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{"created":"2022-01-31T14:21:44.081548+00:00","id":"lit4547","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lange, Ludwig","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 3: 337-419","fulltext":[{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes und ihr voraussichtliches Endergebniss.\nEin Beitrag zur historischen Kritik der mechanischen\nPrincipien.\nVon\nLudwig Lange.\nEinleitung.\nDer Begriff der Ortsbewegung, mit welchem sich die vorliegende historisch-kritische Abhandlung besch\u00e4ftigt, ist in alter und neuer Zeit Gegenstand vielf\u00e4ltiger philosophischer Erw\u00e4gungen gewesen ; er hat, wie sich aus dem vorhandenen historischen Material ersehen l\u00e4sst, im Laufe der Zeit einen Entwickelungsprocess durchlaufen, welcher nicht blo\u00df um seiner selbst willen, sondern auch aus allgemeineren philosophischen Gesichtspunkten betrachtet von hohem Interesse ist. Indem wir nun an die Aufgabe herantreten, uns jene Entwickelung aus vergangener Zeit klar zu vergegenw\u00e4rtigen, haben wir von vornherein auf die nicht unbetr\u00e4chtlichen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens die geb\u00fchrende R\u00fccksicht zu nehmen.\nDie Entwickelung eines Begriffes zu beschreiben, ist \u00fcberhaupt zumeist keine leichte Aufgabe. Im g\u00fcnstigsten Falle hat der Autor, an den wir uns bei Beurtheilung eines bestimmten Zeitpunktes halten,, selbst eine Definition des fraglichen Begriffes gegeben. In diesem. Falle machen wir aber sehr h\u00e4ufig, wo nicht immer, die Beobachtung, dass die Anwendungen des erkl\u00e4rten Wortes sich mit der erkl\u00e4renden. Definition nicht allerw\u00e4rts decken, und es geh\u00f6rt dann zur vollst\u00e4ndigen Beschreibung des jener Zeit eigenth\u00fcmlichen Begriffes unbe-W un dt, Philos. Studien. III.\t23","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nLudwig Lange.\ndingt auch der strenge Hinweis auf solche Incongruenzen. Ein ander mal finden wir gar keine Definition des Begriffes vor, sind vielmehr darauf angewiesen, aus den zahlreichen Anwendungen des fraglichen Wortes eine Definition zu reconstruiren. Jede Definition dieser Art wird an dem Mangel leiden, dass gewisse Anwendungen des erkl\u00e4rten Wortes mit ihr nicht vereinbar sind, aus dem einfachen Grunde, weil Verschiedenartiges mit einem Worte bezeichnet wurde. In solchen F\u00e4llen kann es sich eben nie um die Construction einer den Anwendungen absolut congruenten, sondern nur einer ihnen m\u00f6glichst con-gruenten Definition handeln. Die Abweichungen der Anwendungen von der construirten Definition sind aber auch dann noch so vollst\u00e4ndig als m\u00f6glich anzugehen. In einem dritten Falle ist es \u00fcberhaupt unm\u00f6glich oder doch zwecklos, eine Definition zu reconstruiren : wenn n\u00e4mlich die Anwendungen des fraglichen Wortes nach allen Seiten auseinandergehen. Alsdann wird man sich darauf beschr\u00e4nken m\u00fcssen, die wichtigsten Formen unter diesen Anwendungen hervorzuheben und so gewisserma\u00dfen die widerstreitenden Elemente zu bezeichnen, aus denen durch Abschleifung der Gegens\u00e4tze einmal ein deftnirbarer Begriff werden kann.\nWir haben hierbei stets zu bedenken, dass ein sich noch entwickelnder Begriff seiner Natur nach von inneren Widerspr\u00fcchen nicht frei ist: w\u00e4re er es, so fehlte ja jedes Motiv zu weiterer Entwickelung. Wollte man nun erst das Endresultat der Entwickelung als einen wirklichen \u00bbBegriff\u00ab gelten lassen, deshalb weil vorher eine congruente Definition unm\u00f6glich ist, so w\u00fcrde man sich damit ganz ohne Noth die M\u00f6glichkeit abschneiden, von einer Entwickelungsgeschichte der Begriffe zu reden.\nFragen wir uns, wie es zugeht, dass selbst in der Wissenschaft nicht selten durchaus verschiedenartige Dinge mit demselben Worte bezeichnet werden, so haben wir insbesondere auf einen Umstand unser Augenmerk zu richten. Die Anwendung des fraglichen Wortes auf einen gegebenen Fall ist ein Act, welcher sich zumeist in unserm unbewussten psychischen Organismus vollzieht. Dies gilt nicht sowohl von rein wissenschaftlichen Terminis, als vielmehr von denjenigen Worten, welche, wie das Wort \u00bbBewegung\u00ab, im gew\u00f6hn-\n1) W. Wundt, Logik, Bd. I. S. 86.","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n339\nliehen Leben eine nicht minder bedeutende Rolle spielen, als in der Wissenschaft. Nur zu leicht geschieht es hier, nachdem Lehen und Wissenschaft schon l\u00e4ngst in der Bedeutung des Wortes auseinander gegangen sind, dass dennoch trivial-praktische Vorstellungen, ohne als solche erkannt zu werden, auf theoretisches Gebiet \u00fcbertragen werden durch Vermittelung des gemeinsamen Lautbildes. So entstehen aus dem Widerspruch des Sprachgebrauches allerhand Paradoxa, welche um so gr\u00f6\u00dferes Interesse verdienen, als sie von jeher die Th\u00e4-tigkeit des \u00bbesprit m\u00e9taphysique\u00ab besonders dringend herausgefordert haben. Man glaubteeinen gegenseitigen Widerstreit objectiver Wahr-nehmungsthatsachen schlichten zu sollen, und in Wirklichkeit lagen blo\u00df zwei unpassender Weise durch das n\u00e4mliche Symbol verbundene subj ective Vorstellungen im Streite, deren thats\u00e4chliche Unvereinbarkeit man nur durch Um\u00e4nderung der Bezeichnungsweise zum Ausdrucke zu bringen brauchte, um den \u00bbinneren Widerspr\u00fcchen\u00ab f\u00fcr immer ein Ende zu machen. Immerhin mag anerkannt werden, dass solche metaphysische Constructionen vor\u00fcbergehend der Wissenschaft ganz dienlich, ja unentbehrlich gewesen sind. Sobald sich aber herausstellt, dass durch Einf\u00fchrung einer neuenNomenclatur die vermeintlichobjectivenWider-spr\u00fcche spurlos beseitigt werden k\u00f6nnen, so wird der Umweg durch das dunklere Gebiet der Metaphysik dem directen Wege hintanzustellen sein : hier\u00fcber d\u00fcrften Freund und Feind der Metaphysik doch wohl nur eine Meinung haben.\nNoch heutigen Tags ist der wissenschaftliche Begriff der Bewegung nicht am Ziel seiner Entwickelung angelangt. Wenn wir es nun versuchen, ihn diesem Ziel etwas rascher zuzuf\u00fchren, als die blo\u00dfe gegenseitige Reaction zwischen der Definition und ihren Anwendungen es im Stande ist, so haben wir im voraus diejenige Seite n\u00e4her zu bezeichnen, nach welcher hin wir eine Entwickelung noch f\u00fcr noth-wendig halten. Nicht alle Seiten des Bewegungsbegriffes sollen hier in Betracht gezogen werden. Es kommt uns vielmehr nur darauf an : auf Grund des bisherigen Entwickelungsganges festzustellen, was aus den wissenschaftlichen Specialbegriffen der \u00bbwirklichen\u00ab Bewegung im Gegens\u00e4tze zur \u00bbscheinbaren\u00ab, der \u00bbabsoluten\u00ab Bewegung im Gegens\u00e4tze zur \u00bbrelativen\u00ab einmal werden wird, und die nothwendige Ent-\n23*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nLudwig Lange.\nwickelung, welche nach dieser seiner Seite hin dem Bewegungsbegriffe vorausbestimmt ist, eben dadurch soviel als m\u00f6glich zu beschleunigen Es versteht sich von seihst, dass die historische Forschung, welche die Grundlage unserer Schl\u00fcsse bilden soll, ebenfalls vorwiegend die angedeutete Seite des Begriffes ins Auge fassen wird ; in der Natur der Sache ist es aber begr\u00fcndet, dass es hier und da nicht ohne kritische Seitenblicke auf angrenzende Gebiete abgehen kann.\nMan darf ohne Uebertreibung behaupten, dass eine v\u00f6llige Con-sequenz in der Handhabung des Bewegungsbegriffes, eben nach der in Frage stehenden Seite hin, in der bisherigen Wissenschaft kaum dagewesen ist. Immerhin aber lassen sich gewisse elementare Grundanschauungen angehen, aus denen, so zu sagen durch unbewusste Vermengung nach ver\u00e4nderlichem Verh\u00e4ltnisse, die besonderen zu verschiedenen Zeiten aufgetretenen Anschauungen zusammengesetzt sind. Ich meine die drei folgenden Anschauungen.\nEntweder wird angenommen, dass das Wesen der Bewegung in einer Ver\u00e4nderung der Lage besteht, oder die Ver\u00e4nderung der Lage gilt lediglich als \u00e4u\u00dferer Erfolg der Bewegung, welche daun seihst als ein unerkennbarer innerlicher Vorgang im bewegten K\u00f6rper angesehen wird. Im erster en Falle aber sind noch zwei verschiedene Lehrmeinungen m\u00f6glich. Die eine behauptet: \u00bbBewegung\u00ab ist Ver\u00e4nderung der Lage relativ zu irgend welchen gegebenen oder gedachten Bezugsohjecten. Die andere tritt dem aufs entschiedenste entgegen und l\u00e4sst nur die Lagen\u00e4nderung in Bezug auf den unendlichen, leeren, sog. \u00bbabsoluten\u00ab Raum als \u00bbwirkliche Bewegung\u00ab gelten. Da der letztere kein Gegenstand der Wahrnehmung, ja nicht einmal der klaren Vorstellung zug\u00e4nglich ist, so bleibt die Bezugnahme auf ihn illusorisch, folglich ist die \u00bbBewegung in Bezug auf ihn\u00ab in Wahrheit keine relative, sondern eine absolute so gut wie jene \u00bbinnerliche\u00ab Bewegung, deren wir zuerst gedacht haben.\nAlles, was f\u00fcr und wider jede dieser drei Grundformen des Bewegungshegriffes geltend gemacht worden ist, l\u00e4sst sich in folgende Worte zusammenfassen. Die Auffassungen der Bewegung als eines unerkennbaren innerlichen Vorganges oder als einer Lagen\u00e4nderung zum unerkennbaren absoluten Raume entbehren der Klarheit, au welche wir in den Grundlagen der Mechanik Anspruch machen d\u00fcrfen, hat man sich aber einmal hier\u00fcber hinweggesetzt, so l\u00e4sst sich da","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungshegriffes.\n341\nGeb\u00e4ude der Mechanik fest und sicher darauf st\u00fctzen. Hingegen kann der Auffassung der Bewegung als einer Lagen\u00e4nderung zu gegebenen oder gedachten Bezugsobjecten jener Vorwurf der Unverst\u00e4ndlichkeit nicht im geringsten gemacht werden; ja sie erscheint uns auf den ersten Blick als so evident und unanfechtbar, dass wir geradezu mit axiomatischer Gewissheit behaupten m\u00f6chten: es gibt nur relative Bewegung. Versucht man nun aber, diese Anschauung der Bewegungslehre zu Grunde zu legen, so verwickelt man sich in unl\u00f6sbare Widerspr\u00fcche von der bedenklichsten Art. So erscheint denn eine jede der drei Grundformen des Bewegungshegriffes f\u00fcr sich betrachtet als unhaltbar, und die Folge davon ist, dass man, mehr unbewusst als mit Bewusstsein, gew\u00f6hnlich da, wo die eine Form des Begriffes zu versagen scheint, eine der anderen zur H\u00fclfe ruft, ohne zu bedenken, dass ein gleichzeitiger Gebrauch dieser verschiedenen einander widersprechenden Begriffsformen logisch nicht zu rechtfertigen ist. Auf eine weitere Ausf\u00fchrung und eine ins Einzelne gehende Kritik dieser vorl\u00e4ufigen Exposition brauche ich mich nicht einzulassen.\nDer Zeitraum, worauf sich unsere historische Untersuchung ausdehnt, f\u00e4llt der Hauptsache nach mit demjenigen der neueren Wissenschaft zusammen. In der That konnte erst seit der Copemicanischen Reformation, erst mit der Begr\u00fcndung der Dynamik durch Galilei ein allgemeineres und fruchtbares Interesse gerade f\u00fcr unsere Frage rege werden. Dennoch ist der Einfluss der vorangegangenen Zeiten auf die Neuzeit auch hier nicht gering zu achten, und es durfte daher eine Ber\u00fchrung der einschlagenden Verh\u00e4ltnisse in der alten und mittleren Philosophie nicht v\u00f6llig umgangen werden. Und dies um so weniger, als gewisse Beispiele aus der alten und mittleren Zeit Gelegenheit bieten zu der Wahrnehmung, dass die behandelte Frage auch verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig fr\u00fchen Zeiten nicht allzu fern lag. Ich will nicht unterlassen, an dieser Stelle noch die Bemerkung zu machen, dass die historische Rarstellung der folgenden Abschnitte keinerlei Anspruch auf absolute ^ ollst\u00e4ndigkeit erhebt. Wenngleich das geschichtliche Material schon unr seiner selbst willen nicht ohne Interesse sein d\u00fcrfte, so wird es hier doch vorwiegend als Mittel betrachtet, der Wahrheit n\u00e4her zu","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nLudwig Lange.\nkommen, und es w\u00fcrde zu h\u00e4ufigen, in Anbetracht dieses Zweckes unliebsamen Wiederholungen f\u00fchren, wenn man sein Augenmerk auf besondere Vollst\u00e4ndigkeit in der Angabe des Materials richten wollte.\nBevor wir nun unserem Thema, der historischen Entwickelung des Bewegungsbegriffes, n\u00e4her treten, wird es zur Vorbereitung auf diese Aufgabe sich empfehlen, die gleichsam vorgeschichtliche Umbildung zu verfolgen, welche jener Begriff im einzelnen denkenden Subjecte von den ersten Anf\u00e4ngen der Verstandesth\u00e4tigkeit an bis zum Beginne theoretischer Reflexion zu erfahren pflegt. Von einem mit logischer Sch\u00e4rfe erfassten Begriffe kann zwar hier aus naheliegenden Gr\u00fcnden nicht die Rede sein ; aber bewusste Analyse ist zur begrifflichen Auffassung einer zusammengesetzten Vorstellung nicht erforderlich , man m\u00fcsste denn \u00fcberhaupt die Begriffe als solche nicht f\u00fcr entwickelungsf\u00e4hig, sondern f\u00fcr letzte Ergebnisse von Entwickelungen halten.1) Wenige Worte werden gen\u00fcgen. Da ein Bewegungsbegriff ohne Relation nur Product gelehrter Reflexion sein kann, so d\u00fcrfen wir unserer Frage diese Fassung geben: Welches sind die Bezugsobjecte , welche wir, mehr oder weniger unbewusst, der Reihe nach unseren Urtheilen \u00fcber Bewegungen zu Grunde legen?\nDer eigene K\u00f6rper ist jedenfalls das allererste dieser Bezugsobjecte, und insofern kann man sagen, dass der urspr\u00fcngliche Bewegungsbegriff ein durchaus egoistisches Gepr\u00e4ge tr\u00e4gt. Mancherlei Gr\u00fcnde zwingen uns freilich fr\u00fchzeitig, diese Urform des Bewegungsbegriffes durch eine zweckm\u00e4\u00dfigere Form zu ersetzen. Zun\u00e4chst tritt dabei an Stelle des Bezugsobjectes unser jedesmaliger umgebender Aufenthaltsraum, gleichviel ob das Zimmer eines festen Hauses, oder die Kaj\u00fcte eines fahrenden Schiffes; ja der enge Raum eines Eisenbahnwagens erscheint uns wichtig genug, um darauf die Bewegung unserer ganzen weiten Umgebung zu beziehen und zu behaupten, dass B\u00e4ume und H\u00e4user in wilder Flucht begriffen seien. Allein auch diesen naiven Standpunkt verlassen wir alsbald, um unsem allumfassenden Aufenthaltsraum, die Erde, zur Relation heranzuziehen. Der hiermit zipn\n1) Vgl. S. 338.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\t343\nersten Mal in Anwendung gebrachte triviale geocentrische Bewegungsbegriff besteht nun bemerkenswerther Weise ganz unabh\u00e4ngig von der Wissenschaft im praktischen Sprachgebrauche fort : wenn wir im Verkehr einen Gegenstand bewegt oder ruhig nennen, so ist bei weitem in der Mehrzahl der F\u00e4lle gemeint, dass er seinen geocentrischen Ort ver\u00e4ndert oder beibeh\u00e4lt. Neben dieser geocentrischen Form kommen \u00fcbrigens auch die ihr voran gegangenen Formen des Bewe-gungsbegriffes unter Umst\u00e4nden noch immer in Anwendung. Wenn zwei Luftschiffe eine Wolkenschicht durchschneiden, welche hinreicht, den Insassen beider die Erde zu verbergen, ohne aber die gegenseitige Sichtbarkeit zu beeintr\u00e4chtigen, so ist jeder Luftschiffer geneigt, den Ort des fremden Ballons auf seinen eigenen Ballon zu beziehen, ohne nach den geocentrischen Orten zu fragen. Eine dem \u00e4hnliche Spur von Egoismus liegt ja schlie\u00dflich in dem geocentrischen Bewegungsbegriffe selbst.\nDie fernere Entwickelung ist nun schon bedingt durch ein gewisses Ma\u00df theoretischer Reflexion. Zun\u00e4chst f\u00fchrt uns ein R\u00fcckblick auf die verschiedenen Anwendungen des Begriffes zu einer Ahnung der Relativit\u00e4t aller Bewegung. M. a. W. es dr\u00e4ngt sich uns die Bemerkung auf, dass Bewegungen formell, geometrisch, v\u00f6llig \u00e4quivalent sein k\u00f6nnen, von denen die eine auf uns selbst, die andere auf unsern n\u00e4chsten Aufenthaltsraum, die dritte auf die Erde bezogen ist. Dabei bleibt indessen der geocentrische Bewegungsbegriff infolge seiner praktischen Tragweite der tats\u00e4chlich ma\u00dfgebende, und aus der Er-kenntniss, dass eine \u00bbBewegung\u00ab in der seltener angewandten weiteren Bedeutung nicht nothwendig eine \u00bbBewegung\u00ab im gew\u00f6hnlichen engeren Sinne zu sein braucht, erw\u00e4chst die vorgeschichtliche Unter- . Scheidung zwischen \u00bbwahren\u00ab und \u00bbscheinbaren\u00ab Bewegungen. Wir gew\u00f6hnen uns, jedem Gegenst\u00e4nde nur eine Bewegung beizulegeiq als sei sie ihm eigent\u00fcmlich, und \u00fcbersehen, weil die geocentrische Be-zngnahme eine stillschweigende, keine ausgesprochene ist, nur gar zu leicht, dass in alle unsere Urtheile \u00fcber \u00bbwirkliche\u00ab Bewegungen die Vorstellung der Erde mit eingeht. Und dieses Vorurteil \u2014 denn mehr ist es bis hierher, wie Jedermann zugeben d\u00fcrfte, nicht \u2014 als sei die Bewegung etwas dem bewegten K\u00f6rper Eigent\u00fcmliches, nichts Relatives, begleitet uns nun ip die Wissenschaft und gibt hier Zu ^en wunderlichsten Paradoxien die Veranlassung. Die Umwand-","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nLudwig Lange.\nlungen, welche die vorgeschichtliche Unterscheidung zwischen wahren und scheinbaren Bewegungen im Verlaufe der Geschichte erfahren hat, geh\u00f6ren zu den bedeutungsvollsten Momenten in der Entwickelung des menschlichen Geistes. Fragen wir uns zuerst, welche Rolle in dieser Metamorphose das Alterthum gespielt hat.\nCapitel I.\nDer Bewegungsbegriff in der alten und mittleren Zeit.\nEin fl\u00fcchtiger Blick auf die Geschichte der Astronomie k\u00f6nnte zu der Ansicht verleiten, als seien die Alten einfach bei dem trivialen geocentrischen Bewegungsbegriffe stehen gehliehen, welcher ohne weitere Reflexion, aus Anlass unmittelbarer praktischer Motive, Bewegung und Ortsver\u00e4nderung zur Erde gleichsetzt. W\u00e4re indessen diese Anschauung richtig, wie h\u00e4tte es dann im Alterthume Vorl\u00e4ufer des Copernicus geben k\u00f6nnen? Wenn in der That die Bewegung ihrem Begriffe nach durchaus geocentrisch ist, wie soll man dann \u00fcberhaupt zu der Frage kommen, ob die Erde bewegt ist oder nicht? Man musste, damit dies m\u00f6glich war, mindestens auf dem zuletzt geschilderten Standpunkte angelangt sein, wo es an einer dun- \u2022 kein Ahnung der Relativit\u00e4t aller Bewegung nicht fehlt, und wo gleichzeitig doch das Vorurtheil herrscht, als sei die \u2014 mit unerkannter Relation auf die Erde behaftete \u2014 \u00bbBewegung\u00ab eines K\u00f6rpers etwas ihm Eigenth\u00fcmliches. Nur so erscheint es auch einigerma\u00dfen erkl\u00e4rlich, dass Aristoteles die Ruhe der Erde zu beweisen versucht und dabei offenbaren Cirkelschl\u00fcssen zum Opfer f\u00e4llt. Allerdings ist mit jener Annahme und anderseits wieder mit den Aristotelischen Anwendungen des Wortes Bewegung die in der \u00bbPhysik\u00ab gegebene Bewegungsdefinition so schwer zu vereinigen, dass nur \u00fcbrig bleibt anzunehmen, Aristoteles sei sich selbst nicht durchweg treu gehlieben.