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{"created":"2022-01-31T14:25:28.353919+00:00","id":"lit4544","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Selver, David","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 3: 216-263","fulltext":[{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre\nbis 1695.\nVon\nDr. David Selver.\n\u00bbJe voudrais que les auteurs nous donnassent l\u2019histoire de leurs d\u00e9couvertes et les progr\u00e8s par lesquels ils y sont arriv\u00e9s. Quand ils ne le font point, il faut t\u00e2cher de les deviner, pour mieux profiter de leurs ouvrages. \u00ab\nLeibniz, ed. Erdm. p. 722 h.\nEinleitung.\nWenn, wie K. Fischer treffend bemerkt, \u00bbdie charaktervolle Eigent\u00fcmlichkeit eines gro\u00dfen Denkers die Quelle und der Tr\u00e4ger auch seiner Philosophie ist, das Band zwischen Leben und Lehren\u00ab ,J) so wird die entwicklungsgeschichtliche Darstellung eines philosophischen Systems zun\u00e4chst wohl von denjenigen Momenten ihren Ausgang zu nehmen haben, auf welchen jene Eigent\u00fcmlichkeit des Urhebers desselben beruht. Sie wird nicht nur diejenigen Z\u00fcge des sch\u00f6pferischen Ingeniums ins Auge fassen, welche jeder einzelnen Denkbestimmung innerhalb des Systems ihr eigent\u00fcmliches Gepr\u00e4ge geben und, wenn der Ausdruck gestattet ist, die Technik des philosophischen Gestaltens kennzeichnen, sondern sie wird auch die ideellen Grundtriebe sowie die individuelle Richtung der Gem\u00fcthsmotive in Betracht zu ziehen haben, welche in dem allgemein^nU/eistesleben eines Denkers die Impulse seines philosophischen und wissenschaftlichen Strebens enthalten.\nAndererseits wird aber die entwicklungsgeschichtliche Darstellung\neines Systems auch solche Bestimmungsfactoren in den Kreis ihrer Betrachtungen ziehen m\u00fcssen, welche, in den philosophischen und\n'J\u00ceL*\n1) Gesch. d. n. Philos. II. S. 3.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelnngsgaiig der Leibiiiz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n217\nwissenschaftlichen \u00dcberlieferungen, sowie den hierauf bez\u00fcglichen Bestrebungen des Zeitalters wurzelnd, die scheinbar individuell bedingte Form der Problemstellung nicht minder als die sachlichen Ausgangs- und Ankn\u00fcpfungspunkte, sowie die Mittel der L\u00f6sungsversuche bestimmen.\nF\u00fcr eine Betrachtung der in der angedeuteten Doppelrichtung f\u00fcr die Entstehung und Ausbildung der Leibniz\u2019schen Monadenlehre wirksamen Momente scheint uns der nat\u00fcrlichste Faden in der Verfolgung des philosophischen Bildungs- und Entwicklungsganges ihres Urhebers gegeben zu sein, und zwar in soweit sich derselbe zun\u00e4chst in den von Leibniz bis zum Jahre 1670 verfassten Schriften und Briefen nach seinen entscheidendsten Wendungen beurkundet findet.\nIn diesen ersten philosophischen Versuchen Leibniz\u2019 sind nicht nur viele der keimkr\u00e4ftigsten Gedanken seines sp\u00e4tem Systems niedergelegt und bereits diejenigen Grundz\u00fcge seines philosophischen Strebens angedeutet, welche die individuelle Richtung seines Geistes und seine Stellung zur mechanischen Naturphilosophie charakterisiren, sondern auch ganz besonders die Einfl\u00fcsse erkennbar, welche auf die Entwicklung seines philosophischen Denkens von Anfang an bestimmend eingewirkt haben.\nEs dient daher ein genaueres Eingehen auf diese ersten philosophischen und besonders naturphilosophischen Kundgebungen Leibniz\u2019 \u2014 sowohl nach dem inneren Zusammenh\u00e4nge ihrer ideellen Motive als nach der Verschiedenheit ihrer sachlichen Ausgangspunkte \u2014 nicht nur zur Charakteristik der wesentlichen Vorstufen der Monadenlehre, sondern es gew\u00e4hrt dasselbe auch eine \u00dcbersicht \u00fcber diejenigen Momente ihrer Entwicklung, welche in den wissenschaftlichen und naturphilosophischen Hauptstr\u00f6mungen des Zeitalters sowie in den allgemeinen \u00dcberlieferungen der Philosophie enthalten waren.\nIndem wir nun in dem folgenden ersten Abschnitt unserer Abhandlung ein\u00ab ?S\u00a3dehe.\u00dcbersicht zu gewinnen suchen, glauben wir das biographische Detail schon in R\u00fccksicht auf die uns gezogenen Grenzen \u00fcbergehen zu sollen. Nur insoweit gewisse Studienverh\u00e4ltnisse und Einwirkungen von Seiten der Umgebung nicht blo\u00df im biographischen Sinne, sondern f\u00fcr die Auffassung des ganzen hier zu schildernden Entwicklungsganges in entscheidender Weise in Frage kommen, Ljyir auf, diese, mm entsprechenden Orte einzugehen haben.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nDavid Selver.\nBei der Bedeutung ferner, die in jedem geistigen Entwicklungs-process der Individualit\u00e4t, als dem substantiellen Tr\u00e4ger desselben zukommt, und zwar in um so h\u00f6herem Grade, je geistiger und sch\u00f6pferischer ihre Beth\u00e4tigungsart ist, glauben wir auch, ehe wir uns der sachlichen Entwicklung unseres Gegenstandes zuwenden, noch einen Blick auf jene Studienweise Leibniz\u2019 werfen zu sollen, in welcher diejenige Art des wissenschaftlichen und philosophischen Strebens, als dessen Typus Leibniz mit Recht hingestellt zu werden pflegt, nicht nur ihre erste Beth\u00e4tigung zeigt, sondern von welcher sie auch sicherlich die nachhaltigsten Antriebe empfangen hat. Wir meinen Leibniz\u2019 geniale Art der Selbstbildung und seinen wissenschaftlichen und philosophischen Universalismus.\nUm den letztem nicht, wie es trotz der ebenso gl\u00e4nzenden wie durchaus zutreffenden Charakteristiken, die ihm von K. Fischer und E. Zeller zu Theil wurden, noch h\u00e4ufig geschieht, als \u00e4u\u00dfere Polyhistorie und philosophischen Eklekticismus misszuverstehen1), muss man seine fr\u00fcheste, von einer sch\u00f6pferischen Genialit\u00e4t geleitete Beth\u00e4tigungsart kennen lernen, welche in allem Wissen instinctiv das Principielle und Entscheidende zu finden oder tiefer zu begr\u00fcnden suchte.'2) Der gew\u00f6hnliche Eklekticismus ist nicht nur unselbst\u00e4ndig und unsch\u00f6pferisch, sondern im Grunde auch einseitig. Leibniz ist beides nicht. Sein in der Philosophie wie in der Wissenschaft auf Ausgleichung und Vers\u00f6hnung des Gegens\u00e4tzlichen gerichtetes Streben, das dieses Ziel durch Sch\u00f6pfung h\u00f6herer und umfassenderer Begriffe und Erweiterung der speculativen Gesichtspunkte zu erreichen trachtet, wird vornehmlich durch eine Freiheit des Geistes geleitet, die in reichen, gr\u00fcndlichen Kenntnissen, besonders aber in einer schon fr\u00fchzeitig durch umfassende Selbststudien und Lect\u00fcre erworbenen Vorurteilslosigkeit ihren R\u00fcckhalt hat und sich ebensosehr gegen landl\u00e4ufige , herrschende, wie gegen verrufene , als gef\u00e4hrlich oder \u00fcberwunden geltende Ansichten zu behaupten wei\u00df.\nMit diesen in dem bezeichneten Sinne sfi fruchtbaren Selbststudien hat Leibniz, wie er in einer unter dem (wahrscheinlich als \u00dcbersetzung\n1)\tMan vgl. z. B. K. Gr\u00fcn, Kulturgesch. des 17. Jahrh. Bd. II. (1880.) S. 420 ff.\n2)\tEinige hierauf bez\u00fcgliche \u00c4u\u00dferungen Leibniz\u2019 selbst vgl. man weiter unten S. 226, Anm. 1.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n219\nvon Gottfried anzusehenden) Namen Pac i diu s gegebenen Schilderung seines Bildungsganges erz\u00e4hlt, schon als achtj\u00e4hriger Knabe begonnen. \u2019) In welchem Umfange er diese Studien betrieb, ist aus einer andern autobiographischen Aufzeichnung2) zu ersehen. Schon in jenem Alter, wo die weitaus \u00fcberwiegende Mehrzahl der Knaben noch an der \u00dcberwindung der ersten methodischen Schwierigkeiten des Lernens und der Aneignung des Wissens zu arbeiten hat, erstreckten sich Leibniz\u2019 Kenntnisse auf eine gro\u00dfe Zahl der altclassischen Autoren, der lateinischen wie griechischen Kirchenv\u00e4ter und auf die Schriften der ber\u00fchmtesten Scholastiker und protestantischen Theologen. Aber als die eigentlich werthvolle Frucht und den bleibenden Erfolg dieser schon so fr\u00fch weit \u00fcber den Gesichtskreis der Schule ausgedehnten Studien bezeichnet er selbst die schon damals gewonnene \u00dcberzeugung, dass \u00bbauf der einen Seite nicht alles begr\u00fcndet sei, was daf\u00fcr gelte, und dass h\u00e4ufig um Dinge gestritten werde, denen gar keine Bedeutung zukomme\u00ab.3) \u00c4hnlich lautet unter Hinweis auf diese Studienart sein Bekenntniss in einem Briefe an den Herzog Joh. Friedrich von Braunschweig-L\u00fcneburg : \u00bbZuv\u00f6rderst weil mir meine Eltern zeitlich gestorben, und ich fast ohne einige direction meiner Studien gewesen, habe ich das gl\u00fcck gehabt, vor mich \u00fcber b\u00fbcher von allerhand Sprachen, Religionen und Seienden, wiewohl ohne geb\u00fchrende Ordnung zu kommen, und solche anfangs nur aus trieb der delectation zu lesen; davon ich aber unempfindlich den nuzen ge-sch\u00f6pfet, dass ich von gemeinen praejudiciis befreyet worden\u00ab.4)\nLeibniz blieb aber, wie sein ihn schon in den J\u00fcnglingsjahren m\u00e4chtig bewegendes Wahrheitsstreben zeigt, nicht bei der passiven J orurtheilslosigkeit und Receptivit\u00e4t stehen, sondern suchte bald nach einem in den Wirren der verschiedenen Meinungen orientirenden Compass. \u00bbErgo nondum 17ennis accuratius quaerundarum contro-versiarum discussionem moliebar\u00ab, f\u00e4hrt er an dem oben angef\u00fchrten\n1)\tIn spec. Pacidii introd. histor. O. P. ed. Erdm. p. 91 sq.\n2)\tGuhrauer, Leibniz Bd. II, Anhang S. 53 ff, Vgl. besonders S. 55\u201458.\n3)\tGuhrauer a. a. O. S. 57 : Tum primum coepi agnoscere neque omnia certa esse quae vulgo feruntur, et saepe inania vehementer de rebus contendi, quae tanti non sunt.\n4)\tPhil. Sehr. hg. v. Gerhardt. Bd. I. S. 57.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nDavid Selver.\nOrte seiner Autobiographie fort. Und der gereifte Mann konnte, mit subjectiver Berechtigung wenigstens, darauf hinweisen, dass es ihm gelungen sei, die in der bisherigen Geschichte des menschlichen Denkens hervorgetretenen Gegens\u00e4tze zu \u00fcberwinden.J) Aber jene speculative H\u00f6he, von der aus er sp\u00e4ter unter der Perspective seiner Monadenlehre die Gegens\u00e4tze des Plato und Aristoteles, des Descartes und der Atomistik verschwinden sah, konnte auch ein Leibniz nicht in raschem Gedankenfluge erreichen ; er musste sie in ernster Gedankenarbeit stufenweise erklimmen.\nErster Abschnitt.\nDie philosophische Entwicklung Leibniz\u2019 bis zum Jahre 1670, besonders in Bezug auf die Probleme der Naturphilosophie.\nErstes Capitel.\nFr\u00fchzeitiger Bruch mit der peripatetischen Schulphilosophie und enger Anschluss an die Demokrit-Gassendi\u2019sche Atomistik.\nDie \u00bbgemeinen praejudicia\u00ab, von denen Leibniz sich in philosophischer Beziehung zuerst befreit hat, waren die der scholastischen Philosophie und Theologie, welche auch noch zu seiner Zeit, wie er sagt, \u00bbhei der Menge f\u00fcr den Gipfel der Weisheit galt\u00ab.1 2) In den bekannten brieflichen Mittheilungen an Thom. Burnet3) und Kemond de Montmort4) berichtet Leibniz, dass er noch nicht sein f\u00fcnfzehntes Lebensjahr vollendet hatte (er hatte also die Universit\u00e4t gerade eben oder noch gar nicht bezogen), als er die erste, f\u00fcr seine naturphilosophischen Grundanschauungen der vormonadologischen Periode seines Philosophirens entscheidende und auch f\u00fcr sein sp\u00e4teres System bedeutsame Einwirkung von Seiten der mechanischen Naturphilosophie erfuhr und sich auch bald nach anhaltendem Nachdenken auf\n1)\tCf. Lettre \u00e0 Basnage, Erdm. S. 153 und die bekannte \u00c4u\u00dferung in den Nouveaux essais (daselbst S. 205 a).\n2)\tErdm. S. 91. . . . tune pro sapientiae fastigio vulgo habebatur.\n3)\tDutens VI. pars I. p. 253. Ep. VI.\n4)\tErdm. S. 702.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwicklungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\t221\neinsamen Spazierg\u00e4ngen, wie er erz\u00e4hlt, zu Gunsten der mechanischen Principien gegen die Lehre von den substantiellen Formen entschied. Den Gegensatz, in welchem ihm damals die sich widersprechenden Richtungen in der Naturphilosophie entgegengetreten sind, gibt er verschieden an. In dem Schreiben an Burnet spricht er von dem des Aristoteles und Demokrit. *) Dagegen hei\u00dft es in der entsprechenden Schilderung jener in seinen philosophischen Anschauungen damals eingetretenen Krisis : \u00bbPar apr\u00e8s \u00e9tant \u00e9mancip\u00e9 des Ecoles triviales, je tombai sur les Modernes ... Le M\u00e9canisme pr\u00e9valut et me porta \u00e0 m\u2019appliquer aux Math\u00e9matiques\u00ab.1 2) Dass es die Schriften des Gassendi und Bacon waren, die ihn zuerst mit der Atomistik und der anti-aristotelischen Richtung in der Naturphilosophie bekannt machten, gibt er ausdr\u00fccklich an : \u00bb Bacon et Gassendi me sont tomb\u00e9s les premiers entre les mains ; leur style familier et ais\u00e9 \u00e9tait plus conforme \u00e0 un homme qui veut tout lire.3) Leibniz hat zwar auch schon sehr fr\u00fch, ja, wie, aus einer weiter unten anzuf\u00fchrenden Stelle hervorgehen wird, schon w\u00e4hrend seiner Universit\u00e4tszeit die Schriften des Carte-sius kennen gelernt und von ihnen in der Folge nachweisbar die nachhaltigsten philosophischen Impulse empfangen. Aber vor der Hand waren es wohl die Schriften der beiden genannten Autoren, welche den jungen Leibniz in die Forschungs- und Auffassungsweise der mechanischen Physik einf\u00fchrten. Besonders war Gassendi\u2019s Schreibund Darstellungsweise, auf die Leibniz in der angef\u00fchrten Stelle hindeutet, sowie der sachliche Gehalt seiner Schriften dazu geeignet, den jungen Autodidakten in der ausgiebigsten und gr\u00fcndlichsten Weise mit der Naturphilosophie der Alten nicht minder als mit den mechanischen und physikalischen Entdeckungen des galileischen Zeitalters bekannt zu machen. 4) Das Syntagma philosophicum Gassen-\n1)\tJe n\u2019avais pas encore 15 ans, quand je me promenais des journ\u00e9es enti\u00e8res dans un bois pour prendre parti entre Aristote et D\u00e9mocrite. Dut. 1. c.\n2)\tAn R. de Montm. Erdm. a. a. O.\n3)\tAn S. Foueher 1676 (?). Gerh. Phil. Sehr. Bd. I. S. 371.\nt) Vgl. Leibniz\u2019 \u00c4u\u00dferung \u00fcber die umfassende Gelehrsamkeit Gassendi\u2019s, some \u00fcber die Vorliebe, mit der er in der Jugend die Schriften desselben studirte, in Lettre \u00e0 un ami en France : Qant \u00e0 M. Gassendi, dont vous d\u00e9sirez savoir mes senti-fflents, je le trouve d\u2019un savoir grand et \u00e9tendu, tr\u00e8s vers\u00e9 dans la lecture des Anciens, dans l\u2019Histoire profane et eccl\u00e9siastique et en tout genre d\u2019\u00e9rudition ; mais ses m\u00e9ditations me contentent moins \u00e0 pr\u00e9sent qu\u2019elle ne faisaient quand je commen\u00e7ai a quitter les sentiments de l\u2019\u00c9cole, \u00e9colier encore moi-m\u00eame. Erdm. Opp. 698a.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nDavid Selver.\ndi\u2019s1) d\u00fcrfte in dieser Beziehung schwerlich seines Gleichen in der damaligen Literatur gehabt haben. In der sachlichen Darstellung sehr eingehend und ausf\u00fchrlich, ohne jedoch weitschweifig und schleppend zu sein, behandelt Gassendi in diesem Werke fast kein naturphilosophisches Problem, ohne die hierauf bez\u00fcglichen \u00e4lteren und neueren Ansichten und zwar meist in w\u00f6rtlichen Citaten oder unter Hinweisen auf die Originalschriften, zu er\u00f6rtern. Er verbreitet sich nicht nur jedesmal \u00fcber die Ansichten und Lehrmeinungen des Plato, Aristoteles, Demokrit und Epikur, sondern behandelt auch die Bewegungsgesetze des Galilei, erkl\u00e4rt weitl\u00e4ufig das Experiment des Toricelli, geht auf die Ansichten der Chemiker \u00fcber die Constitution der Materie und ihre Lehre von den Grundelementen ein und sucht vielfach die Ansichten des Cartesius zu widerlegen. So konnten denn die Schriften des Gassendi f\u00fcr Leibniz bei seiner schon fr\u00fchzeitig ausgepr\u00e4gten Neigung zum Selbststudium besonders in historischer Beziehung eine Quelle vorz\u00fcglicher Belehrung sein.