betreffenden Blinden ihre H\u00e4nde auf dem B\u00fccken verschr\u00e4nken. Vor die Tafel hatte ich in einer Entfernung von 45 cm einen Draht gespannt, um einen unmittelbaren Zusammensto\u00df mit dem Hinderniss zu vermeiden. Die Bretterwand wurde in der Bewegungsrichtung in wechselnder Entfernung aufgestellt und den Versuchspersonen der Auftrag ertheilt, sobald sie das Herannahen der Wand versp\u00fcrten, ihre Bewegung zu hemmen. Einige Vexirversuche, bei denen die Wand aus der N\u00e4he des Blinden entfernt war, sollten die Versuchspersonen zu besonderer Anspannung ihrer Aufmerksamkeit veranlassen. Die Ergebnisse dieser Versuche, an welchen sich vier Blinde betheiligten, waren nun keine besonders g\u00fcnstigen. Zu einem Zusammensto\u00df mit dem Objecte kam es nur in zwei F\u00e4llen, und diese lie\u00dfen sich aus der Erm\u00fcdung der betreffenden Versuchspersonen erkl\u00e4ren. Aber es war nicht selten zu constatiren, dass, wenn sich die Tafel gar nicht in dem Zimmer befand, die Blinden doch mit gro\u00dfer Bestimmtheit behaupteten, in der N\u00e4he derselben zu stehen. In anderen F\u00e4llen, in denen die Tafel an dem entgegengesetzten Ende","page":549},{"file":"p0550.txt","language":"de","ocr_de":"550\nTheodor Heller.\ndes Zimmers stand, hemmten die Blinden gleich zu Anfang ihre Bewegung und gaben an, dass sie nunmehr das Hinderniss mit ausgestrecktem Arm m\u00fcssten erreichen k\u00f6nnen. Wurde die Tafel nicht der Quere, sondern der L\u00e4nge nach parallel zur Bewegungsrichtung aufgestellt, so lie\u00dfen sich die Versuchspersonen sehr leicht dadurch t\u00e4uschen, blieben neben der Tafel stehen und glaubten, sich vor derselben zu befinden. Nahm ich die Binde von der Stirne der Versuchsperson, so erfolgte die Bestimmung der Lage des Hindernisses in der Regel sehr pr\u00e4cis, allerdings erst knapp vor der Ber\u00fchrung mit dem sch\u00fctzenden Draht. Wenn auch zugegeben werden muss, dass diese Versuche von einigen kaum zu eliminirenden Zuf\u00e4lligkeiten beeinflusst sind, so ahmen sie doch das gew\u00f6hnliche praktische Verhalten des Blinden in getreuer Weise nach, und es d\u00fcrfte sich aus denselben mit einiger Sicherheit schlie\u00dfen lassen, dass die Geh\u00f6rscomponente der Ann\u00e4herungsempfindungen v\u00f6llige Selbst\u00e4ndigkeit nicht in Anspruch nehmen kann.\nBedeutendere Schwierigkeiten ergaben sich bei den folgenden Versuchsreihen, bei welchen die Geh\u00f6rsempfindungen ausgeschlossen waren. Hier machten sich die subjectiven Ohrenger\u00e4usche in sehr st\u00f6render Weise bemerkbar. Im Anfang waren die Versuchspersonen kaum im Stande, 'geradlinig nach vorw\u00e4rts zu gehen, und darum sah ich mich veranlasst, die Bewegungsbahn durch einen Laufteppich zu kennzeichnen. Hierbei lie\u00df sich entnehmen, wie sehr die Blinden geneigt sind, secund\u00e4re Kriterien statt der Ann\u00e4herungsempfindungen zur Constatirung eines Hindernisses zu verwenden. Im Anfang legte ich den Laufteppich nur lose auf. Die geringe Spannung desselben in der N\u00e4he der Wand gen\u00fcgte einer Versuchsperson, um auf Grund der durch die F\u00fc\u00dfe vermittelten Tastempfindungen die Ann\u00e4herung des Objects zu bestimmen. In \u00e4hnlicher Weise beachten auch manche Blinden die durch die Aufstellung schwerer Objecte veranlasste Senkung der Fu\u00dfbodenebene. Die bei Ausschluss der Geh\u00f6rsempfindungen vorgenommenen Versuche konnten nicht lange fortgesetzt werden, da die subjectiven Ohrenger\u00e4usche sich h\u00e4ufig bis zur Unertr\u00e4glichkeit steigerten. Die Experimente f\u00fchrten im Wesentlichen zu dem Resultat, dass die sichere Ermittelung des Hindernisses mit H\u00fclfe der Tastempfindungen blo\u00df zu Beginn der Bewegung m\u00f6glich war. Befand sich die Wand","page":550},{"file":"p0551.txt","language":"de","ocr_de":"Stadien iur Blinden-Psychologie.\n551\nweiter als 3\u20144 m, so erwiesen sich die Angaben der Blinden als v\u00f6llig unzul\u00e4nglich. Das Hinderniss wurde nicht selten \u00fcbersehen, anderenfalls blieben die Blinden oft in betr\u00e4chtlicher Entfernung vor demselben stehen. Ueber die Ursache dieses Verhaltens befragt, gaben die Versuchspersonen an, dass sie nur im Anfang den Druck deutlich empf\u00e4nden. Nach diesen Ergebnissen wird man kaum Unrecht thun, wenn man annimmt, dass weder der Tast- noch der Geh\u00f6rscomponente der Ann\u00e4herungsempfindungen eine selbst\u00e4ndige Bedeutung zukommt.