\nDie Aristotelische Definition der (r\u00e4umlichen) Bewegung ist von solcher Wichtigkeit f\u00fcr die Folgezeit, dass wir nicht umhin k\u00f6nnen, mit einigen Worten darauf einzugehen. Die Bewegung ist auch nach Aristoteles Ver\u00e4nderung des Ortes. Der Ort eines K\u00f6r-","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n345\njers aber ist die concave Grenzfl\u00e4che des umfassenden K\u00f6rpers und seiner Natur nach unbeweglich, ein \u00bbun\u00fcbertragbares Gef\u00e4\u00df\u00ab. Ein ping wird demnach an und f\u00fcr sich (xatf avz\u00f4) nur auf einerlei Weise bewegt, denn es hat jederzeit nur einen bestimmten Ort. Es kommt aber au\u00dfer der Bewegung eines K\u00f6rpers an und f\u00fcr sich noch seine accidentielle {v.aza av/x\u00dfs\u00dfrjyi\u00f6\u00e7) Bewegung in Betracht. So ist der Nagel in einem fahrenden Schiffe accidentiell bewegt, ohne darum seinen Ort zu ver\u00e4ndern, d. h. an sich bewegt zu sein.1) Ein Mann, der in der Kaj\u00fcte des Schiffes auf- und abgeht, ist sowohl an und f\u00fcr sich als auch accidentiell bewegt.\nDass ein K\u00f6rper keinen Ort und mithin auch keine Bewegung hat ohne einen zweiten K\u00f6rper, worauf er bezogen wird, dies hat, wie man sieht, Aristoteles deutlich genug zum Ausdrucke gebracht: er spricht die Wahrheit nur allzu roh materialistisch aus. Wozu muss der Bezugsk\u00f6rper den bezogenen K\u00f6rper unmittelbar umgeben? Wir k\u00f6nnen doch auch weit getrennte K\u00f6rper in r\u00e4umliche Beziehung setzen, und nur hierdurch wird uns \u00fcberhaupt eine einheitliche Betrachtung mehrerer Bewegungen m\u00f6glich, zu welcher freilich die consequent durchgef\u00fchrte Aristotelische Anschauung v\u00f6llig au\u00dfer Stande ist. Dass Aristoteles selber seinen Festsetzungen nicht treu bleibt, ist eine einfache Folge jener unnat\u00fcrlichen Beschr\u00e4nkung, und weder seine eigenen Wortk\u00fcnsteleien noch diejenigen seiner mittelalterlichen Anh\u00e4nger haben den Schaden verdecken k\u00f6nnen.\nWenngleich von den alten Philosophen Aristoteles allein einen betr\u00e4chtlichen Einfluss auf die weitere Entwickelung des Bewegungsbegriffes gehabt hat, so ist er doch hier nicht einzig f\u00fcr uns von Interesse. Ja anderw\u00e4rts finden wir viel bessere Beispiele daf\u00fcr, dass die merkw\u00fcrdigen, aus unklarer Erkenntniss der Relativit\u00e4t aller Bewegung entspringenden Paradoxien den Alten nicht ferner lagen als uns- So befindet sich unter den bekannten Argumenten gegen die Wirklichkeit der Bewegung, welche, lange vor Aristoteles, der Eleat Zeno angef\u00fchrt hat, eines, das uns hier ziemlich nahe angeht. Heller gibt ihm den folgenden Ausdruck:\n\u00bbNach den Gesetzen der Bewegung m\u00fcssen bei gleicher Geschwin-'bgkeit in der gleichen Zeit gleich gro\u00dfe R\u00e4ume durchmessen werden.\n1) Physik IV, 4.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nLudwig Lange.\nNun kommen aber zwei gleich gro\u00dfe K\u00f6rper noch einmal so schnell an einander vorbei, wenn sie sich beide mit gleicher Geschwindigkeit an einander vorbei bewegen, als wenn der eine von ihnen ruht und der andere mit derselben Geschwindigkeit sich an ihm vorbei bewegt. Hieraus glaubt Zeno schlie\u00dfen zu d\u00fcrfen, dass zur Durchmessung des gleichen Raumes \u2014 dessen, den jeder von den beiden K\u00f6rpern einnimmt \u2014 bei gleicher Geschwindigkeit das eine Mal nur halb so viel Zeit n\u00f6thig sei als das andere Mal, dass mithin die Thatsachen mit den Gesetzen der Bewegung im Widerspruch stehen\u00ab.1)\nWieso diesem Irrthume Zenos in der That nichts weiter zu Grunde liegt, als eine mangelhafte Anschauung von der Relativit\u00e4t der Bewegung, bedarf keiner gro\u00dfen Auseinandersetzung. Das An-einandervorbeikommen der beiden K\u00f6rper setzt eine andere Relation voraus als die Geschwindigkeitsbestimmung, welche Z eno vor Augen hat. Dass Bewegung und Geschwindigkeit eines K\u00f6rpers nur soweit in der bekannten gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehung zu einander stehen, als ihnen beiden dieselbe Relation zu Grunde liegt, kann nur der \u00fcbersehen, welcher die Relation vornimmt, ohne sie als solche zu erkennen. So wunderlich uns der hier vorliegende Trugschluss erscheint, so werden wir doch in der neueren Zeit ganz \u00e4hnliche wiederfinden.\nNicht weniger als Zenos Argumentation interessirt uns hier eine Stelle bei Sextus Empiricus, worin derselbe zwar nicht die Wirklichkeit der Bewegung, wohl aber die M\u00f6glichkeit einer widerspruchsfreien Bewegungsdefinition bestreitet. Er wendet sich hier u. a. gegen die Definition der Bewegung als einer Ver\u00e4nderung des Ortes mit dem folgenden Paradoxon :2)\n\u00bbWenn auf einem mit g\u00fcnstigem Winde segelnden Schilfe Jemand vom vorderen nach dem hinteren Ende zu einen Balken in aufrechter Stellung hintr\u00e4gt und sich dabei eben so schnell wie das Schilf bewegt, dergestalt dass, w\u00e4hrend dieses eine Elle Weges nach vorne zuruck-legt, der auf ihm sich Bewegende in gleicher Zeit um eine Elle Weges\n1)\tZeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer gesehiehtlichen Entwiche\nlung Bd. I2, S. 432 ff.\tf\t,\n2)\tS. Empiricus, ex recens. J. Bekkeri, 1842. p. 487 (IIqo\u00e7 B. 56, 57).","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\t347\nnach hinten schreitet, so wird jedenfalls unter dieser Voraussetzung eine Bewegung des Ueberganges stattfinden, und dennoch wird das bewegte weder als Ganzes noch in seinen Theilen den Ort verlassen, an welchem es sich befindet; denn der auf dem Schiffe sich Bewegende bleibt best\u00e4ndig in demselben Perpendikel sowohl der Luft als auch des Wassers, dieweil er um eben so viel nach vorne getragen w;rd, als er nach hinten fortzukommen scheint. Demzufolge kann etwas bewegt sein, w as weder als Ganzes noch in seinen Theilen den Ort verl\u00e4sst, wo es ist\u00ab.\nDer Widerstreit des uns innewohnenden nat\u00fcrlichen und des gek\u00fcnstelten Aristotelischen Orts- und Bewegungsbegriffes ist hier unschwer zu erkennen. Die Unbrauchbarkeit des letzteren wird durch das Paradoxon des Sextus klar erwiesen, und insofern ist S e x t u s mit seiner Polemik nicht im Unrechte. Der einzige Tadel, welcher ihn trifft, ist dieser, dass er nicht versucht hat, seiner nat\u00fcrlichen Vorstellung von der Bewegung passenderen Ausdruck zu geben als Aristoteles.\nDiese wenigen Beispiele aus dem Alterthume werden hier gen\u00fcgen. Auch die mittlere Philosophie ist f\u00fcr unsere Pr\u00e4ge nur von geringem Belange. Man bemerkte wohl die inneren Widerspr\u00fcche der Aristotelischen Lehre von Ort und Ortsbewegung, aber man setzte im allgemeinen seine Bem\u00fchungen daran, sie durch einen abenteuerlichen Apparat nichtssagender Formeln nach M\u00f6glichkeit zu verdecken. Einen hinreichend klaren Begriff hiervon gew\u00e4hrt schon der Einblick in einige sp\u00e4tscholastische Commentare zur Aristotelischen Physik.\nAristoteles hatte, wie wir sahen, Unbeweglichkeit als eines der Hauptpr\u00e4dicate des Ortes bezeichnet. Dass er durch diesen ausgesprochenen Ontologismus mit seiner eigenen Ansicht von der acci-dentiellen Bewegung in Widerspruch gerathe, scheint er selbst gef\u00fchlt zu haben. Ein Schiff ist \u00bban und f\u00fcr sich bewegt\u00ab, indem es seinen Ort im Aristotelischen Sinne, d. h. indem es die Umgebung des Wassers und der Luft ver\u00e4ndert. Wasser und Luft k\u00f6nnen aber dabei ebenfalls bewegt sein, und dennoch soll der Ort unbeweglich sein! Aristoteles hilft sich mit der Redensart, das Schiff brauche die umfassende Mate-p6 mehr als Gef\u00e4\u00df denn als Ort; Ort des Schiffes sei hier eher der U8S als Ganzes betrachtet. Von scholastischen Interpreten wird","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nLudwig Lange.\ndiese prec\u00e4re Andeutung nun gar so ausgef\u00fchrt, dass die Forderun der Contiguit\u00e4t in der r\u00e4umlichen Beziehung thats\u00e4chlich verloren geht, ohne dass man sie aus den urspr\u00fcnglichen Definitionen zu be seitigen wagt. So wird z. B. gelehrt, der Ort sei die Grenzfl\u00e4che des umfassenden K\u00f6rpers, aber nur als unbeweglich zu dem \u00e4u\u00dfersten umfassenden K\u00f6rper ; und hier schleicht sich die umsonst vermiedene r\u00e4umliche Beziehung auf Entfernung ein. Sehr charakteristisch ist in diesem Sinne auch eine Stelle bei Wilhelm von Occam,1) worin neben der eigenen Ansicht dieses Philosophen noch zahlreiche andere angef\u00fchrt sind. \u00bbJene Unbeweglichkeit des Ortes suchen Verschiedene auf verschiedene Weise aufrecht zu erhalten. Denn Manche sagen am Orte sei zweierlei zu betrachten. N\u00e4mlich das, was am Orte materiell ist und in der Oberfl\u00e4che des umfassenden K\u00f6rpers besteht. Sodann das, was am Orte hier formell ist, n\u00e4mlich die Ordnung zum Weltall (ordo ad Universum). Die Ordnung zum Weltall ist aber stets unbeweglich. Denn der Ort kann in Bezug auf das, was formell an ihm\nist, weder an und f\u00fcr sich noch accidentiell bewegt werden.........\nWenn ein Schiff am Anker angebunden ist, so dass es nicht mit dem Flusse hinabschwimmt, so wird man sagen, dass es immer am selben Orte ist. Denn es mag sein, dass immer anderes und anderes Wasser darunter kommt und das Schiff nicht immer dieselbe Ordnung zu den Theilen des Flusses beh\u00e4lt, weil diese Theile beweglich sind, so befindet es sich dennoch, so lange es angebunden ist, am selben Orte in Bezug auf den Fluss als Ganzes. Der Fluss als Ganzes wird deshalb gewisserma\u00dfen sein Ort genannt, weil der Ort des Schiffes Unbeweglichkeit in seiner Ordnung zum ganzen Flusse hat........... . So also\nhat in der Anordnung zum Weltall der Ort Unbeweglichkeit. Und wenn darum Etwas auf der Erde ruhte und durch das Wehen eines Windes die ganze umgebende Luft bewegt und fortgetragen w\u00fcrde, so w\u00fcrde man nicht sagen, dass es den Ort ver\u00e4ndert, weil es zum ganzen Weltall dieselbe Stellung behielte, welche es fr\u00fcher hatte, also u. s. w. Man beweist dasselbe auch so. W\u00e4hrend du ruhst, mag die ganze Luft bewegt sein, welche um dich ist, oder irgend ein K\u00f6rper, welcher dich umgibt. Dennoch w\u00fcrde man von dir sagen, dass du immer am selben Orte bist. Denn du befindest dich immer in demselben Abstande zum\n1) Summulae in libros physicorum, Bononiae 1494.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n349\nMittelpunkte und zu den Polen des Weltalls, welche unbeweglich sind. Und darum wird mit Bezug auf jene der Ort unbeweglich genannt\u00ab. W. v. Occam gibt sich \u00fcbrigens mit den hier referirten Auseinandersetzungen nicht zufrieden ; er weist ausdr\u00fccklich auch die Auffassung des Ortes als einer blo\u00dfen Relation zur\u00fcck, weil \u00bbkeine Eigenschaft des Ortes einer solchen Relation zukommt\u00ab. Er redet nat\u00fcrlich hier von den Eigenschaften, welche Aristoteles dem Orte beigelegt hat. Seine eigene Auskunft ist nun freilich auch nicht besser als die anderen. Er meint: \u00bbEs ist gar nicht die Intention des Philosophen\u00ab (Aristoteles) \u00bbzu behaupten, dass der Ort schlechthin unbeweglich sei, dergestalt, dass er auf keine Weise bewegt werden k\u00f6nne. Denn das \u00e4u\u00dferste Himmelsgeb\u00e4ude ist nach ihm beweglich und ist dennoch ein Ort. Denn um hier die Unbeweglichkeit des Ortes zu retten, gen\u00fcgt es, dass dasselbe nicht in geradliniger, sondern nur in kreisf\u00f6rmiger Bewegung bewegt ist\u00ab. Der zuletzt hier angeregte Zweifel, inwieweit sich Aristoteles im Probleme des Weltsystemes treu bleibe, ist, wie wir sehen werden, an der Reformation der Himmelskunde sehr nahe betheiligt. Zur klaren Durchschauung der Nichtigkeit aller Vermittelungsversuche geh\u00f6rte aber ein Geist, der selbst\u00e4ndig im h\u00f6chsten Sinne war. Vor Copernicus suchte man, befangen im Autorit\u00e4tsglauben, durch alle m\u00f6glichen Mittel um die Anerkennung des unleugbaren Widerspruches herumzukommen. Eine recht h\u00fcbsche Zusammenstellung derartiger Mittel finde ich in der folgenden Auseinandersetzung, die ich einem heutigen Tags kaum mehr dem Namen nach bekannten Compendium der scholastischen Physik *) entnehme :\n\u00bbDa (aber) die \u00e4u\u00dferste Sph\u00e4re Nichts au\u00dfer sich hat, was sie umfasste, so sagt man aus diesem Grunde, dass sie keinen Ort habe, deshalb hat Themistius, dem Thomas\u00ab (von Aquino) \u00bbbeistimmt, gesagt, dass die \u00e4u\u00dferste Sph\u00e4re nicht als Ganzes, sondern in ihren I heilen den Ort ver\u00e4ndert, und dass sie ihren Theilen nach an einem (,lte ist< Dagegen streitet Averroes, weil das Ganze nichts anderes ist als die Theile. Darum bewegt sich nach Aristoteles im sechsten Buche der Physik die Sph\u00e4re als Ganzes und in ihren Thei-en- Und als Ganzes ver\u00e4ndert sie ihre verschiedenen Orte nur \u00b0r\u00aeell-\u2022 in ihren Theilen hingegen formell und an und f\u00fcr sich.\nb Peyligk, Philosophiae naturalis compendium, 1496.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nLudwig Lange.\n\u00c4vempace aber sagte, dass ein sph\u00e4rischer K\u00f6rper durch sich selbst begrenzt wird, weil die sph\u00e4rische Linie (!) in sich vollendet ist; weshalb auch die Sph\u00e4re nicht nach einem anderen Aeu\u00dferen ermessen wird, so wie geradlinig bewegte K\u00f6rper. Deshalb wird von ihm der Ort der Sph\u00e4re gesetzt als das Convexe des Centrums, worum sie sich umw\u00e4lzt. Averroes aber sagt, der Himmel als Ganzes sei fest. Die Ruhe aber kommt ihm zu wegen der Ruhe seines Centrums, d. h. der Erde, welche auch an und f\u00fcr sich in einem Orte ist (!). Er bewegt sich daher als Ganzes und ver\u00e4ndert seinen Ort nur acciden-tiell, formell, nicht materiell. Denn Alles, was sich in Etwas befindet, befindet sich daselbst accidentiell wegen einer Sache, welche eben jenes in sich hat (!)\u00ab. Die blo\u00dfe Anf\u00fchrung dieser Haarspaltereien wird gen\u00fcgen zu zeigen, welche Wege man damals einschlug, um zu einem widerspruchsfreien Bewegungsbegriffe zu kommen. Copernicus erkannte klar, dass man unvereinbare Behauptungen durch solche Mittel nicht vereinen kann, und lie\u00df die Lehre von der Bewegung des Firmamentes wesentlich mit aus diesem Grunde fallen.\nDass nicht nur der Ort, sondern auch die Bewegung etwas Relatives und keineswegs etwas Absolutes sei, findet sich sehr deutlich bei Nicolaus Cusanus ausgesprochen. Ihm als Vorl\u00e4ufer des Copernicus musste der Ausspruch eines solchen Gedankens freilich n\u00e4her liegen als den meisten Zeitgenossen. Recht fremdartig muthet uns seine Begr\u00fcndung an, warum es keine absolute Bewegung gibt. Sie beruht auf der f\u00fcr Cusanus charakteristischen Verwechselung zwischen dem Unendlichen und Absoluten, wie alle jene \u00bbWiderspr\u00fcche, mit denen er spielt\u00ab.1) Die in Betracht kommenden Stellen finden sich in dem Buche \u00bbDe docta ignorantia\u00ab, vereinigt mit der kurzen Auseinandersetzung der Lehre, dass die Erde bewegt sei (Lib. II. Cap. X\u2014XII)\n\u00bbEs gibt also keine schlechthin gr\u00f6\u00dfte Bewegung, weil diese mit der Ruhe zusammenf\u00e4llt. Keine Bewegung ist daher absolut, denn die absolute ist Ruhe und Gott: und sie begreift alle Bewegungen m sich\u00ab. Es liegt der Gedanke nahe, dass hier unter absoluter Bewegung \u00fcberhaupt nicht ganz dasselbe verstanden ist, was wir darunter zu ver stehen pflegen. Ganz unzweideutig ist hingegen die folgende Stelle \u00bbEs ist deshalb, in Anbetracht der verschiedenen Bewegungen der\n1) E. F. Apelt, Die Reformation der Sternkunde S. 15f.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\t351\nj^immelsk\u00f6rper, unm\u00f6glich, dass Etwas die Weltmaschine sei, oder dass diese wahrnehmbare Erde oder die Luft, das Feuer oder was sonst immer das feste und unbewegliche Centrum bilde. Denn man kommt in der Bewegung auf kein schlechthin Kleinstes, etwa ein festes Centrum : weil das Kleinste nothwendig mit dem Gr\u00f6\u00dften zusammenf\u00e4llt\u00ab. Die Begr\u00fcndung, warum es nichts an sich Festes gibt, ist hier freilich nicht weniger absonderlich als die vorhin citirte Begr\u00fcndung, warum es keine absolute Bewegung gibt. Sehr bemerkens-werth ist es, dass bereits Cusanus die Relativit\u00e4t der Bewegung als Grund anf\u00fchrt, warum wir die Bewegung der Erde nicht bemerken. \u00bbNunmehr ist uns offenbar, dass sich diese Erde in Wahrheit bewegt : ungeachtet dies nicht sichtbar wird, weil wir die Bewegung nur durch irgend eine Vergleichung mit etwas Festem erkennen\u00ab. Wieviel hier an einer consequenten und klaren Erfassung der Relativit\u00e4t aller Be--wegung noch fehlt, brauche ich um so weniger hervorzuheben, als wir auf \u00e4hnliche Erw\u00e4gungen an passenderer Stelle zur\u00fcckkommen.\nRecht bemerkenswerth durch ihre eigenth\u00fcmliche metaphysische F\u00e4rbung ist die Bewegungsdefinition des sp\u00e4ten Thomisten Suarez (gest. 1617), nach welchem \u00bbdas innere Ziel der Bewegung nicht der umliegende Ort ist, sondern das innerliche Wo, das real in dem in einen Ort Gestellten selbst ist\u00ab.v) \u00bbDas, was formal in dem Pr\u00e4dica-mente Wo ist\u00ab, ist nach ihm \u00bbeine gewisse reale Weise und dem Dinge, von dem man sagt, es sei irgendwo, innerlich ; von diesem hat es ein derartiges Ding, dass es hier oder dort ist. Diese Weise h\u00e4ngt an sich nicht ab von dem umschreibenden K\u00f6rper, auch von sonst nichts Aeu\u00dferlichem, sondern blo\u00df materieller Weise von dem K\u00f6rper, der lrgendwo ist, effectiver Weise aber von der Ursache, welche einen solchen K\u00f6rper dorthin stellt oder dort erh\u00e4lt. Daher wird gesetzt, dieser odus sei etwas Absolutes, ob er gleich von uns nicht anders erkl\u00e4rt \"erden kann, als durch die Weise eines-Fundamentes einiger Begehungen des Abstandes oder der N\u00e4he, und deshalb von ihm gesagt 'VUr \u2019 er sei etwas Beziehungsweises nach der Art, wie man ihn be-lchnet<(. 2) Hiernach w\u00e4re also die Bewegung an sich etwas Tran-cendentes und Absolutes, wiewohl wir sie nur als etwas Relatives\nPhilnJ\tDie Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren\nnosophie, Bd. I. S. 32.\n2) Baumann, a. a. O. Bd. I. S. 55f.","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nLudwig Lange.\nerkennen k\u00f6nnen. Auch die Anschauungen des Copernicus und seiner ersten Nachfolger waren hiervon nicht weit entfernt.\nFin allgemeineres Interesse f\u00fcr die Frage, was die Bewegung wirklich sei, konnte erst im Kampfe der astronomischen Weltanschauungen erwachsen, und eben darum bildet der gewaltige Geistesact des Copernicus die Hauptepoche auch in der Geschichte des Bewegungsbegriffes. Alle Untersuchungen \u00fcber denselben gingen im ganzen nachfolgenden Jahrhundert mit der Frage nach der richtigen Welt-Ordnung Hand in Hand, und die ganze Entwickelung des Begriffes von Copernicus bis zu Newton ist unzertrennlich mit jenem gro\u00dfen Meinungskampfe verbunden.\nCapitel II.\nSer Bewegungsbegriff w\u00e4hrend der Reformation der Himmelskunde, von Copernicus bis zu Newton.\n(1543\u20141687.)