\nAber es war doch nicht blo\u00df diese Seite der Gassendi\u2019schen Schriften, was die Lect\u00fcre derselben f\u00fcr Leibniz anziehend machte, sondern vielmehr die verlockende Einfachheit und scheinbare Exact-heit der mechanisch-atomistischen Naturerkl\u00e4rung, die Gassendi erneuerte, und welche Leibniz im Besitze des \u00bbnon plus ultra\u00ab der Er-kenntniss der Seinselemente zu sein schien.2) In seiner 16653) verfassten Schrift De arte combinatoria weist der neunzehnj\u00e4hrige Leibniz mit jugendlicher Begeisterung auf die Methode der atomistischen Naturerkl\u00e4rung hin, als auf diejenige, welche allein die Geheimnisse der Natur zu durchdringen verm\u00f6chte: \u00bbSiquidem verum est\u00ab, sagt er daselbst, \u00bb grandia ex parvis, sive haec atomos sive moleculas voces, componi, unica ista via est in arcana naturae penetrandi, quando eo quisque perfectius rem cognoscere dicitur, quo magis rei\n1)\tCf. Petri Gassendi opera omnia, Lugduni apud Laurentium 1658. t. I\u2014II.\n2)\tSo schildert Leibniz noch als Greis ein Jahr vor seinem Tode in den Briefen an Clarke jene Zuversichtlichkeit, mit der er die atomistische Naturerkl\u00e4rung in seiner Jugend ergriff; \u00bbOn croit avoir trouv\u00e9 les premiers \u00e9l\u00e9ments, un non plus ultra. Nous voudrions que la nature n\u2019all\u00e2t plus loin, qu\u2019elle f\u00fbt finie comme notre esprit. Erdm. S. 758.\n3)\tDieses Datum der Abfassung gibt Leibniz in einer Notiz an, die er gelegentlich eines ohne sein Wissen 1691 veranstalteten Abdrucks |dieser Schrift an die Acta erudit. gelangen lie\u00df. Vgl. Gerh. Phil. Sehr. Bd. IV. S. 103.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Der Eiitwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\t223\npartes et partium partes earumquae figuras positusque percepit. Haec ficrurarum ratio primum abstracte in geometria ac stereometria per-vastiganda: inde ubi ad historiam naturalem existentiam-que, seu id quod re vera invenitur in corporibus, acces-seris, patebit Physicae porta ingens, et elementorum facies, et qualitatum origo et mixtura, et mixturae origo et mixtura mixtura-rum, et quicquid hactenus in natura stupebamus ! \u00ab ')\nDie Ars combinatoria ist die letzte in der philosophischen Reihe der akademischen Dissertationen Leibniz\u2019, und wir sehen ihn hier denselben Standpunkt in der Naturphilosophie mit Begeisterung fest-halten, f\u00fcr den er sich bereits hei oder noch kurz vor seinem \u00dcbergang zur Universit\u00e4t entschieden hatte. Ein kleiner Aufsatz aus dem folgenden Jahre (1666) zeigt, dass Leibniz damals nicht blo\u00df in methodischem Sinne oder in R\u00fccksicht auf die allgemeinen Principien der Natur er kl\u00e4r ung, sondern a\u00fcch in der Annahme einzelner -wesentlicher Lehrs\u00e4tze, selbst solcher, die er bereits zwei Jahre sp\u00e4ter f\u00fcr absurd erkl\u00e4rte, Anh\u00e4nger der Atomistik war. Dieser Aufsatz betrifft eine Erkl\u00e4rung des Paradoxon des Anaxagoras, dem zufolge der Schnee schwarz genannt werden k\u00f6nne, welche Leibniz seinem Leipziger Lehrer Jacob Thomasius auf dessen Bitte schriftlich zukommen l\u00e4sst,'1 2) die aber f\u00fcr uns nur in R\u00fccksicht auf die atomistischen Lehrs\u00e4tze, die ihr zum Ausgangspunkt dienen, von Interesse ist. Er geht bei diesem Erkl\u00e4rungsversuch von der schon von der antiken Atomistik statuirten, subjectiven Natur der secund\u00e4ren Qualit\u00e4ten aus und definirt die Farbe als einen Eindruck, der von Lichtatomen herr\u00fchrt, welche, von einem leuchtenden K\u00f6rper kommend, nach unserem Auge reflectirt werden.3) Die Atome des Feuers sind pyramidal, die des Wassers sph\u00e4risch, die der Erde cuhisch. Die cubischen Atome k\u00f6nnen sich mit einander so verbinden, dass zwischen ihnen kein leerer Raum besteht ne quid interc\u00e9d\u00e2t vacui).4) Diese feste Verbindung ist\n1)\tO. P., ed. Erdm. p. 19 (\u00a7 34) ; Gerh. IV. p. 56 sq.\n2)\t\u00bbConiectura cur Anaxagoras nivem nigram dicere potuisse videatur, petenti Jac. Ihomasio in scheda missa d. 16. Febr. 1666\u00ab. Gerh. Phil. Sehr. Bd. I. S. 8 sq.\n3)\tOmnis color est impressio in sensorium, non qualitas quaedam in rebus, sed extrinseea dominatio, seu, ut Th. Hobbes appellat, phantasma . . . Color est nihil a ud, quam impressio in oculum, quae fit ab atomis lucidis, a lucido corpore in opa-cu\u00ae impingentibus, inde ad oculum reflexis. Gerh. a. a. O.\n4)\tMan vgl. dagegen die 1668 erschienene Conf. nat., wo Leibniz eine solche","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nDavid Selver.\ndie Ursache, warum die Feueratome zur\u00fcckgeworfen werden, d. h. die Ursache der Farben. Dagegen besteht der meiste leere Raum zwischen den sph\u00e4rischen, d. h. den Wasseratomen, sodass wegen des fehlenden Widerstandes das Licht mehr durchdringt als zur\u00fcckgeworfen wird; es entsteht also keine Farbe, d. h. die betreffenden K\u00f6rper sind schwarz. Da nun der Schnee nichts Anderes als verdichtetes Wasser ist, konnte Anaxagoras wohl sagen, der Schnee sei schwarz.\nWir k\u00f6nnen diesen Erkl\u00e4rungsversuch in sachlicher Beziehung auf sich beruhen lassen.* 1) Die atomistischen Lehrs\u00e4tze aber, die ihm zu Grunde liegen, dienen neben der oben angef\u00fchrten Stelle aus der Ars combinatoria jedenfalls als Beleg daf\u00fcr, dass Leibniz am Ende seiner akademischen Lehrjahre wie zu Beginn derselben den Standpunkt der Atomistik theilte.\nF\u00fcr die Beantwortung der Frage dagegen, in wieweit der damals auf den deutschen Universit\u00e4ten noch herrschende Aristotelismus in der Zwischenzeit auf die philosophischen \u00dcberzeugungen Leibniz\u2019 Einfluss gewonnen, d\u00fcrfte sich auf Grund der akademischen Dissertationen desselben sowie des sonstigen biographischen Materials kaum etwas Bestimmtes feststellen lassen.2) Der Umstand, dass Leibniz zur Erlangung des Baccalaureats in der Philosophie 1663 ein Thema behandelt hat, das eine Hauptfrage der peripatetischen Scholastik bildete, n\u00e4mlich die Frage nach dem Princip der Individualit\u00e4t, 3) gestattet\n(auch von Gassendi angenommene) Verbindung der Atome f\u00fcr \u00bbabsurd und aller Erfahrung widersprechend\u00ab erkl\u00e4rt. O. P. Erdm. 47a.\n1)\tLeibniz verwirft ihn drei Jahre sp\u00e4ter selbst. Ep. ad. Thom. Erdm. S. 50b.\n2)\tD. Jacoby hat in seiner Monographie: De Leibnitii studiis Aristotelicis (inest ineditum Leibnitii Berol. 1867) Leibniz\u2019 Kenntnisse der Schriften des Aristoteles sowie mehrfache \u00dcbereinstimmungen in den Anschauungen beider Denker zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung gemacht. Allein in den Schriften der hier fraglichen Epoche sind ihm nur \u00e4u\u00dferst sp\u00e4rliche und schwache Spuren aufzudecken gelungen. Die von ihm nachgewiesenen \u00dcbereinstimmungen in den Schriften dieser Epoche betreffen, abgesehen von ihrer geringen Zahl, nur solche Punkte, die mit der Naturphilosophie und Metaphysik in sehr entferntem Zusammenh\u00e4nge stehen. Ebenso hat D. Nolen (Quid Leibnizius Arestoteli debuerit, Parisiis 1875) nur in den Schriften Leibniz\u2019 aus viel sp\u00e4terer Zeit, und zwar aus der schon monado-logischen Epoche seines Philosophirens, Anhaltspunkte f\u00fcr die Vergleichung der Systemgedanken beider Philosophen finden k\u00f6nnen. In welchem Sinne Leibniz in den n\u00e4chsten Jahren eine Anlehnung an die Philosophie des Aristoteles suchte, werden wir erst weiter unten darzulegen haben.\n3)\tDisput, metaph. de princ. indiv. Erdm. O. P. S. 1 ff.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n2*25\nkeinen weitern R\u00fcckschluss auf sein inneres philosophisches Yerh\u00e4lt-niss zum Aristotelismus w\u00e4hrend jener Zeit. Mit Recht hat bereits Guhrauer1) und neuerdings auch Gerhardt2; daraufhingewiesen, dass Leibniz zur Wahl jenes Themas nur durch die R\u00fccksicht auf die gebotene Gelegenheit bestimmt wurde, durch die Behandlung desselben seine grosse Belesenheit in den Schriften der Scholastiker und seine Gewandtheit in der Handhabung ihrer Methode an den Tag zu legen. Auch hat bereits Guhrauer (a. a. O.) als charakteristisch f\u00fcr die von Hause aus moderne Richtung des Leibniz\u2019schen Denkens bemerkt, dass, in soweit die Frage nach dem principium individui mit den scholastischen Controversen \u00fcber die Geltung der Allgemeinbegriffe zusammenh\u00e4ngt, Leibniz sich in jener Schrift, entgegen der damaligen vorherrschenden Richtung, im Geiste der modernen Physik f\u00fcr den Nominalismus entschieden hat. An Aristoteles kn\u00fcpft Leibniz hierbei nicht an, so nahe es ihm auch der Sache nach lag.\nWenn aber mehrfach, um f\u00fcr den bestimmenden Einfluss der Pe-ripatetik auf die philosophische Entwicklung Leibniz\u2019 einen biographischen Anhaltspunkt zu finden, auf die pers\u00f6nlichen Beziehungen hingewiesen wird, in welche Leibniz gleich nach seinem Uebergange zur Universit\u00e4t zu seinem Lehrer Jacob Thomasius trat, so scheinen uns die an diese Thatsache gekn\u00fcpften Folgerungen einerseits auf einer sowohl psychologisch wie biographisch unzutreffenden Auffassung des ganzen Sachverhaltes und andererseits auf einer Uebersch\u00e4tzung der pers\u00f6nlichen Bedeutung des Thomasius zu beruhen. Am weitesten ging hierin wohl Trendelenburg, indem er Thomasius als Leibniz\u2019 philosophischen Meister und F\u00fchrer y.cct .'-\u00ffo/fi' bezeichnete. In dem Bestreben, den philosophischen Entwicklungsgang Leibniz\u2019 von der tiefgehenden philosophischen und naturwissenschaftlichen Bewegung des 17. Jahrhunderts, besonders von der in Frankreich und England, m\u00f6glichst unber\u00fchrt hinzustellen, erkl\u00e4rt Trendelenburg : \u00bbLeibniz geht nicht von Cartesius, sondern von Thomasius aus, dem Begr\u00fcnder der Geschichte der Philosophie unter den Deutschen, und von verschiedenen geschichtlichen Anziehungspunkten, insbesondere aber von Aristoteles\u00ab.3) Allein auch abgesehen davon, dass hierf\u00fcr jeder histo-\n1)\tLeibniz. Bd. 1. S. 27 S\u2019.\n2)\tEinl. zu Bd. IV d. Phil. Sehr. v. Leibniz.\n3)\tHist. Beitr. II. S. 293. Vgl. auch S. 230: \u00bbSein Bildungsgang, von Tho-","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nDavid Seiver.\nrische Beleg fehlt, und dass sich in den philosophischen Versuchen dieser Epoche kaum irgend eine Lehrmeinung von principieller Bedeutung finden Hesse, die man nicht anders als aus dem Ideenkreis und den Lehren des Thomasius erkl\u00e4ren k\u00f6nnte, so d\u00fcrfte sich auch bei der schon fr\u00fchzeitig ausgebildeten Neigung Leibniz\u2019 zum Selbststudium und seiner damit fr\u00fchzeitig verbundenen sch\u00f6pferischen Selbst\u00e4ndigkeit und Entdeckungslust* 1) das Wesen desselben kaum f\u00fcr eine sch\u00fclerhafte Abh\u00e4ngigkeit irgend welcher Art geeignet haben. Auch weist Leibniz selbst wiederholt darauf hin, dass er in allem sein eigener Meister war, und mit besonderer Genugthuung darauf, dass er seine Universit\u00e4tsstudien nach eigener Einsicht und Neigung geleitet habe2). Und dass Thomasius selbst sich nicht als den Meister Leibniz\u2019 betrachtete, geht nicht nur daraus hervor, dass er schon 1665/66 keinen Anstand nahm, sich von seinem Sch\u00fcler eine Erkl\u00e4rung des Paradoxon des Anaxagoras zu erbitten, sondern auch aus der Art und Weise, wie er in seinen Antwortschreiben an Leibniz dessen \u00dcberlegenheit vielfach anerkennt. So antwortet er auf einen der von Leibniz an ihn gerichteten Briefe \u00fcber die Vereiniguug der Philosophie des Aristoteles mit den Principien der modernen Naturerkl\u00e4rung: \u00bbSed verum, ut fatear, nescio, si rationes computo meas, sitne consultum\nmasius bestimmt u. s. w.\u00ab Trendelenburg folgen in dieser Auffassung des philosophischen Entwicklungsganges Leibniz\u2019 u. A. Jacoby, Nolen und neuerdings S. Auerbach in seiner Schrift \u00bbZur Entwicklungsgeschichte der Leibniz\u2019sehen Monadenlehre\u00ab (Berlin 1884), wo aber Thomasius in der Art, wie er in den geistigen Entwick-lungsprocess Leibniz\u2019 wiederholt eingreifen soll, beinahe die Rolle eines Deus ex machina zuertheilt wird. Man vgl. S. 9. 12. 20. u. \u00f6.\n1)\tCf. Hist, et Comm, linguae charact. et univers. Erdm. p. 162b: \u00bbDuo mihi profuere mirifice . . . primum quod fere essem uvxo\u00e2i\u00e2axxo\u00e7, alterum quod quaere-rem nova in unaquaque scientia . . . Ebenso in einer nach Guhrauer\u2019s Vermuthung zur Orientirung seines Arztes entworfenen Selbstcharakteristik : \u00bbAb ineunte aetate multa legit, plura meditatus est, in plerisque avxo\u00f4t\u00e2axxo\u00e7. Res omnes profundius ac vulgo solet penetrandi cupidus et nova inveniendi\u00ab (Guhr. II, Anh. S. 60). Es sei hier auch in dieser Beziehung an die logischen Versuche erinnert, durch welche Leibniz bereits in seinem 14. Lebensjahre es unternimmt, die L\u00fccken der formalen Logik auszuf\u00fcllen, trotz der Abmahnung seiner Lehrer, welche daraufhinwiesen, dass sich dergl. f\u00fcr einen Sch\u00fcler nicht schicke. Vgl. das N\u00e4here bei Guhrauer und K. Fischer, Geseh. d. n. Phil. II, 50 ff. (2. Aufi.).\n2)\tAtque hoc quidem modo septendecim aetatis annos explevi, nulla magi\u00e4 ra-tione felix quam quod studia non ad aliorum sententiam, sed propriam voluntatem direxissem. Guhr. 1. c. p. 56.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlesre bis 1695.\n227\nmihi hoc in campo tecum congredi, in quo non sum ego ita versatus, ut paria tecum audeam facere.\u00abr) Die Ausf\u00fchrungen jener Briefe scheinen auch in der That nicht ganz in dem Gesichtskreise des Thomasius gelegen zu haben ; denn obschon Leibniz durch dieselben die Philosophie des Aristoteles zu rehabilitiren suchte, so waren sie doch nichts weniger als im aristotelischen Sinne ausgefallen. Sie k\u00f6nnen vielmehr als Zeugnisse daf\u00fcr gelten, wie die naturphilosophische Anschauungsweise Leibniz\u2019 durchaus modern beeinflusst und durch die mechanische Naturerkl\u00e4rung seines Zeitalters bedingt war. Dies werden wir jedoch erst weiter unten des N\u00e4hern nachweisen k\u00f6nnen. Vorerst haben wir noch die Wendung kennen zu lernen, welche um 1668 mit dem Versuche, das Dasein Gottes vom atomistischen Standpunkte aus zu beweisen, in dem Denken Leibniz\u2019 eingeleitet wurde.\nZweites Capitel.\nVersuch eines Beweises f\u00fcr das Dasein Gottes vom Standpunkte der Atomistik, Die mathematisch-demonstrative Methode Descartes\u2019.\nDie metaphysischen Consequenzen der atomistischen Naturerkl\u00e4rung zieht Leibniz zuerst in einem Aufsatz, den er noch w\u00e4hrend seines Aufenthaltes in Frankfurt am Main oder kurz nach seiner Ankunft m Mainz verfasste, der aber zun\u00e4chst ohne sein Wissen durch Spizelius unter der Ueberschrift \u00bbConfessio naturae contra atheistas\u00ab 1668 zur Ver\u00f6ffentlichung kam.2) Der erste Theil dieses Aufsatzes enth\u00e4lt den Versuch eines kosmologischen Beweises f\u00fcr das Dasein Gottes. Emen \u00e4hnlichen Beweis hatte Leibniz zwar schon 1665 in der Ars com-binatoria zu geben versucht. Aber, w\u00e4hrend in der letzteren Abhandlung die einfache Thatsache der K\u00f6rperbewegung den Obersatz bildet f\u00fcr eine syllogistische Schlussreihe, durch welche das Dasein einer un-widerlichen, urbewegenden Substanz von unendlichem Verm\u00f6gen \u00bbinfmitae virtutis\u00ab)3) nachgewiesen werden soll, w\u00e4hlt Leibniz in der\n1) Gerh. Phil. Sehr. I. S. 28.\nGe h * 2LVgl\u2018 hierauf bez\u00fcgliche Notiz Leibniz\u2019 in Ep. ad Thom. Erdm. S. 54;\nr 31 T)\u20191 S 27\u2019 1)611 Aufsatz se-lbst : Erdm. S. 43 ff. u. Gerh. Bd. IV, 105 ff. der A4 t leS6 W1I<1 aUS den axiomatisch vorausgesetzten unendlich vielen Theilen\n3 ene Sefoigert. Zur Bewegung eines Unendlichen (= unendlich Getheilten \" vndt, Philos. Studien. III.\t. \u201e","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nDavid Selver.