\nWir haben nun im Folgenden die Frage zu beantworten, in welcher Weise Geh\u00f6rs- und Tastempfindungen bei der Auffindung der Bewegungshindernisse Zusammenwirken. Die durch Interferenz der Schallwellen hervorgebrachte D\u00e4mpfung des Schrittger\u00e4usches ist offenbar in weiterer Ferne merklich als die schwachen, durch Reflexion der Luftbewegung erregten Druckempfindungen. Zugleich vermag die Geh\u00f6rswahrnehmung in Folge ihrer relativ gr\u00f6\u00dferen Intensit\u00e4t die passive Apperception des Blinden zu erregen, w\u00e4hrend die der Schwelle sehr nahe liegenden Druckempfindungen \u00fcberhaupt nur bei intensiver Aufmerksamkeitsspannung bemerkt werden k\u00f6nnen. Trotz dieser Bevorzugung fehlt jedoch der Geh\u00f6rscomponente ihre eindeutige Beziehung. Der Blinde ist nicht immer im Stande, mit Sicherheit anzugeben, von welcher Seite der Schall re-flectirt wird, er nimmt eben unmittelbar nur die durch die Schallreflexion bewerkstelligte Modification seines Schrittger\u00e4usches wahr. Die letztere kann aber auch bisweilen einem andern Motiv entspringen, z. B. dem st\u00e4rkeren Mitschwingen eines Theiles des Fu\u00dfbodenbeleges. Das einzige Kriterium, das v\u00f6llig eindeutig das Herannahen eines gr\u00f6\u00dferen Hindernisses vorhersagt, ergibt die in der Stirngegend auftretende Druckempfindung. F\u00fcr diese erzeugt aber die constant vorhergehende Geh\u00f6rswahrnehmung jenen vorbereitenden Zustand der Erwartung, ohne welchen die Auffassung der minimalen Tastempfindungen \u00fcberhaupt nicht m\u00f6glich w\u00e4re. Die Thatsache, dass in den vorerw\u00e4hnten Versuchen der charakteristische Druck in der Stirngegend nur im Anfang der Bewegung bemerkt werden konnte, die Aufnahmsf\u00e4higkeit sich aber alsbald abstumpfte, erkl\u00e4rt sich daraus, dass die Aufmerksamkeit den Tastempfindungen nicht in continuirlicher Weise zu folgen vermochte,\nWundt, Philos. Studien. XI.\t37","page":551},{"file":"p0552.txt","language":"de","ocr_de":"552\nTheodor Heller.\nsondern, entsprechend ihrem Wesen als intermittirender Function nach kurzer Zeit gleichsam unter ihre Schwelle sank, um sich sp\u00e4terhin in unregelm\u00e4\u00dfigen Perioden wieder zu erheben und zu senken 4). Bei der Auffassung von der Schwelle naheliegenden Empfindungen, bei welchen nach den Untersuchungen Marbe\u2019s 1 2) das Sinken der Aufmerksamkeit l\u00e4nger w\u00e4hrt als die Erhebung, ist die Wahrscheinlichkeit eine sehr geringe, dass speciell in unserem Falle die Erhebung \u00fcber die Aufmerksamkeitsschwelle gerade zusammenf\u00e4llt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Beobachter die Wand erreicht hat3 4). Demnach ist bei den Ann\u00e4herungsempfindungen die rasche Aufeinanderfolge des Eintretens der Geh\u00f6rs- und der TastWahrnehmung eine unerl\u00e4ssliche Bedingung f\u00fcr die klare Apperception der letzteren.\nDas Verhalten des Blinden bei Ann\u00e4herung eines Hindernisses l\u00e4sst sich daher folgenderma\u00dfen kennzeichnen: die Wahrnehmung des modificirten Schrittger\u00e4usches veranlasst denselben, seine Aufmerksamkeit vorbereitend auf die Tastsensationen zu richten. Treten alsbald die charakteristischen Druckempfindungen in der Stirngegend auf, so wei\u00df der Blinde mit Bestimmtheit, dass sich ein Hinderniss in der Bewegungsrichtung befindet, und er wird hierdurch zu rechtzeitigem Ausweichen veranlasst. Somit kommt der Geh\u00f6rscompo-nente der Ann\u00e4herungsempfindungen die Bedeutung eines Signalreizes zu, welcher die Aufgabe hat, die Hemmung anderweitiger Erregungsvorg\u00e4nge im Apperceptionscentrum zu veranlassen, welche die Aufmerksamkeit ablenkend beeinflussen k\u00f6nnten 4).\n1)\tVergleiche Wundt, Physiologische Psychologie, II (4. Aufl.) S. 295ff.\n2)\tPhil. Studien, VIII, S. 630 ff.