\nJener offene Widerstreit gegen die Aristotelische Welterkl\u00e4-ning, durch welchen der Eingang der neueren Naturwissenschaft gekennzeichnet wird, geht, wie bekannt, durchgehends von echt Aristotelischen Principien aus. Man erkannte aufrichtig die inneren Widerspr\u00fcche der \u00fcberkommenen Lehre an, statt sich, wie die Scholastiker, nach Kr\u00e4ften dar\u00fcber hinwegzut\u00e4uschen, man lie\u00df aber darum keineswegs die ganze Lehre auf einmal, sondern nur diejenigen ihrer S\u00e4tze fallen, welche man am leichtesten ausscheiden konnte; und so entstand ganz allm\u00e4hlich und nicht unvermittelt ein neues Fundament der Naturforschung. *) Dem entsprechend werden wir insbesondere sehen, wie die gro\u00dfen Reformatoren der Himmelskunde,\nCopernicus, Kepler und Galilei, nach der positiven Seite ihrer\nKritik hin durch specifisch Aristotelische Grundgedanken oder zum mindesten durch solche Grundgedanken geleitet werden, die dem\n1) Z. B. ist die Entdeckung des Tr\u00e4gheitsgesetzes und damit die neue von der alten so verschiedene Auffassung der Causalit\u00e4t wesentlich durch den der Weltanschauungen gereift, welcher seihst nur einem inneren Widerstrei telischer Lehren entsprang.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\t353\nAristotelischen Lehrbegriffe nicht fremd, vielmehr ihm entwachsen sind.\nWirksamer als alle anderen Grundgedanken dieser Art ist in den Kampf gegen die Ptolem\u00e4ische Weltordnung die Aristotelische Ansicht von der Zweckth\u00e4tigkeit der Natur eingetreten. Wenn es freilich von Aristoteles unumschr\u00e4nkt gilt, dass hei ihm \u00bb\u00fcber der materiellen Nothwendigkeit die Zweckth\u00e4tigkeit der Dinge\u00ab1) steht, so l\u00e4sst sich dieser Ausspruch auf die hier betrachtete Periode nicht ohne besondere Auslegung anwenden. Gilt es doch mit Recht als wesentliches Kennzeichen der von Galilei eingeleiteten Zeit, dass nachdr\u00fccklich auf causale Erkl\u00e4rung der Erscheinungen aus wenigen obersten Principien gedrungen wird. Was aber gleichwohl dieser ganzen Geistesstr\u00f6mung ein durchaus teleologisches Gepr\u00e4ge verleiht, ist die Thatsache, dass jene obersten Principien selbst vorwiegend teleologisch gegr\u00fcndet sind.\nBesonders ist es ein teleologischer Grundsatz, welcher, entsprossen dem peripatetischen ovd-ev noiel jte\u00e7le\u00e7yov oiid'e jxarrjv fj cp\u00e9aig, von der allergr\u00f6\u00dften Bedeutung f\u00fcr die damalige Entwickelung der Naturwissenschaft \u00fcberhaupt und des Bewegungsbegriffes im besonderen gewesen ist. Ich meine das metaphysische Princip der Sim-plicit\u00e4t, wonach die Natur sich allenthalben der einfachsten Mittel bedient, um ihren Zweck zu erreichen. In fr\u00fcheren Zeiten bildete in der That dieses Princip eine der obersten Voraussetzungen aller Naturwissenschaft. Wir werden denn auch vielfach Gelegenheit haben, seinen Einfluss zu beobachten ; wir werden sehen, wie es bereits eine schneidige Waffe in der Hand des Copernicus ist, und wie es dann von Galilei schon weit klarer in seiner ganzen Bedeutung gew\u00fcrdigt und auf die dynamischen Grundprobleme angewandt wird. Unter den Voraussetzungen der Naturwissenschaft ist es gegenw\u00e4rtig nicht mehr zu treffen, was aber keineswegs hindert, dass es hier und da n\u00b0ch immer unerkannter Weise Anwendung findet. Man kann indessen mit Recht verlangen, dass in den Ausf\u00fchrungen eben so gut 'vie in den Voraussetzungen der Wissenschaft an seiner Stelle das lediglich methodologische Princip der Simplicit\u00e4t eintritt, welches nicht die Behauptung einschlie\u00dft, dass die Natur \u00fcberall m\u00f6glichst\n1) Zeller, a. a. O. Bd. IIP, S. 321. Wundt, Philos. Stadien. III.\n24","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nLudwig Lange.\neinfach verfahre, sondern nur vorschl\u00e4gt, dass wir zum Nutzen der Erkenntniss die Natur unter m\u00f6glichst vereinfachten Bedingungen betrachten sollen. Gerade die Gegenwart scheint berufen zu sein, mit besonderer R\u00fccksicht auf den Bewegungsbegriff diesen schon l\u00e4ngst eingeleiteten Umwandlungsprocess zu Ende zu f\u00fchren.\nSoviel zur allgemeinen Beleuchtung der Entwickelung, die wir nun im einzelnen zu betrachten haben.\n\u00a7 1. Copernicus.\nCopernicus ist an der Umbildung des Bewegungsbegriffes nicht so sehr unmittelbar als vielmehr mittelbar betheiligt gewesen. Wenigstens weicht er in der principiellen Auffassung des \u00bbOrtes\u00ab und der \u00bbBewegung\u00ab von vorangegangenen Zeiten nur wenig ab. Zwar fordert er nicht mehr mit Aristoteles, dass der ortgebende K\u00f6rper den an den Ort gestellten unmittelbar von au\u00dfen ber\u00fchrt, aber doch, dass er der umfassendere ist ; und gerade darauf beruht einer seiner Haupteinw\u00e4nde gegen das Ptolem\u00e4ische System.\nBereits die Scholastiker waren auf den Widerspruch aufmerksam geworden, dass das Himmelsgeb\u00e4ude keinen Ort haben sollte (indem es von Nichts umfasst wird) und dennoch seinen Ort ver\u00e4ndern, sich bewegen. Sie glaubten das Paradoxon durch allerhand Begriffs-k\u00fcnsteleien l\u00f6sen zu k\u00f6nnen; aber Copernicus durchschaute die Nichtigkeit aller solcher Versuche und ward sich klar, dass man von den Aristotelischen Lehren mindestens eine fallen lassen m\u00fcsste, entweder die Definition des Ortes oder das Dogma von der Bewegung des Himmels. Er zog den zweiten Schritt vor, auf welchen er sich auch von Seiten des Simplic\u00e4tsprincipes hingelenkt f\u00fchlte. Zum Belege hierf\u00fcr lassen sich mehrere Stellen des ersten Buches \u00bbDe revo-lutionibus\u00ab anf\u00fchren. Zweimal kommt er auf jenes Paradoxon ausdr\u00fccklich zu sprechen, gleich als wenn er die Ueberzeugung von der Bewegung der Erde dadurch noch vollst\u00e4ndig machen wollte. \u00bbUnd da der Himmel es ist, welcher Alles enth\u00e4lt und birgt, der gemeinsame Ort aller Dinge, so ist nicht sogleich klar, warum nicht lieber dem Umfassten als dem Umfassenden, lieber dem an einen Ort Gestell-ten als dem Ortgebenden die Bewegung beigelegt werden soll\u00ab (Cap. * \u2022","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"355\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\npag. 20).1) \u00bbIch f\u00fcge noch hinzu, dass es recht widersinnig erscheinen w\u00fcrde, dem Umfassenden oder Ortgebenden die Bewegung zuzuschreiben und nicht vielmehr dem, was umfasst und an einem Orte befindlich ist, n\u00e4mlich der Erde\u00ab (Cap. VIII. p. 30). Dem entsprechend hei\u00dft es auch in der kurzen Exposition der neuen Anordnung (Cap.X) : \u00bbDie erste und oberste von allen Sph\u00e4ren ist diejenige der Fixsterne, welche sich selbst und Alles einschlie\u00dft ; darum ist sie auch unbeweglich, versteht sich als Ort des Alls, worauf Bewegung und Stellung aller\u00fcbrigen Gestirne bezogen werden soll\u00ab (p. 37). F\u00fcr den teleologischen Grundzug des Copernicanischen Geistes spricht andererseits die folgende Stelle aufs unverkennbarste : \u00abMan muss aber mehr der Weisheit der Natur folgen, welche nicht allein sich aufs \u00e4u\u00dferste geh\u00fctet hat, Ueberfl\u00fcssiges oder Unn\u00fctzes hervorzubringen, sondern im Gegentheil eine Sache oftmals mit zahlreichen Wirkungen ausgestattet hat\u00ab (Cap. X. p. 36 sq.). Hierin liegt der Keim jener Argumente, welche aus der gr\u00f6\u00dferen Einfachheit des neuen Systems auf seine gr\u00f6\u00dfere Wahrscheinlichkeit schlie\u00dfen und bis auf die Gegenwart in popul\u00e4ren Darstellungen der Astronomie immer wieder geltend gemacht werden. Zur Zeit des Copernicus und seiner Nachfolger Kepler und Galilei hatte eine solche Argumentation noch Sinn ; denn man erkannte das Princip der Simplicit\u00e4t noch als eine metaphysische Wahrheit an; w\u00e4hrend dasselbe in der heu-tigenWissenschaft nur noch die Bedeutung einer methodologischen Convention besitzt. Niemand, welcher sich nicht \u00fcber den Begriff der Bewegung \u00fcberhaupt hinwegsetzt, wird gegenw\u00e4rtig jenem Schl\u00fcsse des Copernicus sich anschlie\u00dfen. Die Sache liegt f\u00fcr uns eben ganz anders als f\u00fcr Copernicus und seine unmittelbaren Nachfolger, die mit einem bereits teleologisch gef\u00e4rbten Bewegungsbegriffe ope-riren> ohne sich freilich selbst davon Rechenschaft zu geben. Man warf 1,1 jenen Zeiten empirische, logische, teleologische, \u00e4sthetische2) Mo-mente untereinander, um zur Wahrheit zu gelangen. Sehr charakteristisch f\u00fcr den uns ganz fremden Ontologismus ist es z. B. auch, wenn 0 per ni eus f\u00fcr die Kreisbewegung der Erde den Grund anf\u00fchrt,\nwohl h- Seitenzahlen beziehen sich auf die Warschauer Ausgabe, \u00bbcaelat\u00ab ist \u25a05ier nUr Dru<\u00abehler f\u00fcr \u00bbcelat\u00ab.\n' z. B. De revolutionibus Cap. VIII. p. 30, X. p. 38.\n24*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nLudwig Lange.\n\u00bbdie Beweglichkeit der Kugel sei, sich im Kreise zu drehen, weil sie so durch ihre Th\u00e4tigkeit seihst ihre Form zum Ausdrucke bringe\u00ab (Cap. IV. p. 18, cf. Cap. V. VIII). Solche Sonderbarkeiten waren nur so lange m\u00f6glich, als man auf ausdr\u00fcckliche Definitionen und strenge Anwendungen der Begriffe noch nicht bedacht war. Ehen deshalb l\u00e4sst sich ein scharf umrissener Bewegungshegriff weder hei Copernicus noch bei seinen n\u00e4chsten Anh\u00e4ngern feststellen; und es kann sich hier nur erst darum handeln, die Elemente hervorzuheben , aus denen sich sp\u00e4ter ein Ganzes zusammensetzt, das einer einigerma\u00dfen consequenten Anwendung iahig ist.\nEine Er\u00f6rterung dar\u00fcber, wodurch sich die wahren Bewegungen von den scheinbaren unterscheiden, treffen7wir bei Copernicus \u00fcberhaupt nicht an. Nur dass sie sich unterscheiden und nicht verwechselt werden d\u00fcrfen, wird uns gesagt: \u00bbDenn jede Ortsver\u00e4nderung, welche wahrgenommen wird, findet statt entweder wegen der Bewegung des betrachteten Dinges oder wegen der Bewegung des Zuschauers oder doch wegen einer ungleichen Ortsver\u00e4nderung beider. Denn zwischen Dingen, welche in der gleichen Weise zu demselben (Bezugsobjecte) bewegt sind, ist die Bewegung unwahmehmbar, n\u00e4mlich zwischen der betrachteten Sache und demjenigen, welcher sie betrachtet\u00ab (Cap. V. p. 20). Man k\u00f6nnte fast glauben, dass bereits hier unter der Bewegung etwas wesentlich Transcendentes verstanden sei, wennnur der Zusatz \u00bbzu demselben\u00ab nicht w\u00e4re. Wahrscheinlich hat Copernicus selber bei dieser principiellen Er\u00f6rterung den mit unklarer Relation behafteten geocentrischen Bewegungsbegriff vor Augen gehabt, auf welchen im gew\u00f6hnlichen Leben alle \u00bbwirklichen\u00ab Bewegungen berechnet sind. Diese Inconsequenz darf ihm nicht allzu hoch angerechnet werden. Ist es doch streng genommen nicht minder incorrect, wenn '\u00bbvir zur Erl\u00e4uterung des Foucault\u2019schen Pendelversuchs das bekannte Experiment mit der Centrifugalmaschine anstellen, durch welches gezeigt werden soll, dass das Pendel unabh\u00e4ngig vom Aufh\u00e4ngungspunkte in einer unver\u00e4nderlichen Ebene hin- und herschwingt ; denn hierbei ist doch gerade die Erde Bezugsobject, welche es eben des Pendelversuches wegen nicht sein soll. Die ganzeUebertragung vom irdischen Experimente auf den kosmischen Fall hat hier doch f\u00fcr eine aufgekl\u00e4rte Betrachtung nur soweit Sinn, als man bereits \u00fcber die Bewegung der Erde Etwas wei\u00df: n\u00e4mlich, dass sie im Ver","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n357\nbleiche zur Drehung der Centrifugalmaschine unendlich langsam ist. pass der hierin liegende Cirkel \u00fcbersehen zu werden pflegt, liegt an jer Unklarheit des praktischen Begriffes \u00bbBewegung\u00ab. Die Berechtigung des Foucault\u2019schen Versuches l\u00e4sst sich nicht aus jenem \\nalogieversuche, sondern nur aus der dynamischen Ableitung der Pendelgesetze erkennen.\nWie wenig klar und consequent noch Copernicus in seinem Bewegungsbegriffe war, l\u00e4sst sich auch aus seiner Lehre von der \u00bbdritten\u00ab Bewegung der Erde schlie\u00dfen. Copernicus meint zur Erkl\u00e4rung des t\u00e4glichen und j\u00e4hrlichen Umlaufes der Sonne nicht, wie die sp\u00e4teren Astronomen seit Kepler, mit zwei Bewegungen der Erde, n\u00e4mlich ihrer Rotation und Revolution auszukommen, er h\u00e4lt vielmehr noch eine dritte Bewegung f\u00fcr nothwendig. Dieselbe soll dazu dienen, die Erdachse, als wenn sie sonst der Sonne immer einen und denselben Pol zuwenden w\u00fcrde, best\u00e4ndig sich seihst parallel zu erhalten (Cap. XI. p. 40). Man sieht, dass hier Copernicus seinem eigenen heliocentrischen Systeme, worin Sonne und Fixsterne als feste Punkte gelten, und worin die Erde einen j\u00e4hrlichen Umkreis macht, nicht treu bleibt. Denn in Bezug auf dieses System hat die Erdachse keine ver\u00e4nderliche Richtung. Diese Inconsequenz w\u00e4re minder tadelnswerth, wenn sie bewusster Weise untergelaufen w\u00e4re, was nun freilich nicht der Fall ist. Noch zu Newtons Zeit war ein gelehrter Streit dar\u00fcber m\u00f6glich, oh der Mond eine Achsendrehung besitze oder nicht. Beide Ansichten waren, bei Lichte betrachtet, nicht unrichtig.1) Newton nahm, entsprechend seinen sp\u00e4ter zu behandelnden Grundansichten, eine Achsendrehung des Mondes an und bew\u00e4hrte so die Treue gegen jenes Coordinatensystem, worauf sich der monatliche Umlauf des Mondes bezieht. Die Anschauung seiner Gegner war untreu, aber nicht unwahr. Das Mo-hv der Inconsequenz war bei ihnen eine allzu gro\u00dfe Vorliebe f\u00fcr die Erde, wie bei Copernicus eine allzu gro\u00dfe Vorliebe f\u00fcr die Sonne.\nEine Idee von einem \u00bbabsoluten Raume\u00ab hat Copernicus noch eben so wenig gehabt, wie irgend einen der sogenannten dynamischen Gr\u00fcnde f\u00fcr seine Lehre. Die Fixsternsph\u00e4re war f\u00fcr ihn, der von Aenderung der Fixsterndistanzen noch Nichts wissen konnte, als all\u2014\n1) Vgl. Kant, Kr, d. r. V. herausg. v. Kirchmann, Berlin 1868, S. 387.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nLudwig Lange.\numfassendes Object nothwendig auch Bezugsobject, um so mehr als sich durch diese Relation Alles am einfachsten, d. h. \u00bbnaturgem\u00e4\u00dfesten\u00ab darstellte. Bei consequenterer Anwendung seiner Principien h\u00e4tte er sich vielleicht \u00fcberzeugt, dass es nicht allein falsch sei, der Fixstern-sph\u00e4re eine Bewegung zuzuschreiben, sondern auch, ihr die Ruhe zuzuschreiben. Denn Ruhe ist die andauernde Gegenwart am selben Orte; was also keinen Ort hat, wie nach Copernicus selber die Fixsternsph\u00e4re, das kann eben so wenig ruhen als bewegt sein. Dies blieb ihm aber wiederum verborgen, weil er das von geocentrischen Erfahrungen entlehnte Vorurtheil hatte, jedes Ding m\u00fcsse an sich entweder bewegt sein oder ruhen, ohne, wie wir dies thun, zu fragen, in Bezug worauf.\nF\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der nachcopemicanischen Entwickelung des Bewegungsbegriffes ist es wichtig zu bemerken, dass Copernicus in der Anwendung des Simplicit\u00e4tsprincipes auf das Problem der Weltordnung selber noch nicht die erreichbare Simplicit\u00e4t angewendet hat. Seine Nachfolger seit Galilei verlegten den Punkt, wo das Simplicit\u00e4tsprincip gewisserma\u00dfen seine Kraft aus\u00fcben sollte, weiter zur\u00fcck in die letzten Grunds\u00e4tze der neu entstandenen Dynamik, indem sie der Anschauung folgten, dass eben diese Grunds\u00e4tze die denkbar gr\u00f6\u00dfte Einfachheit bekunden m\u00fcssten. Nachdem sie in diesem Sinne das Tr\u00e4gheitsgesetz aufgestellt hatten, konnten sie dann, vorausgesetzt die Richtigkeit der gemachten Grundannahme, mit logischer Strenge die Wahrheit, und zwar die ausschlie\u00dfliche Wahrheit des Copernicanischen Syst\u00e8mes beweisen. Allein diesen gro\u00dfen und schwierigen Schritt zu thun, war man naturgem\u00e4\u00df auch erst bef\u00e4higt, nachdem man den Nutzen des Simplicit\u00e4tsprincipes bereits an dem evidenten Beispiele des Copernicus selber sch\u00e4tzen gelernt hatte. Dem entspricht es auch vollst\u00e4ndig, dass sich die Erkenntniss des Beharrungsgesetzes wesentlich aus dem Kampfe der Weltsysteme heraus entwickelt hat. ')\nEs bleibt mir nun noch \u00fcbrig, mit einigen Worten auf den Inhalt der ersten unechten Vorrede der \u00bbLibri de revolutionibus\u00ab einzugehen. Diese Vorrede r\u00fchrt von dem N\u00fcrnberger Gelehrten\n1) Vgl. Dr. E. Wohlwill, Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes, Zeitschrift f\u00fcr V\u00f6lkerpsychologie Bd. XIV. XV.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n359\nOsiander, dem einen Herausgeber des Werkes her und enth\u00e4lt den oftmals (und nicht selten f\u00e4lschlich unter Berufung auf den Verfasser jeg Werkes) citirten Satz, es sei gar nicht nothwendig, dass die Voraussetzungen desCopernicus wahr, oder auch nur wahrscheinlich seien ; es gen\u00fcge vielmehr das Eine, wenn sie eine Uebereinstimmung zwischen Berechnung und Beobachtung gew\u00e4hren (pag. 1). Schwerlich wird hinter diesem Ausspruche mehr zu suchen sein als das \u00e4ngstliche Bestreben, mit der herrschenden Meinung m\u00f6glichst wenig in offenen Widerspruch zu treten. Dass Osiander sonst \u00fcber die Relativit\u00e4t der Bewegung wesentlich radicalere Ansichten gehabt habe als seine Zeitgenossen, ist unwahrscheinlich. Er zeigt sich in der ganzen Vorrede lediglich als Skeptiker gegen\u00fcber allen Versuchen des Menschengeistes , sich durch Constructionen von den Erscheinungen Rechenschaft zu geben, keineswegs aber als ein Mann, der verschiedene gleich m\u00f6gliche Conventionen als solche auch f\u00fcr gleich richtig hielte und etwa darum auf Anerkennung der Wahrheit, d. h. der ausschlie\u00dflichen Wahrheit des neuen Systems Verzicht leistete.\nNach dem Vorhergegangenen d\u00fcrfte es klar geworden sein, dass sich der allgemeine Bewegungsbegiff des Copernicus kaum in eine auch nur einigerma\u00dfen congruente Definition fassen l\u00e4sst. Immerhin l\u00e4sst sich soviel erkennen, dass er sich an vorangegangene Entwickelungsstufen naturgem\u00e4\u00df anschlie\u00dft, und dass zu dem Neuen, was er enth\u00e4lt, haupts\u00e4chlich die eigenth\u00fcmliche teleologische F\u00e4rbung zu z\u00e4hlen ist. Erst bei Galilei und Newton trat aber diese F\u00e4rbung in den Vordergrund, freilich auch nur, um alsbald wieder zu verblassen.\n\u00a7 2. Der Copernicanismus vor Galilei und die Gegner\ndes Copernicus.\nSo sehr in der Zeit vor Galileis Auftreten die Anh\u00e4nger des Copernicus bem\u00fcht waren, die Beweise f\u00fcr das neue System und die Widerlegungen der gegnerischen Einw\u00e4nde zu vermehren, so haben sie doch dabei den Bewegungsbegriff kaum gef\u00f6rdert. Viele der wirklich neuen Gr\u00fcnde, welche sie beibrachten,]) sind geradezu von der\n1) Vgl. z. B. M\u00f6stlins Grund: wenn der Himmel bewegt w\u00e4re, so w\u00fcrde er die kleine Erde nothwendig mit sich herum rei\u00dfen.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nLudwig Lange.\nBeschaffenheit, dass man sich \u00fcber die Frage nach dem Begriff der Bewegung ganz hinwegsetzen muss, um sie anerkennen zu k\u00f6nnen Ja vielfach liegen ihnen, ohne dass man sich davon Rechenschaft g\u00e4be Erfahrungen \u00fcber den geocentrischen Bewegungsbegriff zu Grunde' den man doch gerade bek\u00e4mpft. Solche Beweise, welche eine klarere und einheitliche Einsicht in das Problem des Bewegungsbegriffes ver-rathen, finden sich erst bei Galilei, wenngleich auch hier nur andeutungsweise.