\nConf. nat. die Grundvoraussetzungen der atomistischenNaturerkl\u00e4rung zum Ausgangspunkt f\u00fcr eine mehr im kosmologischen Sinne gehaltene Argumentation.J)\nWir werden in dem folgenden Capitel zu zeigen haben, wie nicht lange nach dem Erscheinen dieser Schrift in Folge des partiellen Aufgebens der atomistischen Grundvoraussetzungen dem hier gegebenen Beweise der eigentliche Boden thats\u00e4chlich entzogen wurde, und dass Leibniz, um seinen Beweis in einer anderen Form aufrecht zu erhalten, sich veranlasst sah, der mechanischen, immanenten Auffassung der Causalit\u00e4t der Naturvorg\u00e4nge hinsichtlich der Bewegung wenigstens zu widersprechen. In dem hier in Frage stehenden Aufsatze aber ist eine solche Reaction gegen die Atomistik und die Corpuscularphilo-sophie noch nicht vorhanden. Es ist zwar bemerkenswerth, dass Leibniz, w\u00e4hrend er, wie wir oben sahen, noch 1666 die Methode der atomistischen Naturerkl\u00e4rung als diejenige pries, deren Weg allein in das Innere der Natur f\u00fchre, in der Conf. nat. auf die Punkte hinweist, wo dieser Weg versagt. Aber es ist andererseits nicht zu \u00fcbersehen, dass dies hier noch nicht in der Absicht einer principiellen Abweichung von der atomistischen, mechanischen Naturerkl\u00e4rung geschieht, sondern nur zu Gunsten des Nachweises, dass die Natur der H\u00fclfe Gottes nicht entbehren k\u00f6nne. * 1 2) Um Letzteres zu beweisen, geht er davon aus, dass alle Naturph\u00e4nomene zun\u00e4chst aus den Grundeigenschaften (primis qualitatibus) der K\u00f6rper zu erkl\u00e4ren seien. Als primae qualitates bezeichnet er ganz im Sinne der Atomistik, Gr\u00f6\u00dfe, Gestalt undBewegung. Die Bewegungn\u00e4mlich wurde insofern von den Atomistikern als Grundeigenschaftangesehen, als sie dieselbe mit der Schwere indentificirten.3)\nbezw. Theilbaren) geh\u00f6re eine unendliche \u00bbVirtus\u00ab. Diese k\u00f6nne aber nur Gott sein. Darauf l\u00e4uft der ganze in einem etwas verk\u00fcnstelten Schema dargestellte Beweis in der Ars combinatoria hinaus. Cf. Edm. S. 7, Gerh. IV, 32. (Am letzten Orte muss es, nebenbei bemerkt, in Ax. 5 statt datur illud moyens : aliud moyens heissen.)\n1)\tLeibniz spricht hier zwar allgemein von den \u00bbheutigen Philosphen (hodierni philosophi), welche Boyle nicht unpassend Corpuscularphilosophen nenne\u00ab, aber im Grunde ist es die engere Atomistik, von der er hier ausgeht.\n2)\tApparet enim in extrema corporum resolutione Dei auxilio carere naturam non posse. Erdm. S. 47 b.\n3)\tCf. Gassendi, Synt. philos. I. p. 266b. . . Atomos nullam habere qualitatem praeter figuram, magnitudinem et pondus . . . adjecit Plutarchus causam cur pro prietas tertia fuerit addicta \u2014 quia necesse est, inquit Epicurus, corpora moveri ipso impetu gravitatis. Cf. ibid. p. 273. \u2014 Inwieweit dies auch f\u00fcr die \u00e4lteste, Leucipp","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\t229\nNun aber unternimmt es Leibniz zu zeigen, wie jene Eigenschaften selbst nicht aus der Natur eines K\u00f6rpers, d. h., wie er echt rationalistisch sagt, aus der Definition eines solchen, abgeleitet werden k\u00f6nnen. Ein K\u00f6rper sei das, was im Baume existirt. Nun folge zwar aus dem Begriff des Baumes Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt, aber keine bestimmte Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt, avie sie die Atomistik als gegeben annehmen muss. Hinsichtlich der Erkl\u00e4rung jeder bestimmten Gr\u00f6\u00dfe und Configuration sei man daher bei der Indifferenz der blo\u00df ausgedehnten Materie in Bezug auf dieselbe >) vor die Alternative gestellt, die gegebene Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt eines K\u00f6rpers entweder als von Ewigkeit her existirend zu betrachten oder auf die Einwirkung eines anderen, bereits gestalteten und bewegten K\u00f6rpers zur\u00fcckzuf\u00fchren. Das Erstere aber hie\u00dfe soviel wie auf jede Erkl\u00e4rung verzichten, das Letztere nichts anderes als die Erkl\u00e4rung ins \u00bbUnendliche\u00ab2) verschieben. Dasselbe, sagt Leibniz, gilt von der Bewegung. Ihre Wirksamkeit ist schon erforderlich, damit ein K\u00f6rper eine bestimmte, seiner Configuration entsprechende Stelle im Baume einnehme ; allein aus dem Begriff des K\u00f6rpers folge nur die M\u00f6glichkeit der Bewegung (mobilitas), nicht aber die actuelle Bewegung. Will man die letztere erkl\u00e4ren, so stehe man vor derselben Alternative, wie hinsichtlich der Erkl\u00e4rung von Gr\u00f6\u00dfe und Gestalt. Noch viel weniger vermag die Corpuscularphilosophie die Consistenz der K\u00f6rper aus der Definition derselben abzuleiten. Wenn Demokrit und Epikur, sowie ihre \u00bbneueren Nachfolger\u00ab die Coh\u00e4renz durch Annahme verschieden gestalteter Atome erkl\u00e4ren wollen, so entsteht die Frage, woher denn die H\u00e4kchen und Binge entstanden seien, und woher sie ihre Haltbarkeit (tenacitas) haben sollen. Die Erkl\u00e4rung der Coh\u00e4renz aber aus dem Mangel an leeren Zwischenr\u00e4umen einzelner Atomcomplexe m\u00fcsse sich die neuere Naturforschung zu wiederholen\nDemokrit\u2019sche Atomistik zutrifft, vgl. man H. C. Liepmann: \u00bbDie Mechanik der Leucipp-Demokritischen Atome etc.\u00ab Berl. 1885.\n1) Eadem enim materia ad quamcunque figuram sive quadratam sive rotundam indeterminata est. Erdm. u. Gerh. 11. cc.\n. , 2) Leibniz sagt in infinitum, streng genommen aber h\u00e4tte er nur sagen k\u00f6nnen ln ^definitum; denn die Causalit\u00e4t f\u00fchrt thats\u00e4chlich nicht ins Unendliche, sondern nur ms Unbestimmte. Dass der regressus in infinitum unm\u00f6glich, also unstatthaft ist, weil derselbe die unendliche Weltgr\u00f6\u00dfe Voraussetzt, eine gegebene Gr\u00f6\u00dfe also, ie empirisch unm\u00f6glich ist, hat indess erst Kant mit besonderer Sch\u00e4rfe dargelegt. r- d. r. V. 9. Absch. d. Antinomien.\n16*","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nDavid Selver.\nsch\u00e4men. \u00bbQua perp\u00e9tua cohaerentia, f\u00fcgt Leibniz hinzu, nihil est absurdius, nihil ab experientia magis alienum\u00ab. Alle diese Ausf\u00fchrungen und Einw\u00e4nde aber gipfeln schlie\u00dflich in dem Satze : \u00bbRecte igitur in reddenda atomorum ratione confugiemus ad Deum denique, qui ul-timis istis rerum fundamentis firmitatem praestet.\u00ab Leibniz begn\u00fcgt sich indess hier nicht mit einer Argumentation im Sinne eines primum movens, worauf, wie wir bereits andeuteten, der Gottesbeweis in der Ars combinatoria im Grunde hinauslief ; sondern neben dem causa-len Regressus \u2014 d. h. der Uebertragung der Reihe der Erkenntniss-gr\u00fcnde auf die Reihe der Sachgr\u00fcnde, in der Absicht, als deren erstes oder letztes Glied eine bewegende Ursache zu setzen, welche ihren Seinsbedingungen nach au\u00dferhalb der Reihe fallen m\u00fcsse und somit auch die Eigenschaften des Materiellen nicht theile, \u2014versucht er hier, durch eine Wendung, die seinen sp\u00e4teren Anschauungen von der Beschaffenheit der wirklich existirenden Monaden nach Ma\u00dfgabe ihrer Compossibilit\u00e4t und gegenseitigen Harmonie sehr nahe kommt, auch andere Attribute der Gottheit, wie Einheit, Weisheitund Macht darzuthun. Denn, f\u00fchrt er aus, da die Dinge nicht jedes durch seine eigene Unk\u00f6rperlichkeit Bewegung haben, sondern durch ihre (materielle) Wechselbeziehung, so k\u00f6nnte das Wesen, welches diese Wechselbeziehung setze, nur einEinziges sein. Da ferner diese Wechselwirkung sich als eine harmonische darstelle, so m\u00fcsse jenes Wesen weise, und da ihm die Dinge gehorchen, auch m\u00e4chtig sein.l)\nDer zweite Theil der Abhandlung besch\u00e4ftigt sich mit einem Beweis f\u00fcr die Unsterblichkeit der Seele. Dieser Beweis beruht ganz unverkennbar auf Cartesianischen Voraussetzungen. \u00bbMens humana est Ens, cujus aliqua actio est cogit\u00e2t io\u00ab. Dieser Satz bildet den Ausgangspunkt. Besteht die alleinige Th\u00e4tigkeit der Seele im Denken, so, folgert Leibniz, ist sie (sich selbst) ihrem Wesen nach unmittelbar wahrnehmbar, d. h. ihre Handlungen k\u00f6nnen nicht, wie\n1) Cum autem demonstraverimus corpora determinatam figuram et quantitatem, motum vero ilium habere non posse, nisi supposito Ente incorporali, facile apparet illudEns ineorporale pro omnibus esse unicum, obharmoniam omnium inter se, prae-sertim cum corpora motum habeant, non singula a suo ente incorporali, sed a se in-vicem. Cur autem Ens illud ineorporale hanc potius quam illam magnitudi-nem, figuram motum eligat, ratio reddi non potest, nisi sit intelligens, et ob rerum pulchritudinem, sapiens, ob earum oboedientiam ad motum, potens. Tale igitur Ens ineorporale erit Mens totius mundi Rectrix, id est Deus. Erdm. u. Gerh. 11. cc.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgaiig der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n231\nbeispielsweise die k\u00f6rperlichen Bewegungen, nach ihren Theilen vorgestellt werden. Die Bewegung geh\u00f6re also nicht zum Wesen der Seele, und sie sei daher kein K\u00f6rper. Da aber alle Zerst\u00f6rung einen Bewegungsvorgang einschlie\u00dfe, so sei die Seele unzerst\u00f6rbar, unaufl\u00f6slich, also unsterblich. Auf \u00e4hnliche Weise hat Leibniz sp\u00e4ter die Ewigkeit jeder Monade, insofern sie nur durch das Eingreifen Gottes vernichtet werden k\u00f6nne, zu beweisen gesucht.1) Aber die Grundlage des ganzen Beweises ist doch die Cartesianische Unterscheidung von denkender und ausgedehnter Substanz2) und die Setzung des Seelenwesens in das \u00bbDenken\u00ab.\nAuch der Einfluss der Cartesianischen mathematisch-demonstrativen Methode, welche auf den Principien einer rationalistischen Erkenntnistheorie beruht, ist in dem eben behandelten Aufsatze wie in der Ars combinatoria unverkennbar. Obschon LeibniS die Schriften Bacon\u2019s nach seiner oben mitgetheilten Angabe bereits als Knabe gelesen und ihres Verfassers sehr oft mit der gr\u00f6\u00dften Auszeichnung Erw\u00e4hnung thut,3) so ist doch von der Befolgung der von Bacon empfohlenen inductiven Methode in den Schriften Leibniz\u2019 keine Spur zu finden. Dagegen zeigt sich sein wissenschaftlich-methodisches Verfahren schon in den fr\u00fchesten Versuchen von dem Geist des Cartesianischen Rationalismus bestimmt. Die Ars combinatoria sollte nach Leibniz\u2019 eigener Angabe ein realwissenschaftliches Seitenst\u00fcck zu der mathematischen Analysis Descartes\u2019 sein.4) Die stillschweigende erkennt-\n1)\tVgl. Monadol. 3\u20146.\n2)\tSo hat auch Descartes seinem Freunde Mersenne auf dessen Verwunderung, dass in den Meditationes kein directer Beweis f\u00fcr die Unsterblichkeit der Seele zu finden sei, w\u00e4hrend dieselben doch einen solchen auf dem (urspr\u00fcnglichen) Titelblatt angek\u00fcndigt h\u00e4tten, die Antwort ertheilt, dass dieser Beweis implicite in der Deduction der v\u00f6lligen Verschiedenheit der Seele von der k\u00f6rperlichen Substanz gegeben sei. Diese Thatsache gen\u00fcge, um die Unsterblichkeit der Seele darzuthun. (Vgl. A. Koch, Die Psychol. Descartes\u2019. M\u00fcnchen 1881. S. 51.)\n3)\tVgl. beispielsweise Erdm. S. 45 u. S. 110.\n4)\tAn den Herzog Johann Friedrich (Gerh.I., 57) : \u00bbIn derPhilosophia habe ich ein mittel funden, dasjenige, was Cartesius und andere per Algebram et Analy-?m in Arithmetica et Geometria gethan, in allen scientien zuwege zu bringen, per Artem combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bei weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt in wenig simplices als deren Alphabet reducirt und aus solcher alphabets com-. Ination wiederumb alle Dinge samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu mventiren m\u00fcglich, ordinata methodo mit der Zeit zu finden, ein weg gebahnt wird.\u00ab","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nDavid Selver.\nnisstheoretische Voraussetzung dieser Schrift ist die, dass der Verbindung von Begriffselementen immer eine Verbindung von Seinselementen im System der Dinge entspricht. Die Zusammengeh\u00f6rigkeit der im Denken verbundenen oder zu verbindenden Begriffe kann daher durch eine Analysis jedes Begriffsinhalts leicht festgestellt werden, so dass durch eine combinirende Synthese der auf dem Wege der Analyse gefundenen Begriffsinhalte nicht nur der sachliche Inhalt einer jeden Wissenschaft darstellbar, sondern auch durch fortgesetzte Combination aller m\u00f6glichen \u00bbComplicationen\u00ab nach allen Richtungen zu erweitern und zu ersch\u00f6pfen sein m\u00fcsse. Indess glauben wir hier auf eine weitere sachliche und urkundliche Darlegung der methodischen und erkenntnisstheoretischen Grunds\u00e4tze Leibniz\u2019 nicht n\u00e4her eingehen zu sollen. Dieselben haben f\u00fcr die Entstehung und Entwickelung der Monadenlehre eine verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig untergeordnete Bedeutung. Bjie metaphysischen Anschauungen und Ueberzeugungen Leibniz\u2019 werden nicht durch erkenntnisstheoretische, sondern ausschlie\u00dflich durch naturphilosophische Probleme veranlasst, wenn auch f\u00fcr ihre letzte, systematische Gestaltung subjectiv-religi\u00f6se Motive, wie wir unten zeigen werden, vielfach bestimmend waren. Die Erkenntnistheorie Leibniz\u2019 hat ihre Wurzeln in seiner Metaphysik, und nicht umgekehrt.1) Dies entsprach auch vollkommen der prin-cipiellen Auffassung Leibniz\u2019 von der Stellung der Erkenntnistheorie innerhalb des philosophischen Systems und dem Verh\u00e4ltnis derselben zur Metaphysik und Naturphilosophie. \u00bbPour ce qui est de la question\u00ab, bemerkt er in dieser Beziehung gegen Locke,2) \u00bbs\u2019il y a des id\u00e9es et des v\u00e9rit\u00e9s cr\u00e9\u00e9es avec nous, je ne trouve point absolument n\u00e9cessaire pour les commencements, ni pour la pratique de l\u2019art de penser, de la d\u00e9cider .... La question de l\u2019origine de nos id\u00e9es et de nos maximes n\u2019est pas pr\u00e9liminaire en philosophie, et il faut avoir fait de grands progr\u00e8s pour la bien r\u00e9soudre.\u00ab\n1)\tVgl. besonders diehieraufbez\u00fcglichenAusf\u00fchrungenPaulsen\u2019s: Entwicke-lungsgeschichte der kantischen Erkenntnisstheorie (Leipzig 1875). S. 14. ff.\n2)\tR\u00e9flexions sur l\u2019essai de l\u2019entendement humain de M. Locke 1696. Erdm. S. 137.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\n233\nDrit'tes Capitel.\nDie Frage nach dem Bewegnngsprincip, Einfluss der Cartesianischen Physik.\nUm so entscheidender und nachhaltiger war der Einfluss, welchen die Physik Descartes\u2019 in den n\u00e4chsten Jahren auf die naturphilosophischen Anschauungen Leibniz\u2019 gewonnen hat. Dieser Einfluss betraf zwar nur zun\u00e4chst die begriffliche Auffassung der Materie, aber er \u00e4u\u00dferte bald seine R\u00fcckwirkung auch auf die Behandlung der weiteren Probleme der Naturphilosophie, und besonders auf die Beantwortung der Frage nach der ontologischen Natur der Bewegung. Diese Frage gewann f\u00fcr Leibniz bald auch ein speculativ-theologisches Interesse und bildet thats\u00e4chlich den Schwerpunkt, um den die in den n\u00e4chsten drei Jahren beurkundeten physikalischen und \u00bbphoro-nomischen\u00ab Versuche gravitiren.\u2019f\nDas metaphysische Interesse, welches Leibniz in Folge seines partiellen Aufgebens der atomistischen Grundvoraussetzungen an einer immanenten oder transienten Auffassung des Bewegungsprincipes nehmen musste, ist auch als das einzige sachliche Motiv anzusehen f\u00fcr seine in die Jahre 1668 und 1669 fallenden Versuche einer Vereinigung der aristotelischen Naturphilosophie und Metaphysik mit den Principien der modernen mechanischen Naturerkl\u00e4rung. Solche con-ciliatorischen Unternehmungen m\u00f6gen den individuellen Neigungen Leibniz\u2019 auch an und f\u00fcr sich entsprochen haben; auch mag es f\u00fcr seine gelehrte Ambition einen gewissen Reiz gehabt haben, die zur Zeit sehr gesunkene Autorit\u00e4t des Aristoteles zu rehabilitiren und der exclusiven Haltung der Cartesianer mit dem vermeintlichen Nachweise zu begegnen, dass alles das, was sie als neu ausgaben, schon in der Physik des Aristoteles enthalten sei.