\n3)\tIn sehr interessanter Weise offenbarten sich die Schwankungen der Aufmerksamkeit anl\u00e4sslich eines Versuches, den ich urspr\u00fcnglich zur Ermittelung der H\u00f6rsch\u00e4rfe des blinden Eduard B. anstellte. An einem horizontalen Ma\u00dfstab war eine Uhr durch Schn\u00fcre, die \u00fcber eine Rolle gingen, verschiebbar befestigt. Als ich dieselbe in einer Entfernung von genau 1 m einstellte, glaubte die Versuchsperson zun\u00e4chst eine Ann\u00e4herung der Uhr wahrzunehmen, dann entfernte sich dieselbe und oscillirte hierauf scheinbar unregelm\u00e4\u00dfig um den Ruhepunkt. Nicht blo\u00df eine geradlinige Verschiebung, sondern auch eine Abweichung nach oben und unten, rechts und links glaubte die Versuchsperson zu bemerken. Hier wurden also die Schwankungen der Aufmerksamkeit in gewissem Sinne objectivirt.\n4)\tWundt, Physiologische Psychologie, II (4. Aufl.) S. 276.","page":552},{"file":"p0553.txt","language":"de","ocr_de":"Stadien zur Blinden-Psychologie.\n553\nOb und in welcher Weise Temperaturempfindungen f\u00fcr die Be-urtheilung der Ann\u00e4herung eines Objects ma\u00dfgebend sind, l\u00e4sst sich mit Sicherheit nicht ermitteln. Eine experimentelle Pr\u00fcfung dieser Verh\u00e4ltnisse ist darum nicht m\u00f6glich, weil bei der Ann\u00e4herung eines Objects schwache Luftbewegungen unvermeidlich sind und fernerhin minimale Druck- und Temperaturempfindungen h\u00e4ufig mit einander verwechselt werden1). Wunderli bemerkt zwar ausdr\u00fccklich, dass, wenn die gereizte Hautstelle in der Vola manus oder im Gesicht lag, sich die Versuchspersonen nie \u00fcber die Art des angebrachten Reizes t\u00e4uschten, aber es ist nicht zu vergessen, dass die von Wunderli verwendeten Reize \u2014 er bedeckte die Hautstelle mit einem durchlochten Papier und ber\u00fchrte dieselbe dann mit einem Haarpinsel \u2014 wesentlich gr\u00f6ber sind, als die durch die reflectirte Luftbewegung veranlassten, welche wohl \u00fcberhaupt die schw\u00e4chsten Sensationen darstellen, die von dem Tastorgan selbst bei g\u00fcnstigster Constellation der Aufmerksamkeit noch wahrgenommen werden k\u00f6nnen.\nIV. Die Surrogatvorstellungen der Blinden.\nEs ist das Verdienst Hitschmann\u2019s, zum ersten Mal auf jene eigenth\u00fcmlichen Vorstellungsbildungen des Blinden aufmerksam gemacht zu haben, die er treffend als Surrogatvorstellungen bezeichnet2) und welche zum Theil auf den Zwiespalt zur\u00fcckzuf\u00fchren sind, der zwischen der Beschr\u00e4nktheit der sinnlichen Erkenntniss des Blinden und dem Reichthum an Bezeichnungen in der Sprache des Sehenden besteht, deren sich auch der Blinde bedient. Nur ein geringer Theil der Worte, die der Blinde gebraucht, ist thats\u00e4chlich mit ad\u00e4quaten Vorstellungsinhalten erf\u00fcllt. F\u00fcr eine Reihe von Beziehungen des Tast- und Geh\u00f6rssinns hingegen, die dem Blinden besonders wichtig sind, hat die Sprache des Sehenden keine oder nuT wenige charakteristische Namen ausgebildet, da sie vor allem den Verh\u00e4ltnissen des vornehmsten Erkenntnissinns, des Gesichts-\n1)\tEick und Wunderli: Moleschott, Untersuchungen, Bd. VII, S. 594.\n2)\tHitschmann, Zeitschrift f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane, III, S. 394 ff.\n37*","page":553},{"file":"p0554.txt","language":"de","ocr_de":"554\nTheodor Heller.\nsinns, Rechnung tr\u00e4gt1). Indem die Ausdrucksweise des Sehenden den Blinden immer von neuem auf L\u00fccken in seiner Vorstellungswelt aufmerksam macht, ergibt sie einen wichtigen Ansporn f\u00fcr die Phantasie- und Verstandesth\u00e4tigkeit des letzteren in dem Streben, das zun\u00e4chst Fremdartige zu assimiliren. Da dies in vollem Umfang wegen der Beschr\u00e4nkung seiner sinnlichen Auffassung nicht gelingen kann, so resultiren die Surrogatvorstellungen als ein Ausdruck der nat\u00fcrlich bedingten Vorstellungsarmuth des Blinden.\nW\u00e4hrend sich die Sprache des Sehenden zun\u00e4chst unter dem Einfluss der Vorstellungen ausbildet als ein System von Zeichen f\u00fcr das Vorgestellte, richten sich umgekehrt die Vorstellungen des Blinden in vielen F\u00e4llen nach den Bezeichnungen der Sprache, die Worte des Sehenden werden dem Blinden in gewissem Sinn zu einem Regulativ f\u00fcr die Entwicklung seiner objectiven Erkenntniss. Jene r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse, welche dem Gesichtssinn vollkommen einheitlich auffassbar sind und deshalb zu einheitlichen Bezeichnungen Anlass gegeben haben, zerfallen h\u00e4ufig beim Blinden in eine Reihe von Einzeleindr\u00fccken, die dieser auf eine Einheit auch in der Vorstellung zu beziehen nur durch die einheitliche Bezeichnung des Sehenden veranlasst wird.