\nBei den Gegnern des Copernicus kann, auch nach Galilei von einer Entwickelung des Bewegungsbegriffes vollends kaum die Rede sein. Im allgemeinen l\u00e4sst sich nur die wichtige Bemerkung machen, dass auch hier in den Begr\u00fcndungsversuchen und Widerlegungsversuchen der unerkannte geocentrische Bewegungshegriff eine gro\u00dfe Rolle spielt, dass also Cirkelschl\u00fcsse ganz gew\u00f6hnlich sind. Von den 77 anticopernicanischen Einw\u00e4nden, welche der Jesuitenpater Riccioli in seinem \u00bbAlmagestum novum\u00ab (Bononiae 1651) 49 Coper-nicanischen Gr\u00fcnden gegen\u00fcber ins Feld f\u00fchrt, ist nach M\u00e4dler1) der folgende besonders bemerkenswerth: Nach Copernicus w\u00fcrde ein K\u00f6rper unter 45\u00b0 Breite fallend mit der Erde eine Bewegung von 1000 Fu\u00df in der Secunde machen und dazu in der ersten Secunde einen Fall von 30 Fu\u00df Endgeschwindigkeit, die nach Galilei proportional der Fallzeit w\u00e4chst. Die zusammengesetzte Bewegungsgeschwindigkeit w\u00e4re also :\nnach 1 Secunde j/lOOO2 -|- 302 = 1000,5 Fu\u00df, nach 2 Secunden j/T\u00d4OO2 -f- 602 = 1001,8 Fu\u00df, nach 10 Secunden FlOOO2 -f- 3002 = 1044,1 Fu\u00df u. s. w.\nWie kommt es nun bei der verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig so geringen Verschiedenheit dieser Werthe, dass je nach der Fallzeit die Kraft des Aufschlagens so sehr verschieden ist? Es m\u00fcsste ja dann eben so gef\u00e4hrlich sein, von einem Tische, als von der H\u00f6he eines Thurmes herabzuspringen, wenn Copernicus Recht h\u00e4tte! \u2014 Warum merkt Riccioli nicht, dass er die Geschwindigkeiten erst f\u00fcr das heliocen-trische System berechnet und dann auf das geocentrische System bezieht ? Er \u00fcbersieht die Relation beide Male, weil er vom praktischen\n1) Geschichte der Himmelskunde, Bd. I. S. 319.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des \u00dfewegungsbegriffes.\n361\nLeben her gewohnt ist, nur stillschweigend nicht ausdr\u00fccklich, dem Worte \u00bbBewegung\u00ab eine Relation unterzulegen.\nEin Liehlingseinwand der Anticopemicaner war bekanntlich der, dass ein von der H\u00f6he fallender K\u00f6rper senkrecht und nicht schief auftrifft. Noch ehe das Beharrungsverm\u00f6gen zum Principe erhoben war, wusste man diesen Einwurf durch die einfache Analogie eines vom Schiffsmaste fallenden Steines zu entkr\u00e4ften. Und diese Widerlegung musste um so sicherer wirken, als bei der Bewegung des Schiffes gerade der geocentrische Bewegungsbegriff vorausgesetzt wurde, welchen die Anticopemicaner best\u00e4ndig vor Augen hatten ! !)\nKepler ist zu erw\u00e4hnen als einer der ersten, wenn nicht der erste Copernicaner, welcher begriffliche Erw\u00e4gungen \u00fcber die Bewegung angestellt hat, ohne freilich \u00fcber den Standpunkt des Copernicus selber wesentlich hinauszugehen.1 2) Was der Unterschied zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung sei, erfahren wir von ihm eben so wenig, wie von seinem Vorg\u00e4nger. Ein Fortschritt liegt aber immerhin darin, dass er auf gewisse Arten des Vorurtheils hin weist, wodurch bewogen wir eine scheinbare Bewegung f\u00fcr wirklich nehmen. So hebt er hervor, dass wir allemal geneigt sind, demjenigen von zwei K\u00f6rpern die Ruhe zuzuschreiben, den wir (sei es mit Recht oder mit Unrecht) f\u00fcr den weitaus gr\u00f6\u00dferen halten.3)\nSehr sch\u00f6n ist seine Auseinandersetzung der Simplicit\u00e4t des neuen Syst\u00e8mes.2) Man sage doch nicht, dass sich der H\u00f6rsaal um den Kopf des Redners drehe ! Eben so widersinnig sei es aber anzunehmen, dass die Fixsternsph\u00e4re um die Erde gedreht sei. \u00bbDie Natur f\u00fchrt nicht auf schwierigem und umst\u00e4ndlichem Wege aus, was sie leichter erreichen kann\u00ab. Kepler f\u00fcgt \u00fcbrigens gleich hinzu, dass dies Argument nur f\u00fcr die Wahrscheinlichkeit des neuen Syst\u00e8mes spreche, und schickt sich an, die Nothwendigkeit des letzteren zu erweisen. Dieselbe folge aus der Annahme, dass es au\u00dferhalb des Himmels Nichts weiter gibt. Hier schlie\u00dft er sich also wieder unmittelbar an Copernicus an. Sehr urw\u00fcchsig nimmt er seinen Himmelsglobus zur H\u00fclfe. \u00bbDenn bei der Umdrehung der Kugel h\u00e4ngen ihre Pole in\n1)\tWohlwill, a. a. O. Z. f. V\u00f6lkerps. Bd. XV. S. 94f.\n2)\tEpitome astron. Copernicanae 1618. Insbesondere vgl. Lib. I. P. V. (Opera VI. S. 168ff.).\n3)\tAd Vitellionem Paralipomena 1603 Cap. X. (Opera ed. Frisch II. S. 333 ff.).","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nLudwig Lange.\neinem unbeweglichen Meridian, dieser aber st\u00fctzt sich auf den Hori zont und das Fu\u00dfgestell, das Fu\u00dfgestell aber auf den Tisch und der Tisch auf die Erde; aber au\u00dferhalb der Weltmaschine gibt es Nichts was an Stelle des ruhenden Meridianes tr\u00e4te\u00ab. \u00bbWenn gleich eine Trennung der Sterne von den darunter befindlichen Theilen der Erde wahrgenommen wird, so l\u00e4sst sich doch noch nicht erkennen, durch welcher Sache Bewegung dies geschieht, falls nicht zugleich mit der Erde noch ein K\u00f6rper au\u00dferhalb des Himmels ruht, welcher den Himmel einschlie\u00dft und ihm einen Ort gew\u00e4hrt : einen solchen K\u00f6rper gibt es aber nicht, wenigstens wei\u00df man Nichts von ihm. Wenn es ihn aber g\u00e4be, w\u00fcrde sich der Himmel darin in gleicherweise umdrehen, wie nach Copernicus die Erde im Himmel, zu welcher Annahme jener \u00e4u\u00dfere K\u00f6rper unn\u00f6thig ist\u00ab. Die von Aristoteles \u00fcberkommene Forderung, dass der ortgebende K\u00f6rper den locirten umfassen m\u00fcsse, zieht sich \u00fcbrigens noch viel weiter in der Geschichte des Bewegungsbegriffes fort. Dass das Firmament den Namen eines umfassenden K\u00f6rpers \u00fcberhaupt nicht verdient, weil sich die Fixstem-abst\u00e4nde ver\u00e4ndern, dies hat man erst ein Jahrhundert nach Kepler erkannt. Wir gegenw\u00e4rtig werden die Erde sehr wohl f\u00fcr f\u00e4hig zum geometrischen Bezugsobjecte halten, und wenn wir in der Kegel die Bezugnahme auf den Himmel vorziehen, so sind dabei dynamische Gr\u00fcnde ma\u00dfgebend, von denen die Astronomen vor Galilei nur dunkle Ahnungen hatten. Erst Galilei hat durch seine Entdeckung des dynamischen Grundgesetzes der Tr\u00e4gheit der alten Unterscheidung zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung einen festeren Anhalt gegeben, indem er dem rein geometrischen Vorstellungs-elemente des Bewegungsbegriffes ein dynamisches zur Seite stellte. Deshalb tritt auch erst mit ihm der Copemicanismus in eine Epoche, welche eben des Bewegungsbegriffes halber noch heutigen Tags verdient, eingehend auf ihre Beweis- und Widerlegungsmittel untersucht zu werden.\n\u00a7 3. Galilei und seine \u00bbDialoge\u00ab (1632).\nWenn Galilei \u00fcberhaupt in h\u00f6herem Grade, als irgend einer seiner Y org\u00e4nger, derAristotelischenW eltbetrachtung abhold war, so macht sich dies insbesondere auch in seinen Anschauungen \u00fcber","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n363\nden Bewegungsbegriff geltend. Er erkl\u00e4rt sich mit Nachdruck gegen die Aristotelische Forderung, dass der locirende und der locirte K\u00f6rper in gr\u00f6\u00dfter N\u00e4he bei einander sein m\u00fcssten, dass.also jeder bewegte K\u00f6rper sich unmittelbar bei (sopra) einem anderen unbeweglichen vor\u00fcber bewege; und er will f\u00fcr die Contiguit\u00e4t eine blo\u00dfe Relation eingesetzt wissen,*) ohne dass man freilich behaupten d\u00fcrfte, er halte die wirkliche Bewegung f\u00fcr etwas ihrem Wesen nach sinnlich Relatives. Im Gegentheil erkl\u00e4rt er die von Copernicus gelehrte wirkliche Bewegung der Erde f\u00fcr etwas Transcendentes, was man sogar nur anerkennen k\u00f6nne, wenn man durch Vemunftgr\u00fcnde seinen Sinnen Gewalt anthut (357).2) Die Einsicht in den Galilei-schen Bewegungsbegriff ist insofern ziemlich schwierig, als eine eigentliche Definition der Bewegung gar nicht aufgestellt wird. Immerhin aber l\u00e4sst sich f\u00fcr Galilei \u2014 was f\u00fcr seine Vorg\u00e4nger Copernicus und Kepler kaum Sinn gehabt h\u00e4tte \u2014 eine Definition reconstruirai, m. a. W. ein Schema angeben, in welches seine Anwendungen der Ausdr\u00fccke \u00bbwahre Bewegung\u00ab und \u00bbscheinbare Bewegung\u00ab nach M\u00f6glichkeit hineinpassen. Dieses Schema ist folgendes.\nSein und Geschehen in ihrer Wirklichkeit erkennen, hei\u00dft: Denken und Handeln der N a t u r in Gedanken so getreu als m\u00f6glich zu wiederholen. Die Natur aber erreicht alle ihre Zwecke auf m\u00f6glichst einfachem Wege, sie ist ein zweckth\u00e4tiges, ein denkendes Wesen. Ihre r\u00e4umlichen Operationen f\u00fchrt sie mit R\u00fccksicht auf ihren Anschauungsraum aus ; und die Bewegungen sind dem entsprechend insoweit wirklich, als sie sich auf den Anschauungsraum der Natur beziehen, was an ihrer gr\u00f6\u00dftm\u00f6glichen Simplicit\u00e4t erkannt wird.\nUm zu zeigen, dass dieser teleologische Gedankengang Galileis \u00bbDialogen\u00ab wirklich zu Grunde liegt, wenn gleich er nirgends zusammenh\u00e4ngend ausgef\u00fchrt wird, brauche ich nur eine Anzahl von Stellen hervorzuheben.\nSagredo (288) : \u00bbZwei, drei Mal habe ich in den Werken dieses Autors (Aristoteles) beobachtet, wie er zum Beweise, die Sache ver-\nb Opere, Firenze 1842\u20141856. Tomo I. p. 130.\n2) Seitenzahlen des ersten Bandes der Opere : \u00bbDialogo intorno ai due massimi sistemi del mondo\u00ab.","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nLudwig Lange.\nhalte sich so oder so, derartige Redensarten anwendet, dass sie so oder so unserer Einsicht gem\u00e4\u00df sei; dass wir anders keinen Zugang ZUI Erkenntniss dieser oder jener Sache haben w\u00fcrden; oder dass der Verstand der Philosophie sonst verwirrt werden m\u00fcsste. Gerade als wenn die Natur zuerst den Menschen das Gehirn verliehen und nachher die Dinge der Fassungskraft ihres Verstandes angemessen geordnet h\u00e4tte. Ich aber m\u00f6chte eher daf\u00fcr halten, dass die Natur zuerst die Dinge nach ihrem Gutd\u00fcnken (a suo modo) gemacht und sodann die menschliche Vernunft erschaffen hat, f\u00e4hig, von ihren Geheimnissen ein Weniges (aber nur mit gro\u00dfer M\u00fche) zu begreifen\u00ab.\nSalviati: \u00bbEben dies ist auch meine Meinung\u00ab.\nMit ganz \u00e4hnlichen Worten wird auch noch anderw\u00e4rts die Stellung der menschlichen Erkenntniss zur Natur gekennzeichnet. \u00bbWas uns zu verstehen sehr schwer f\u00e4llt, vollbringt die Natur mit leichter M\u00fche\u00ab (485), bemerkt Salviati, der Vertreter von Galileis eigensten Ansichten gelegentlich.\nDas Sein und Werden in seiner Wirklichkeit zu erkennen, hei\u00dft also, es aus den Gesichtspunkten der Natur anzuschauen. Wie kann man aber die Gesichtspunkte der Natur finden? Antwort: es sind immer diejenigen, woraus betrachtet die Dinge am einfachsten aussehen. Denn \u00bbUnzweckm\u00e4\u00dfig (frustra) geschieht durch mehrere Mittel, was durch wenigere geschehen kann\u00ab (138), und die Natur ist zweckm\u00e4\u00dfig (429). Welche Rolle das Simplicit\u00e4tsprincip bei Galilei spielt, ist allgemein bekannt; hat doch er es zuerst zum allgemeinen Grunds\u00e4tze der Naturwissenschaft erhoben; es w\u00e4re deshalb \u00fcberfl\u00fcssig, hier noch andere Stellen herbeizuziehen. Dass Galilei das Geschehen in der Natur als Geistesaot derselben auffasst, steht au\u00dfer Zweifel.1)\nDer ganze hiermit aus einzelnen Stellen beleuchtete Grundgedanke wiederholt sich andeutungsweise in der folgenden Ausf\u00fchrung Salviatis : Wenn nun, um aufs Haar dieselbe Wirkung zu erzielen, es gleich viel ausmacht, ob die Erde allein sich bewegt, w\u00e4hrend das ganze \u00fcbrige Weltall ruht, oder ob, w\u00e4hrend die Erde fest bleibt, mit\n1) Wenn wir heutigen Tags bisweilen die Natur als denkendes und handelndes Wesen einf\u00fchren, so geschieht es allerdings nur im bildlichen Sinne. Dass aber von einer blo\u00dfen bildlichen Redeweise bei Galilei nicht die Rede ist, scheint nnf aufs deutlichste aus der soeben citirten Stelle der Dialoge hervorzugehen.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n365\nderselben Bewegung das Weltall bewegt wird : wer sollte da glauben, dass die Natur (die doch nach dem \u00fcbereinstimmenden Urtheile Aller nimmermehr unter Zuh\u00fclfenahme vieler Mittel ausf\u00fchrt, was sich mit wenigen zu Stande bringen l\u00e4sst) die Auswahl getroffen haben k\u00f6nnte, eine unermessliche Anzahl der ausgedehntesten K\u00f6rper mit einer nicht zu sch\u00e4tzenden Geschwindigkeit sich bewegen zu lassen, um Etwas zu erreichen, was durch eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringe Bewegung eines einzigen um sein eigenes Centrum h\u00e4tte erreicht werden k\u00f6nnen (1.30)?\u00ab Man sieht, Galilei denkt sich die Natur f\u00f6rmlich in ihrem Anschauungsraume operirend. So deutlich l\u00e4sst sich diese gro\u00dfartige Auffassung weder bei Copernicus noch bei Kepler nach>veisen. Es fehlen ihnen nicht die einzelnen Gedanken, wohl aber noch die feste Verkettung zu einer einheitlichen philosophischen Naturbetrachtung. Kepler l\u00e4sst die Einfachheit nur f\u00fcr ein Argument der Wahrscheinlichkeit gelten und beruft sich zum Beweise der nothwendigen Wahrheit der neuen Lehre darauf, dass der Himmel allumfassend sei und darum keinen Ort und keine Bewegung habe. F\u00fcr Galilei ist eben die Simplicit\u00e4t der Lehre der beste Beweis ihrer Wahrheit und von dem durch Kepler vorgezogenen Argumente macht er, der den Aristotelischen Bewegungsbegriff \u00fcberhaupt nicht mehr gelten l\u00e4sst, keine Anwendung. Auf ihn passt demnach das aufgestellte Schema viel besser, als auf seine Vorg\u00e4nger. Ob er sich freilich unter dem Anschauungsraume ganz das gedacht hat, was wir uns dabei vorstellen, ist sehr fraglich und jedenfalls nicht sicher auszumachen. Man wird wohl \u00fcberhaupt nicht irren, wenn man Galileis Naturanschauung mehr f\u00fcr eine unmittelbare gef\u00fchlvolle Betrachtung der Dinge als f\u00fcr ein scharf ausgepr\u00e4gtes philosophisches System h\u00e4lt. !)\nDass Galilei sich in seinen Untersuchungen von der Erfahrung leiten l\u00e4sst und immer mit ihr in unmittelbarster Ber\u00fchrung bleibt, dies steht mit seiner Anschauung von der oftmaligen Transcendenz der Wahrheit gar nicht in Widerspruch. Unsere Wahrnehmungen im allgemeinen, und unsere Wahrnehmungen von Bewegungen im besonderen sind gewisserma\u00dfen nur Spiegelbilder der naturgem\u00e4\u00dfen\n_ 1) Vgl. W. Wundt, Logik Bd. II. S. 243, \u00fcber das Simplicit\u00e4tsprincip bei alilei, und seine Doppelgestalt. S. o. S. 353.","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nLudwig Lange.\nWahrheit. Yon ihrer Betrachtung m\u00fcssen wir ausgehen und auch best\u00e4ndig auf sie R\u00fccksicht nehmen, wenn wir anders zur Erkenntnis des Wahren gelangen wollen ; wir werden aber hiervon immer weit entfernt bleiben, wenn wir die Spiegelbilder mit den gespiegelten Dingen selbst verwechseln. Dies d\u00fcrfte der Kern der Galilei\u2019schen Methode sein.\nFassen wir das Schema der Galilei\u2019schen Bewegungsurtheile in wenige Worte zusammen, so ergibt sich diese Formel : Bewegung im allgemeinen ist Ortsver\u00e4nderung in einem Anschauungsraume. Die wirklichen Bewegungen beziehen sich auf den Anschauungsraum der zweckth\u00e4tig denkenden Natur ; die uns gegebenen Bewegungsph\u00e4nomene auf unseren Anschauungsraum, den wir, um ihn zu fixiren, an irgend einen gegebenen K\u00f6rper anzuheften pflegen.\nYon der gr\u00f6\u00dften Wichtigkeit ist es, sich die Stellung zu vergegenw\u00e4rtigen, worin Galileis eigene Auffassung seines Tr\u00e4gheitsgesetzes zu seinem Schema der Bewegungsurtheile steht. Wir brauchen hierzu nur die \u00bbDialoge\u00ab zu ber\u00fccksichtigen und nicht die \u00bbDiscorsi\u00ab von 1638, worin er das Gesetz nur auf geocentrische Bewegungen anwendet. Aus den \u00bbDialogen\u00ab ist auf das unzweideutigste zu sehen, dass er sein Gesetz, als ein Gesetz \u00fcber die wirklichen Bewegungen der K\u00f6rper, in aller Strenge ebenfalls auf den Anschauungsraum der Natur bezieht und es f\u00fcr geocentrische Bewegungen nur ann\u00e4herungsweise gelten l\u00e4sst. In der That ist aus seinen Betrachtungen \u00fcber Projectilbahnen (166\u2014202) mit voller Sicherheit zu schlie\u00dfen, dass er das genaue Bezugssystem seines Gesetzes durchaus mit dem Bezugssysteme des Copernicus identificirt. Diese scharfsinnigen Ausf\u00fchrungen haben den gemeinsamen Zweck, die aus ballistischen Erfahrungen entnommenen Gegengr\u00fcnde der Anticopernicaner zu entkr\u00e4ften. Die letzteren hatten, wie bekannt, u. a. behauptet, bei bewegter Erde m\u00fcsste gegen die Erfahrung ein s\u00fcd-n\u00f6rdlich abgeschleudertes Geschoss westlich vom Ziel auftreffen, weil w\u00e4hrend seiner Flugzeit der Erdboden sich unter ihm von West gegen Ost hinwegdrehe. Galilei weist nun nicht allein nach, dass, vorausgesetzt die Richtigkeit der letzteren Annahme, die Abweichung viel zu gering sei, um constatirt zu werden; er f\u00fchrt auch aufs klarste aus, dass das Gesch\u00fctz so gut wie das Ziel an der Bewegung der Erde theilnimmt und dass darum die Kugel vom Gesch\u00fctz aus einen west-\u00f6stlichen \u00bbimpetus impressus\u00ab empf\u00e4ngt)","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n367\ndurch welchen gezwungen sie der Bewegung des Zieles nothwendig nachfolgt.1) Ja er l\u00e4sst sogar erkennen, wie durch die verschiedene geographische Breite des Gesch\u00fctzes und des Zieles eine geringe Verschiedenheit der mitgetheilten west-\u00f6stlichen Geschwindigkeit der Kogel und der gleichfalls west-\u00f6stlichen Geschwindigkeit des Zieles bedingt wird; eine Verschiedenheit, aus welcher in unserem Falle sogar eine \u2014 allerdings verschwindend kleine \u2014 Abweichung gegen Osten, und nicht gegen Westen resultiren w\u00fcrde (198). So scharf sind diese Ausf\u00fchrungen, dass man ihnen, wie Wohlwill mit Recht hervorhebt, das Princip der sogenannten experimentellen Beweise f\u00fcr die Erdrotation ohne weiteres entnehmen kann.2) 'Galilei h\u00e4tte vielleicht solche Beweise selbst in Vorschlag gebracht, w\u00e4re er nicht an der M\u00f6glichkeit hinreichend scharfer Beobachtungsmethoden von vornherein verzweifelt.\nWenn man in Erw\u00e4gung zieht, wie Galilei zu seinem Gesetze gelangt ist, so kann man nicht zweifeln, dass er dasselbe zun\u00e4chst im Sinne des trivialen geocentrischen Bewegungsbegriffes verstanden hat. Denn von Erfahrungen \u00fcber geocentrische Bewegungen hat er sich bei seinen Ueberlegungen leiten lassen. Dass er auf diesem Standpunkte nicht stehen geblieben ist, davon haben wir uns \u00fcberzeugt ; und wir k\u00f6nnen auch den Grund einsehen, warum er sich von ihm hinwegdr\u00e4ngen lie\u00df. Die geradlinige3) gleichf\u00f6rmige Bewegung ist die denkbar einfachste und darum im Falle der einfachsten Bewegungsbedingung, d. h. des Sich-selbst-\u00fcberlassen-seins der Vernunft der Natur am meisten gem\u00e4\u00df : solches wird aller Wahrscheinlichkeit nach Galileis leitender Gedanke gewesen sein. Dabei mag anfangs der\n1)\tBei fr\u00fcheren Copernicanem, z. B. Kepler (Opera T. III p. 461) fehlt es emeswegs an beil\u00e4ufigen Andeutungen in \u00e4hnlichem Sinne. Es liegt denselben\na \u00aer immer nur eine instinctive Erkenntniss des Beharrungsverm\u00f6gens zu Grunde, ve ches erst von Galilei zum wissenschaftlichen Princip erhoben worden ist. gl. auch Wohlwill, a. a. O.