* 1) Aber solche und \u00e4hnliche\n\u2014--------\n1) Hierf\u00fcr ist besonders folgende Aeu\u00dferung charakteristisch : Nam vel osten-ditur Philosophiam Keformatam Aristotelicae conciliari posse et adversam non esse, vel ulterius ostenditur alteram per alteram explicari non solum posse, sed et debere, imoexAristotelicisprincipiisfluereeaipsaquaerecentiorestanta pompa j actantur. (Erdm. p. 49, IV., Gerh. I. 17). Leibniz hat auch sp\u00e4ter noch Descartes die vornehme Art, mit der er die ganze philosophische Vergangenheit igno-nrte, in verschiedenen brieflichen Auslassungen zum besonderen Vorwurf gemacht. Die hierauf bez\u00fcglichen Aeu\u00dferungen hat Nourisson, La philosophie de Leibniz (Paris 1860), zusammengestellt. Vgl. besonders S. 104\u2014109.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nDavid Selver.\nMotive w\u00fcrden doch schwerlich hingereicht haben, um Leibniz die g\u00e4nzlich unhistorische Basis seines Unternehmens \u00fcbersehen zu lassen, welches im Grunde auf nichts anderes hinauslief als auf eine Beibehaltung der aristotelischen, ihrer urspr\u00fcnglichen, sachlichen Bedeutung aber vollst\u00e4ndig entkleideten Termini. Man m\u00fcsste Leibniz entweder zumuthen, dass es ihm darum zu thun gewesen sei \u2014 um in einem bekannten Gleichniss zu sprechen \u2014, den neuen Wein in alte Schl\u00e4uche zu bringen, oder man m\u00fcsste, wie das Charles Thurot auch wirklich thut,1) annehmen, dass Leibniz die Schriften des Aristoteles gar nicht im Original gelesen und die Philosophie desselben nur \u00bbim Allgemeinen\u00ab und aus secund\u00e4ren Quellen gekannt habe. Wir lassen die Erw\u00e4gungen Thurot\u2019s auf sich beruhen und bemerken nur, dass uns das Ergebniss derselben unbegr\u00fcndet scheint.2) Die hier in Frage stehenden conciliatorischen Versuche Leibniz\u2019 haben f\u00fcr die entwickelungsgeschichtliche Untersuchung der Monadenlehre eben nur in sofern ein sachliches Interesse, als sie einerseits zur Orientirung dar\u00fcber dienen, wie sehr das Leibniz\u2019sche Denken in naturphilosophischer Richtung von Hause aus modern geartet und seit 1668 besonders von der cartesianischen Physik beeinflusst war, andererseits das Problem erkennen lassen, dessen L\u00f6sung vor allem f\u00fcr dasVerh\u00e4ltniss Leibniz\u2019 zur mechanischen Naturerkl\u00e4rung entscheidend wurde.\nLeibniz legte seine hier zu behandelnden Versuche zun\u00e4chst in zwei Briefen an Jacob Thomasius nieder. Von diesen zwei Briefen geh\u00f6rt der eine bereits dem Jahre 1668 an.3) Hier tritt uns der Ge-\n1)\tRevue critique 1867 ; 2^me sem. p. 75 sq.\n2)\tLeibniz w\u00fcrde wohl Anstand genommen haben, seinem als Peripatetiker und Kenner der Originalschriften der alten Philosophen immerhin bekannten und von ihm selbst in dieser Beziehung oft ger\u00fchmten Lehrer Deutungen und Auslegungen des Aristoteles vorzulegen, wenn nicht bei beiden die stillschweigende Voraussetzung obgewaltet h\u00e4tte, dass dies auf Grund eingehender Studien und quellenm\u00e4\u00dfiger Kennt-niss der aristotelischen Schriften geschehe.\n3)\tGerh. Phil. Sehr. I S. 9 ff. Die Antwort des Thomasius auf diesen Brief ist vom 2. October datirt, w\u00e4hrend das Schreiben Leibniz\u2019 das Datum \u00bbFrancof. 6 Cal. Octobr. 1668\u00ab tr\u00e4gt. Der Herausgeber sah sich veranlasst, darauf hinzuweisen, dass\ndas Datum dieses Leibniz\u2019schen Briefes, nach dem des Thomasius zu schlie\u00dfen, unrichtig sein m\u00fcsse. Gerh. scheint aber \u00fcbersehen zu haben, dass \u00bb6 Cal. Octobr.\u00ab den 26. September bedeutet, und dass somit die Antwort des Thomasius schon sehr wohl $m 24 October geschrieben sein konnte. S. Auerbach (Zur Entwickelungsgeschichte der Leibniz\u2019schen Monadenlehre, Berlin 1884, S. 18) hat diesen Umstand gleichfalls \u00fcbersehen, und zwar, nach der Art seines Citirens zu schlie\u00dfen, unabh\u00e4ngig von Gerh.,","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwicklungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\t235\ndankengang in einer urspr\u00fcnglicheren, um nicht zu sagen naiverenForm entgegen. Mit dem zweiten, ein halbes Jahr sp\u00e4ter verfassten Briefe trat Leibniz trotz der von Thomasius schon auf die ersten Mittheilungen hin ge\u00e4u\u00dferten Bedenken gegen ein solches Unternehmen* 1) auch an die Oeffentlichkeit. Er lie\u00df denselben seiner Ausgabe des Marius Nizolius vorandrucken. 2 3)\nDieser zweite Brief, schon dem \u00e4u\u00dfern Umfange nach als eine Art von Abhandlung anzusehen, enth\u00e4lt neben den conciliatorischen Ausf\u00fchrungen eine \u00dcbersicht \u00fcber die metaphysischen und naturphilosophischen Lehrmeinungen Leibniz\u2019 w\u00e4hrend jener Epoche und dient also ganz besonders zur Wahrnehmung des Ma\u00dfes, in welchem Leibniz Cartesianische Lehrs\u00e4tze zum Ausgangspunkt und zur Grundlage seiner eigenen Spekulationen machte.\nAuf die Thatsache, dass Leibniz schon w\u00e4hrend dieser Epoche seines Lebens die Cartesianischen Schriften gekannt und flei\u00dfig stu-dirt hat, werden wir, in sofern dieselbe besonders von Trendelenburg in Frage gestellt und verneint wurde, erst weiter unten des N\u00e4hern eingehen k\u00f6nnen, nachdem wir das philosophische Stadium, in welches Leibniz mit diesem Zeitpunkte eingetreten ist, durch einige, besonders auf die Ausf\u00fchrungen des ersten Briefes an Thomasius sich st\u00fctzende, sachliche Darlegungen gekennzeichnet haben. In dieser Richtung sei uns aber noch an Folgendes zu erinnern gestattet.\nDie Schwierigkeiten, an denen das Unzul\u00e4ngliche der atomisti-schen Naturerkl\u00e4rung von jeher an den Tag kam, bestehen bekanntlich : erstens in dem Widerspruch der f\u00fcr die Anschauung unbegrenzten Theilbarkeit des materiellen Substrats und der logischen Nothwen-digkeit, in der Theilung selbst an irgend einem Punkte Halt zu machen, um letzte untheilbare Elementarsubstanzen zu gewinnen ;:i)\nund f\u00fcgt hinzu, der Brief sei\u00bbsicher vor der Schrift Confessio naturae geschrieben\u00ab. Aber, abgesehen davon, dass die chronologische Voraussetzung hinsichtlich des Datums auf einem Versehen beruht, sprechen auch innere Gr\u00fcnde nur daf\u00fcr, dass der fraglicheBrief viel sp\u00e4ter geschrieben sein muss. Diese inneren Gr\u00fcnde ergeben sich aus unserer Darstellung seines Gedankeninhalts.\n1)\tVereor, sagt Thomasius, ut ilia pax queat ipso satis volente sanciri siquidem mentem philosophi paullo penitus rimemur. Gerh. I, 12.\n2)\tEp. ad . . . De Aristotele recentioribus reconciliabili. Gerh. IV p. 162 sq.\n3)\tVgl. Kant, Kr. d. r. V. Die transscend. Dialektik. Bch. II. Hauptst. II. Abschn. II, zweite Antinomie.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nDavid Selver.\nzweitens in der Beantwortung der Frage nach dem gruppirenden und verbindenden Princip der letzten, discret vorzustellenden Theilchen des Weltinhalts, sowie dem differenzirenden Momente der qualitativen Erscheinungen.\n\u00dcber die erstgenannte Schwierigkeit ging die Gassendi\u2019sche wie \u00fcberhaupt alle \u00e4ltere Atomistik ohne besondere Bedenken hinweg' Auch Leibniz hat dieselbe in der Confessio naturae vollkommen unber\u00fchrt gelassen. Erst sp\u00e4ter, als er den gekennzeichneten, der Annahme physischer Atome zu Grunde liegenden Widerspruch durch seinen Monadenbegriff gel\u00f6st zu haben glaubte, hat er auf jene Schwierigkeit hingewiesen,*) wenn er auch allerdings schon in der Hypothesis physica (1670) den Begriff des Unendlichkleinen in einer f\u00fcr seine L\u00f6sung dieser Frage entscheidenden Weise n\u00e4her bestimmt hatte. Bez\u00fcglich der L\u00f6sung der zweiten Schwierigkeit, n\u00e4mlich der Frage nach dem synthetischen und qualitativen Moment des Naturverhaltens, begn\u00fcgte sich jene Atomistik mit Gr\u00fcnden, welche aus der als urspr\u00fcnglich verschieden gedachten Configuration der Atome und ihrer Bewegung entnommen waren. Als Grund f\u00fcr die Bewegung selbst galt die Verschiedenheit der (absoluten) Schwere der einzelnen Atome.\nDie Unzul\u00e4nglichkeit dieses Gruppirungs- und Variationsprin-cipes war Leibniz, wie wir in der Confessio naturae sahen, keineswegs entgangen. Aber die Constatirung derselben galt ihm als \u00bboccasio praeclara demonstrandae divinae existentiae\u00ab, 2) und nicht ohne Ge-nugthuung hat er an die Spitze jener Abhandlung den Ausspruch Bacon s gestellt, dem zufolge \u00bbnur em oberfl\u00e4chliches Sch\u00f6pfen in der Philosophie von Gott abf\u00fchre, das tiefere aber zu Gott zur\u00fcckf\u00fchre.\u00ab \u00ae) In der Schw\u00e4che der atomistischen Synthese hatte die St\u00e4rke der Leib-\n1)\tSyst\u00e8me nouveau 11 u. 3 : Les atomes de mati\u00e8re sont contraires \u00e0 la raison etc. Deutlicher ausgesprochen in R\u00e9pliqu\u00e9 aux r\u00e9flexions de Bayle : Il n\u2019 y a point d atomes de mati\u00e8re dans la nature, la moindre parcelle de la mati\u00e8re ayant encore des parties. Erdm. 186b.\n2)\tErdm. p. 47a; Gerh. Phil. Sehr. Bd. IV, S. 109.\n3)\tErdm. p. 45. Divini ingenii vir Franciscus Baconus . . . recte dixit philoso-phiam obiter libatam a Deo abducere, penitus haustam reducere ad eundem (vergl. auch Erdm. S. 105). Das fragliche Dictum findet sieh bei Bacon de augm. sc. I, 5. \u00bbLevee gustu^in philosophia movere fortasse ad atheismum, sed pleniores haustus ad religionem redueere.\u00ab","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n237\noiz\u2019schen Argumetuation f\u00fcr das Dasein Gottes bestanden. In dem Ma\u00dfe aber, in welchem Leibniz die atomistischen Grundvoraussetzungen aufgab. und jene Naturerkl\u00e4rung in den Anschauungen desselben das \u00dcbergewicht gewann, welche die Materie, bezw. die letzten Elemente derselben, qualitativ und quantitativ absolut indifferent und homogen auffasste, alle Differenzirungen in dieser Richtung als secun-d\u00e4r auf rein mechanische Vorg\u00e4nge zur\u00fcckf\u00fchrt \u2014 in dem Ma\u00dfe also, in dem eine Ann\u00e4herung an die Physik Descartes\u2019 stattfand, in demselben Ma\u00dfe musste die ganze syllogistische Reihe, auf welche der kosmologische Gottesbeweis in der Confessio naturae sich st\u00fctzte, schwinden und sich auf das einzige Argument eines primum movens reduciren. Konnte Leibniz von dem in der Confessio naturae eingenommenen atomistischen Standpunkte aus die Verschiedenheit der K\u00f6rper sowohl als ihre harmonische Wechselseitigkeit nur durch die Annahme erkl\u00e4rlich finden, dass Gott jedem K\u00f6rper in R\u00fccksicht auf sein Verh\u00e4ltniss zu den \u00fcbrigen eine passende Gestalt, Gr\u00f6\u00dfe und Bewegungsform aussucht (eligat), *) so ist f\u00fcr eine solche Annahme bei der Cartesiauischen Bestimmung des Begriffs der Materie, welcher auch der Hypothesis physica Leibniz\u2019 zu Grunde liegt, und der letzterem mit Descartes principiell gemeinsamen Erkl\u00e4rung aller physikalischen und chemischen Ph\u00e4nomene kein Platz vorhanden. Denn es sollte ja der Aether sein, wie sich weiter unten ergeben wird, der je nach dem Ma\u00dfe, in welchem er eine Anzahl von urspr\u00fcnglich homogenen Atomen zur Coh\u00e4renz vereinigt und den von ihm eingeschlossenen Raum erf\u00fcllt, die K\u00f6rper gestaltet, ihren Aggregatzustand bedingt und ihre chemisch - physikalische Natur schafft. So schreibt denn Leibniz in der That schon April 1669 an Thomasius, um anzudeuten, dass ihm der in der Confessio naturae gegebene physiko-teleologische Gottesbeweis nicht mehr gen\u00fcge, er \u00bbglaube jetzt tiefer in die Sache eingedrungen zu sein\u00ab. Neque enim, f\u00fcgt er hinzu, quae de perp\u00e9tua creatione in motu . . . ab eo tempore erui illic (sc. in conf. naturae) leguntur.1 2)\n1)\tSiehe die oben S. 15 angef\u00fchrte Stelle.\n2)\tErdm. S. 54. Auch Descartes bezeichnet den Bestand der Welt als eine \u201ccreatio continua\u00ab. Der Ausdruck selbst r\u00fchrt \u00fcbrigens vom Kirchenvater Augustin her- Vgl. K. Fischer, Gesch. d. n. Phil. I., 1. S. 419. (3. Aufl.)","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nDavid Selver.\nIst nun aber eine Berufung auf ein primuni movens an und f\u00fcr sich schon nicht ausreichend f\u00fcr die Deducirung aller jener Attribute die den Gottesbegriff repr\u00e4sentiren, so mussten die Wirkungen desselben noch eine viel gr\u00f6\u00dfere Einschr\u00e4nkung erfahren, sobald die Bewegung im immanenten Sinne als eine prima qualitas der K\u00f6rper zu gelten hatte, wof\u00fcr sie ja von der Atomistik angesehen worden war. Gassendi hatte die Schwere oder das Gewicht geradezu als eine \u00bbnat\u00fcrliche und innere Bef\u00e4higung oder Kraft\u00ab angesehen, durch welche das Atom sich selbst bewegen kann. l) F\u00fcr das Bestreben Leibniz\u2019 auf dem Wege eines causalen Regressus zu einem ersten Beweger zu gelangen, worin denn nunmehr sein Beweis f\u00fcr das Dasein Gottes den letzten Halt haben konnte, war besonders die atomistische Auffassung der Bewegung als eine prim\u00e4re , immanente Eigenschaft der K\u00f6rper durchaus ungeeignet. Er bezeichnet daher jetzt eine solche Annahme als \u00bbabsurd und unm\u00f6glich\u00ab.2) Dagegen schien ihm die Lehre des Aristoteles, \u00bbdass alles Bewegte nothwendig von Etwas bewegt werden muss\u00ab, die er aber, wie wir bald finden werden, in ganz unhistorischer Weise auffasste und umdeutete, mit der Annahme eines ersten Bewegers als eines Gottes, wie er der theologischen Auffassung mehr entsprach, weit ertr\u00e4glicher. Dieses theologische Motiv seines Eintretens f\u00fcr die Lehre des Aristoteles spricht sich besonders deutlich in dem ersten conciliatorischen Schreiben an Thomasius aus: \u00bb Sin vero admittimus in corporibus, nescio quas formas substantiales incorporeas ac quasi spirituales, quarum ope corpus ipsum se movere possit, quarum ope lapis tendat deorsum, ignis sursum, plantae cres-cant, animalia currant sponte sua, nullo extra se incorporeo impulsore: praecludemus ipsi nobis demonstrandi Dei viam aptis-simam, ac ruet praeclarum illud theorema Aristotelis: quicquid movetur, habet causam motus extra se, cujus scalis ipse quoque ad primum motorem enixus est.\u00ab3)\nLeibniz \u00fcbersieht aber, dass nach der Lehre des Aristoteles, im\n1)\tGassendi, Syntagma phil. p. 273 : . . . nihil aliud est (sc. gravitas seu pondus) quam naturalis internaque facultas seu vis, qua se per se ipsam cire movereque potest atomus, seu mavis quam ingenita, innata nativa inamissabilisque ad motum propensio intrinseca propulsio atque impetus.\n2)\tErdm. O. P. p. 52. XI; Gerh. I. p. 23.\n3)\tGerh. Phil. Sehr. I. S. 10.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Der Eiitwickelungsgang der Leibiiiz\u2019sclien Monadenlehre bis 1695.\n239\nGeiste ihres Urhebers aufgefasst, die Bewegung ebenfalls nur als ein immanentes Princip der K\u00f6rper oder, was auf dasselbe hinausl\u00e4uft, der substantiellen Formen, angesehen werden muss. Nach Aristoteles tritt Bewegung ein, wenn ein Ding aus dem Sein iv \u00f4vv\u00fb/\u00e2ei zu der ihm eigent\u00fcmlichen und seine Substantialit\u00fct ausmachenden Energie \u00fcbergeht; und da das dvmpei ov, weil keines actuellen Seins theilhaf-tig, auch gar keiner Action f\u00e4hig ist, so k\u00f6nnen nur jene Momente, welche die Dinge zu ihrer Actualit\u00e4t und Substantialit\u00e4t hinf\u00fchren, und die Aristoteles als iv\u00e9qyeia und \u00e8rrel\u00e9yeia '), die Scholastiker aber kurzweg als forma substantialis bezeichneten, als das eigentliche Princip und die reale Ursache der Bewegung angesehen werden. Ebensowenig aber wie die Substantialit\u00e4t eines Dinges nach Aristoteles in Wirklichkeit von seinem Sein in potentia getrennt zu denken ist, ebensowenig ist es die Bewegungsursache. Leibniz bemerkt zwar ganz richtig, dass die Scholastiker Aristoteles missverstanden haben, insofern sie die substantielle Form, welche Aristoteles nur begrifflich dem \u00f6vvccuti ov gegen\u00fcber gestellt hatte, auch realiter als von der materia prima getrennt existirend ansahen. Aber Leibniz \u00fcbersieht, dass Aristoteles wie die Form so auch die Bewegungsursache zur Potentialit\u00e4t der Dinge rechnete und somit als immanent auffasste.