\nNach den Gegenst\u00e4nden, auf welche sich die Surrogatvorstellungen beziehen, erweist sich eine Scheidung der letzteren in zwei\n1) Nehmen wir, um diese Verh\u00e4ltnisse des N\u00e4heren zu erl\u00e4utern, einer Fiction Dufau\u2019s folgend, an, dass ein Geschlecht Lichtloser v\u00f6llig abgetrennt vom Verkehr mit Sehenden existire. Hierbei fallen alle Entwicklungsbedingungen weg, welche durch die Anpassung des Blinden an die sehende Umgebung gegeben sind. Ohne Zweifel w\u00fcrde die Sprache, die sich in diesem Blindenstaat ausbilden k\u00f6nnte, ganz erheblich von der Sprache des Vollsinnigen abweichen, sie d\u00fcrfte weit mehr den Verh\u00e4ltnissen des Geh\u00f6rs- als des Tastsinns Rechnung tragen. Ist doch die hohe Entwicklung des Tastsinns zum gr\u00f6\u00dften Theil auf die Beeinflussung des Blinden durch seine sehende Umgebung zur\u00fcckzuf\u00fchren. Von Anfang an ist das Interesse f\u00fcr r\u00e4umliche Beziehungen lange nicht in dem Ma\u00dfe vorhanden, als mau bei Betrachtung eines wohlunterrichteten Blinden glauben sollte. Dasselbe wird vielmehr erst durch den Unterricht geweckt oder beth\u00e4tigt sich spontan an jeneu Baumobjecten, die eben der Sehende hervorgebracht hat. Dem Blinden treten in diesen Sch\u00f6pfungen der Sehenden fortw\u00e4hrend Probleme entgegen, welche er nicht anders zu l\u00f6sen vermag als dadurch, dass er seine Tastth\u00e4tigkeit entsprechend entwickelt, wobei \u00fcbrigens, wie wir schon fr\u00fcher gesehen haben, \u00e4u\u00dfere und innere Bedingungen eine Menge wechselnder Verh\u00e4ltnisse herbeif\u00fchren.","page":554},{"file":"p0555.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zut Blinden-Psychologie.\n555\nKategorien als nothwendig. Die eine bezieht sich auf Raumverh\u00e4ltnisse, die der Blinde \u00fcberhaupt nicht oder nur mit M\u00fche ad\u00e4quat aufzufassen vermag, die zweite auf Bezeichnungen von Farben und Helligkeiten, also von specifischen Eigenth\u00fcmlichkeiten des Gesichtssinns, von denen der Blindgeborene entsprechende Vorstellungen niemals erlangen kann. Es ist klar, dass die Anzahl der ausschlie\u00dflich vorhandenen Surrogatvorstellungen, die sich auf r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse beziehen, um so gr\u00f6\u00dfer sein muss, je primitiver die Tasthandlungen des Blinden sind, je weniger seine Raum Vorstellung ausgebildet ist. Aber auch wenn der Blinde in seiner Raumauffassung eine hinl\u00e4ngliche Uebung erlangt hat, bestehen in vielen F\u00e4llen neben ad\u00e4quaten Vorstellungen die Surrogatvorstellungen fort, da bei complicirteren Objecten die einheitliche Vorstellung erst m\u00fchsam, fast berechnend aus den Wahrnehmungscomponenten entwickelt werden muss. Intellectuelle Motive sind hierbei ma\u00dfgebend: je schwieriger dem Blinden Beziehungen dieser Art werden, desto gr\u00f6\u00dfere Bedeutung gewinnen die parallel gehenden Surrogatvorstellungen. Nur dann, wenn er seine volle Aufmerksamkeit unge-theilt den Objecten zuwendet, ist der Blinde zu einer entsprechenden Vorstellungsconstruction bef\u00e4higt; gew\u00f6hnlich sind die Surrogatvorstellungen die herrschenden1). F\u00fcr die Eintheilung der Surrogatvorstellungen erster Kategorie2), \u2014 so wollen wir kurz diejenigen bezeichnen, welche sich auf ungenau aufgefasste Raum Verh\u00e4ltnisse beziehen \u2014 ergibt sich folgendes einfache Schema:\nSurrogatvorstellungen I. Kategorie.\nI. homologe:\tII. disparate.\na)\tsubjective,\nb)\tobjective.\nDie SVi k\u00f6nnen entweder wiederum Tastvorstellungen sein (homologe), oder Vorstellungen anderer Sinne, namentlich des Geh\u00f6rssinns (disparate). Die homologen SV beziehen sich auf Wahr-\n1)\tVergleiche hierzu S. 425 f.\n2)\tF\u00fcr die Bezeichnung \u00bbSurrogatvorstellung erster Kategorie\u00ab wollen wir im Folgenden die K\u00fcrzung \u00bbSF/\u00ab, f\u00fcr \u00bbSurrogatvorstellungen zweiter Kategorie\u00ab die K\u00fcrzung \u00bbSF/r\u00ab anwenden.","page":555},{"file":"p0556.txt","language":"de","ocr_de":"556\nTheodor Heller.