\n2)\tA. a. O. Zeitschr. f. V\u00f6lkerps. u. Sprachw. Bd. XV. S. 101.\n3)\tDie neueren Untersuchungen von Wohlwill (Ztschr. f. V\u00f6lkerps. Bd.XIV,\nhlo\u00dfd' 6n -m Zweife1, ob Galilei bereits die geradlinige, ob er nicht vielmehr lehrt I,16 ^eie.^\u00f6rndf?e Bewegung sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper ausdr\u00fccklich ge-w at'\tau\u00b0k sei> jedenfalls steht jene Lehre von der geradlinigen Be-\nterunn^i'lnVer^fnn^>arer Weise im Hintergr\u00fcnde der oben besprochenen Er\u00f6r-thut v er Projectilbahnen, und dass sie nicht zum expliciten Ausdrucke gelangt,\nmer Nichts zur Sache.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nLudwig Lange.\nCopernicaner in ihm die geocentrische Bezugnahme ganz \u00fcbersehen haben, womit er hei seinen Versuchen operirte. Sobald sie ihm aber zu klarerem Bewusstsein gelangt war, durfte er sie nicht l\u00e4nger dulden Er musste, wenn er anders streng sein wollte, die zweckm\u00e4\u00dfige Bewegung des unbeeinflussten K\u00f6rpers auf den Anschauungsraum der denkenden und zweckth\u00e4tigen Natur beziehen, wie er es denn auch gethan hat.\nDass jede wahrnehmbare Bewegung eine relative sei, hat Galilei an zahlreichen Stellen seiner Dialoge und weit deutlicher zum Ausdrucke gebracht, als irgend einer seiner Vorg\u00e4nger (z. B. 129. 190 f. 271. 407). So legt er Salviati die Worte in den Mund: \u00bbDie Bewegung verh\u00e4lt sich (\u00e8) insofern wie Bewegung und wirkt wie Bewegung, als sie auf Dinge Beziehung hat, welche ihrer entbehren; aber zwischen solchen Dingen, welche in gleicherweise s\u00e4mmtlich daran theilnehmen, macht sie Nichts aus und verh\u00e4lt sich (\u00e8), wie wenn sie nicht vorhanden w\u00e4re\u00ab (129). Dass \u00fcbrigens Galilei die sinnliche Relativit\u00e4t f\u00fcr ein wesentliches Element nicht der Bewegung an sich, sondern nur der erscheinenden Bewegung gehalten wissen will, d\u00fcrfte nach dem Obigenl) au\u00dfer Frage stehen und wird auch weder durch die eben angef\u00fchrte Stelle noch durch irgend eine ihrer Parallelstellen in Frage gesetzt. Zweifellos aber ist die \u2014 ahnungsweise von fr\u00fchester Zeit an in uns wohnende \u2014 Erkenntniss der Relativit\u00e4t aller wahrnehmbaren Bewegung erst durch Galileis Dialoge der gelehrten Welt zu klarerem und allgemeinerem Bewusstsein gelangt.2)\nTheils eben darum, theils aus anderen Gr\u00fcnden hat Galilei mit seinen Bem\u00fchungen in der Entwickelungsgeschichte des Bewegungsbegriffes geradezu eine neue Epoche begr\u00fcndet. Vor allem aber hat er auf die nachkommende Zeit den gr\u00f6\u00dften Einfluss ge\u00fcbt, indem er den Grund gelegt hat zu einer dynamischen F\u00e4rbung des Begriffes der wirklichen Bewegung. Galilei beurtheilt die Bewegungen nach einem Schema, welches er seinen Lesern nicht selber gibt, welches wir vielmehr nur aus seinem Sprachgebrauche erschlie\u00dfen konnten. Newton erhebt dieses Schema zu einem von Bewusstsein getra\n1)\tS. o. S. 363.\ti\n2)\tVgl. E.F. A p eit, Die Epochen der Geschichte der Menschheit. 1851.\nS. 262 ff.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewcgungsbegriffes.\n369\ngexnen\nwissenschaftlichen Grundbegriffe, den er seinen Lesern auch\nnicht vorenth\u00e4lt. Galileis wirkliche Bewegungen beziehen sich auf denselben Raum wie sein dynamisches Grundgesetz, und eben darum haftet ihnen ein dynamisches Element an: aber erst bei Newton kommt dieses dynamische Element zu vollem Bewusstsein. Wenn darnach er als Galileis unmittelbarer Nachfolger in der Entwickelungsgeschichte des Bewegungsbegriffes betrachtet werden muss, so k\u00f6nnen wir doch zu ihm nicht \u00fcbergehen, ohne zuvor eine andere der Entwickelung zwar fremde, aber darum nicht minder einflussreiche Gedankenrichtung ins Auge gefasst zu haben. Was Descartes \u00fcber \u00bbOrt\u00ab und \u00bbBewegung\u00ab gedacht hat, liegt in jeder Beziehung au\u00dferhalb des Weges, welcher von Galilei zu Newton f\u00fchrt. Und dennoch hat es hier die gr\u00f6\u00dfte Bedeutung, indem es die Zeitgenossen m\u00e4chtig auf das Problem des Bewegungsbegriffes aufmerksam machte und Galileis Lehre gerade durch den Widerspruch in Newton erst zu vollem Bewusstsein brachte.\n\u00a7 4. Descartes und sein Gegner Henry More.\nVergegenw\u00e4rtigen wir uns zuerst Descartes\u2019 Anschauungen vom Raume und Orte so weit, als es n\u00f6thig ist, um seine Ansichten \u00fcber die Bewegung zu verstehen. Der von einem K\u00f6rper eingenommene Raum ist nichts wesentlich Anderes, als der K\u00f6rper selbst, betrachtet jedoch von uns: erstens mit dem Bewusstsein, dass seine unwesentlichen Eigenschaften, H\u00e4rte, Farbe u. s. w. beliebig anders sein k\u00f6nnten ; zweitens mit R\u00fccksicht auf \u00e4u\u00dfere K\u00f6rper, welche seine Lage bestimmen (II. 10\u201413).1) Der eingenommene \u00bbRaum\u00ab und der \u00bbOrt\u00ab eines K\u00f6rpers sind insofern verschieden, als der \u00bbRaum\u00ab sich nicht so sehr auf die Lage gegen \u00e4u\u00dfere K\u00f6rper, als auf die Gr\u00f6\u00dfe und Figur bezieht, w\u00e4hrend gerade das Umgekehrte vom \u00bbOrt\u00ab gilt. Der \u00bbOrt\u00ab eines K\u00f6rpers zerf\u00e4llt in seinen \u00bbinneren Ort\u00ab, welcher mit dem eingenommenen \u00bbRaume\u00ab identisch ist (II. 15), und in seinen \u00bb\u00e4u\u00dferen Ort\u00ab. Den letzteren erkennen wir durch die Beziehung des K\u00f6rpers auf \u00e4u\u00dfere \u00bbwie unbeweglich betrachtete\u00ab K\u00f6rper (II. 13) und haben ihn zu definiren als die Grenzfl\u00e4che im Contact mit umgebenden K\u00f6rpern, wobei aber diese Grenzfl\u00e4che eben so wenig\n1) Zu lesen: Principia philosophiae. Pars II. 10\u201413.\nWandt, Philos. Studien. III.\n25","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nLudwig Lange.\nzum umgebenden K\u00f6rper als zu dem umfassten gerech net, vielmehr einzig durch ihre \u00bbGr\u00f6\u00dfe und Figur\u00ab be stimmt wird. Aehnliche Beschr\u00e4nkungen der Aristotelischen Lehre fanden sich andeutungsweise bereits in der Scholastik (s. o.).\nMan sieht, dass Descartes sich gro\u00dfe M\u00fche gibt, die Bezugnahme auf einen immateriellen Raum nach M\u00f6glichkeit zu vermeiden. Es gelingt ihm aber nicht. Weshalb darf die Grenzfl\u00e4che welche den Ort nach au\u00dfen bestimmt, weder zum umgebenden, noch zum umfassten K\u00f6rper gerechnet werden? Weil man Beispiels halber von einem Schiffe , welches der Strom thalabw\u00e4rts und mit derselben Geschwindigkeit der Wind thalaufw\u00e4rts treibt, nicht sagt, dass es seinen Ort ver\u00e4ndert, wiewohl das umgebende Wasser und die umgebende Luft beide nicht unver\u00e4ndert dieselben bleiben. Es ist, wie Descartes wohl selbst gef\u00fchlt hat, durchaus unzureichend, die unver\u00e4nderliche Gr\u00f6\u00dfe und Figur des \u00e4u\u00dferen Ortes, d. h. der trennenden Fl\u00e4che, zu betonen. Denn in dem Beispiele vom Schiffe kommt thats\u00e4chlich hierzu noch die Bestimmung, dass diese Fl\u00e4che ihre Lage zu den Flussufern beibehalten soll. Freilich h\u00e4tte Descartes die hierin liegende Bezugnahme auf den nicht materiell gegebenen Anschauungsraum nicht hervorheben d\u00fcrfen, ohne sofort seine ganze materialistische Raumtheorie in Frage zu stellen. Der umgebende K\u00f6rper hat thats\u00e4chlich keine Bedeutung, denn der Ort des umfassten K\u00f6rpers bezieht sich in dem Beispiele vom Schiffe nicht auf ihn, sondern auf einen entfernten K\u00f6rper, auf die Flussufer. In der That setzt nun auch Descartes selbst auseinander, dass der \u00e4u\u00dfere Ort eines K\u00f6rpers sich auf jeden beliebigen anderen K\u00f6rper beziehen k\u00f6nne, welcher \u00bbwie unbeweglich betrachtet wird\u00ab. Es k\u00f6nne deshalb ein Ding gleichzeitig seinen Ort ver\u00e4ndern und nicht ver\u00e4ndern1) je nach den K\u00f6rpern, worauf es bezogen\nwird (II. 13).\nDer Bewegungsbegriff Descartes\u2019 ist nun ein zwiesp\u00e4ltiger, er umfasst einen \u00bbmotus, ut vulgo sumitur\u00ab und einen \u00bbmotus ex rei veritate consideratus\u00ab. Obwohl darnach der erstere motus nicht \u00bbex rei veritate\u00ab verstanden zu sein scheint, bedient sich Descartes seiner dennoch auch in wissenschaftlichen Fragen und verwirft ihn\n1) Von Bewegung und Ruhe ist hier noch nicht die Rede.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n371\neigentlich nur da, wo ihm etwas darauf ankommt, eine aus anderen Gr\u00fcnden angenommene Meinung durchzusetzen. Seine Definitionen f\u00fcr beide Arten der Bewegung sind die folgenden.\n1)\t\u00bbMotus, ut vulgo sumitur\u00ab ist nichts Anderes, als die Th\u00e4tig-keit, wodurch ein K\u00f6rper aus einem Orte in einen anderen \u00fcbergeht (II. 24). Von der Ortsver\u00e4nderung ist also die Bewegung im vulg\u00e4ren Sinne in Etwas verschieden, sie ist n\u00e4mlich die \u00bbTh\u00e4tigkeit, durch welche\u00ab die Ortsver\u00e4nderung zu Stande kommt. Da ein K\u00f6rper gleichzeitig seinen Ort ver\u00e4ndern und beibehalten kann, so folgt nach Descartes auch, dass er im vulg\u00e4ren Sinne gleichzeitig sich bewegen und ruhen kann. Hierzu gibt Descartes das \u00fcbliche Beispiel vom Schiffspassagier, der sich relativ zum Festlande bewegt, aber darum noch nicht relativ zum Schiffe bewegt zu sein braucht. Mit diesem \u00bbvulg\u00e4ren\u00ab Bewegungsbegriffe hat sich aber Descartes nicht zufrieden gegeben, zum Theil, weil er einen Vorgang, welcher, wie die Bewegung, so viele Erscheinungen bestimmt, nicht als etwas an sich Unbestimmtes betrachten mochte. Haupts\u00e4chlich aber mag er von dem Gef\u00fchle geleitet worden sein, dass, falls er sich zu dem vulg\u00e4ren Begriffe bekennen w\u00fcrde, er gerade dadurch seiner eigenen Lehre vom Raume einen empfindlichen Sto\u00df versetzen w\u00fcrde. Er l\u00e4sst deshalb den vulg\u00e4ren Bewegungsbegriff nur in Gem\u00e4\u00dfheit seiner Ansicht vom berechtigten Unterschiede des praktischen und theoretischen Erkennens (I. 3) gelten. Der Wahrheit der Sache entspricht seiner Meinung nach vielmehr der andere Bewegungs-begriff, welchem er den folgenden Ausdruck gibt:\n2)\t\u00bbMotus ex rei veritate consideratus\u00ab ist die Uebertragung eines Theiles der Materie oder eines K\u00f6rpers aus der Nachbarschaft derjenigen K\u00f6rper, welche jenen unmittelbar ber\u00fchren und \u00bbwie ruhend betrachtet\u00ab werden, in die Nachbarschaft anderer K\u00f6rper (II. 25). Zur Verwahrung gegen Missverst\u00e4ndnisse wird noch hinzugef\u00fcgt, dass hierbei die Uebertragung selbst und nicht die Kraft oder Th\u00e4tigkeit gemeint ist, wodurch jene zuStande kommt. Uebrigens sei auch diese wirkliche oder \u00bbeigenth\u00fcmliche\u00ab (proprie sumptus) Bewegung nichts selbst\u00e4ndig Existirendes, sondern nur ein Modus des bewegten .K\u00f6rpers.\nDa haben wir also wieder den echten Aristotelischen Begriff der Bewegung eines K\u00f6rpers an sich (y.ccS' avro) in seiner fast un-\n25*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nLudwig Lange.\nver\u00e4nderten Eigenheit. Descartes hat den urspr\u00fcnglichen Aristo telischen Ortsbegriff verlassen, und er hat sich anderseits gestr\u00e4ubt gegen die Zumuthung, Bewegung mit Ortsver\u00e4nderung zu identifia ciren. Aber sein \u00bbmotus proprie sumptus\u00ab ist thats\u00e4chlich von der Aristotelischen eigentlichen (nicht blo\u00df accidentiellen) Bewegung nicht verschieden. Dieselbe Forderung der roh materiellen in Con-tiguit\u00e4t bestehenden Relation hier wie dort. Ein kleiner Unterschied besteht h\u00f6chstens in dem Zusatze, dass die Nachbarmaterie \u00bbals unbeweglich betrachtet\u00ab werden soll, und dieser Zusatz geht durch einfache Subjectivirung aus der Aristotelischen objectiv gehaltenen Lehre von der Unbeweglichkeit des Ortes hervor.\nEs w\u00e4re ein Anachronismus, diesen Begriff der \u00bbeigenth\u00fcmlichen\u00ab Bewegung aus dem Standpunkte der heutigen Mechanik ausf\u00fchrlich kritisiren zu wollen. Er ist schon darum unbrauchbar, weil er eine einheitliche Bezugnahme von vornherein unm\u00f6glich macht : wenn man mit Descartes jeden Planeten r\u00e4umlich auf seine eigene Atmosph\u00e4re bezieht, kann man die Beziehungen der Planeten untereinander nicht erkennen. Eben deshalb sieht sich auch Descartes selbst in seiner Darstellung des Weltganzen gen\u00f6thigt, den vulg\u00e4ren Bewegungsbegriff zu H\u00fclfe zu nehmen, wenngleich immer nur der \u00bbgeometrischen Construction halber\u00ab, welche mit der Wahrheit hier Nichts gemein haben soll.\nDoch wir haben bis hierher Descartes\u2019 Ansichten \u00fcber die Bewegung nur zum Theil und wahrlich nicht von der besten Seite kennen gelernt. Der Begriff der \u00bbeigentlichen\u00ab Bewegung hat wohl in die Cartesianischen Compendien der Physik1) zun\u00e4chst Eingang gefunden , aber heutzutage ist er mit Recht aus der Mechanik spurlos verschwunden. Von der gr\u00f6\u00dften historischen Bedeutung ist hingegen eine kleine Betrachtung, welche Descartes unmittelbar angekn\u00fcpft -hat; denn sie scheint den Zeitgenossen einen m\u00e4chtigen Ansto\u00df zn neuem Nachdenken gegeben zu haben und wirkt bis in die neueste Zeit nach. Er kommt zu dieser Ueberlegung aus Anlass des schon erw\u00e4hnten Zusatzes \u00bbwie unbeweglich betrachtet\u00ab. Unter welchen Umst\u00e4nden \u00bbsehen\u00ab wir einen K\u00f6rper im Gegens\u00e4tze zu anderen \u00bbak ruhend an\u00ab? So musste sich Descartes fragen. H\u00f6ren wir, was\n1) Z. B. Jac. Rohaulti Traetatus physicus. Amstelod. 1691.","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des \u00dfewegungsbegriffes.\n373\nAB\n\u25a1\n\u25a1\nCD\ner gelbst hier\u00fcber schreibt. Er hat soeben noch ausdr\u00fccklich auf die Bedeutung hingewiesen, welche seiner Forderung der Contiguit\u00e4t in der Bewegungsrelation beizumessen sei, und f\u00e4hrt nun in der Erl\u00e4uterung seiner Definition der eigentlichen Bewegung fort (II. 29) : \u00bbEndlich habe ich hinzugef\u00fcgt, jene Uebertragung geschehe aus der Nachbarschaft nicht beliebiger ansto\u00dfender K\u00f6rper, sondern nur solcher, welche wie ruhend betrachtet werden. Denn die Uebertragung selbst ist wechselseitig, und man kann sich nicht vorstellen, dass der K\u00f6rper AB aus der Nachbarschaft des K\u00f6rpers CD \u00fcbertragen werde, ohne sich zugleich vorzustellen, dass der K\u00f6rper CD aus der Nachbarschaft des K\u00f6rpers AB \u00fcbertragen wird : und genau dieselbe Kraft und Th\u00e4tigkeit wird von der einen wie von der anderen Seite erfordert. Wenn wir also der Bewegung \u00fcberhaupt eine eigene und nicht eine auf etwas Anderes bezogene Natur zuschreiben wollten, so m\u00fcssten wir, falls von zwei benachbarten K\u00f6rpern der eine hierhin, der andere dorthin \u00fcbertragen wird und sie sich also von einander trennen, sagen, dass eben soviel Bewegung in dem einen als in dem anderen ist.\u00ab\nSo radical ist vor Descartes das phoronomische/ltecipr o-cit\u00e4tsgesetz noch \u00fcirgends ausgesprochen worden. Dass jede wahrnehmbare Bewegung ein Bezugsobject voraussetzt, 'war schon f\u00fcr Galilei eine gel\u00e4ufige Erkenntniss. Dass aber die Beziehung an sich eine commutablesei, hat erst Descartes ausgesprochen. Freilich auch er noch nicht als eine unbedingte Thatsache. Nicht nur beschr\u00e4nkt er sie auf die unmittelbare Ber\u00fchrung, sondern er gibt auch Umst\u00e4nde an, unter welchen seine Regel Ausnahmen erf\u00e4hrt. N\u00e4mlich, wo die cons\u00e9quente Befolgung der logisch freilich unantastbaren Wahrheit zu Widerspr\u00fcchen gegen den \u00bbgesunden Menschenverstand\u00ab f\u00fchren w\u00fcrde. Er f\u00e4hrt im Anschl\u00fcsse an die soeben citirte Stelle fort: \u00bbAber dies w\u00fcrde allzusehr gegen den gemeinen Sprachgebrauch versto\u00dfen. Denn da wir gewohnt sind auf der Erde zu stehen und dieselbe wie ruhig zu betrachten, so meinen wir doch, wenn wir gleich wahmehmen, wie etwelche Theile von ihr aus der Nachbarschaft anderer kleiner K\u00f6rper hinwegversetzt werden, darum tticht, dass sie selbst bewegt werde (II. 30). Der Hauptgrund hiervon lsti dass man die Bewegung dem ganzen bewegten K\u00f6rper beilegt","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nLudwig Lange.\nund doch nicht dementsprechend der ganzen Erde beilegen kann wegen Uebertragung einiger ihrer Theile aus der Nachbarschaft der kleinen angrenzenden K\u00f6rper; denn oftmals kann man mehrere einander entgegengesetzte Uebertragungen dieser Art an ihr wahrnehmen. Es sei z. B. der K\u00f6rper EFGJJ die Erde, und auf ihr m\u00f6ge zu gleicher Zeit der K\u00f6rper AB von E nach F und CD von H nach G \u00fcbertragen werden Wenngleich nun eben dadurch die dem K\u00f6rper A B benachbarten Theile der Erde von B nach A \u00fcbertragen werden und auch keine geringere oder andersgeartete Th\u00e4tigkeit in ihnen als im K\u00f6rper AB sein kann zu jener Uebertragung, so halten wir doch deshalb nicht daf\u00fcr, dass die Erde sich von B nach A oder von West nach Ost bewegt, weil man mit gleichem Kechte, wegen der von C nach D gerichteten Uebertragung ihrer an den K\u00f6rper CD ansto\u00dfenden Theile, dann auch annehmen m\u00fcsste, dass sie auch nach der anderen Seite, n\u00e4mlich von Ost gegen West, sich bewege; zwei Annahmen, welche einander widersprechen. Um also nicht allzusehr vom gemeinen Sprachgebrauche abzuweichen , so werden wir hier nicht sagen, dass die Erde sich bewegt, sondern nur, dass die K\u00f6rper d5und CD es thun; und \u00e4hnlich in den \u00fcbrigen F\u00e4llen. Indessen werden wir eingedenk sein, dass all das Keale und Positive in den bewegten K\u00f6rpern, weshalb sie bewegt genannt werden, sich auch in den anderen ihnen benachbarten findet, und dass diese als ruhig nur betrachtet werden\u00ab.