\nNach Aristoteles ist die Natur Upvoig) der Grund der Bewegung und Ruhe in demjenigen, welchem diese Zust\u00e4nde urspr\u00fcnglich und nicht ab g e 1 ei teterwei se zukommen ; ein Naturding ist das, was eine solche bewegende Kraft in sich hat.2) Leibniz \u00fcbersieht das nicht ganz. Aristoteles, sagt er, definire zwar die Natur als Princip der Ruhe und Bewegung und bezeichne als Natur sowohl die Form als den Stoff, wenn auch die Form mehr als den Stoff; aber daraus\n. b Beide Ausdr\u00fccke sind zwar eigentlich so von einander unterschieden, dass m\u00e7y\u00ab!\u00ab die Wirksamkeit oder Verwirklichung und kvxeMxeiu den Vollendungszu-8 an oder die Wirklichkeit bezeichnet, indess werden sie von Aristoteles auch pro-miscue gebraucht.. Cf. Zeller, Philos, d. Griech. II, 2, (2. Aufl.) S. 264, undTrende-en urg, Aristotelis de anima libri III, p. 297 : Miscentur inter se tvitU/hui xal et\tSe<i an ak ori8ine eadem sint, quaerendum est. Si vocabulorum rationem\n^conditionem consulueris, cv\u00e9\u00e7yeut magis ipsum rei actum, iuxeUxeta st a tum arist Vl* exortum significat. Dass der Sinn, in welchem Leibniz sp\u00e4ter den ursT)0- i-Cllen Ausdruck zur Bezeichnung seines Monadenbegriffs gebrauchte, der prunglichen Bedeutung desselben nicht entspricht, wird von Trendelenburg im er<fnUusammenhang dieser Stelle ebenfalls hervorgehoben.\n2i Zeller a. a. O. II, 2. S. 287.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nDavid Selver.\nfolge nicht, wie die Scholastiker wollen, dass die Form als etwas Immaterielles in den K\u00f6rpern selbstth\u00e4tig ohne einen von au\u00dfen kommenden Ansto\u00df die Bewegung hervorbringe; die Form k\u00f6nne zwar als die Ursache der Bewegung angesehen werden, aber nicht als die erste, denn kein K\u00f6rper bewegt sich, wenn er nicht von au\u00dfen her bewegt wird, wie dies Aristoteles gezeigt habe (!). ') Leibniz deutet also den aristotelischen Satz, \u00bbdass alles sich Bewegende nothwendig von Etwas bewegt wird\u00ab, im Sinne des modernen physikalischen Axioms, \u00bbdass alle Bewegungsursache au\u00dferhalb des Bewegten liege\u00ab, was offenbar eine historisch unrichtige Auffassung ist. Denn f\u00fcr Aristoteles konnte jenes bewegende Etwas in dem Bewegten selbst enthalten sein. Es handelte sich hierbei nur um eine Scheidung dem Begriffe nach, insofern bei jeder Bewegung der Grund derselben und ihreThats\u00e4chlichkeit logisch auseinanderzuhalten sind. Das ist besonders daraus ersichtlich, dass Aristoteles selbst im ersten Bewegenden noch diese zwei Momente unterschied und sich in Folge dessen zu der Annahme gen\u00f6thigt sah, dass das erste Bewegende selbst nicht bewegt sein k\u00f6nne, denn als Grund der Bewegung kann es nicht zugleich ihre Thats\u00e4chlichkeit darstellen. Es w\u00fcrde sonst selbst auf ein anderes Bewegende als auf seinen Grund zur\u00fcckweisen. Jedes Ding, das von selbst in Bewegung gerathen kann;, ist daher nach Aristoteles zun\u00e4chst nur ein potentiell Bewegtes und die Bewegung wird in diesem Sinne die Actualit\u00e4t des Potentiellen genannt.1 2)\nAber Leibniz kommt es bei diesen Ausf\u00fchrungen haupts\u00e4chlich darauf an, die Bewegungsursache im Gegensatz zur immanenten Auffassung derselben von Seiten der Atomistik und theilweise auch Descartes\u2019 als ein h\u00f6heres, unk\u00f6rperliches, der Materie durchaus nicht immanentes Princip geltend zu machen. Und das sollte es ganz besonders im Sinne des Aristoteles sein. \u00bbMotus materiae ab intelli-gentia est, id est Deo\u00ab,3) glaubt er im Sinne des Aristoteles behaupten zu d\u00fcrfen. Aber hierf\u00fcr war die Voraussetzung des Cartesianischen\n1)\tErdm. S. 52, XI.\n2)\tVgl. hier\u00fcber sowie \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der aristotelischen Lehre von der Bewegung zu dem genannten Axiom der modernen Physik besonders die lichtvollen Ausf\u00fchrungen W un dt\u2019 s in seiner Schrift \u00bbDie physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip.\u00ab Erlangen 1866. S. 21 ff.\n3)\tGerh. Bd. I. S. 10.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\n241\nK\u00f6rperbegriffs, wenigstens nach der physikalischen Seite hin, wie die peducirung alles Seins auf ausgedehnte und denkende Substanz, durchaus n\u00f6thig. Denn nur so konnte Leibniz folgern : \u00bbCum corpus nihil aliud sit quam materia et figura et vero nec ex materia nec figura intelligi possit causa motus, necesse est causam motus esse extra corpus. Cumque extra corpus nihil sit cogitabile praeter ens cogitans seu mentem, erit mens causa motus. Mens autem universi rectrix est Deus\u00ab.1)\nWir werden weiter unten finden, wie gerade ein Widerspruch gegen eine solche, die Bewegungsursachen von den immanenten Eigenschaften der K\u00f6rper trennende Auffassung der mechanischen Erscheinungen Leibniz sp\u00e4ter zu der f\u00fcr die Monadologie grundlegenden Conception des Kraftbegriffs f\u00fchren musste. Wenn Leibniz aber mit der hier in Frage stehenden Deutung des Aristoteles von seiner eigenen sp\u00e4tem Natur- und Weltauffassung auch noch weit entfernt ist, so ist es doch f\u00fcr seine speculative Grundrichtung charakteristisch, wie weit er schon jetzt trotz seiner ausdr\u00fccklich hervorgehobenen \u00dcbereinstimmung mit den Principien der mechanischen Naturerkl\u00e4rung2) in der Herabdr\u00fcckung der physikalischen Realit\u00e4t der Dinge zu gehen vermochte.\nDies zeigt sich besonders in der Art, wie er den aristotelischen Begriff der Form, um seine eben mitgetheilte Auffassung der aristotelischen Bewegungslehre aufrecht zu erhalten, umdeutete oder, wie man im Hinblick auf den wahren Sachverhalt sagen m\u00fcsste, g\u00e4nzlich eliminirte. Er begn\u00fcgte sich n\u00e4mlich hierbei nicht mit einer Elimination der engeren substantiellen Bedeutung dieses Begriffes, indem er die Form lediglich als ein Product von Bewegungsvorg\u00e4ngen hinstellte, 3) sondern alle qualitativen Eigenschaften der Dinge sollen\n1)\tGrh. a. a. O. S. 11.\n2)\tErdm. S. 45 ; ibid. S. 48, III. : Regulam illam omnibus istis restauratoribus conununem teneo nihil explicandum in eorporibus, nisi per magnitudinem, figuram \u00ab motum.\ntur ^ ^'18ura a complexione motuum orta ipsam partium dispositionem complecti-r ; ; \u2022 ^aec forma educitur e potentia materiae ; phrasis enim haec dura vulgo visa, Positis his principiis facile explicatur; formam enim educi ex potentia materiae, nihil ,qU est Quam ex hoc materiae notu, ex hoc partium situ hanc totius figuram oriri\nr \u2022 a. a. O. S. 10). So fand denn allerdings das scholastische Problem der \u00bbeduetio rmae\u00ab eine moderne L\u00f6sung. Aber im Sinne des Aristoteles ist \u00bbforma\u00ab sowenig","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nDavid Selver.\nkeine andere Kealit\u00e4t haben, als nur die die jedesmalige Anordn der Theilchen repr\u00e4sentirende Form, und sollen nur in sofern von uns verschieden wahrgenommen werden, als auch unsere Sinne selbst eine r\u00e4umlich verschiedene Stellung zu den Dingen einnehmen. Nun hatte zwar auch schon Cartesius in Folge seiner erkenntnisstheoretischen rationalistischen Grunds\u00e4tze* 1) einen Unterschied geltend gemacht zwischen denjenigen Qualit\u00e4ten der ausgedehnten Substanz, welche ihr eigentliches Wesen ausmachen \u2014 und diese reducirten sich bekanntlich auf die blo\u00dfe Ausdehnung \u2014 und denjenigen, welche sich erst aus der Beziehung des materiellen Substrats zu dem percipiren-den Subject ergeben. Aber, w\u00e4hrend Cartesius die in der Wahrneh-mung gegebenen Modificationen (modi) der ausgedehnten Substanz als ein Product des Zusammenwirkens von physikalischen und psychischen Momenten ansah, versucht Leibniz, dieselben lediglich als den Ausdruck der verschiedenen, rein r\u00e4umlich gedachten Beziehungen der Sinne zu dem an sich in jeder Hinsicht indifferenten, in die Wahrnehmung tretenden Au\u00dfending darzustellen. Die verschiedenen einzelnen Wahrnehmungen, f\u00fchrt er aus, verhalten sich zu ihrem Objecte, d. h. zu der als blo\u00dfe Anordnung der materiellen Theilchen gedachten Form, nur wie verschiedene Gesichtspunkte oder Standorte, von welchen ein Gegenstand betrachtet wird, zu dem Gegenst\u00e4nde selbst, wie z. B. die nach dem jeweiligen Standorte des Beschauers verschiedene Erscheinungsweise einer Stadt zur eigentlichen Lage (Form) derselben. So gleiche der Gesichtssinn demjenigen Beschauer, der von einer Thurmspitze auf die Stadt herabsehe, dagegen der Geh\u00f6rssinn dem, der, in derselben Fl\u00e4che mit der Stadt, aber au\u00dferhalb ihres Weichbildes sich befindend, dieselbe betrachtet ; der Tastsinn gleicht jemandem, der sich innerhalb der Stadt durch Herumkriechen \u00fcber die Lage der Stra\u00dfen orientiren will.2)\nein blo\u00dfes Product von Bewegungsvorg\u00e4ngen, dass sie vielmehr (als kvxeX\u00e9/eia) als Ursache und Princip der Bewegung selbst angesehen werden muss.\n1 ) Es hat also die Unterscheidung von prim\u00e4ren und secund\u00e4ren Qualit\u00e4ten bei Descartes und auch wohl bei Locke einen anderen Ausgangspunkt als bei den alten Atomistikern.\n2) . . . qualitates sensibiles ita se habent ad formam ipsius rei, uti se habet ad ipsum urbis situm varietas apparentiarum, quae mutato intuentis situ multipliciter variantur. Visus enim ad rem videtur se habere, ut is, qui ex summa turri urbem de-spicit : auditus est similis in eodem plano extrinsecus intuenti. Tactus eum refert,","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwiekelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n243\nEs will dem principiellen Sinn dieser Ausf\u00fchrungen und Begriffsbestimmungen gegen\u00fcber wenig bedeuten, wenn Leibniz hinterher den Versuch macht, die Bezeichnung der Form, welche er soeben als ein secund\u00e4res Product, und zwar als ein solches, welches in seiner jedesmaligen Bestimmtheit aus der Bewegung der materiellen Theil-chen hervorgeht und demgem\u00e4\u00df nichts anderes als die r\u00e4umliche Anordnung derselben repr\u00e4sentirt, gekennzeichnet hatte, als eine substantielle zu rechtfertigen, und auf diese Weise den Ausgleich der neueren mechanischen Naturphilosophie mit der des Aristoteles zu Stande zu bringen glaubt. Das wesentlichste Argument ist ihm in dieser Beziehung, dass auch nach Aristoteles die Geometrie eine Wissenschaft sei, und da das Object einer jeden Wissenschaft eine Substanz sei, so d\u00fcrfe auch die Figur, oder vielmehr der Baum, als eine Substanz bezeichnet werden, und demgem\u00e4\u00df auch jede mathematische Figur in abstracto als substantiell.* 1)\nMan wird dieses Argument schwerlich eines Leibniz, wenn auch des damals erst 22j\u00e4hrigen Leibniz, w\u00fcrdig finden, und die entwicklungsgeschichtliche Darstellung seiner Ideen h\u00e4tte kaum ein Becht, solche Argumente zu reproduciren, wenn dieselben nicht eben zur Charakteristik dienten, wie gering der Antheil war, welcher der aristotelischen Philosophie bei dem Ausgleich derselben mit der modernen Naturphilosophie zufiel. Das Schwergewicht der Sache und der ihr zukommenden Bedeutung wird auf die Cartesianische Wagschale gelegt, auf die Aristotelische aber kommt nichts als das Gewicht eines leeren Terminus. Wenn Leibniz in dem zweiten concilia-torischen Schreiben, welches sich in den f\u00fcr uns in Frage gekommenen sachlichen Ausf\u00fchrungen vollkommen mit dem ersten deckt und sich von demselben nur durch seinen gr\u00f6\u00dferen Umfang und die systematischere Form der Darstellung unterscheidet, dem Thomasius versichert, dass er in der Physik des Aristoteles mehr finde, was er billige, als in\nqui plateas urbis perreptando cominus temptat. (Gerh. 1. c. p. 10). Dieses Bild hat Leibniz auch sp\u00e4ter mit Vorliebe f\u00fcr die Art gebraucht, wie nach seiner Meinung jede Monade, je nach ihrer Stellung im Weltall, dieses unter einem verschiedenen Gesichtspunkte \u00bbrepr\u00e4sentirt\u00ab. In dem letzteren Sinne kehrtdasselbe zum ersten Male wieder in Discours de M\u00e9taphysique, 1686, ed. Grot. p. 161, und fast gleichzeitig in einem Briefe an S. Foucher. Gerh. I. S. 383.\n1) Gerh. a. a. O. S. 10. Ganz ebenso argumentirt Leibniz in dieser Beziehung m dem zweiten conciliatorischen Briefe vom Jahre 1669. Erdm. S. 51 (X) ; Gerh I 24 Wundt, Philos. Studien. UI.","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nDavid Selver.\nden Meditationen des Cartesius, um ermessen zu lassen, \u00bbwie viel daran fehle, dass er Cartesianer sei\u00ab,1) so kann dies eine sachliche Pr\u00fcfung seiner in diesem wie in dem vorhergehenden Briefe niedergelegten Anschauungen, sowie ein genaueres Eingehen auf die Voraussetzungen und Ausgangspunkte seines Philosophirens w\u00e4hrend dieser Epoche in keiner Weise best\u00e4tigen. Dass Leibniz nur von der Voraussetzung des Cartesianischen Substanzhegriffes aus \u00bbmens\u00ab im nicht immanenten Sinne als Bewegungsprincip der Materie bezeichnen konnte, haben wir bereits gezeigt; ebenso, dass in der Ann\u00e4herung an die Physik des Descartes das eigentliche Motiv f\u00fcr die Behandlung der ganzen Pr\u00e4ge nach dem Bewegungsprincip lag. Und wenn Leibniz im Zusammenh\u00e4nge dieses Schreibens erkl\u00e4rt : \u00bbProban-dum autem est nulla dari entia in mundo praeter mentem, spatium, materiam, motum\u00ab,2) so ist das sicherlich im Cartesianischen Sinne gesprochen, wenn auch Cartesius Bewegung und Kaum nicht auf eine Stufe stellen w\u00fcrde mit mens, d. h. denkender Substanz, und materia, d. h. ausgedehnter Substanz, da die beiden ersteren nach Cartesius nur als modi der beiden letzteren zu gelten haben. Aber diese Abweichung ist doch von keiner principiellen Bedeutung ; denn vollkommen im Sinne und Geiste des Cartesianischen Systems f\u00e4hrt Leibniz in demselben Zusammenh\u00e4nge fort: \u00bbQuis imaginari sibi potest ens, quod neque extensionis neque cogitationis sit particeps? Quid opus igitur animas brutorum metallorumque substantiates extensionis expertes ponere?3) Ebenso erinnert gegen Ende dieses Briefes (\u00a7 13) die Art, wie er den Begriff des K\u00f6rpers durch Abzug aller sinnlichen Qualit\u00e4ten zu gewinnen sucht, an das methodische Verfahren Descartes\u2019, und besonders an das bekannte Beispiel vom frischen Wachs.4) Einen\n1)\tQuare dicere non vereor plura me probare in libris Aristotelis negi qjvtrix\u00ffs \u00e0xQoaanuis, quam in meditationibus Cartesii; tantum abest, ut Cartesianus sim Erdm. 48 (IV) ; Gerh. Bd. I. S. 16.\n2)\tErdm. S. 53 (XII) ; Gerh. Bd. I. S. 24.\n3)\tGerh. und Erdm. a. a. O. Noch viel bestimmter, als es hier der Fall ist, spricht Leibniz in einem wohl derselben Zeit angeh\u00f6renden, von Trendelenburg\n(Hist. Beitr. Bd.II. S. 265 ff.) mitgetheilten Fragment rechtsphilosophischen Inhalts\nden Thieren eine Seele ab (siehe S. 269 die Definition von persona). Sp\u00e4ter allerdings in seiner Notata critica circa vitam et doctrinam Cartesii wirft Leibniz dem Cartesius u. a. vor : \u00bbPorro brutis sensum negat, fictorum potius quam verorum animalium genesin et structuram explicat (Gerh. Bd. IV. S. 314).\n4)\tMeditationes II, 12.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019sehen Monadenlehre bis 1695.\t245\nK\u00f6rper, sagt Leibniz, nenne Jedermann das, was gewisse sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften besitzt; nun aber k\u00f6nnen die meisten derselben dem K\u00f6rper genommen werden, ohne dass er aufh\u00f6rt, ein K\u00f6rper zu sein. Man entferne die Wahrnehmungen des Gesichts-, des Geh\u00f6rs-, Geruchs- und Geschmackssinnes, es bleibt dennoch f\u00fcr uns ein K\u00f6rper bestehen. Diejenigen Qualit\u00e4ten folglich, welche allen K\u00f6rpern insgesammt zukommen, sind inVerbindung mit der Ausdehnung, Dichtigkeit und Widerstandsf\u00e4higkeit. Die Dichtigkeit geh\u00f6rt zwar nach Cartesius nicht zu den prim\u00e4ren Eigenschaften der Materie ; *) aber auch f\u00fcr Leibniz reducirten sich schon ein Jahr sp\u00e4ter (Hypothesis physica), wie wir bald sehen werden, die Eigenschaften der Materie auf die blo\u00df geometrische Ausdehnung.