\nnehmungen einfacher Art, auf ein dem Blinden leicht zug\u00e4ngliches Merkmal des betreffenden Objects, oder auf die Vorstellung charakteristischer K\u00f6rperstellungen und Bewegungen, die der Blinde beim Gebrauch der Gegenst\u00e4nde einnimmt oder ausf\u00fchrt. Die letztere Art der Surrogatvorstellungen ist von besonderer Bedeutung. Hier erfolgt keine oder eine h\u00f6chst unvollkommene Objectivirung der Eindr\u00fccke, die SVi beschr\u00e4nken sich auf subjective Lage- und Bewegungsvorstellungen. Dieselben sind von relativer Constanz insofern, als sie sich im Grunde auf einheitliche Verh\u00e4ltnisse zur\u00fcckbeziehen, und gewisserma\u00dfen die Vorstufen der pr\u00e4cisen Raumvorstellungen, denen ebenfalls ein System von Lage- und Bewegungsempfindungen zu Grunde liegt, die aber auf \u00e4u\u00dfere Objecte bezogen, objectivirt werden. Die objectiven SV sind in Bezug auf gleichartige Gegenst\u00e4nde h\u00e4ufig ebenfalls gleichartig. Geben die Verh\u00e4ltnisse der Form und Gr\u00f6\u00dfe dem Sehenden gen\u00fcgende Anhaltspunkte zur Unterscheidung der Objecte, so findet der Blinde solche in bestimmten, bei analogen Objecten wiederkehrenden Merkmalen, welche h\u00e4ufig einen Schluss auf die Beschaffenheit des gesammten Dinges erm\u00f6glichen, der sich stets auf eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl unmittelbarer Erfahrungen st\u00fctzt und geleitet wird von der Voraussetzung einer Proportionalit\u00e4t zwischen Theil und Ganzem, welche in Bezug auf Gr\u00f6\u00dfe wie Form stattfindet und beim Sehenden zun\u00e4chst \u00e4sthetischen Momenten ihre Entstehung verdankt. Hat der Blinde den Schluss vom Theil aufs Ganze wiederholt vollzogen, so wird diese urspr\u00fcnglich apperceptive Beziehung sp\u00e4terhin mechanisirt, zu einer blo\u00dfen Association, so dass ohne bestimmte Absicht die Vorstellung des Theils die Vorstellung des Gesammtobjects mehr oder minder deutlich reproducirt. Hierbei ist es von intellectuellen Motiven abh\u00e4ngig, ob sich die Beziehung auf das Gesammtbild immer an die Betastung der charakteristischen Merkmale anschlie\u00dft, oder ob dieselbe nur dann erfolgt, wenn gegebene Bedingungen die betreffende Vorstellung von Fall zu Fall nothwendig machen.\nIn Bezug auf die Vorstellungen der Personen ergeben nicht selten Geh\u00f6rswahrnehmungen Anlass zu weitgehenden Schl\u00fcssen. Man spricht h\u00e4ufig von einer dicken und einer d\u00fcnnen Stimme, und diese Bezeichnungen gewinnen f\u00fcr den Blinden eine wesentliche Bedeutung, da sie die Vorstellung, die der Blinde von der","page":556},{"file":"p0557.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zur Blinden-Psychologie.\n557\nbetreffenden Pers\u00f6nlichkeit erlangt, in sehr charakteristischer Weise bestimmen. Es ist klar, dass diese indirecten Vorstellungen stets nur einen ganz allgemeinen, schematischen Charakter haben k\u00f6nnen. Aehnlich wie die Stimme ist auch das Schrittger\u00e4usch f\u00fcr den Blinden von Wichtigkeit, und er gelangt auf Grund der letzteren Geh\u00f6rswahrnehmung oft zu viel sichereren Urtheilen \u00fcber Gestalt und Aussehen der Personen, als auf Grund der ersteren. Zur Berichtigung dieser Momente wird h\u00e4ufig die Wahrnehmung der H\u00f6he, aus welcher die Stimme der Person ert\u00f6nt, verwendet. Demnach k\u00f6nnen auch disparate SV Anlass zu associativen und apperceptiven Beziehungen geben, auf Grund deren der Blinde zu einer zwar blo\u00df schematischen, seinen Bed\u00fcrfnissen aber vollst\u00e4ndig entsprechenden Vorstellung der nicht direct zu betastenden Objecte gelangt.\nWir haben schon bei einer fr\u00fcheren Gelegenheit auseinandergesetzt, weshalb sich die Vorstellung von Personen h\u00e4ufig auf die Vorstellung ihrer Stimmen beschr\u00e4nkt1). Dem Sehenden gibt der Gesichtsausdruck die n\u00e4chste Veranlassung, um auf die gesammte geistige Individualit\u00e4t einer Person zu schlie\u00dfen. Dasselbe, was dem Sehenden in den Z\u00fcgen des Gesichts ausgepr\u00e4gt erscheint, tritt dem Blinden in dem Klang der Stimme entgegen. Dieser vermag nicht selten ohne n\u00e4here Gr\u00fcnde Zuneigung oder Abneigung hervorzubringen. Schon Baczko betonte, dass Blinde in ihrem Ur-theil \u00fcber den Charakter einer Person, den sie gleichsam aus der Stimme lesen, selten irren2). \u00bbDer Mensch kann wohl seinen Gesichtsausdruck t\u00e4uschend verstellen, nicht aber jenen Ausdruck der Stimme, der mit Sicherheit auf die seelischen Eigenschaften hinweist. Nicht das Antlitz, sondern die Stimme oder vielmehr jener nicht n\u00e4her zu beschreibende Charakter derselben, der unmittelbar zum Herzen spricht, ist der Spiegel der Seele. \u00ab Bedeutungsvoll sind ferner f\u00fcr den Blinden jene directen Tastwahrnehmungen, welche durch die Umfassung der Hand erm\u00f6glicht werden. Aus zahlreichen Erfahrungen lernt der Blinde die Proportion zwischen Hand und Gesammtk\u00f6rper kennen. So verdeutlicht ihm die Betastung der\n1)\tSiehe S. 108 f.