\nDies also sind die Gr\u00fcnde, warum bei der Definition der Bewegung die Auswahl des Bezugsobjectes dem jedesmaligen Gutd\u00fcnken des gesunden Menschenverstandes Vorbehalten bleiben soll. W es-halb liegt ein Widerspruch darin, dass die Erde sich gleichzeitig nach Ost und nach West bewegt? Ich sehe keinen Widerspruch, wenn sich, wie hier, die beiden Bewegungsurtheile auf zwei verschiedene nicht zu einander ruhige K\u00f6rper beziehen! Derselbe Widerspruch liegt auch in derThatsache, dass Einer und Derselbe gleichzeitig Vater und Sohn sein kann. Hier haben wir eine Stelle, wo der triviale ge0' centrische Bewegungsbegriff eine \u00e4u\u00dferst verh\u00e4ngnissvolle Holle spielt*","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\t375\nEin K\u00f6rper kann im trivialen Sinne nicht gleichzeitig von Ost nach West und von West nach Ost bewegt sein. Diese unbestreitbare Erkenntniss besitzen wir und besa\u00df Descartes von Kindheit an. Er \u00fcbertr\u00e4gt sie nun, gedankenlos am Worte haftend, auf einen Fall, dessen Grundbedingungen ihr nicht entsprechen. Von denVorur-theilen, welche gegen die Bewegung der Erde zu den Schuhsohlen eines Wanderers sprechen, ist vielleicht dasjenige, wodurch Descartes hier bestimmt wird, noch nicht einmal das kr\u00e4ftigste. Fast nat\u00fcrlicher erscheint es uns anzuf\u00fchren, die Erde sei verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig viel zu gro\u00df, um sich durch den Tritt eines Menschen unter seinen F\u00fc\u00dfen hinwegw\u00e4lzen zu lassen. Zum Theil entspringt dieses Argument einfachen Simplicit\u00e4ts-r\u00fccksichten, indem es leichter ist, die Bewegung eines Gehenden auf der Erde vorzustellen als die Bewegung der Erde zu ihm. Uns kann aber ein solches phoronomisches Argument nimmermehr gen\u00fcgen. Alle Einw\u00e4nde, welche seit Newton vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gegen die Bewegung der Erde zu dem Gehenden noch geltend gemacht werden k\u00f6nnen, sind dynamischen Ursprunges und kommen hier, bei Descartes, noch gar nicht in Frage. Eine Definition, worin dem jedesmaligen Urtheile des gesunden Menschenverstandes eine Entscheidung \u00fcbertragen wird, von welcher schlechterdings Alles abh\u00e4ngt, ist wohl im Leben, aber nicht in der Wissenschaft brauchbar.\nImmerhin ist es als ein au\u00dferordentlich gro\u00dfes Verdienst von Descartes zu betrachten, dass er die phoronomische Reciprocit\u00e4t der Bewegung, diese gro\u00dfe Wahrheit, welche von Vorurtheilen mehr oder minder verschleiert vor Aller Augen lag, zum ersten Male, wenn auch nur inconsequent, ausgesprochen hat. Er hat dadurch zu allen weiteren Discussionen dieses Gegenstandes den Ansto\u00df gegeben und so auf die Entwickelung des Bewegungsbegriffes die nachhaltigste Wirkungausge\u00fcbt. Als rein phoronomisches Gesetz wird jenes A-xiom der Reciprocit\u00e4t gegenw\u00e4rtig allgemein anerkannt. Als dyna-misches Gesetz von den Meisten nur bedingungsweise; es ist aber Wer noch nicht der Ort, darauf n\u00e4her einzugehen. Erst bei Newton \"erden wir auf \u00e4hnliche Fragen zu sprechen kommen.\nNun noch einige Bemerkungen zur Vervollst\u00e4ndigung des Bildes, \"elches ich von Descartes\u2019 Bewegungsbegriffe zu entwerfen habe. Obwohl ein K\u00f6rper nur eine ihm eigenth\u00fcmliche Bewegung","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nLudwig Lange.\nhat, so k\u00f6nnen ihm, meint Descartes (II. 31), doch noch unz\u00e4hlige andere Bewegungen durch Theilnahme zukommen. Da haben wir denn auch die accidentielle Bewegung des Aristoteles. Descartes konnte um diese gezwungene Begriffssetzung nicht herumkommen, wollte er anders nicht selber seinen materialistischen Raum-und Bewegungsbegriff fallen lassen.\nIn der Auseinandersetzung \u00fcber das Weltsystem bleibt Des cartes seinen Grundansichten im wesentlichen treu. Geometrisch geben sich die beiden Annahmen des Copernicus und des Tycho Brahe Nichts nach; h\u00f6chstens gestaltet sich der Anblick der Welt einfacher, wenn wir die Erde bewegt, als wenn wir sie ruhend annehmen, aber die Einfachheit ist f\u00fcr Descartes kein Beweis der W ahrheit (III. 17).1) Er selbst h\u00e4lt die Erde f\u00fcr ruhend im eigentlichen Sinne des Wortes, weil sie nicht in Translation begriffen ist in Bezug auf das sie unmittelbar umgebende \u00bbcoelum fluidum\u00ab : denn Str\u00f6mungen der Atmosph\u00e4re kommen hier wegen II. 30 (s. o. S. 374) nicht in Betracht (III. 26\u201428). Durch Participation an der Bewegung ihres \u00bbcoelum fluidum\u00ab wird die Erde gleichwohl, ohne wirklich bewegt zu sein, um die Sonne herumgetragen. Dieselben Behauptungen gelten auch f\u00fcr die \u00fcbrigen Planeten, denn als Planeten sieht auch Descartes die Erde an. Zur bildlichen Darstellung der Weltordnung bedient er sich derselben Zeichnung wie Copernicus, aber selbstverst\u00e4ndlich nicht, als ob damit die Wahrheit wiedergegeben w\u00fcrde , sondern nur der \u00bbgeometrischen Uebersichtlichkeit\u00ab halber (III. 30. 31).\nDie Widerspr\u00fcche, welche man diesem CartesianischenWelt-systeme vorgeworfen hat, liegen schon in Descartes\u2019 Grundanschauungen \u00fcber die Bewegung; wer sich mit den letzteren einverstanden erkl\u00e4rt, ist ganz im Rechte, von seinem Standpunkte aus die Erde f\u00fcr ruhend und gleichzeitig doch rotirend zu halten. Deshalb sind viel inconsequenter als Descartes selber jene Cartesianer gewesen, welche sich, wie Rohault, dem Cartesianischen Bewegungs-begriffe im wesentlichen anschlossen und nachher dennoch die Bewegung der Erde als das Wahrscheinlichste ansahen.\nDescartes\u2019 Anschauungen \u00fcber die Bewegung haben sich nach-\n1) Ueber D escartes\u2019 Stellung zur teleologischen Welterkl\u00e4rung vgl-Pr*ncl\npia philosophiae I. 28.","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n377\nweislich an einem Jahre langen inneren Kampfe entwickelt, n\u00e4mlich an dem Hin- und Herschwanken zwischen dem Weltsysteme mit bewegter und demjenigen mit ruhender Erde. Urspr\u00fcnglich, wie bekannt, Anh\u00e4nger des Copernicus, lie\u00df ersieh durch das Inquisitionsverfahren gegen Galilei bestimmen, seine Schrift \u00fcber \u00bbDie Welt\u00ab zu unterdr\u00fccken, in welcher die Bewegung der Erde gelehrt wurde. Er wollte, wie er selbst an Mersenne schreibt,1) seine Gr\u00fcnde \u00bbum Nichts in der Welt gegen die Autorit\u00e4t der Kirche aufrecht erhalten\u00ab. Von 1633 bis 1640 ist er in seiner Ansicht unentschieden geblieben. Er schreibt in dem zuletzt genannten Jahre abermals an Mersenne:2) \u00bbNichts hat mich bis jetzt verhindert, meine Philosophie zu ver\u00f6ffentlichen, als die Vertheidigung der Erdbewegung, welche ich davon nicht zu trennen w\u00fcsste, weil meine ganze Physik davon abh\u00e4ngt.\u00ab Erst nach 1640 kann also Descartes die Entscheidung getroffen haben, welche er in seinen \u00bbPrineipien\u00ab (1644) vorgezogen hat. Jahre lang hat er ihr sicher ernstlich zugestrebt. Zum letzten Schritte hat er sich aber wohl erst durch die Bemerkung bestimmen lassen, dass eine und dieselbe Formulirung des Begriffes der wirklichen Bewegung gleichzeitig die Ansicht der Kirche und seine materialistische Raumtheorie zu rechtfertigen scheine.3)\nDer Cartesianische Bewegungsbegriff tr\u00e4gt ein auffallend \u00e4u\u00dferliches Gepr\u00e4ge und hat auch keine Spur von einer \u00e4hnlichen dynamischen F\u00e4rbung, wie sie uns in ihren ersten Anf\u00e4ngen bei Galilei begegnet ist. Mit welchem Bewusstsein und aus welchen Gr\u00fcnden Descartes nicht \u00fcber das Aeu\u00dferliche hinausgegangen ist, daf\u00fcr spricht am besten eine auch anderweit bemerkenswerthe Stelle aus einem seiner Briefe an Mersenne:4)\n\u00bbIch schreibe der Bewegung und auch den s\u00e4mmtlichen anderen Mannigfaltigkeiten der Substanz, welche man Qualit\u00e4ten nennt, nicht\n1)\tOeuvres publ. par V. Cousin. Tome VI. p. 238. 242.\n2)\tIbid. Tome VIII. p. 406.\n3)\tZu streng d\u00fcrfte deshalb Henry Mores Urtheil sein, welcher geradezu \u00aeagti Des cartes habe sich einzig durch Liebedienerei gegen die Kirche oder gar\nurch Furcht vor einem \u00e4hnlichen Schicksale, wie Galilei, zu einer Verf\u00e4lschung 68 bwegungsbegriffes verleiten lassen. H. Mori Opera omnia, Londini 1679. To-mus I. pag. 107.\n4)\tOeuvres, Tome IX. p. 104 s. (1643).","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nLudwig Lange.\nmehr Realit\u00e4t zu, als gemeiniglich die Philosophen der Gestalt, welche sie nicht eine reelle Qualit\u00e4t, sondern nur einen Modus nennen. J)er Hauptgrund, welcher mich bestimmt, diese reellen Qualit\u00e4ten zu verwerfen, ist der, dass ich nicht sehe, dass der menschliche Geist einen Begriff oder eine besondere Idee in sich h\u00e4tte, sie zu begreifen; derart dass man, indem man sie so nennt und versichert, dass es sie gebe eine Sache versichert, welche man selbst nicht begreift ; und folglich sich selbst nicht versteht. Der zweite Grund ist der, dass die Philosophen diese reellen Qualit\u00e4ten nur vorausgesetzt haben, weil sie geglaubt haben, anders die Naturerscheinungen nicht erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen und ich im Gegentheil finde, dass man sie viel besser ohne jene erkl\u00e4ren kann\u00ab.\nDer Haupteinfluss Descartes\u2019 auf die Entwickelung des Bewe-gungsbegriffes ist in der Anregung zu erblicken, welche er zahlreichen anderen Philosophen gegeben hat. Man hatte sich durch die Er\u00f6rterungen der weitverbreiteten \u00bbPrincipien\u00ab von den gro\u00dfen Schwierigkeiten des Problems und gleichzeitig auch von der dringenden Noth-wendigkeit \u00fcberzeugt, dasselbe wenigstens bis zu einem gewissen Abschl\u00fcsse zu bringen. Vorher glaubte Jedermann unmittelbar anschaulich eine scharfe und widerspruchslose Vorstellung von der Bewegung zu besitzen; ein Vorurtheil, dessen letzter Grund unstreitig in einer Nachwirkung des trivialen Bewegungsbegriffes zu suchen ist. Nun wurde durch Des car tes die Ueberzeugung allgemein, dass an einem wissenschaftlich brauchbaren Bewegungsbegriffe noch Vieles fehle. So kann es uns denn nicht wundem, wenn von dem Erscheinungsjahre der \u00bbPrincipien\u00ab an (1644) wissenschaftliche Versuche \u00fcber die Bewegung und insbesondere \u00fcber den Unterschied zwischen scheinbarer und wirklicher Bewegung h\u00e4ufiger werden, als je zuvor.\nUnter Denjenigen, welche zun\u00e4chst mit diesem Gegenst\u00e4nde sich besch\u00e4ftigt haben, ist als ein entschiedener Gegner der Cartesiani-schen Lehre vor Allen Henry More zu nennen. Nicht nur in den Briefen, welche er mit dem Verfasser der \u00bbPrincipien\u00ab in dessen letztem Lebensjahre (1649) gewechselt hat, sondern auch in einem seiner gr\u00f6\u00dferen Werke, dem (1671 geschriebenen) \u00bbEnchiridion metaphysi\" cum\u00ab, gibt er seine Ansichten \u00fcber die Bewegung zu erkennen. Er k\u00e4mpft vorz\u00fcglich gegen zweierlei ; erstlich gegen das Reciprocit\u00e4ts-\naxiom, welches doch von Descartes selber nicht ohne Einschr\u00e4nkung","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n379\nausgesprochen war, sodann aber auch gegen das Aeu\u00dferliche und Materialistische am Raum- und Bewegungsbegriffe der Cartesianer. Von gr\u00f6\u00dferem geschichtlichen Interesse ist eigentlich nur die letztere Pole-mik ; doch kann auch eine kurze Betrachtung der ersteren hier nur von Nutzen sein, weil sie die beste Gelegenheit gibt sich zu \u00fcberzeugen , wie absolut nichtig alle phoronomischen, dem \u00bbgesunden Menschenverst\u00e4nde\u00ab entspringenden, Einw\u00e4nde gegen das Reciproci-t\u00e4tsaxiom sind.\nNicht ein einziger von Henry Mores Ein w\u00e4nden gegen das Axiom kann vor der Kritik bestehen. Bei weitem die meisten beruhen geradezu auf einer petitio principii, n\u00e4mlich auf der vom trivialen Bewegungsbegriffe her \u00fcberkommenen instinctiven Annahme, dass ein K\u00f6rper eine und nur eine ihm eigenth\u00fcmliche Bewegung besitze. Wenn ein Westwind an einem Thurme vorbei weht, so meint More, sei doch der Thurm darum nicht gegen Westen bewegt, denn die Erde bewege sich mit dem Thurme nach Osten.1) Von dynamischen Bedenken ist hier nicht die Rede. More findet vielmehr nur einen Widerspruch in der angenommenen gleichzeitigen Bewegung des Thurmes nach zwei entgegengesetzten Richtungen, und dass die ganze hierin liegende Paradoxie nur auf einer petitio principii beruht, ist schon klar nach dem, was wir bei Des cartes gesehen haben. Ein anderer Einwand Mores ist dieser: Wenn ich ruhig dasitze und Jemand anders tausend Schritte von mir hinweggeht, so dass e r vor Anstrengung roth und m\u00fcde wird, so bin doch nicht ich der Bewegte.1) Die \u00e4u\u00dferliche Beziehungs\u00e4nderung sei wohl reciprok,2) von ihr sei aber die Bewegung wohl zu unterscheiden. Nicht die Beziehungs\u00e4nderung selbst sei die Bewegung, sondern vielmehr die Kraft oder Th\u00e4tigkeit, wodurch jene zu Stande kommt.*) Die Bewegung soll also etwas Innerliches oder wenigstens nichts materiell Aeu\u00dferliches sein. Wenn aber em F\u00e4hrmann sich mit seiner Fahrstange auf den Grund des Flusses aufst\u00fctzt und den Kahn unter seinen F\u00fc\u00dfen hinwegtritt, so ist doch die Th\u00e4tigkeit in ihm und nicht im Boote. W\u00fcrde nun H. More darum das Boot ruhig genannt haben? Er h\u00e4tte ja dann wieder in den Fall kommen k\u00f6nnen, der Erde eine westliche Bewegung zuzuschrei-\n1)\tOeuvres de Descartes, publ. par V. Cousin. Tome X. p. 228 sq. 251.\n2)\tH. Mori opera omnia. Tom. I. p. 162 sq.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nLudwig Lange.\nben, was ihm ja mit der Copernicanischen Lehre im Widerspruche zu stehen scheint ! Mit all solchen Bedenken des \u00bbgesunden Menschenverstandes\u00ab verwickelt man sich, wie Jeder wei\u00df, welcher sich einmal ernstlich mit den Fragen besch\u00e4ftigt hat, nur in immer gr\u00f6\u00dfere Widerspr\u00fcche. Niemand, welcher mit der Mechanik vertraut ist, hat gegenw\u00e4rtig gegen eine doppelte Bewegung eines und desselben Dinges nach zwei entgegengesetzten Seiten in phoronomischer Hinsicht das Geringste einzuwenden. Dynamische Bedenken stehen auf einem anderen Blatte.\nDas Verdienst Henry Mores liegt denn auch nicht in seinem fruchtlosen Kampfe gegen das Reciprocit\u00e4tsaxiom, sondern vielmehr in seinem offenen Proteste gegen den materialistischen Raumbegriff der Cartesianer und seine Anwendungen auf die Bewegungslehre. Er ist hierin ein Vorg\u00e4nger Newtons, auf dessen Raumtheorie er auch h\u00f6chst wahrscheinlich den gr\u00f6\u00dften Einfluss ausge\u00fcbt hat. Seine besseren Argumente laufen wesentlich auf Folgendes hinaus: Descartes selber lehrt, dass sich die inneren Theile eines K\u00f6rpers \u00bbdurch Theilnahme\u00ab bewegen, wenn sich der K\u00f6rper als Ganzes \u00bbeigenth\u00fcm-lich\u00ab bewegt. Dabei ver\u00e4ndern sie aber weder ihren \u00bbinneren Ort\u00ab, denn ihre eigene Materie f\u00fchren sie mit sich, noch auch ihren \u00bb\u00e4u\u00dferen Ort\u00ab, denn ihre Umgebung wird gleichfalls mitgef\u00fchrt. Sie ver\u00e4ndern folglich \u00fcberhaupt nicht ihren Ort, sind mithin nicht im \u00bbvulg\u00e4ren Sinne\u00ab bewegt. Aber sie sind auch nicht im \u00bbeigentlichen Sinne\u00ab bewegt, denn sie trennen sich nicht von ihrer Nachbarschaft. Mehr als diese zwei Arten der Bewegung hat Descartes in den Definitionen nicht unterschieden, die Theilchen sind also nicht bewegt und doch bewegt, was ein Widerspruch ist.1) More stellt f\u00f6rmliche Experimente an, um die Absurdit\u00e4t der Cartesianischen Lehre zu beweisen.\nGegen die eben ausgef\u00fchrte deductio ad absurdum, wie sie Mores Er\u00f6rterungen zu Grunde liegt, w\u00fcrde Descartes \u00fcbrigens, wenn er noch gelebt h\u00e4tte, nicht ganz mit Unrecht protestirt haben. Er hat ja mit Bewusstsein den Begriff des \u00bb\u00e4u\u00dferen Ortes\u00ab nicht in dem rein Aristotelischen Sinne festgestellt, wie doch im Vorhergehenden vorausgesetzt wird. H. More h\u00e4tte ihn dann aber dessen \u00fcberf\u00fchren k\u00f6nnen, wie sein Begriff des \u00e4u\u00dferen Ortes nothwendig eine imma-\n1) H. Mori opera omnia. Tom. I. p. 158 sqq. 162 sqq.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n381\nterielle, d. h. nicht in \u00e4u\u00dferem materiellen Contacte bestehende jjezugnahme einschlie\u00dfe,2) und damit w\u00e4re die Cartesianische Baumtheorie in sich zusammengefallen. Immerhin mag auch so, wie sie war, die Polemik Mores von vielen Seiten Anerkennung gefunden haben wegen des unbestreitbar richtigen Grundgedankens, von dem sie ausging.\nDer Verfasser des Enchiridion metaphysicum begn\u00fcgt sich \u00fcbrigens nicht damit, die Immaterialit\u00e4t des Raumes und Ortes nachgewiesen zu haben. Wie sein eigentliches Ziel \u00fcberhaupt dieses ist, die reale Existenz unk\u00f6rperlicher Wesen nachzuweisen, so strebt er insbesondere auch darnach, die reale Existenz des immateriellen Raumes au\u00dfer Zweifel zu setzen. Wenn Descartes in einseitiger Auffassung des Begriffes der Materie behauptet hatte, etwas nicht Materielles k\u00f6nne nicht ausgedehnt sein, so modifient Henry More diese Betrachtung dahin, etwas nicht Reales k\u00f6nne nicht ausgedehnt sein. Er schlie\u00dft daraus auf die reale Existenz des immateriellen Raumes. Mit welchem Rechte, ist hier nicht am Orte zu erw\u00e4gen. Die Lehre vom \u00bbrealen immateriellen\u00ab Raume interessirt uns hier nur darum, weil sie mit gro\u00dfer Wahrscheinlichkeit als Ausgangspunkt der Newton\u2019schen Theorie des \u00bbrealen absoluten\u00ab Raumes betrachtet werden kann.\nIm \u00bbEnchiridion metaphysicum\u00ab schlie\u00dft sich nun die Theorie der Bewegung an die Raumtheorie aufs engste an. Die Bewegung eines K\u00f6rpers ist die Ver\u00e4nderung seines immateriellen realen, nicht \u00e4u\u00dferlichen, sondern innerlichen Ortes: sie ist also ein innerlicher Vorgang und nicht mit der Aenderung der Nachbarschaft zu verwechseln, welche nur ihr \u00e4u\u00dferer Erfolg ist. Bis in die letzten Consequenzen scheint Henry More seine Lehre nicht verfolgt zu haben. H\u00e4tte er \u00fcberhaupt den Versuch gemacht, sie bis in\u2019s Einzelnste auszubilden, so w\u00fcrde er bemerkt haben, dass \u00fcberall, wo das Pr\u00e4dicat \u00bbbewegt\u00ab auf einen gegebenen Fall angewendet wird, doch eine Relation auf irgend welche Materie vorliegt, nur nicht noth wendig eine Relation des Contactes, wie sie Descartes verlangt hatte, sondern eme Relation auf Entfernung vermittelst unseres Anschauungsraumes ; und wenn diese Relation auch in Nichts weiter besteht, als in der Be-\n2) S. o. S. 370.","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nLudwig Lange.\nZiehung auf unser Gesicht, auf unser k\u00f6rperliches Auge. Dass er dies \u00fcbrigens gef\u00fchlt hat, ersieht man aus Folgendem. Die Carte-sianer, meint er, k\u00f6nnten sich auf die Behauptung zur\u00fcckziehen, die Bewegung der inneren Theile eines bewegten starren K\u00f6rpers bez\u00f6ge sich auf Materie au\u00dferhalb desselben.Als wenn sich ein Ding nicht da bewege, wo es ist, sondern da, wo es nicht ist! Nun, der Carte-sianischenLehregegen\u00fcber liegt hierin unstreitig etwas Wahres. Wir aber sind \u00fcberzeugt, dass Henry More mit seiner Anschauung \u00fcber das Wesen der Ortsbewegung um eben so viel \u00fcber das Ziel als Descartes darunter getroffen hat.\nEs l\u00e4sst sich aus Henry Mores Er\u00f6rterungen nicht mit Sicherheit erschlie\u00dfen, wie nahe er dem Gedanken gekommen ist, seinen realen und immateriellen Kaum als einen und nur einen aufzufassen. Im Princip mag er immerhin eine Einheit des Baumes angenommen haben; jedenfalls aber ist Thatsache, dass in den verschiedenen Beispielen von Bewegungen, welche er anf\u00fchrt, nicht \u00fcberall derselbe Raum, sondern verschiedene im allgemeinen gegeneinander bewegte B\u00e4ume zur Bezugnahme dienen. In seinen Experimenten gegen den Cartesianischen Bewegungsbegriff derjenige Baum, welcher mit dem Stativ seiner sinnreichen Apparate verbunden ist, oder, da er sich diese vermuthlich auf einem Tische in seinem Studir-zimmer aufgestellt denkt, der geocentrische Baum. Ein Experiment macht bemerkenswerther Weise von der Dauer des Lichteindruckes auf unserer Netzhaut Anwendung, und setzt also aufs offenkundigste den subjectiven Gesichtsraum des Experimentators voraus. Als Coper-nicaner endlich hat More den mit Sonne und Fixsternen verbundenen heliocentrischen Raum vor Augen. Diese Beispiele sind f\u00fcr uns von Interesse. H\u00e4tte More bereits, wie sp\u00e4ter Newton, consequent auf der Einheit des Baumes bestanden, so w\u00e4re sein Kampf gegen das Reciprocit\u00e4tsaxiom wenigstens logisch folgerichtig gewesen : in dem einen Baume w\u00e4re jeder K\u00f6rper schlechterdings entweder bewegt oder ruhig.