\nAlle diese Uebereinstimmungen Leibniz\u2019 mit Descartes in den principiellen Ausgangspunkten sowohl wie in den sachlichen Ausf\u00fchrungen, welche wir in den bisherigen Kundgebungen Leibniz\u2019 nachgewiesen haben, wird man schwerlich als blo\u00dfe Zuf\u00e4lligkeiten anzusehen geneigt sein ; man wird dieselben vielmehr auf das Studium der Schriften des franz\u00f6sischen Denkers zur\u00fcckzuf\u00fchren kaum umhin k\u00f6nnen. Da aber die Frage, in wieweit der directe Einfluss des Cartesius auf die Entwicklung der Leibniz\u2019sehen Ideen und philosophischen Anschauungen bestimmend eingewirkt hat, von deutschen und franz\u00f6sischen Gelehrten verschieden beantwortet wurde, so glauben wir eine Er\u00f6rterung der Frage aus den bez\u00fcglichen biographischen und allgemeinen literarhistorischen Gesichtspunkten an diesem Orte unserer Darstellung nicht umgehen zu d\u00fcrfen.\nDie Discussion \u00fcber die eben ber\u00fchrte Frage, an der sich in Deutschland vornehmlich Erdmann, Guhrauer und Trendelenburg betheiligt haben, kn\u00fcpfte sich an einen von Erdmann in dem Nachlasse Leibniz\u2019 gefundenen Aufsatz \u00bbDe vita beata\u00ab, den Erdmann m seiner Ausgabe der philosophischen Schriften Leibniz\u2019 zum ersten Male ver\u00f6ffentlicht hat, und der als ein Denkmal angesehen wurde \u00bbdes Durchganges, welchen Leibniz\u2019 Geist durch die Philosophie des Cartesius genommen habe.\u00ab1 2)\n1)\tPrinc. phil\u00f6s. II. 4.\n2)\tHierauf bez\u00fcgliche Literaturnachweise finden sich in Trendelenburg\u2019s Abhandlung: \u00bbIst Leibniz in seiner Entwicklung einmal Spinozist oder Cartesianer ge-\n17*","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nDavid Selver.\nln sofern Erdmann und Guhrauer den Cartesianismus Leibniz' auf Grund der specifisch Cartesianischen Ideen und Schlagw\u00f6rter behaupteten , welche in dem genannten Aufsatze enthalten sind, konnte ihnen Trendelenburg zeigen, dass die ganze Schrift gerade wegen der seitenlangen w\u00f6rtlichen Uebereinstimmungen ganzer S\u00e4tze und Satzreihen mit solchen des Cartesius nur als eine Art von Excerpt anzusehen ist, welches Leibniz zu irgend einem Privatzweck aus den bez\u00fcglichen Cartesianischen Schriften und Briefen angefertigt haben mag. Wenn aber Trendelenburg in seinem oben gekennzeichneten Bestrehen, das wissenschaftliche und philosophische Heranreifen des Leibniz\u2019schen Genies in m\u00f6glichst enge Beziehung zum Studium des Aristoteles zu bringen, besonders jeden Einfluss der Cartesianischen Schriften auf Leibniz\u2019 philosophischen Bildungs- und Entwicklungsgang in Ahrede stellt, so hat er zun\u00e4chst alle sachlichen, directen und indirecten Indicien, welche in der vormonadologischen Schriftreihe f\u00fcr Leibniz\u2019 Kenntniss der wissenschaftlichen und philosophischen Lehrs\u00e4tze und Speculationen Descartes\u2019 sprechen, \u00fcbersehen. Au\u00dferdem kann der in Frage gekommene Aufsatz De vita beata, sogar wenn er nur als eine Art von Excerpt angesehen werden sollte, wobei ja noch immer zu beachten bleibt, dass derselbe sich im Nachlasse Leibniz\u2019 auch in deutscher und. theilweise in franz\u00f6sischer Sprache vorgefunden, woraus immerhin hervorgeht, dass Leibniz auf den Inhalt desselben einiges Gewicht legte, \u2014 au\u00dferdem kann, sagen wir, selbst dieser Aufsatz als ein Zeugniss f\u00fcr das eifrige Studium gelten, welches Leibniz den Schriften des Cartesius schon so fr\u00fch zugewendet hat. Nun aber beruft sich Trendelenburg auf einige briefliche Aeu\u00dferungen Leibniz\u2019 selbst, denen zufolge dieser es sich gewisserma\u00dfen als Gunst des Schicksals auslegte, \u00bberst ein wenig sp\u00e4t\u00ab zum Studium des Descartes gekommen zu sein; er habe ihn erst aufmerksam gelesen, nachdem er bereits den Geist voll eigener Gedanken gehabt habe.* 1) Ebenso verweist Trendelenburg auf die bereits citirte \u00c4u\u00dferung Leibniz\u2019 a\u00bb S. Foucher : \u00bbBacon et Gassendi me sont tomb\u00e9s les premiers entre les mains\u00ab. Trendelenburg und alle anderen Schriftsteller \u00fcber Leibniz, die nach ihm sich auch\nwesen?\u00ab Monatsber. der Berl. Akad. d. Wissensch. 1847. S. 372 ff. und Hist. Beitr. II. p. 192 ff.\n1) Trendelenburg a. a. O., p. 304.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\t247\nauf diese Aeu\u00dferungen bezogen haben *), h\u00e4tten noch eine dritte Notiz hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnen, welche ebenfalls auf eine sp\u00e4te Lect\u00fcre des Car-tesius hinweist. In einem Briefe an Malebranche sagt Leibniz: \u00bbComme j\u2019ai commenc\u00e9 \u00e0 m\u00e9diter, lorsque je n\u2019\u00e9tais pas encore imbu des opinions cart\u00e9siennes, cela m\u2019a fait entrer dans l\u2019int\u00e9rieur des choses par une autre porte.\u00ab1 2) Allein alle diese Aeu\u00dferungen, deren Wahrheit man einem Manne wie Leibniz gegen\u00fcber sicherlich nicht zu bezweifeln wagen wird, beweisen dennoch nicht das, was sie nach Trendelenburg beweisen sollen. Man hat eben nur in Erw\u00e4gung zu ziehen, welch\u2019 eingehendes Studium Leibniz in Paris den mathematischen und physikalischen Schriften Descartes\u2019 zuwandte, und dass er dieses Studium selbst auf die nachgelassenen Papiere desselben ausdehnte, in seinem Eifer und in seiner Werthsch\u00e4tzung der letzteren nicht die M\u00fche scheute, umfangreiche Abschriften von ihnen zu machen,3) um die hier in Frage gekommenen Aeu\u00dferungen Leibniz\u2019 in entsprechender Weise einschr\u00e4nken und auf das Ma\u00df der Thats\u00e4chlichkeit zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen.\nDazu kommt noch, dass wir gegen\u00fcber jenen brieflichen Aeu\u00dferungen, auf die sich Trendelenburg bezieht, eine autobiographische Aufzeichnung von Leibniz besitzen, in welcher er ausdr\u00fccklich her-,-i^vorhebt, dass er bereits w\u00e4hrend seiner Universit\u00e4tszeit die Schriften des Cartesius gelesen und von ihnen einen tiefen Eindruck empfangen habe. In jener schon oben erw\u00e4hnten Skizze, wo Leibniz unter dem Namen Guilielmus Pacidius seinen eigenen Bildungsgang schildert, erz\u00e4hlt er, wie er in der Versammlung seiner Altersgenossen4) als eine Art Wunder angestaunt wurde (\u00bbpro monstro erat\u00ab), weil er in die Geheimnisse der scholastischen Philosophie und Theologie, welche der Menge als Gipfel der Weisheit galt, ohne jegliche fremde H\u00fclfe ein-\n1)\tNeuerdings wieder S. Auerbach in der erw\u00e4hnten Dissertation \u00bbZur Entwick-lungsgeschichte der Leibniz\u2019schen Monadenlehre\u00ab.\n2)\tGerh. Bd. I. S. 332.\n3)\tDiesem Eifer Leibniz\u2019 verdankt auch die Geschichte der Philosophie die Erhaltung eines Theiles jenes Nachlasses. Die Originale sind bekanntlich verloren gegangen. Nach den Excerpten Leibniz\u2019, welche die \u00dcberschrift f\u00fchrten \u00bbCartesii co-gitationes privatae\u00ab hat denselben neuerdings Foucher de Careil in dem ersten Bande der Oeuvres in\u00e9dites de Descartes ver\u00f6ffentlicht (Paris 1859\u20141860).\n4)\tLeibniz geh\u00f6rte sowohl in Jena als auch in Leipzig einer akademischen Gesellschaft an. Vgl. Guhr. I. 33.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nDavid Selver.\ngedrungen war und ihre verk\u00fcnstelten Termini und Begriffsbildungen mit Leichtigkeit handhabte. W\u00e4hrend er aber, f\u00e4hrt er in seiner Schilderung fort, diese Philosophie als oberfl\u00e4chlich und als unn\u00fctz f\u00fcr den menschlichen Fortschritt verachtete, da traf es sich gl\u00fccklich, dass die Proben einer besseren Philosophie in den Schriften Kepler\u2019s, Galilei\u2019s und Descartes\u2019 ihm in die H \u00e4nde gelangten und er sich in Folge dessen durch dieselben wie in eine andere Welt (\u00bbvelut in alium orbem\u00ab) versetzt sah. ')\nVergegenw\u00e4rtigt man sich den literarischen Charakter wie den Gegenstand der Schriften der drei genannten Autoren, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass unter diesen die Schriften des Cartesius ganz besonders dazu geeignet waren, Leibniz\u2019 Verst\u00e4ndniss f\u00fcr die Princi-pien der neuern Forschung zu wecken und ihn die gro\u00dfe Tragweite jener Forschungen und den unvergleichlichen Umschwung, den sie in der wissenschaftlichen und philosophischen Weltauffassung und Erkl\u00e4rung der Naturph\u00e4nomene herbeif\u00fchrten, erkennen zu lassen. Auf den in diesem Sinne Epoche machenden Charakter der Cartesianischen Schriften hat neuerdings E. Wohlwill in seiner auf umfassender Quellenforschung beruhenden Darstellung der Entdeckungsgeschichte des Beharrungsgesetzes mit Nachdruck hingewiesen. Obschon dieser Forscher auf dem Gebiete der Geschichte der theoretischen Physik die Anspr\u00fcche Descartes\u2019 auf selbst\u00e4ndige Entdeckung des Beharrungsgesetzes als unbegr\u00fcndet zur\u00fcckweist,1 2) und auch sonst zu Ergebnissen kommt, denen zufolge die Leistungen Descartes\u2019 als Mechaniker und Physiker geringer anzuschlagen w\u00e4ren, als es sonst in den geschichtlichen Darstellungen jener Wissenschaften der Fall zu sein pflegt, so weist er doch daraufhin, dass die Ver\u00f6ffentlichung der Principia phi-losophiae den Zeitpunkt bezeichnet, mit dem die Grunds\u00e4tze der neuen Bewegungslehre zur allgemeinen Anerkennung gelangten, und dass daf\u00fcr die nachdrucksvolle Einf\u00fchrung und Darlegung durch Descartes entscheidend gewesen sei. \u00bbZum ersten Male wurden die Lehren von der Erhaltung der Geschwindigkeit in dem Bestreben, die\n1)\tIn specimina Pacidii introductio historica. Erdm. Bd. I. S. 191 u. 192. Vgl. auch Guhr. Bd. I, S. 29, K. Fischer, Gesch. d. n. Phil. Bd. II. S. 47.\n2)\tAuchLeibniz weist, wie Eucken (Philos.Monatsh.XIV S.30) bereitsangemerkt, wiederholt darauf hin, dass Descartes den Begriff der Tr\u00e4gheit der Materie von Kepler entlehnt habe. (Erdm. 228a, 512a, 775b.)","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\t249\nBewegung ausschlie\u00dflich in gerader Linie fortzusetzen \u2014 die Lehre\nGalilei\u2019sundBenedetti\u2019s \u2014 als zusammengeh\u00f6rige Wahrheiten\ndargelegt, zum ersten Male in dieser Vereinigung als Fundamen tals\u00e4tze der gesammtenBewegungslehre und \u2014 bezeichnet als die beiden ersten Naturgesetze \u2014 an die Spitze einer umfassenden physikalischen Theorie gestellt, in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Entstehung und Erhaltung der geordneten Welt betrachtet\u00ab.1)\nWenn wir nun Leibniz schon in seinen Schriften bis zum Jahre 1670 vollkommen ausger\u00fcstet mit den physikalischen Kenntnissen und mechanischen Einsichten seines Zeitalters finden, wie dies besonders in der Hypothesis physica der Fall ist, so d\u00fcrfen wir ihn uns hierbei schon im Hinblick auf die historische Stellung der Cartesiani-schen Schriften nicht unabh\u00e4ngig von dem Studium derselben denken. Mag immerhin Leibniz\u2019 Verst\u00e4ndniss, besonders f\u00fcr die Details der Cartesianischen Naturphilosophie, erst w\u00e4hrend seines Aufenthaltes zu Paris ein h\u00f6heres Ma\u00df von Gr\u00fcndlichkeit und Reife erlangt haben; aber seine Kenntniss der allgemeinen naturphilosophischen Lehren und metaphysischen Speculationen sowie der methodischen Schriften des Cartesius war schon vor dem genannten Zeitpunkte hinreichend und eingehend genug, um von ihnen nicht nur mannigfache Impulse zu empfangen, sondern auch in rein sachlicher Beziehung von den Grundlagen und Ergebnissen derselben, sei es negativ, sei es positiv, den Ausgang zu nehmen.2 3) Leibniz l\u00e4sst sich zwar niemals die Gelegenheit entgehen, einer Cartesianischen Lehrmeinung, wenn er derselben nicht zustimmen kann, zu widersprechen, und dies ist schon in seinen fr\u00fchesten Schriften der Fall 3) \u2014 aber es fehlt ihm auch niemals an anerkennenden Worten f\u00fcr das gro\u00dfe Genie und die Verdienste dieses Denkers sowie f\u00fcr die\n1)\tZeitschrift f\u00fcr V\u00f6lkerpsychologie, hg. von Lazarus und Steinthal, Bd. XV. S. 375. Vgl. auch S. 377.\n2)\tDass Leibniz schon sehr fr\u00fch auch die Methoden der mathematischen Analysis Descartes\u2019 kannte, beweist die oben (S. 16) angef\u00fchrte Briefstelle, der zufolge seine 1666 erschienene Ars comb, ein allgemein wissenschaftliches ISeitenst\u00fcck zu jenen sein sollte.\n3)\tMan vgl. beispielsweise seine auf der Reise nach Altdorf (Herbst 1666) ver-fasste Schrift : Methodus nova discendae docendaeque iuris prudentiae I \u00a7 25 (Dut. IV. 3 p. 174).","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nDavid Selver.\nBedeutung seiner Schriften. Selbst in einem kurz nach 1676 an Ho-noratus Fabri gerichteten Briefe, zu einer Zeit also, wo er der Philosophie des Cartesius, wie sich zeigen wird, in dem f\u00fcr sein eigenes System wesentlichsten Punkte bereits widersprochen hatte, weist er auf den Nutzen der Lect\u00fcre der cartesianischen Schriften mit den f\u00fcr sein eigenes Verh\u00e4ltniss zu Cartesius sicherlich charakteristischen Worten hin. \u00bbQui Galilaeum et Cartesium leget, aptior eritad mvemendam veritatem, quam si per omne autorum vul-gus vagetur\u00ab.1) Man m\u00fcsste Leibniz geradezu der Leichtfertigkeit zeihen, wenn alle in seinen Schriften von 1666 ab zerstreuten Bemerkungen \u00fcber und gegen Cartesius nicht ein eingehendes Studium desselben schon w\u00e4hrend der Zeit der Abfassung jener Schriften zur Voraussetzung haben sollten, und wenn man seine Aeu\u00dferungen, die auf eine sp\u00e4te Lect\u00fcre des Cartesius lauten, stricte nehmen wollte, wie das Trendelenburg und Andere thun.\nViertes Capitel.\nDie Hypothesis physica nova, L\u00f6sung des Stetigkeitsproblems durch die Lehre vom Unendlichen.\nDie weitere Gestaltung der physikalischen und naturphilosophischen Grundanschauungen Leibniz\u2019 w\u00e4hrend dieser Epoche ist in den zwei Abhandlungen niedergelegt, welche er 1670 verfasste2) und unter dem Gesammttitel \u00bbHypothesis physica novacc herausgab. In der ersten dieser beiden Abhandlungen (\u00bbTheoria motus concreti #)3) macht\n1)\tMath. Sehr. ed. Gerh Bd. VI. S. 95. Kurz vorher hei\u00dft es nicht minder charakteristisch : \u00bbCartesii scripta vestibulum appellare soleo Philosophise verae-tametsi enim intima non attigerit, propius tarnen accessit, quam ante ilium quisquam, uno excepto Galilaeo.\u00ab Als \u00bbVorzimmer (antichambre) der wahren Philosophie\u00ab bezeichnet Leibniz bekanntlich sp\u00e4ter noch \u00f6fter die Lehre des Cartesius aber er hat nirgends dieselbe so unumwunden als Grundlage f\u00fcr alles Fortschreiten in der Philosophie bezeichnet wie in dem angef\u00fchrten Zusammenh\u00e4nge, und zwar einem Manne gegen\u00fcber, der als Jesu it dem Cartesius nicht besonders freundlich gesinnt sein konnte.\n2)\tVgl. Scheda Leibnitii etc. beiGuhr. Bd. II. Anh. S. 58 und den Brief Leibniz\u2019 an Thomasius vom Dec. 1670. Gerh. B. I. S. 33.\n3)\tGerh. Math. Sehr. Bd. VI. S. 20 ff; id. Phil. Sehr. Bd. IV. S. 181 ff.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwicklungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n251\ner den Versuch, die damals bekannten Naturerscheinungen der Schwere, der Elasticit\u00e4t, des Magnetismus und der W\u00e4rme, sowie alle physikalischen Grundeigenschaften und chemischen Processe der organischen und anorganischen K\u00f6rper aus der Bewegung eines den Raum zwischen Erde und Sonne erf\u00fcllenden, von Leibniz herk\u00f6mmlich Aether genannten Stoffes zu erkl\u00e4ren.