\n2)\tBaczko, Ueber mich selbst und meine Ungl\u00fccksgef\u00e4hrten, die Blinden, Leipzig, 1807.","page":557},{"file":"p0558.txt","language":"de","ocr_de":"558\nTheodor Heller.\nHand jenes unbestimmte Bild, das er mittelst der vorerw\u00e4hnten Kriterien von den Personen gewonnen hat1). Aber nicht blo\u00df auf die Gro\u00df en Verh\u00e4ltnisse bezieht sich diese Wahrnehmung, auch eine Anzahl anderer physischer und psychischer Eigenschaften wird dem Blinden hierdurch offenbar. Lassen wir einen Blinden \u00fcber diese Verh\u00e4ltnisse berichten: \u00bbWenn mir Jemand seine Hand reicht, so entnehme ich daraus schon die Gesinnung, mit welcher mir die Person entgegenkommt. Ein kr\u00e4ftiger H\u00e4ndedruck, den die Person nicht alsobald l\u00f6st, l\u00e4sst auf Wohlwollen schlie\u00dfen, eine fl\u00fcchtige Ber\u00fchrung auf Stolz und auf das Bewusstsein der Ueberlegenheit. Die physischen Eigenschaften der Person offenbaren sich mir in der Festigkeit des Handbaues, eine weiche, wenig muskul\u00f6se Hand ergibt mir das Bild eines schw\u00e4chlichen Menschen, und merkw\u00fcrdig, diese Wahrnehmung stimmt oft genug mit dem \u00fcberein, was ich aus dem Klang der Stimme entnehme. Die Art der Besch\u00e4ftigung ersehe ich aus der Beschaffenheit der Haut. Ein Handwerker l\u00e4sst sich aufs bestimmteste von einem geistig arbeitenden Menschen unterscheiden. Selbst die n\u00e4here Bestimmung des Handwerks vermag ich nicht selten auf diese Weise vorzunehmen. So erkannte ich einen Schneider sofort nach der ersten Begr\u00fc\u00dfung an seinen zerstochenen Fingern. Weitere Anhaltspunkte ergibt der Schmuck deT Hand, sowie die Pflege derselben. Ich kannte einen Blinden, der in einer Gesellschaft von Sehenden, in der er das erste Mal verkehrte, dadurch verbl\u00fcffte, dass er nach der Betastung der Hand richtige Angaben \u00fcber Geschlecht, Alter, Stand und Liebhabereien der Personen machte\u00ab2). Aus dieser Darstellung ist zu ersehen, dass nebens\u00e4chliche Momente f\u00fcr den Blinden h\u00e4ufig hohe Bedeutung gewinnen, und daraus erkl\u00e4rt sich die von Knie aufgestellte Behauptung, dass Blinde nicht selten zu Vorurtheilen geneigt sind3). Weiterhin l\u00e4sst sich daraus entnehmen, dass die SVi zumeist nicht\n1)\tWenn auch die Blinden auf diese Beziehungen den gr\u00f6\u00dften Werth legen, so muss doch ausdr\u00fccklich betont werden, dass dieselben h\u00e4ufig zu betr\u00e4chtlichen Irrth\u00fcmern Anlass geben, wovon ich mich wiederholt zu \u00fcberzeugen Gelegenheit hatte.\n2)\tAus einem Brief des blinden B\u00fcrstenbinders Herbert Ha., mit dem ich l\u00e4ngere Zeit in brieflichem Verkehr stand. (Gek\u00fcrzt.)\n3)\tKnie, Anleitung zur zweckm\u00e4\u00dfigen Behandlung blinder Kinder, S. 111.","page":558},{"file":"p0559.txt","language":"de","ocr_de":"'Studien zur Blinden-Psychologie.\n559\nisolirt im Bewusstsein bleiben, sondern vielmehr Anst\u00f6\u00dfe zu einer Reihe apperceptiver und associativer Beziehungen, zu Combinationen wechselnder Art geben, die dem Blinden einen theilweisen Ersatz f\u00fcr den Ausfall directer Wahrnehmungen erm\u00f6glichen. Aber die SV bleiben insofern bevorzugt, als sie in dem Wechsel m\u00f6glicher Beziehungen den festen, weil auf unmittelbarer Auffassung beruhenden Grundstein darstellen.\nDie Namen, welche sich auf specifische Eigenth\u00fcmlichkeiten des Gesichtssinns beziehen, sind f\u00fcr den Blinden zun\u00e4chst nichts als leerer Schall. Der Blinde erf\u00e4hrt aber fortw\u00e4hrend durch Lect\u00fcre und Umgang die hohe Bedeutung, welche die Verh\u00e4ltnisse des Lichtsinns f\u00fcr den Sehenden besitzen. Die Lichtberaubten f\u00fchlen sich namentlich m\u00e4chtig angezogen von poetischen Kunstwerken1), indem die Rhythmik, der \u00e4sthetische Eindruck des Reims, die klangvollen Worte zun\u00e4chst ihr musikalisches Interesse erregen, was den Umstand erkl\u00e4rt, dass Blinde f\u00fcr Dichtungen Vorliebe zeigen, die ihnen