\nMores Anschauungen vom Raume und der Bewegung und damit die k\u00fcnftigen Entwickelungsstadien des Bewegungsbegriffes sind zweifellos durch eine gro\u00dfe physikalische Entdeckung der Zeit m\u00e4ch\n1) Opera. Tom. I. p. 162 sqq.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"383\nDie geschichtliche Entwickelung des \u00dfewegungsbegriffes.\ntig angeregt: durch die Entdeckung des luftleeren Raumes. W\u00e4hrend pescartes, durch seinen einseitig geometrischen Begriff der Materie verf\u00fchrt, die M\u00f6glichkeit eines Vacuums bestritt, stellten Andere fast gleichzeitig experimentell die Wirklichkeit desselben fest. Der ganze Streit lief eigentlich auf einen Wortstreit hinaus. Henry More aber fand nun die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig aufgekl\u00e4rte Vorstellung eines von Materie entbl\u00f6\u00dften Raumes vor : was war nat\u00fcrlicher f\u00fcr ihn, als die Tragweite der neuen wichtigen Entdeckung zu \u00fcbersch\u00e4tzen? Zu glauben, dass man \u00fcberall, wo von Geometrie die Rede ist, die raumbestimmende Materie ganz und gar durch den leeren Raum selbst ersetzen k\u00f6nne ? Eine Ansicht, welche doch f\u00fcr die angewandte Geometrie, z. B. f\u00fcr die concrete Bewegungslehre unhaltbar ist!\nVon den Zeitgenossen Mores, welche bei der Entdeckung des Vacuums selbst betheiligt waren, ist dieser Schritt, soviel mir bekannt, noch nicht gethan worden. Otto von Guericke1) ist sich der Relativit\u00e4t des Ortes sehr wohl bewusst, und h\u00e4ngt noch fast zu \u00e4ngstlich an der Cartesianischen Lehre. Die Commutabilit\u00e4t der Ortsbestimmung ist ihm nicht verborgen. Uebrigens aber liegen die meisten stellenweise wunderlichen Anschauungen dieses Mannes viel zu fern vom Gange der historischen Entwickelung, um hier in Frage zu kommen.\nDen endg\u00fcltigen Sieg \u00fcber den Cartesianischen Raum- und Bewegungshegriff w\u00fcrde More mit seinen Auseinandersetzungen kaum davongetragen haben. Denn er hatte an Stelle dessen, was er zu st\u00fcrzen unternahm, nichts wirklich Zeitgem\u00e4\u00dferes zu setzen. In dieser Lage befand sich erst Newton, welcher, Physiker, Mathematiker und Philosoph zu gleicher Zeit, die Cartesian is che W eltmechanik von Grund aus zu untergraben und ein neues Fundament zu legen im Stande war.\n\u00a7 5. Newton.\nDurch eine h\u00f6chst tiefsinnige Verschmelzung des \u00bbrealen immateriellen\u00ab Raumes mit dem \u2014 von Galilei zwar nirgends genannten, aber allerw\u00e4rts gedachten \u2014 \u00bbAnschauungsraume der zweckth\u00e4tigen * atur\" ^at Newton seinen \u00bbabsoluten Raum\u00ab geschaffen und damit\n1) Exp\u00e9rimenta nova Magdeburgica 1672. Lib. II. cap. 2. Lib. V. cap. 15, 16.","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nLudwig Lange.\ndasjenige Fundament der allgemeinen Dynamik gelegt, welches im wesentlichen bis auf den heutigen Tag in Geltung steht.\nNewton war zu dieser That geeignetwie kein Anderer. Jahrzehnte lang in das Problem einer kosmischen Dynamik vertieft, hatte er sich mit dem Tr\u00e4gheitsprincip als universellem Gesetze viel eingehender zu besch\u00e4ftigen als die meisten seiner Vorg\u00e4nger. Dabei trug er sich best\u00e4ndig mit der gewaltigen Idee einer allgemeinen Gravitation aller Materie und konnte nicht umhin, die gegenseitige Gravitation der Fixsterne in R\u00fccksicht zu ziehen. Wenn nun die Folge dieser Gravitation eine Bewegung war, worauf sollte man die Orte der sich selbst \u00fcberlassenen K\u00f6rper, worauf die Orte der Planeten beziehen\"? Auf den Fixstemhimmel, wie in fr\u00fcheren Zeiten? Das ging doch in der strengen dynamischen Theorie nun und nimmermehr an ! Denn das \u00bbFirmament\u00ab ward zum fluthenden Chaos. TJnd worauf vollends sollte man die Bewegungen der Fixsterne selbst beziehen? Das sind Fragen, wor\u00fcber sich Newton nicht hinwegsetzen konnte. Schon die blo\u00dfe Vorstellung der M\u00f6glichkeit einer Distanz\u00e4nderung der Fixsterne musste ihm die Idee eines von aller gegebenen Weltmaterie losgel\u00f6sten Raumes als nothwendige Grundlage seiner kosmischen Dynamik an die Hand geben. Nun fand er die Idee eines \u00bbrealen immateriellen\u00ab Raumes bereits fertig bei Henry More, mit welchem er viele Jahre lang in derselben Stadt, wenn gleich in einem anderen Collegium*) th\u00e4tig war. Er brauchte nur in der Lehre von der Immaterialit\u00e4t des Raumes eine gr\u00f6\u00dfere Consequenz zu \u00fcben, als More (s. o. S. 382), und unter Anlehnung an Galilei die Einheit des Raumes zum Princip zu erheben, welche bei More thats\u00e4chlich noch mangelte : und der \u00bbreale absolute Raum\u00ab war fertig.\nGanz neu ist bei Newton einzig und allein die Bemerkung, dass bei der Festsetzung des Begriffes der wirklichen Bewegung die Zeit dem Raume v\u00f6llig parallel zu stellen sei. Er nimmt, ebenso wie einen \u00bbabsoluten Raum\u00ab, auch eine \u00bbabsolute Zeit\u00ab an, welche nicht nur von allem gegebenen wahrnehmbaren Geschehen, sondern auch von unS^ rem inneren Gedankenlaufe ganz getrennt gedacht wird. Wir sin demnach hier bei Newton zum ersten Male in der Lage, auch au\n1) Newton lehrte am Trinity College, More am Christ Church College bridge. More starb 1687, im Erscheinungsjahre der N e w t o n \u2019sehen \u00bbPnncipi","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n385\nBeziehung des Zeitbegriffes zum Bewegungsbegriffe n\u00e4her eingehen zu m\u00fcssen. In der That durchdringen sich bei Newton die drei metaphysischen Grundvoraussetzungen der absoluten Zeit, des absoluten Baumes und der absoluten Bewegung derma\u00dfen innig, dass es unm\u00f6glich w\u00e4re, sie von einander zu sondern und f\u00fcr sich zu behandeln: sie k\u00f6nnen nicht anders denn in Gemeinschaft betrachtet werden.\nNewton hat seine Ansichten \u00fcber Raum, Zeit und Bewegung in einer Anmerkung niedergelegt, welche er den einleitenden Definitionen seines Werkes \u00bbPhilosophiae naturalis principia mathematica\u00ab folgen zu lassen f\u00fcr n\u00f6thig befand. Es hei\u00dft hier (p. 5) \u00bb) :\n\u00bbZeit, Raum, Ort und Bewegung als Allen bekannt d\u00e9finire ich nicht. Immerhin ist zu bemerken, dass das Volk diese Gr\u00f6\u00dfen nur nach ihrer Beziehung auf sinnliche Dinge auffasst, woraus gewisse Vorurtheile entstehen, zu deren Aufhebung man sie passend in absolute und relative, wahre und scheinbare, mathematische und gew\u00f6hnliche scheidet\u00ab.\n\u00bbI. Die absolute, wahre und mathematische Zeit flie\u00dft, an sich und ihrer Natur nach ohne Beziehung auf irgend etwas Aeu\u00dferes, gleichm\u00e4\u00dfig dahin und hei\u00dft mit anderem Namen auch Dauer: die relative, scheinbare und gew\u00f6hnliche Zeit ist irgend ein sinnliches und \u00e4u\u00dferes Ma\u00df der Dauer vermittelst einer Bewegung (genau oder ungleichm\u00e4\u00dfig), so wie man es f\u00fcr gew\u00f6hnlich an Stelle der wahren Zeit braucht; z. B. eine Stunde, ein Tag, ein Monat, ein Jahr\u00ab.\n\u00bbII. Der absolute Raum bleibt, seiner Natur nach ohne Beziehung auf etwas Aeu\u00dferes, best\u00e4ndig gleichartig und unbeweglich : der relative ist irgend ein beliebiges bewegliches Ma\u00df oder eine Abmessung dieses Raumes, welche von unseren Sinnen durch ihre Lage zu K\u00f6rpern fixirt und f\u00fcr gew\u00f6hnlich an Stelle des unbeweglichen Raumes gebraucht wird: so wie die Abmessung des unterirdischen, des Luft- und des Himmelsraumes durch ihre Lage zur Erde fixirt ist. Der absolute und der relative Raum stimmen nach ihrer Erscheinung und Gr\u00f6\u00dfe \u00fcber-eini sie bleiben aber nicht immer dieselben. Wenn z. B. die Erde sich bewegt, so wird unser Luftraum, welcher relativ und in Bezug auf die Erde immer derselbe bleibt, erst dieser und dann jener Theil des\n1) Seitenzahlen nach der zweiten Auflage von 1714.\nWttadt, Philos. Stadien. III.\t26","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nLudwig Lange.\nabsoluten Raumes sein, in welchen die Luft \u00fcbergeht; und so wirf er, absolut genommen, fortw\u00e4hrend ein anderer werden\u00ab.\n\u00bbIII. Der Ort ist der vom K\u00f6rper eingenommene Theil des Rau mes und je nach dem Raume entweder absolut oder relativ. \u00bb\u00bbTheil des Raumes\u00ab\u00ab, sagte ich ; nicht \u00bb\u00bbLage des K\u00f6rpers\u00ab\u00ab oder \u00bb\u00bbumgebende Oberfl\u00e4che\u00ab\u00ab. Denn gleich gro\u00dfe starre K\u00f6rper haben immer gleich gro\u00dfe Orte ; die Oberfl\u00e4chen aber sind wegen der Un\u00e4hnlichkeit ihrer Gestalten h\u00f6chst ungleich; die Lagen jedoch haben eigentlich \u00fcberhaupt keine Gr\u00f6\u00dfe und sind nicht sowohl Orte als vielmehr Beziehungen von Orten. Die Bewegung des Ganzen ist identisch mit der Summe der Bewegungen seiner Theile, d. h. die Uebertragung des Ganzen von seinem Orte ist dasselbe wie die Summe der Uebertragungen seiner Theile von ihren Orten ; und durchaus ist der Ort des Ganzen dasselbe wie die Summe der Orte seiner Theile und folglich innerlich und im K\u00f6rper als in einem Ganzen\u00ab.\n\u00bbIV. Die absolute Bewegung ist die Uebertragung eines K\u00f6rpers von einem absoluten Orte nach einem anderen, die relative die Uebertragung von einem relativen Orte nach einem anderen\u00ab. Nun folgt das uralte Beispiel von der Bewegung eines K\u00f6rpers auf einem segelnden Schiffe. Die wahre absolute Bewegung desselben ist von seiner Bewegung zum Schiffe verschieden ; sie setzt sich aus drei Bewegungen zusammen, aus der Bewegung der Erde im absoluten Raume, aus der Bewegung des Schiffes zur Erde und aus der Bewegung des K\u00f6rpers zum Schiffe.\nBis-hierher hat Newton seine Ansichten noch wesentlich dogmatisch vorgebracht, ohne sich auf n\u00e4here Begr\u00fcndungen einzulassen. Einen Grund hat er weder f\u00fcr das \u00bbgleichm\u00e4\u00dfige Dahinflie\u00dfen\u00ab der absoluten Zeit, noch f\u00fcr die \u00bbUnbeweglichkeit\u00ab des absoluten Raumes angef\u00fchrt. Er kommt nun n\u00e4her auf gewisse empirische Unterschiede zwischen absoluter Zeit, absolutem Raume und absoluter Bewegung einerseits, sowie relativer Zeit, relativem Raume und relativer Bewegung anderseits zu sprechen; und hierbei bringt er f\u00fcr die vorher entwickelten Ansichten auch gewisse recht beachtenswerthe Argumente vor. Es mag mir gestattet sein, die Besprechung dieser Argumente ein wenig aufzuschieben ; nicht als ob es hier noch unm\u00f6glich w\u00e4re, sie der Kritik zu unterwerfen, sondern weil bei unmittelbarer Verfolgung des Newton\u2019schen Gedankenganges die Darstellung an","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n387\nDurchsichtigkeit verlieren w\u00fcrde. Es wird zweckm\u00e4\u00dfiger sein vorerst klarzustellen , wie Newton auf den gewonnenen Grundvoraussetzungen nun die Elemente seiner Dynamik aufbaut. Dabei haben wir daran festzuhalten, dass der absolute Raum und die absolute Zeit als objectiv existirend, unserer menschlichen Erfahrung freilich unzug\u00e4nglich, betrachtet werden ; eine Bestimmung, welcher N e w -ton noch mehrfach besonderen Ausdruck gibt, z. B. durch den Satz: \u201eDie Theile jenes unbeweglichen Raumes\u00ab (d. h. die absoluten Orte) \u00bbsind nicht sinnenf\u00e4llig\u00ab (p. 10).\nSoweit nun Newton in seinem Werke nicht ausdr\u00fccklich von relativen Bewegungen spricht, will er unter \u00bbBewegung\u00ab \u00fcberall \u00bbabsolute Bewegung\u00ab verstanden wissen. Dementsprechend handeln auch seine Grundgesetze der Bewegungslehre von Bewegungen in Bezug auf den absoluten Raum und die absolute Zeit; und insbesondere gilt dies in aller Strenge von dem ersten derselben, von dem Tr\u00e4gheitsgesetze (p. 12): \u00bbEin jeder K\u00f6rper verharrt in seinem Zustande der Ruhe oder gleichf\u00f6rmigen geradlinigen Bewegung, sofern er nicht von irgend welchen auf ihn ausge\u00fcbten Kr\u00e4ften zur Ver\u00e4nderung jenes Zustandes gezwungen wird\u00ab. In einem absolut rotirenden relativen Raume w\u00fcrden die Bahnen sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper nicht geradlinig, sondern krummlinig, und mit Bezug auf eine relative Zeit, wie sie etwa durch eine unregelm\u00e4\u00dfig periodische Bewegung fixirt wird, w\u00fcrden die absoluten Bewegungen sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper nicht gleichf\u00f6rmig, sondern ungleichf\u00f6rmig sein. Dass dies Newtons Lehre ist, dar\u00fcber kann kein Zweifel bestehen.\nMit welchem Rechte, so fragen wir nun, behauptet Newton, dass die Bahnen sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper geradlinig sind in Bezug auf den \u00bbabsoluten Raum\u00ab, dessen Theile doch, wie er selber ^ugibt, nicht wahrgenommen werden k\u00f6nnen? Uns scheint doch eine solche Behauptung ganz willk\u00fcrlich und unbegr\u00fcndet zu sein. New-t0n k\u00f6nnte uns nicht im mindesten widerlegen, wenn wir seiner ehauptung die entgegenstellten, die absoluten Bahnen sich selbst P \u201classener K\u00f6rper seien spiralig gekr\u00fcmmt ! Ferner , mit welchem jte behauptet Newton, dass mit Bezug auf seine transcen-^\u00aente \u00bbabsolute Zeit\u00ab die Bewegungen der sich selbst \u00fcberlassenen Sei\u00b0rPer gangf\u00f6rmige sind? Wenn wir im Gegentheile behaupten, sie n ungleichf\u00f6rmig, so hat Newton kein Mittel uns zu widerlegen,\n26*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nLudwig Lange.\nwir stehen genau eben so sicher auf unseren F\u00fc\u00dfen, als er auf den seinigen. Kurz, in der Newton\u2019schen Auffassung ist das Tr\u00e4gheits gesetz keine wissenschaftliche Hypothese, sondern ein Dogma; dies ist die Ueberzeugung, zu welcher wir mit Nothwendigkeit gedr\u00e4ngt werden.\nEinem Genius, wie Newton, wird man indessen nie gerecht wenn man vers\u00e4umt, ihn aus seinen eigenen Gesichtspunkten zu betrachten. Wir werden demnach gut thun, das Newt on\u2019sehe Dogma wom\u00f6glich bis zu seinem letzten Urspr\u00fcnge zu verfolgen; denn vielleicht liegt das specifisch Dogmatische daran weit tiefer, als es von au\u00dfen den Anschein hat, vielleicht liegt es schon in den allerersten metaphysischen Ansichten, mit welchen Newton \u00fcberhaupt an die Betrachtung der Natur herantritt.\nDiese Vermuthung findet sich aufs beste best\u00e4tigt. Newtons Fassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes geht ganz folgerichtig aus seiner gro\u00dfen Naturanschauung hervor ; erkl\u00e4rt man sich mit derselben einverstanden, so muss man Newton \u00fcberall hin folgen.\nRaum und Zeit sind bei Newton Attribute Gottes, ohne freilich sein Wesen auszumachen. Gott \u00bbist nicht Dauer oder Raum, sondern er dauert und ist anwesend. Er dauert in Ewigkeit und ist allgegenw\u00e4rtig und durch sein ewiges und allgegenw\u00e4rtiges Sein schafft er Dauer und Raum, Ewigkeit und Unendlichkeit\u00ab (p. 483).J) Anderw\u00e4rts, in seiner Optik (1704), bezeichnet bekanntlich Newton in ganz \u00e4hnlichem Sinne den Raum als \u00bbsensorium Dei\u00ab. Dass er hier \u00fcberall den absoluten Raum und die absolute Zeit meint, ist keine Frage. Gottes Th\u00e4tigkeit besteht nun wesentlich in einer weisen Gesetzgebung, durch welche die Welt geregelt wird. Und unsere Er-kenntniss betrifft seine Gesetze in der Fassung, welche er selbst ihnen verliehen hat. In dieser Fassung aber beziehen sie sich, so weit sie \u00fcberhaupt mit Raum und Zeit Etwas zu thun haben, auf den g\u00f6ttlichen absoluten Raum und die g\u00f6ttliche absolute Zeit. Und weil Gottes Geist die Natur beherrscht, so gilt von ihr der Satz (p. 357): \u00bbNichts thut die Natur ohne Zweck, und zwecklos ge\" schieht durch Anwendung mehrerer Mittel, was durch wenigere voll-\n1) Die Schlussbemerkung des ganzen Werkes, welcher diese Stelle entnom men ist, fehlt der ersten Auflage von 1687 noch.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n389\nbracht werden kann\u00ab. Insbesondere sind daher die nat\u00fcrlichen Bewegungen in Bezug auf den absoluten Baum und die absolute Zeit immer so einfach, als es unter den gegebenen Bedingungen des Geschehens \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist.\nDie allereinfachste Bedingung, unter welcher ein K\u00f6rper sich bewegen kann, ist nun wiederum die, dass er von keinem anderen beeinflusst wird. Hier wird also die Einfachheit der nat\u00fcrlichen Bewegung in Bezug auf den absoluten Baum und die absolute Zeit ihr Maximum erreichen. Der sich selbst \u00fcberlassene K\u00f6rper wird im absoluten Baume die denkbar einfachste Linie d. h. eine gerade Linie beschreiben, und seine Geschwindigkeit in Bezug auf die absolute Zeit wird, was das Einfachste ist, unver\u00e4ndert bleiben. So ist also die Newton\u2019sche Auffassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes Nichts als ein Ausfluss seiner erhabenen Grundanschauung von Gott und Natur. Causale Begr\u00fcndungen des Principes, wie sie sp\u00e4ter von Euler u. A. versucht worden sind, finden sich bei Newton noch gar nicht. Dass in dem soeben ausgef\u00fchrten Gedankengange eine Einwirkung Galileis vorliegt, leidet keinen Zweifel; man kann fast sagen, Newton habe Galileis Anschauungsraum der zweckth\u00e4tigen Natur einfach \u00fcbernommen und ihm nur eine sch\u00e4rfer ausgepr\u00e4gte begriffliche Gestalt nebst jener theistischen F\u00e4rbung verliehen, wie sie seinem streng christlichen Gem\u00fcthe am meisten zusagte. Dass der reale immaterielle Raum etwas seinem Wesen nach G\u00f6ttliches sei, hatte \u00fcbrigens in ganz \u00e4hnlicher Weise schon Henry More gelehrt, und es d\u00fcrfte nicht allzu gewagt sein anzunehmen, dass er auch hier auf Newton von Einfluss gewesen ist. \u2019)\n1) Bekanntlich hat auch Malebranche seinen realen \u00bbintelligibelen Raum\u00ab in innige Beziehung zur Pers\u00f6nlichkeit Gottes gesetzt. Wenngleich die meisten und nichtigsten Belegstellen hierf\u00fcr in den erst 1688 erschienenen \u00bbEntretiens sur la m\u00e9taphysique\u00ab enthalten sind (Oeuvres, Paris 1871, Tomei. p. 184\u2014188), so fehlt es doch nicht an einzelnen unverkennbaren Andeutungen in anderen Schriften Ma-iebranches, welche noch vorNewtons \u00bbPrincipien\u00ab erschienen sind (Oeuvres, Tome II. p. U4j M\u00e9ditations chr\u00e9tiennes, 1682). So viel mir scheint, wird es aber vben solche Schwierigkeiten machen, einen Einflus s Malebranches auf New-ton sicher nachzuweisen, als ihn mit Bestimmtheit in Abrede zu stellen. F\u00fcr einen innuss k\u00f6nnten allenfalls Malebranches schon in seinen fr\u00fcheren Schriften '(\u00abkommende Hinweisungen auf die gr\u00f6\u00dftm\u00f6gliche Simplieit\u00e4t der durch Gottes 1 len bedingten nat\u00fcrlichen Bewegungen geltend gemacht werden (Oeuvres, Tome II. P- \u00bb2. 