\nDie Verwandtschaft dieses ganzen Unternehmens mit der Kosmologie Descartes\u2019, sowie die gemeinsamen physikalischen Ausgangspunkte sind unverkennbar, i) Denn, indem Leibniz wie Descartes das Wesen der Materie ausschlie\u00dflich in der Eigenschaft des Ausgedehntseins findet, so bleibt ihm als Tr\u00e4ger der qualitativen und quantitativen Eigenschaften kein anderes Moment als die Verschiedenheit und Modificationsf\u00e4higkeit der Structur. Als Variations- und Differen-zirungsprincip kann aber neben der Bewegung wiederum nur ein Stoff gelten. Dieser Stoff ist der Aether, der von Leibniz als urspr\u00fcnglich ruhende, das \u00bbspatium intermedium\u00ab zwischen Sonne und Erde ausfallende Masse gedacht wird.2)\nDie Abweichungen von Descartes in der Erkl\u00e4rung einzelner Erscheinungen haben nicht in verschiedenen physikalischen Voraussetzungen ihren Grund, sondern in der mathematisch-formal verschiedenen Auffassung des Continuums, d. h. der Vertheilung der Materie im Raume, sowie des Verh\u00e4ltnisses von Ruhe und Bewegung.\nW\u00e4hrend n\u00e4mlich Cartesius in Folge seiner Annahme einer durchaus continuirlichen Anordnung der Materie im Weltall die Verschiedenheit der Stoffzust\u00e4nde aus dem als urspr\u00fcnglich angesehenen Gegensatz von Ruhe und Bewegung der Corpuskeln ableiten konnte, indem er alles Ruhende eo ipso als fest, das Bewegte als fl\u00fcssig an-sah3), musste Leibniz bei seiner Auffassung des Continuums als urspr\u00fcnglich discret getheilt und aus durchaus homogenen Theilchen\n. Wenn Leibniz auf einen hierauf bez\u00fcglichen Vorwurf des Honoratus Fabri m dem bereits erw\u00e4hnten Schreiben an denselben (Gerh. Math. Sehr. Bd. VI. S. 84) erwidert, dass er zur Zeit der Entstehung seiner Hypothese, \u00bbvielfach zerstreut\u00ab (in mu \u00a3a distractus), die Schriften des Cartesius nicht habe mit der n\u00f6thigen Aufmerksamkeit lesen k\u00f6nnen, so hat er damit nur die directe Anlehnung in Abrede gestellt, * a^er ^en ideellen Zusammenhang. F\u00fcr einen Leibniz gen\u00fcgte aber die Kennt-!ss principieller Ausgangspunkte, um den Geist des Ganzen zu erfassen.\n2)\tTh. mot. concr. \u00a7 1.\n3)\tPrine. ph. II. 54\u201457.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nDavid Selver.\nbestehend eine besondere Erkl\u00e4rung f\u00fcr die verschiedenen Coh\u00e4sions-verh\u00e4ltnisse und Aggregatzust\u00e4nde zu geben suchen.\nDie Erkl\u00e4rung der ersteren h\u00e4ngt mit seiner \u00bbabstracten Bewegungstheorie\u00ab aufs engste zusammen. Wir werden daher erst weiter unten auf dieselbe eingehen k\u00f6nnen.\nAuf die letzteren geht Leibniz nur in soweit ein, als es gilt, ihre Entstehung auf unserem Planeten zu erkl\u00e4ren. Die Verschiedenheit des Aethers von dem tellurischen Stoffe nimmt er gleichfalls als gegeben an, wenigstens macht er nirgends den Versuch, diese Verschiedenheit n\u00e4her zu erkl\u00e4ren. Ebenso muss er bereits den Globus der Sonne und der Erde als bewegt voraussetzen, da sonst nach seiner Auffassung des Continuums keine Coh\u00e4sion ihrer Theile auf denselben bestehen k\u00f6nnte (\u00a7 1\u20144). Durch die Bewegung der Sonnentheilchen, die unter gewissen Umst\u00e4nden sich in gerader Richtung absto\u00dfen1), gerathen die zwischen Sonne und Erde sich befindenden Aethertheil-chen in Bewegung und tragen auf diese Weise die Strahlen der Sonne zur Erde, \u00bbund zwar in solcher Menge, dass um die Sonne herum bis zur Erde und jenseits derselben es keinen bemerkbaren Punkt gibt, zu welchem nicht in jedem Augenblick ein Sonnenstrahl, d. h. eine durch einen herausgeworfenen Theil der Sonne erregte Bewegung, gelangt\u00ab (\u00a7 5). Das Eindringen des Aethers und der Sonnenstrahlen bewirkt die Sonderung der urspr\u00fcnglichen Erdmasse in die verschiedenen Aggregatzust\u00e4nde. Diesen Bildungsprocess denkt er sich auf ganz eigene Weise. Unter dem Einfluss der Sonnenw\u00e4rme einerseits und der geradlinigen Bewegung des Aethers andererseits entstehen Hohlk\u00fcgelchen oder Blasen (\u00bbbullae\u00ab), auf ganz analoge Weise, wie in den Glash\u00fctten die Glasblasen durch die \u00bbkreisf\u00f6rmige Bewegung des Feuers und die geradlinige des Windes\u00ab (ex motu ignis circulari et Spiritus recto) bereitet werden (\u00a711). Diese urspr\u00fcnglich mit Aether angef\u00fcllten Gebilde sind die \u00bbsemina rerum, stamina specierum, recepta-cula aetheris, corporum basis, consistentiae causa et fundamentum tantae varietatis, quantum in rebus, tanti impetus, quantum in moti-bus admiramur (\u00a7 12). Die Verschiedenheit der einzelnen bullae nach Gr\u00f6\u00dfe und Dicke ist eine Folge ihres verschiedenen Aethergehaltes. Die Entstehung verschiedenartiger bullae und ihre Zusammensetzung\n1) Das N\u00e4here in Theoria motus abstract!, Theorem 7.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1696.\n253\nbedingt die verschiedenen Aggregatzust\u00e4nde des Erdstoffes. \u00bbDas Wasser ist eine Anh\u00e4ufung von unz\u00e4hligen hullae ; die Luft ist nichts weiter als d\u00fcnnes Wasser. Ebenso besteht die Erde aus solchen bullae, aber sie sind sehr mannigfach gewunden (intorta), gestaltet, untereinandergeh\u00e4uft, da sie einen solchen Reichthum von Erscheinungen zu repr\u00e4sentiren im Stande sein m\u00fcssen\u00ab (\u00a7 13\u201415). Aus dem ferneren Verhalten des Aethers zur Erdmasse ergeben sich dann die verschiedenen physikalischen Eigenschaften des Stoffes : die Schwere \u00df 15\u201418), die Elasticit\u00e4t (\u00a7 19\u201422) u. s. w.\nDas sind die wesentlichsten Momente, durch welche sich die physikalische Hypothese Leibniz\u2019 von der Kosmologie des Cartesius unterscheidet. Dieselben sind, wie bereits hervor gehoben, durch die abweichende Auffassung des Continuums bedingt.\nWenn aber die Consequenzen dieser Abweichung von Cartesius in rein physikalischer Beziehung zun\u00e4chst von geringem Belang waren und die principielle Erkl\u00e4rung der Naturph\u00e4nomene nicht weiter tangirten, so ist die Behandlung des allgemeinen Stetigkeitsproblems, welches den Hauptgegenstand der zweiten Abhandlung der Hypothesis physica, n\u00e4mlich der Theoria motus ahstracti, bildet, f\u00fcr den sp\u00e4teren Monadenbegriff Leibniz\u2019 geradezu als grundlegend anzusehen.\nDie Einf\u00fchrung des Unendlichkleinen als Grundelement sowohl der Stetigkeit des R\u00e4umlich-Physischen als des R\u00e4umlich - Zeitlichen der Bewegung geschieht hier bereits in einer Weise , die f\u00fcr den sp\u00e4teren Entdecker des Differentials nicht minder als f\u00fcr dessen Aufstellung und Geltendmachung der \u00bbLex continuitatis\u00ab in metaphysischontologischem Sinne charakteristisch ist.\nDie f\u00fcr uns in der angegebenen Richtung in Betracht kommenden Ausf\u00fchrungen sind besonders in dem zweiten, \u00bbFundamenta prae-demonstrabilia\u00ab \u00fcberschriebenen Capitel der Theoria motus ahstracti niedergelegt.J)\nDas materielle Continuum, nimmt Leibniz an, besteht aus \u00bbwirklichen (discreten) Theilen\u00ab, und zwar sind dieselben wirklich ins Unbestimmte getheilt; die Theilbarkeit ins Unbestimmte aber, wird gegen Cartesius bemerkt, existire nicht in re, sondern nur im ^enken (\u00a7 1\u20142). R\u00e4umlich und physisch aber gibt es kein \u00bbKlein-\n1) Gerh. Math. Sehr. Bd. YI. S. 67 ff. id. Phil. Sehr. Bd. IV. S. 228 ff.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nDavid Selver.\nstes\u00bb, an dem nicht mehr Gr\u00f6\u00dfe und Theile unterschieden werden k\u00f6nnten; denn einem solchen \u00bb minimum\u00ab w\u00fcrde keine Lage im Raume zukommen k\u00f6nnen, und es w\u00fcrden ihm auch die Bedingungen fehlen f\u00fcr die Ber\u00fchrung mit anderen r\u00e4umlichen Elementen. Es w\u00fcrde ferner, meint Leibniz, aus der Annahme eines solchen \u00bbminimum\u00ab folgen, dass der Theil gleich sei dem Ganzen. Wenn es aber in dem eben bezeichneten Sinne kein r\u00e4umliches und physisches \u00bbminimum\u00ab gibt, so gibt es doch \u00bbindivisibilia\u00ab und \u00bbinex-tensa \u00ab, weil sonst weder Anfang noch Ende einer Bewegung oder eines K\u00f6rpers denkbar w\u00e4re oder gleich Null gesetzt werden m\u00fcsste, was Leibniz aber f\u00fcr absurd erkl\u00e4rt (\u00a7 4). Auf Grund der Unterscheidung von minimum und inextensum definirt Leibniz den Punkt: \u00bbPunctum non est, cujus pars nulla est, nec cujus pars non consideratur, sed cujus extensio nulla est, seu cujus partes sunt indistantes, cujus magnitudo est inconsiderabilis, inassigna-bilis, minor quam quae ratione, nisi infinita ad aliam sensibilem ex-poni possit, minor quam quae dari potest\u00ab (\u00a7 5). Hierauf, f\u00e4hrt Leibniz fort, beruht auch das Fundament der Methode des Ca va 1er i, deren Wahrheit am evidentesten bewiesen werde, wenn man den Anfang einer Linie kleiner als jede gegebene Gr\u00f6\u00dfe denkt.\nDiese Auffassung der stetigen Gr\u00f6\u00dfe, die zugleich als Erkl\u00e4rung der Entstehung derselben angesehen werden kann, \u00fcbertr\u00e4gt Leibniz auch auf die von ihm angenommene Stetigkeit aller Bewegung. Die Ruhe verhalte sich zur Bewegung wie Null zu Eins, und nicht wie der Punkt zum Raume (\u00a7 6) ; denn die Bewegung ist durchaus continuirlich und durch keine noch so kleinen Ruhepunkte unterbrochen (nullis quietulis interruptus) (\u00a77).\nMit dieser Auffassung der Bewegung tritt Leibniz in Gegensatz zur Atomistik und zu Cartesius. Gassendi hatte sogar die Geschwindigkeitsgrade aus der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Anzahl der Ruhepunkte, durch welche eine Bewegung unterbrochen wird, zu erkl\u00e4ren gesucht, was allerdings weniger absonderlich erscheint, wenn man bedenkt, dass f\u00fcr ihn jedes Atom zugleich die immanente Ursache seiner Bewegung ist. Leibniz aber, der diese atomistische Voraussetzung, wie wir be reits dargethan, aufgegeben hatte, sucht dagegen aus dem Beharrungsgesetz zu beweisen, dass jeder BewegungsVorgang durchaus continu irlich sein m\u00fcsse ; denn bei jeder noch so kleinen Unterbrechung de","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibim'schen Monadenlehre bis 1695.\t255\nBewegung durch Ruhe w\u00fcrde sie sich nicht weiter fortsetzen k\u00f6nnen, ohne Hinzutreten einer neuen Bewegungsursache, und es m\u00fcssten daher f\u00fcr eine noch so kleine Strecke unberechenbar viele sich erneuernde Bewegungsursachen angenommen werden ; andererseits sei auch ohne Hinzutreten einer Hemmungsursache eine Unterbrechung der Bewegung in keiner Weise denkbar (\u00a7 8\u20149). Aber auch nicht durch Anfang und Ende wird die Continuit\u00e4t der Bewegung aufgehoben, denn Anfang und Ende der Bewegung ist ebensowenig wie Anfang und Ende einer Kaumgr\u00f6\u00dfe gleich Null, sondern besteht in einem Bewegungselement, welches Leibniz mit dem Namen \u00bbStreben\u00ab (conatus) belegt, das aber durchaus nicht, wie wir noch weiter unten nachweisen werden und aus dem ganzen Zusammenh\u00e4nge beider Abhandlungen der Hypothesis physica ersichtlich ist, als ein dem stofflichen Element innewohnendes Streben nach Bewegung angesehen werden darf. Durch Einf\u00fchrung dieses Begriffes versucht Leibniz in einer auch den Anspr\u00fcchen wissenschaftlicher Exactheit mehr gen\u00fcgenden Weise die Bewegung als mechanische Ortsver\u00e4nderung ganz im Sinne der modernen Physik als die ausschlie\u00dflich wirkende Ursache in allen Naturvorg\u00e4ngen aufrecht zu erhalten, ohne darum das Bewegungsprincip selbst als eine immanente Eigenschaft der letzten Seinselemente oder, im Sinne des Cartesius, die Bewegung als einen der Materie anerschaffenen Zustand (modus) ansehen zu m\u00fcssen. Dieser Begriff wird hier lediglich aus dem Gesichtspunkte einer Bewegungsgr\u00f6\u00dfe, bezw. als eines Theilelements einer Bewegung,1) behandelt. So wird die Fortdauer einer Bewegung nicht nur aus dem Beharrungsgesetze abgeleitet, sondern vielmehr die Bewegung selbst ihrer eigensten Natur nach als strengstes Continuum hingestellt.\nDie Bewegungsdifferenzen werden lediglich aus dem Gesichtspunkte der Addition und Subtraction jener Theilelemente der Bewegung (conatus) angesehen. Da Leibniz damals in \u00dcbereinstimmung mit Cartesius das Wesen der Materie ausschlie\u00dflich in dem Kriterium des Ausgedehntseins ausgedr\u00fcckt fand, die stofflichen Elemente daher f\u00fcr absolut indifferent gegen alle Vorg\u00e4nge ansah, so war weder ein sachlicher noch ein logischer Grund vorhanden, aus dem eine andere Modification der Bewegung h\u00e4tte folgen k\u00f6nnen als die rein mathema-\n1 ) Conatus est ad motum ut punctum ad spatium seu ut unum ad infinitum ; est \u00aenim initium finisque motus (\u00a7 10).","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nDavid Selver.\ntische. Ein conatus st\u00f6\u00dft nirgends auf einen stofflichen Widerstand denn Widerstandskraft wird ja eben der Materie abgesprochen ; er kann also sich nur mit einem andern conatus verbinden, d. h. mit ihm in irgend ein Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltniss oder in Gleichgewicht treten.1) \u00bbDaher verbreitet im erf\u00fcllten Raume Alles, was sich bewegt, das Streben durch alles Entgegenstehende hindurch, die Bewegung mag noch so schwach und das Hinderniss noch so gro\u00df sein ; und wenn auch die Bewegung aufh\u00f6rt, so bleibt doch das Streben in dem K\u00f6rper; dieser also strebt, .oder, was dasselbe ist, er f\u00e4ngt an, das Entgegenstehende in Bewegung zu setzen, wenn er auch von letzterem \u00fcberwunden wird\u00ab2) (\u00a711). Es kann daher auch in demselben K\u00f6rper zu gleicher Zeit ein zusammengesetztes, nach verschiedenen Richtungen tendirendes Streben vorhanden sein.\nAuf Grund der bisherigen Aufstellungen \u00fcber den Begriff des conatus versucht Leibniz auf eine au\u00dferordentlich scharfsinnige Weise, die schon den gewandten Analytiker erkennen l\u00e4sst, die Coh\u00e4sion der discret gedachten Theile des materiellen Continuums als einen Bewegungsvorgang darzustellen. Es sind f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss dieser Erkl\u00e4rung zun\u00e4chst die drei verschiedenen Ma\u00dfe: des Raumpunktes, der Bewegung und der Zeit auseinanderzuhalten. W\u00e4hrend die beiden ersteren, obschon an sich unendlich klein, doch noch immer durch ein anderes, noch kleiner anzunehmendes Theilelement differen-\n1)\tDer letztereFaU n\u00e4mlich ist nach Leibniz das, was gew\u00f6hnlich Ruhe genannt wird. Vgl. Theoria motus ahstracti, Theorem 12. Sp\u00e4ter ist es der Begriff der \u00bbtodten Kraft\u00ab, welcher die Ruhe eines K\u00f6rpers repr\u00e4sentirt.\n2)\tDer von uns hier gegebene Zusammenhang der in der Theoria motus abstract zuweilen nicht nur sehr unklar ausgedr\u00fcckten, sondern durchgehends unvermittelt in Form von mathematischen Lehrs\u00e4tzen hingestellten \u00bbFundaments praede-monstrabilia\u00ab gr\u00fcndet sich auf Leibniz\u2019 kurze Wiedergabe seiner hier in Frage stehenden Lehrmeinungen im Specimen dynamicum, pars I (Gerh. Math. Sehr. Bd. VI. S. 240) : Mihi adhuc juveni . . . excidit libellus Hypotheseos physicae titulo. . . . Ibi statui, supposita tali corporis notione, omne incurrens suum conatum dare excipient seu directe obstanti qua tali. Nam, cum in momento incursus pergere conetur adeo-que secum abripere excipiens, conatusque ille (ob corporis ad motum quietemve cre-ditam mihi tune indifferentiam) suum effectum omnino habere debeat in excipiente, nisi contrario conatu impediatur, imo etiamsi eo impediatur, quando tantum diversos illos conatus inter se componi oportet : manifestum erat nullam causam reddi posse, cur non incurrens effectum, ad quem tendit, consequatur, seu cur non excipiens reci-piat conatum omnem incurrentis, adeoque motum excipientis ex pristino suo et re* cepto novo seu alieno conatu compositum esse.