wegen der Hervorhebung von Beziehungen des Gesichtssinns ihrem wahren Inhalte nach kaum verst\u00e4ndlich sein k\u00f6nnen. Die poetische Sprache mit ihren zahlreichen Umschreibungen und Vergleichen gibt aber den wichtigsten Anlass zur Entwicklung von SVu, die selbstverst\u00e4ndlich s\u00e4mmtlich disparater Natur sind und den verschiedensten Sinnesgebieten angeh\u00f6ren k\u00f6nnen. Selbst f\u00fcr denselben Farbennamen ergibt sich im Anfang ein eigenth\u00fcmliches Schwanken der SV nach den vieldeutigen Beziehungen, die zwischen Farbennamen und Objecten m\u00f6glich sind. Da es sich hierbei vielfach ereignen muss, dass eine SV, welche ihre Entstehung der charakteristischen Verbindung der Farbe mit einem bestimmten Object verdankt, in anderen F\u00e4llen nicht anwendbar ist, dass also eine vorher gewonnene SV einer anderen auf diese specielle Verbindung bez\u00fcglichen Platz machen muss, so wird der Blinde schlie\u00dflich zu umfassenden SV, denen der Charakter relativer Constanz zukommt, geleitet, welche in den meisten F\u00e4llen lediglich dem Geh\u00f6rssinn angeh\u00f6ren. Hierbei sind nun zwei M\u00f6glichkeiten vorhanden. Entweder gibt der Klang der Worte selber die Veranlassung zur Aus-\n1) Vergleiche hierzu Hitschmann, \u00bbDer Blinde und die Kunst\u00ab, Vierteljahrsschrift f\u00fcr wissenschaftliche Ph\u00fcosophie, XVII, S. 312 \u00a3F.","page":559},{"file":"p0560.txt","language":"de","ocr_de":"560\nTheodor Heller.\nbildung musikalischer SV, oder es bildet das Mittelglied der asso-ciativen Verbindung die Darstellung der Gef\u00fchlswirkung einer Farbe, die der Blinde nicht selten poetischen Werken entnimmt, h\u00e4ufig aber auch gewissen symbolischen Gebr\u00e4uchen, die gleichsam einen concreten Ausdruck der Gef\u00fchlswirkungen der verschiedenen Farben darbieten. Der Thatsache, dass z. B. Schwarz einen deprimirenden, Roth einen aufregenden Eindruck hervorbringt, tr\u00e4gt der Blinde in der Wahl der betreffenden SV oft in merkw\u00fcrdig zutreffender Weise Rechnung. Dass der Blinde f\u00fcr die SVu bisweilen Klangfarben verschiedener Instrumente verwendet, bezeichnet insofern keine besondere Eigenth\u00fcmlichkeit desselben, als das in gewissem Sinne umgekehrte Verhalten auch bei zahlreichen Sehenden nachgewiesen worden ist1). Einen Einblick in das Wesen der SVn erm\u00f6glicht die nachstehende Tabelle:\nBezeichnung der Gesichts- qualit\u00e4ten\tNamen der Blinden\t\t\t\t\t\n\tGustav K.\t\tHermann E.\t\tMoritz M.\t\n\tAccord\tKlang- farbe\tAccord\tKlang- farbe\tAccord\tKlang- farbe\nRoth\tSept- accord G dur\tTrompete\tDreiklang Fis dur\tPiccolo\tQuart- sextacc. A dur\tFl. piccolo\nGelb\tSext- accord A dur\tFl\u00f6te\tQuart- sextacc. C dur\t\u2014\tSeptnon- accord B dur\tClarinette\nGr\u00fcn\tDreiklang G dur\tClarinette\tDreiklang G dur\tFl\u00f6te\tSext- accord C dur\tFl\u00f6te\nBlau\tDreiklang E dur\tVioline\tDreiklang Es dur\tViola\tSecund-acc. F dur (Dom.)\tVioline\nViolett\tSept- accord E dur\tCello\t\u00bb\tCello\tDreiklang C dur\tCello\nWei\u00df\tDreiklang C dur\tKlavier\tDreiklang C dur\tKlavier\tSept- accord H dur\tOboe\nSchwarz\tDreiklang B moll\tBass- Posaune\t\u2014\tContra- Bass\tverm. Septacc. Cis moll\tPosaune\n1) Hierher geh\u00f6rt die Erscheinung der sog. Geh\u00f6rfarben. Vergleiche \u00fcber die Ursache derselben (Analogien der Empfindung) Wundt, Phys. Psych. I (4. Aufl.)S.579. Daseihst auch die betreffende Literatur. Eine besondere physiologische Erkl\u00e4rung sucht zu geben: Deichmann, \u00bbErregung secund. Empf. i. Geb. d. Sinnesorgane\u00ab.","page":560},{"file":"p0561.txt","language":"de","ocr_de":"Studien zut Biinden-Psychologie.\n561\nEs erhebt sich nun die Frage, welche Bedeutung die SVn f\u00fcr den Blinden haben k\u00f6nnen. Dieselben d\u00fcrfen nicht schlechthin den SVi untergeordnet werden, da die letzteren einen hohen praktischen Werth besitzen, w\u00e4hrend es f\u00fcr das Verhalten der Blinden gegen die Au\u00dfenwelt ganz gleichg\u00fcltig ist, ob den Farbennamen ein Vorstellungsinhalt entspricht oder nicht. Eine Bereicherung der Vorstellungswelt wird, wie leicht einzusehen, durch diese Surrogate keineswegs bewirkt, denn es handelt sich hier stets um Anwendungen und Modificationen der durch unmittelbare Wahrnehmung gewonnenen Bewusstseinselemente. Wenn also