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\t257\nzirbar sind, werden die Zeittheilchen als absolut gleich angenommen, godass die Linie, welche den Abfluss der Zeit darstellt, ihren Theilen nach absolut gleichartig zu denken sei. *) Da unter diesen Ma\u00dfen das Theilelement der Bewegung, der conatus, den Begriff des variai)ein Inextensum am reinsten repr\u00e4sentirt, so ist es nothwendig, dass jeder materielle Punkt zu Beginn seiner Bewegung, d. h. im Zustande des conatus, bereits jenseits desjenigen Punktes im leeren Raum zu denken ist, den er im Nullpunkte der Bewegung, d. h. im Zustande der Ruhe, einnahm. Da aber der auf diese Weise entstehenden r\u00e4umlichen Differenz zwischen conatus und Ruhe keine zeitliche entspricht, d. h. conatus und Ruhe zeitlich nur durch eine Ma\u00dfeinheit ausge-driickt werden k\u00f6nnen, so folgt daraus, dass in der Zeiteinheit seines conatus jeder bewegte materielle Punkt bereits mehrere Punkte im leeren Raume umfasst, d. h., sagt Leibniz, er erf\u00fcllt in einer solchen Zeiteinheit einen Theil des Raumes, der gr\u00f6\u00dfer ist als er selbst oder als der, welchen er ruhend oder langsam bewegt einnehmen w\u00fcrde.1 2) Dieser Theil selbst ist jedoch unangebbar und in einem Punkte bestehend (\u00a7 13). Denkt man sich nun, dass zwei materielle Punkte sich in einer Richtung bewegen, in welcher sie bei zunehmender Ann\u00e4herung Zusammenst\u00f6\u00dfen m\u00fcssen, so wird eine Ber\u00fchrung zwischen ihnen in demjenigen Punkte des leeren Raumes stattfinden, den sie zwar noch nicht mit ihrem Volumen, wohl aber mit ihrem conatus ausf\u00fcllen, da ja ein jeder von ihnen in Folge seines conatus in jedem nur angebbaren sinnenm\u00e4\u00dfigen Zeittheilchen zugleich mehrere Punkte, oder, was dasselbe ist, einen gro\u00dfem Raum einnimmt, als er selbst ist. In dem Ma\u00dfe nun, in welchem der Abstand kleiner wird und die Ann\u00e4herung fortschreitet, dringt jeder Punkt mit seinem conatus in den Raum des andern ein. \u00bbTempore impulsus, impactus, concursus duo corporum extrema seu puncta se penetrant, seu sunt in eodem spatii puncto: cum enim concurrentium alterum in alterius locum conetur, incipiet in eo esse, id est incipiet penetrare vel uniri. Conatus enim\n1)\tPunctus puncto, conatus conatu major est, instans vero instanti aequale, unde tempus exponitur motu uniformi in linea eadem, quamquam non desint instanti partes suae, sed indistantes . . . (\u00a7 18).\n2)\tUnum corporis moti punctum tempore conatus seu minore quam quod dari Potest, est in pluribus locis seu punctis spatii, id est implebit partem spatii se majo-rem, vel majorem quam implet quiescens aut tardius motum.","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nDavid Selver.\nest initium, penetratio (est) unio; sunt igitur in initio unionis, seu eorum termini sunt unum. Ergo corpora, quae se premunt vel impel-lunt, cohaerent : nam eorum termini unum sunt, jam wv tu ea^ara ev\nea continua seu cohaerentia sunt, etiam Aristotele definiente\u00ab (\u00a7 15_\n16). !) Die auf diese Weise entstandene Coh\u00e4renz ist aber eine so vollkommene, dass der eine der coh\u00e4renten Punkte ohne den andern nicht mehr in Bewegung gesetzt werden kann, \u00bbquia, si duo in uno loco sunt, alterum sine altero impelli non potest\u00ab.\nDiese Erkl\u00e4rung einer physikalischen Eigenschaft der Materie aus den r\u00e4umlich-zeitlichen Verh\u00e4ltnissen der punctuellen Bewegung mit grunds\u00e4tzlicher Absehung von der Qualit\u00e4t des materiellen Mediums sowohl wie jeder andern realen Bewegungspotenz ist f\u00fcr Leibniz\u2019 sp\u00e4tere Leugnung j edes \u00bbinfluxus physicus\u00ab in der That mehr wie kennzeichnend. Zwar ist die rein geometrische, von allen physikalischen Eigenschaften wie Schwere, Widerstandskraft u. s. w. ab-strahirende Auffassung der Materie Leibniz mit Cartasius und, wie wir bereits sahen, nicht blo\u00df zuf\u00e4llig, gemein, aber in der Consequenz seiner atomistischen, individualisirenden Betrachtungsweise war er in der abstract-mathematischen Auffassung der Naturvorg\u00e4nge noch \u00fcber Cartesius hinausgegangen. Auch die Coh\u00e4renz und die verschiedenen Grade derselben sollen nichts mit dem Grundwesen der Materie zu thun haben, sondern vielmehr eine rein \u00bbphoronomische\u00ab Erscheinung sein. Nur wem eine solche absolut qualit\u00e4tlose Auffassung der Materie, eine solche rein phoronomische, von jeder physikalischen Bestimmtheit absehende Betrachtungsweise der Naturvorg\u00e4nge eigen-th\u00fcmlich war, dem musste sich sehr bald die Nothwendigkeit eines geistigen Princips nicht nur als causale Erg\u00e4nzung des Seins, sondern als ausschlie\u00dflicher Tr\u00e4ger aller essentiellen Causalit\u00e4t ergeben. Und so begreift es sich, wie Leibniz, nachdem er sich sp\u00e4ter noch gr\u00fcndlicher \u00fcberzeugt hatte, dass aus einer rein geometrischen und phoro-nomischen Consequenz weder die mechanischen Vorg\u00e4nge selbst nach ihrer empirischen Erscheinungsweise erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnten, noch irgend welche Activit\u00e4t der K\u00f6rper aus ihnen folge, f\u00fcr die Bestimmung des Substanzbegriffes endlich zu metaphysischen Kraftpunkten seelischer Art seine Zuflucht nahm und den abstracten Be-\n1) M. vgl. Leibniz\u2019 Brief an Hobbes von 1670. Gerh. I. 84.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\n259\ngriff der Action als Kraft f\u00fcr die ausschlie\u00dfliche Realpotenz des Seins erkl\u00e4rte. Dass ein von jeder realen Bewegungspotenz absehendes, lediglich der logischen Consequenz der Gr\u00f6\u00dfencombination folgendes Rechnen nicht einmal alle thats\u00e4chlichen Bewegungsformen, geschweige denn alle physikalischen Vorg\u00e4nge erkl\u00e4ren k\u00f6nne, war Leibniz auch schon in der Theoria motus abstracti nicht entgangen. So bemerkt er hier zu dem Satze, dass, wenn die unzusammensetzbaren Antriebe der Bewegung gleich sind, die Richtung entweder gegenseitig gest\u00f6rt oder nach der Mitte eine dritte mit Beibehaltung der Geschwindigkeit \u00bbausgew\u00e4hlt wird\u00ab: \u00bbHic est velut apex rationali-tatis in motu, cum non sola subtractione bruta aequalium, sed et electione tertii proprioris, mira quadam, sed necessaria pru-dentiae specie res conficiatur, quod non facile alioquin in Geometria aut phoronomia occurrit\u00ab (\u00a7 23).\nMan sollte erwarten, dass die Wahrnehmung des von ihm hier constatirten, wenn auch noch nicht vollkommen richtig erkannten Ph\u00e4nomens , n\u00e4mlich des sogenannten Parallelogramms der Kr\u00e4fte, es ihm nahe gelegt h\u00e4tte, die Bewegungsursachen auch hinsichtlich ihrer Intensit\u00e4t schon jetzt nicht als vollkommen indifferent anzusehen, wie dies sp\u00e4ter die Einsicht in den Fehler des Cartesianischen Satzes von der Constanz der Quantit\u00e4t der Bewegung im Weltall zur Folge hatte; aber Leibniz befand sich damals noch in dem Stadium seines Philosophirens, wo ihm die Aufdeckung gewisser Schwierigkeiten keine unerw\u00fcnschte Gelegenheit war zu einem Recurs auf die h\u00f6chste Weisheit.\nDazu kommt noch, dass, wie wir sahen, das speculative Widerstreben Leibniz\u2019 w\u00e4hrend dieser Epoche mit besonderer Entschieden-heit gegen eine immanente Auffassung der Bewegungsursachen gerichtet war. Er unterscheidet zwar Geschwindigkeitsgrade der Bewegung, aber nicht im Sinne einer verschiedenen, spezifischen Intensit\u00e4t der Bewegungsenergien, sondern nur nn Sinne seiner Continuit\u00e4tslehre, verm\u00f6ge deren jedes Theil-element noch immer durch eine einschiebbare Gr\u00f6\u00dfe differenzirt werden kann.\nUnd damit kein Zweifel dar\u00fcber \u00fcbrig bleibe, dass der conatus durchaus nicht, wie es dem Wortsinne nach anzunehmen nahe l\u00e4ge, als ein dem K\u00f6rper innewohnendes Streben und eine immanente\nwnndt, Philos. Studien. III.\n18","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nDavid Selver.\nEigenschaft der K\u00f6rper anzusehen sei, erkl\u00e4rt Leibniz : \u00bbKein Streben (conatus) dauert ohne Bewegung l\u00e4nger als einen Moment, au\u00dfer in den Geistern ; denn was in einem Moment der conatus ist, das ist die Bewegung eines K\u00f6rpers in der Zeit!. Hier \u00f6ffnet sich die Pforte\u00ab, f\u00e4hrt er fort, \u00bbdurch welche man zurjwahren, bis jetzt noch von niemand gegebenen Unterscheidung von K\u00f6rper und Geist gelangen kann. Jeder K\u00f6rper ist n\u00e4mlich ein momentaner Geist (mens momen-tanea), d. h. ein solcher, dem keine Erinnerung eigen ist, weil er sein Streben und gleichzeitig das entgegengesetzte eines andern nicht \u00fcber einen Augenblick hinaus beibeh\u00e4lt, w\u00e4hrend zu Empfindungs- und Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen die Wahrnehmung von Action und Reaction noth-wendig ist.\u00ab1)\nDiejenigen Schriftsteller \u00fcber Leibniz, welche in diesem Satze die Monadenlehre bereits im \u00bbKeime\u00ab erblicken oder Leibniz mit diesem Satze derselben \u00bbschon sehr nahe ger\u00fcckt\u00ab finden,2) h\u00e4tten beachten sollen, dass Leibniz gerade in diesem Satze auf ganz besonders zutreffende Weise die Bedingungen kennzeichnet, auf denen die Regungen des Psychischen beruhen und welche er im Bereiche des rein materiellen Seins ausdr\u00fccklich als unerf\u00fcllt bezeichnet, w\u00e4hrend doch die immanente Beseeltheit zu den wesentlichsten Merkmalen des Monadenhegriffs geh\u00f6rt. Der Begriff des Conatus , wie ihn Leibniz hier bestimmt hat, ist aber, auch abgesehen von dem Momente des Seelischen, dem sp\u00e4teren Substanz- und Mo-\n1)\tNullus conatus sine motu dur\u00e2t ultra momentum praeterquamTn mentibus. Nam quod in momento est conatus, id in tempore motus corporis : hic aperitur porta prosecuturo ad veram corporis mentisque discriminationem hactenus a nemine expli-catam. Omne enim corpus est mens momentanea seu carens recordatione, quia conatum simul suum et alienum contrarium (duobus enim, actione et reactione, seu compara-tione ac proinde harmonia, ad sensum et, sine quibus sensus nullus est, voluptatem vel dolorem opus est) non retinet ultra momentum : ergo caret memoria, caret sensu actionum passionumque suarum, caret cogitatione (\u00a7 17).\n2)\tIn dem bezeichneten Sinne haben auf diese Stelle bereits Thomsen und Br\u00fccker hingewiesen. Vgl. O. Caspari: \u00bbLeibniz, das Princip der Monade und das Problem der Wechselwirkung\u00ab (Heidelberg 1869. S. 89). Auch die in der bereits erw\u00e4hnten Schrift von S. Auerbach enthaltenen, auf den Begriff des conatus bez\u00fcglichen Ausf\u00fchrungen scheinen uns nicht nur den eigentlichen Sinn dieses Begriffs zu verfehlen, sondern sind auch an und f\u00fcr sich nicht frei von Widerspr\u00fcchen. M. vgl. S. 30u.31.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n261\nnadenbegriff vollkommen entgegengesetzt. Die Monade repr\u00e4sentirt, wie Zeller im Hinblick auf diese Stelle der Hypothesis physica treffend ausf\u00fchrt, *) so wenig ein immanentes Streben, dass vielmehr die ununterbrochene, durchaus spontane Activit\u00e4t als ihre Wesenseigen-th\u00fcmlichkeit anzusehen sein soll.\nNur insofern die Auffassung der unendlichen Getheiltheit des Continuums und die Erkl\u00e4rung aller stetigen Gr\u00f6\u00dfen durch Einschaltung des Unendlichkleinen, das Leibniz hier ausdr\u00fccklich als inex-tensum von dem physischen Punkt unterscheidet, zu den realen Grundvoraussetzungen der Monadenlehre geh\u00f6ren und dierealeBasisf\u00fcrdasvon ihm auf ge st eilte Continuit\u00e4ts-gesetz oder \u00bbPrincip der allgemeinen Ordnung\u00ab, d. h. der durchgehenden logischen Proportionalit\u00e4t von Grund und Folge in dem Sein und Verhalten der Dinge1 2) bilden, sind die in der Theoria motus abstracti niedergelegten Anschauungen f\u00fcr die Ausbildung des Mo-nadenbegriffs von grundlegender Bedeutung geworden. Und wenn Leibniz 1693, wo er bereits l\u00e4nger als ein Jahrzehnt die Grundz\u00fcge seines Monadensystems vollkommen erfasst hatte, an Foucher schreibt: \u00bbJe suis tellement pour l\u2019infini actuel qu\u2019au lieu d\u2019admettre que la nature l\u2019abhorre, comme l\u2019on dit vulgairement, je tiens qu\u2019elle l\u2019affecte partout. . . Ainsi je crois qu\u2019il n\u2019y a aucune partie de la mati\u00e8re qui ne soit, je ne dis pas divisible, mais actuellement divis\u00e9e, et par cons\u00e9quent, la moindre particelle doit \u00eatre consid\u00e9r\u00e9e comme un monde plein d\u2019une infinit\u00e9 des cr\u00e9atures diff\u00e9rentes \u00ab3 *) \u2014 so begegnen wir einer solchen Kennzeichnung des Unendlichkleinen, auch in fast w\u00f6rtlicher \u00dcbereinstimmung einzelner Ausdr\u00fccke, schon in der Theoria motus concreti (\u00a7 43): \u00bbSciendum enim est\u00ab, hei\u00dft es dort unter Hinweis auf die mikrographischen Entdeckungen, \u00bbpleraque quae nos sentimus in majoribus, lynceum aliquem deprehensurum proportione\n1)\tGeach. d. d. Phil. 1. Aufl. S. 109.\n2)\tExtrait d\u2019une lettre \u00e0 M. Bayle, Erdm. p. 104 ff: J1 (le principe de l\u2019ordre\netD ra i a S\u00b0n 0rlSine de I nfini . .. Lorsque les cas s\u2019approchent continuellement\nse perdent l\u2019un dans l\u2019autre, il faut que les suites ou \u00e9v\u00e8nements ... le fassent eusse Cequi d\u00e9pend encore d\u2019un principe plus g\u00e9n\u00e9ral, savoir: datis ordonatis etiam ffuaesita sunt ordinata. Vgl. auch Spec. dyn. Pars II. Math. Schriften ed. Gerh. Bd- VI. 249 ff.\n3)\tGerh. Phil. Sehr. Bd. I. S. 416.\n18*","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nDavid Selver.\nin minoribus, quae, si in infinitum progrediantur, quod certe possi-bile est, cum continuum sit divisibile in infinitum, quaelibet atomus erit specierum quidam velut mundus, et dantur mundi in m\u00fcndig in infinitum. Quae qui profundius consid\u00e9r\u00e2t, non poterit non exstasi quadam abripi ad mirationis transferendae in rerum autorem a.\nIndess ist der Unterschied von \u00bbspecies\u00ab und \u00bbcr\u00e9ature\u00ab, welche in den angef\u00fchrten Stellen als Elemente des Unendlichkleinen bezeichnet werden, wohl zu beachten, abgesehen davon, dass diese in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Genesis des Monadenbegriffes ebenfalls vielfach \u00fcbersch\u00e4tzte, und daher ihrem Sinne nach missverstandene Stelle in dem Zusammenhang der Theoria motus concreti viel harmloser erscheint als in der Isolirtheit eines aus dem Texte gerissenen Cit\u00e2tes. Doch w\u00fcrde es hier zu weit f\u00fchren, wollten wir jenen an sich etwas wunderlichen Ausf\u00fchrungen folgen. Die Ausdr\u00fccke \u00bbspecies\u00ab und \u00bbcr\u00e9ature\u00ab bezeichnen in der That die ganze Kluft zwischen dem Standpunkt der Hypothesis physica und dem der sp\u00e4teren Monadenlehre. Es ist dies n\u00e4mlich die Kluft, die zwischen einer Weltauffassung besteht, welche in allen Gebilden der Natur wesentlich eine, wenn auch feinere und complicirtere Zusammensetzung und Bewegung von stofflichen Elementen erblickt und von allen realen Qualit\u00e4ten und inner en.Kr\u00e4f-ten principiell absieht, und einer solchen, welche umgekehrt alle Actionen der Natur sowie alle Erscheinungsformen aus demjenigen Verhalten der S einsei emente ableitet, das ausschlie\u00dflich in der inneren, unver\u00e4nderlichen, im strengsten Sinfte individuellen Natur derselben seinen G r un d ha t. Die letztere Betrachtungsweise kennzeichnet den Standpunkt der Monadologie, die erstere den der Hypothesis physica. Beiden gemeinsam ist nur die reale Voraussetzung des Unendlichkleinen.\nDer Weg aber, auf dem die begriffliche Umbildung der Seinselemente aus unendlich variabeln \u00bbspecies\u00ab zu unendlich variabeln, nach Analogie der Seele vor gestellten, individuell abgeschlossenen \u00bbcr\u00e9atures\u00ab vor sich ging, f\u00fchrt vorl\u00e4ufig noch eine ganze Strecke durch das Gebiet der phoronomischen und dynamischen Betrachtungsweise der Naturvorg\u00e4nge.\nEs war gerade die Conseq\u00fcenzJ mit der Leibniz seit 1670 die Principien der Cartesianischen Physik und den schroffen","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n263\nDualismus von denkender und ausgedehnter Substanz durchzuf\u00fchren bem\u00fcht war, was ihn schlie\u00dflich \u00fcber dieselbe hinausf\u00fchrte. Der n\u00e4chste Schritt, den Leibniz in dieser Richtung thut, soll den Gegenstand des folgenden Abschnitts bilden.\n{Schluss folgt im n\u00e4chsten Hefte.)","page":263}],"identifier":"lit4544","issued":"1886","language":"de","pages":"216-263","startpages":"216","title":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2018schen Monadenlehre bis 1695","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:25:28.353925+00:00"}