die Bedeutung der SVn nicht in der Vorstellungsseite begr\u00fcndet sein kann, so bleibt nur die andere M\u00f6glichkeit, dass dieselben auf die Gef\u00fchlslage des Bewusstseins jeweils einen entsprechenden Einfluss ausiiben. Nun hat die psychologische Analyse ergeben, dass es weder empfindungsfreie Gef\u00fchle noch auch gef\u00fchlsfreie Empfindungen gibt. Das eigentlich Wirksame in den SVn sind lediglich die Gef\u00fchlsmomente, und der Vorstellungsseite kommt nur insofern eine Bedeutung zu, als jedes Gef\u00fchl einer Vorstellungsgrundlage bedarf. Bei der Lec-t\u00fcre jener Stelle in Schiller\u2019s Glocke, wo es hei\u00dft: \u00bbRoth wie Blut ist der Himmel\u00ab ist nach den Angaben von Gustav K. nicht zu beobachten, dass hierbei die betreffenden Accorde auftauchen, vielmehr tritt nur der Stimmungscharakter derselben hervor und ihr innerer Zwiespalt erzeugt eben jene Gem\u00fcthslage, welche offenbar der Dichter hervorbringen wollte. Nicht anders verh\u00e4lt es sich mit jenem kleinen Gedicht, das Hitschmann Seite 396 seines Aufsatzes anf\u00fchrt *). Wollte man hier f\u00fcr jede Farbenbezeichnung, f\u00fcr jedes nur dem Lichtsinn zug\u00e4ngliche Object die entsprechende Surrogatvorstellung substituiren, so erg\u00e4ben sich die seltsamsten Ungeheuerlichkeiten. Aber nicht die Surrogatvorstellungen als solche\nDissert. 1889. Ob und inwieweit der Farbenname [bei diesen Associationen in R\u00fccksicht kommt, ist noch nicht festgestellt. \u2014 Eckardt, \u00bbVorschule der Aesthetik\u00ab, 1864, S. 336, erz\u00e4hlt von einem im fr\u00fchen Lebensalter erblindeten Mann, der die F\u00e4higkeit bewahrt hatte, \u00bbNamen, Worte, Personen innerlich als Farbe zu empfinden\u00ab. (Citirt nach Liesegang, Naturwissenschaftl. Wochenschr. VIII, S. 359.)\n1) Hitschmann, Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie d. Sinnesorgane, III, a. a. 0.","page":561},{"file":"p0562.txt","language":"de","ocr_de":"562\tTheodor Heller. Studien zur Blinden-Psychologie.\ntreten hier in Wirksamkeit, sondern nur die ihnen entsprechenden Gem\u00fctsbewegungen. Wenn deshalb Hitschmann behauptet, dass zahlreiche Werke der Dichtkunst einen ganz verschiedenen Eindruck in dem Gem\u00fcth eines sehenden und eines blinden Lesers hervorrufen m\u00fcssten, dass der Blinde nur solche Dichtungen zu genie\u00dfen verm\u00f6ge, welche von Blinden und f\u00fcr Blinde geschrieben seien *), so irrt er, weil er die wahre Bedeutung der SVn verkennt. Sie sind nur der Hintergrund, die St\u00fctzen f\u00fcr jene Gef\u00fchle, welche es dem Blinden erm\u00f6glichen, sich den Stimmungen anzupassen, welche der Dichter bei seinen sehenden Lesern hervorbringen wollte. Wenn wir den Begriff der Surrogatvorstellungen auf beide Kategorien ausgedehnt haben, so ist dies insofern berechtigt, als dieselben \u00fcberhaupt Nothbehelfe darstellen, welche durch den Zwiespalt der Vorstellungswelt des Blinden und der des Sehenden, die ihren Niederschlag in der Sprache gefunden hat, verursacht werden ; aber die Bedeutung der SVj liegt in der Vorstellungsseite, die der SVn in der Gef\u00fchlsseite des Blinden begr\u00fcndet.\nDass die besprochenen Surrogatvorstellungen haupts\u00e4chlich dem Geh\u00f6rssinn angeh\u00f6ren, erkl\u00e4rt sich daraus, dass dieser Sinn beim Blinden vorz\u00fcglich der Tr\u00e4ger \u00e4sthetischer Wirkungen ist. Die Gefiihlscomponenten desselben sind nicht einfach an die Empfindung selbst gebunden, wie beim Tast- oder Geruchssinn, sondern sie entsprechen ohne Zweifel Stimmungen, die wegen ihrer com-plexen Beschaffenheit eine mannigfache Beziehung erm\u00f6glichen. Die vollkommensten SVn sind demnach jene, welche dem Geh\u00f6r, dem \u00e4sthetischen Sinn des Blinden, angeh\u00f6ren, eben weil dieser complexe Gef\u00fchlswirkungen hervorbringt, die betreffenden SV sich daher von jenen eindeutigen Verbindungen, denen sie ihren Ursprung verdanken, am leichtesten losl\u00f6sen k\u00f6nnen.\n1) Hitschmann, Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie d. Sinnesorgane, III.","page":562}],"identifier":"lit4536","issued":"1895","language":"de","pages":"531-562","startpages":"531","title":"Studien zur Blinden-Psychologie, Schluss","type":"Journal Article","volume":"11"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:16:48.092401+00:00"}