60, M\u00e9ditations chr\u00e9tiennes, 1682. Tome I. p. 159\u2014162. 257. Entretiens sur","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nLudwig Lange.\nUnstreitig liegt etwas Gro\u00dfes und Erhabenes in der Newton sehen Idee : aber in den Principien der Mechanik hat sie heutzutage keinen Platz mehr. Man erkennt hier das metaphysisch-teleologische Princip der Simplicit\u00e4t \u2014 sei es nun in der Galilei\u2019sehen oder in der N ewto n\u2019sehen mehr theistischen Fassung \u2014 schon l\u00e4ngst nicht mehr an; nur ein Abbild davon hat man beibehalten, das methodologische Princip der Simplicit\u00e4t, welches uns die n\u00fcchterne Lehre gibt, die Ph\u00e4nomene der Natur unter m\u00f6glichst vereinfachenden Bedingungen zu betrachten, weil es dann am leichtesten ist, \u00abi\u00e9 zu begreifen. Wir werden also an unserem Zweifel festhalten m\u00fcssen: woher soll man wissen, dass ein jeder sich selbst \u00fcberlassene K\u00f6rper in Bezug auf den transcendenten absoluten Raum und die transcen-dente absolute Zeit Newtons geradlinig und gleichf\u00f6rmig fortschreitet? Weder die Erfahrung, noch eine Schlussfolgerung aus apriorischen Principien vermag uns davon zu \u00fcberzeugen.\nEs erw\u00e4chst uns nun aber die Aufgabe auseinander zu setzen, welcher Ausdruck dem Tr\u00e4gheitsgesetze, diesem Grundgesetze aller Dynamik, zu geben sei, nachdem wir den Newton\u2019schen als nicht mehr zeitgem\u00e4\u00df verlassen haben. In einer Erkenntniss m\u00fcssen wir hierbei unbedingt Newton folgen : weder d\u00fcrfen wir den r\u00e4umlichen Theil des Gesetzes auf einen festen wahrnehmbaren K\u00f6rper im Weltall, noch seinen zeitlichen auf irgend eine gegebene Ereignissfolge beziehen. Aber was f\u00fcr ein Bezugssystem, was f\u00fcr eine Vergleichssucces-sion sollen wir dann zur Anwendung bringen?\nIch habe in einigen fr\u00fcheren Arbeiten b meine Ansichten hier\u00fcber ausf\u00fchrlich dargelegt und darf mich hier mit einigen Andeutungen begn\u00fcgen. Das r\u00e4umliche Bezugssystem des Beharrungsgesetzes ist in meiner Fassung des letzteren kein traiiscendent-reales, wie der absolute Raum Newtons, sondern nur ein ideales. Diese Bestimmung f\u00fcr sich w\u00fcrde nun freilich nicht gen\u00fcgen, die so unumg\u00e4nglich noth-\nla m\u00e9taphysique, 1688). Wenn wir \u00fcbrigens den Ausf\u00fchrungen Malebranches w der Entwickelungsgeschichte des Bewegungsbegriffes keine besondere Stelle zugewiesen haben, so ist der Hauptgrund davon der, dass Mal ebranche in der UM * nalfrage nach dem Unterschiede zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung keiner originelle Ansichten zum Ausdrucke gebracht hat.\t_\t,\n1) Philosophische Studien, hrsg. v. Wundt, Bd. II. S. 266. 539. Berichte Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften. Math.-phys. Classe. 1885. S. 333.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n391\n\u25a0wendige Uebereinstimmung in den Grundvorstellungen aller die Welt Betrachtenden herzustellen. Denn wenn das Bezugssystem ganz und gar keinen Anhalt an der gegebenen materiellen Welt h\u00e4tte, so w\u00fcrden die hinzugedachten Bezugssysteme verschiedener Beobachter gegen einander im allgemeinen bewegt sein, und es k\u00f6nnte unm\u00f6glich f\u00fcr sie alle der r\u00e4umliche Theil des Gesetzes gelten. Deshalb bedarf es einer Convention, die in der denkbar einfachsten Weise in der Theorie dasselbe oder doch etwas Analoges ausf\u00fchrt, wie es unter den complicirten Beobachtungsbedingungen in der praktischen Wissenschaft thats\u00e4chlich zur Anwendung kommt. Dem entsprechend wird das Bezugssystem an eine solche Anzahl sich selbst \u00fcberlassener Punkte gewisserma\u00dfen angelehnt, welche gerade hinreicht, die noth-wendige Uebereinstimmung zwischen den Vorstellungen aller die Welt Betrachtenden herzustellen. Es wird definirt als ein solches r\u00e4umliches System, in Bezug worauf drei sich selbst \u00fcberlassene materielle Punkte, die gleichzeitig vom selben Eaumpunkte projicirt worden sind, ') auf drei bestimmten in einem Punkte zusammenlaufenden Geraden dahinschreiten. Bezeichnet wird es kurz als \u00bbInertialsystem\u00ab. Fasst man also eine Gruppe sich selbst \u00fcberlassener Punkte ins Auge, so ist die (von dem Beharrungsgesetze in gew\u00f6hnlicher Fassung ihnen zugeschriebene) geradlinige Bewegung f\u00fcr drei aus ihrer Mitte Sache einer blo\u00dfen Convention, und erst, nachdem man auf diese Convention eingegangen ist, f\u00fcr die \u00fcbrigen ein Forschungsergebniss.\nGanz analog dient dem zeitlichen Theil des Gesetzes weder Newtons transcendente \u00bbabsolute\u00ab Zeit, noch eine beliebige (durch irgendwelche nat\u00fcrliche Bewegung definirte) Zeitscala, sondern nur eure solche Zeitscala zur Grundlage, in Bezug worauf ein sich selbst \u00fcberlassener Punkt in einem Inertialsystem gleichf\u00f6rmig fortschreitet. Eine solche Scala hei\u00dft eine \u00bbInertialzeitscala\u00ab. F\u00fcr einen einzelnen Punkt der betrachteten Gruppe sich selbst \u00fcberlassener Punkte ist also auch die (von dem Beharrungsgesetze in gew\u00f6hnlicher Fassung diesen zugeschriebene) gleichf\u00f6rmige Bewegung Sache einer blo\u00dfen Convention; und erst nach Annahme der letzteren erscheint sie als Forschungsergebniss f\u00fcr die \u00fcbrigen.\n1) Diese Punkte d\u00fcrfen aber nicht in einer Geraden liegen.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nLudwig Lange.\nWeiterhin mag noch kurz daran erinnert werden, dass es nicht blo\u00df eines, sondern unz\u00e4hlige gegen einander ohne Drehung geradlinig und r\u00fccksichtlich einer Inertialzeitscala gleichf\u00f6rmig bewegte \u2022 Inertialsysteme gibt. Einen materiellen Punkt habe ich im Anschluss an diese Erkenntniss \u00bbinertiell-ruhig\u00ab genannt, sofern er in Bezug auf gleichviel welches \u2014 dieser Inertialsysteme nicht bewegt\neines\nwar; dagegen \u00bbinertiell-gedreht\u00ab, sofern er sich in Bezug auf ein beliebiges Inertialsystem krummlinig bewegte. Wegen der n\u00e4heren Begr\u00fcndung dieser und der vorhergehenden Auseinandersetzungen darf ich auf die citirten Arbeiten zur\u00fcckverweisen, welche kurz gesagt deu Zweck verfolgten, dem Beharrungsgesetze im Gegens\u00e4tze zu seiner gew\u00f6hnlichen Gestalt die Form einer partiellen Convention zu geben. Von der hier kurz recapitulirten neuen Nomenclatur werde ich der K\u00fcrze halber im Folgenden noch \u00f6fters Gebrauch machen.*)\nZu dem modernen Gedanken, das Beharrungsgesetz als partielle Convention zu formuliren, steht, wie kaum gesagt zu werden braucht, Newtons Lehre in schroffem Gegensatz. Dogmatisch stellt er die Begriffe des transcendent-realen absoluten Raumes und der tran-scendent-realen absoluten Zeit auf und dogmatisch bezieht er auf den absoluten Raum und die absolute Zeit das Gesetz der Tr\u00e4gheit.\nSehen wir nun zu, wie Newton die \u00fcbrigen hier f\u00fcr uns wichtigen Principien seiner Kosmodynamik entwickelt. Das Gesetz der Wechselwirkung, wonach der Wirkung eines K\u00f6rpers auf einen zweiten stets eine ganz gleiche Wirkung des zweiten auf den ersten entspricht, formulirt Newton sowohl f\u00fcr die intensive Wirkung der\n/\n1) Die obige systematische Auseinandersetzung bildet eine l\u00e4ngere Unterbrechung der reinen historisch-kritischen Darstellung und k\u00f6nnte demnach statt an dieser Stelle eher beim systematischen Abschl\u00fcsse dieser Abhandlung erwartet werden. Zwei Gr\u00fcnde haben mich bewogen, sie dennoch hier nicht l\u00e4nger hinauszuschieben. Einestheils schien mir kein Augenblick geeigneter, die neuen Ansichten zur Geltung zu bringen, als der, wo die Schw\u00e4chen der alten (und noch heutigen Tags nicht ganz verlassenen) Lehre soeben an den Tag gekommen sind und in frischestem Angedenken stehen. Sodann aber erkannte ich in der neuen Nomenclatur ein h\u00f6chst willkommenes Mittel, um zahlreiche fernere Auseinandersetzungen kritischer Natur, die sonst mitunter fast unertr\u00e4glich weitl\u00e4ufig ausgefallen w\u00e4ren, mit wenigen Worten abzumachen. Jedenfalls h\u00e4lt es nicht schwer, sich zu \u00fcberzeugen, dass jede im Folgenden ge\u00fcbte Kritik nicht im mindesten ihrem Inhalte, sondern einzig und allein ihrer Form nach durch den obigen systematischen Excurs bedingt ist.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n393\nKraft, d. h. den gegenseitigen Druck oder Zug der K\u00f6rper, als auch f\u00fcr die in der Mechanik viel wichtigere extensive Wirkung der Kraft (pag. 13)- Als Corollarium dieses Gesetzes spricht er dann den Satz von der Erhaltung des Massenmittelpunktes aus, welcher ja auch Nichts ist als eine Vereinigung des Tr\u00e4gheitsgesetzes mit dem Gesetze der Wechselwirkung (pag. 17). Auch hier, wie hei dem Beharrungsgesetze seihst, bezieht Newton die Bewegung nicht auf einen beliebigen relativen, sondern auf seinen absoluten Raum ; und wir sind wiederum berechtigt zu fragen, woher man Etwas \u00fcber die Bewegung zu diesem transcendenten Gespenste wissen soll. Jede Unklarheit verschwindet aber, wenn wir das Gesetz der Wechselwirkung, oder sagen wir gleich das Gesetz von der Erhaltung des Massenmittelpunktes , mit R\u00fccksicht auf unser conventionelles Inertialsystem und unsere conventioneile Inertialzeitscala, n\u00e4mlich einfach in der Form aussprechen: \u00bbDer Massenmittelpunkt eines sich seihst \u00fcberlassenen materiellen Syst\u00e8mes ist inertiell-ruhig, wie jeder einzelne sich selbst \u00fcberlassene Punkt\u00ab. Und was die hier vorausgesetzte Messung der Masse anlangt, so kann man dieselbe gerade ebenso de-finiren, wie wir dies fr\u00fcherhin1) andeutungsweise auseinandergesetzt haben, vermittelst des methodologischen \u00bbPrincipes der particularen Determination \u00ab.2)\nFerner setzt Newton auseinander (pag. 18), wie ein im absoluten Raume (und mit Bezug auf die absolute Zeit) geradlinig, gleichf\u00f6rmig und ohne Drehung fortschreitender relativer Raum dynamisch mit einem absolut ruhenden relativen Raume \u00e4quivalent ist. Er bringt also Iper in Form eines besonderen Lehrsatzes dieselbe Erkenntniss zum Ausdrucke, welche passender unmittelbar mit der Fassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes verschmolzen und in den Satz gefasst wird, dass es unendlich viele geradlinig gleichf\u00f6rmig (nach Inertialzeitma\u00df) und ohne Drehung gegen einander bewegte Inertialsysteme gibt (s. o.).\n1)\tPhilos. Studien Bd. II. S. 277.\n2)\tNewtons Versuch, das Gesetz der Wechselwirkung bei Attractionen auf as Beharrungsgesetz zur\u00fcckzuf\u00fchren (p. 22), leidet an dem Mangel, dass er einen osspruch des Tr\u00e4gheitsgesetzes f\u00fcr ganze K\u00f6rper, f\u00fcr materielle Systeme, voraus-\n\u00e4etzt. Seit Euler zieht man in den Principien mit gutem Grunde nur einzelne mamelle Punkte in Betracht. Auch sonst ist die Deduction Newtons keineswegs e'nwurfsfrei, doch muss ich mir hier versagen darauf einzugehen.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nLudwig Lange.\nVon der gr\u00f6\u00dften Wichtigkeit ist es nun schlie\u00dflich, sich zu ver\ngegenw\u00e4rtigen, wie Newton die vorher entwickelten Lehrs\u00e4tze seiner\nreinen Dynamik auf das Problem des Weltsysternes anwendet. Er beruft sich hier auf die, wie er meint, von Niemand bezweifelte hypothetische Annahme, wonach das Centrum der Welt ruht, d. h. in seiner Ausdrucksweise absolut ruht. Nun weist er darauf hin, wie nach dem Satze von der Erhaltung des Massenmittelpunktes der gemeinsame Schwerpunkt des (so gut wie unbeeinflussten) Sonnensystemes jedenfalls im absoluten Raume entweder ruhe oder geradlinig und mit Bezug auf die absolute Zeit gleichf\u00f6rmig fortschreite : w\u00e4hrend f\u00fcr die einzelnen Centren der Sonne oder der Planeten zufolge seiner kosmo-dynamischen Entwickelungen die M\u00f6glichkeit einer absoluten Ruhe ganz ausgeschlossen sei. Es bleibe also Nichts weiter \u00fcbrig, als den \u2014 von der Sonne immer nur unbetr\u00e4chtlich abweichenden \u2014 Schwerpunkt des Sonnensystemes f\u00fcr das ruhende Centrum der Welt zu halten. ') Dass die Hypothese von der Ruhe des Weltcentrums im absoluten Raume, seihst als Hypothese, allzusehr der Begr\u00fcndung entbehrt, wird heutigen Tags Niemand bestreiten. Newton selber f\u00fchrt zu ihren Gunsten keine weiteren Gr\u00fcnde an, als den \u00bbconsensus omnium\u00ab (pag. 373). Er bedenkt aber hier nicht, dass sein Begriff des absoluten Raumes, so wie er an dieser Stelle vorausgesetzt wird, ein ganz neu von ihm eingef\u00fchrter ist. Wenn man vor ihm seit Aristoteles das Weltcentrum als \u00bbruhig\u00ab betrachtete, so geschah dies darum, weil dem Weltganzen als solchem kein relativer Ort zukommt. Aber Newton redet hier nicht von relativen, sondern von absoluten Orten und durfte sich deshalb auf nichts weniger als den \u00bbconsensus omnium\u00ab berufen. Das Einzige, was wir gegenw\u00e4rtig von diesen Aufstellungen Newtons noch anerkennen k\u00f6nnen, ist dieses, dass der Schwerpunkt des (wesentlich unbeeinflussten) Sonnensystemes inertiell-ruhig, d. h. in einem gewissen Inertialsysteme ruhig ist. Dieses System aber legen wir conventioneil unseren Betrachtungen der Planetenbewegungen zu Grunde und nennen es das \u00bbheliocentrische Inertialsystem\u00ab.\nNachdem Newton die absolute Ruhe des gemeinsamen Schwerpunktes der Sonne und der Planeten erwiesen zu haben glaubt, zieht\n1) Herschels Entdeckung der sogenannten Translation der Sonne f\u00e4llt ms Jahr 1783.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungshegriffes.\n395\ner aus dieser Erkenntniss weitere Schl\u00fcsse. Die absoluten Bahnen der Planeten sind Ellipsen, in deren einem Brennpunkte die Sonne steht. Die Aphelien und Knotenpunkte dieser Bahnen sind aber fest im absoluten Baume. Das Alles folgt unter der gemachten Annahme streng aus den dynamischen Principien, w\u00e4re aber bemerkenswerther Weise v\u00f6llig sinnlos, falls das Centrum des Sonnensystemes doch eine geradlinige gleichf\u00f6rmige absolute Bewegung bes\u00e4\u00dfe. Endlich schlie\u00dft Newton aus der unver\u00e4nderten Lage der Fixsterne gegen die Aphelien und Knotenpunkte der Planetenbahnen, dass die Fixsterne im absoluten Baume ruhen. Dies ist uns einigerma\u00dfen wichtig, weil wir uns daraus mit voller Sicherheit \u00fcberzeugen, dass Newton die Bezugnahme der astronomischen Beobachtungen auf die Fixstemsph\u00e4re nur f\u00fcr secund\u00e4r und zuf\u00e4llig richtig, keineswegs aber f\u00fcr prim\u00e4re Convention h\u00e4lt. Er bezieht das Gesetz der Tr\u00e4gheit nicht auf das Firmament, sondern auf den absoluten Baum, und schlie\u00dft erst aus Bech-nungen und Beobachtungen, dass die einzelnen Sterne des Firmamentes. im absoluten Baume ruhig seien.*) In all diesen Erw\u00e4gungen aber ist nicht eine Spur von Unklarheit mehr vorhanden, sobald wir \u00fcberall an Stelle des gespenstigen absoluten Baumes das heliocentrische Inertialsystem, an Stelle der absoluten Zeit eine Inertialzeitscala einf\u00fchren.\nWenden wir uns nun zur\u00fcck zu dem Scholium am Schl\u00fcsse der einleitenden Definitionen des Werkes. Wir waren an dem Punkte stehen geblieben, wo Newton sich anschickt, die Unterschiede zwischen absoluter und relativer Zeit, zwischen absolutem und relativem Baume, endlich zwischen absoluter und relativer Bewegung festzustellen. Seine eigentliche Absicht ist hier, einen vorl\u00e4ufigen Begriff davon zu geben, wie es bei gegebenen Bewegungsph\u00e4nomenen auf Grund des empirischen Materiales m\u00f6glich sei, den Werth der wahren absoluten Bewegungen mit einer gewissen Sicherheit zu ermitteln. Indem wir dies bedenken, dr\u00e4ngt sich uns eine wohlberechtigte Frage auf: wie k\u00f6nnen die absoluten Bewegungen, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grade, Gegenstand der Erfahrung werden, w\u00e4hrend es der absolute Baum nicht ist, worauf sie sich beziehen? Das erscheint\n1) Die Entdeckung der Fixsterneigenbewegungen durch Bradley f\u00e4llt ins Jahr 1718.","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nLudwig Lange.\ndoch bei Lichte betrachtet ganz unm\u00f6glich ! Nun, wir werden alsbald sehen, auf welche einfache Weise sich dieses merkw\u00fcrdige Paradoxon aufl\u00f6st.\nNewton besch\u00e4ftigt sich zun\u00e4chst mit den Unterschieden zwischen der absoluten und der relativen Zeit (pag. 7):\n\u00bbDie absolute Zeit unterscheidet sich in der Astronomie von der relativen durch die Gleichung1) der gemeinen Zeit. Die nat\u00fcrlichen Tage n\u00e4mlich, welche f\u00fcr gew\u00f6hnlich zu Zeitmessungen als gleich lang herangezogen werden, sind ungleich lang. Diese Ungleichheit verbessern die Astronomen, um nach richtigerer Zeit die himmlischen Bewegungen zu messen. M\u00f6glicher Weise gibt es gar keine gleichm\u00e4\u00dfige Bewegung, wodurch die Zeit genau gemessen w\u00fcrde. Alle Bewegungen k\u00f6nnen schneller und langsamer werden, aber der Fluss der absoluten Zeit ist unver\u00e4nderlich. Die Dauer oder Beharrlichkeit der Existenz aller Dinge ist eine und dieselbe, m\u00f6gen nun die Bewegungen schneller, langsamer oder verschwindend sein : deswegen wird jene mit Recht von ihren sinnenf\u00e4lligen Ma\u00dfen unterschieden und aus denselben nur erschlossen vermittelst der astronomischen Gleichung. Die Nothwendigkeit dieser Gleichung zur Bestimmung der Ph\u00e4nomene wird aber sowohl durch die Beobachtung der Pendeluhr, als auch durch die Verfinsterungen der Jupitersmonde unumst\u00f6\u00dflich dargethan\u00ab.\nWoher wei\u00df aber Newton, dass die Schwingungen des Uhrpendels, nach absoluter Zeit gemessen, isochron sind, und woher nimmt er die Ueberzeugung, dass die Revolutionen der Jupitersmonde ihn nicht \u00fcber den Verlauf der absoluten Zeit tr\u00fcgen? Nun, die Antwort auf die erste Frage ist sehr einfach. Die Schwingungen des Pendels sind (bei constanter Schwerkraft)nachweislich absolut isochron, wenn der sich selbst \u00fcberlassene Punkt (im absoluten Raume) mit Bezug auf die absolute Zeit gleichf\u00f6rmig fortschreitet. Die letztere Annahme hat aber Newton zum Dogma erhoben. Ganz \u00e4hnlich steht es offenbar mit der Antwort auf die zweite Frage. Wir, die wir Newtons Dogma\n1) \u00bbGleichung\u00ab hei\u00dft bei den Astronomen die Differenz zwischen der \u00bbwahren\u00ab und der aus einer gegebenen Bewegung (der Sonne am Himmel) unmittelbar (ohne Correction) erschlossenen Zeit. Ihre Kenntniss dient zur gegenseitigen Reduction der Zeitscalen auf einander.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n397\nnicht gelten lassen, k\u00f6nnen von unserem Standpunkte aus die ganze obige Auseinandersetzung nicht anerkennen. Auch m\u00fcssen wir fragen, mjt welchem Rechte jene Anwendungen complicirter dynamischer Lehrs\u00e4tze der systematischen Entwickelung derselben aus den einfachen Principien vorangestellt werden. Ein solches Verfahren l\u00e4sst sich im vorliegenden Falle wohl aus der Schwierigkeit der Sache erkl\u00e4ren, aber in keinerlei Weise rechtfertigen; es ist auch gar nicht nach Newtons sonstiger Art. Die absolute Isochrome der Pendelschwingungen als unmittelbaren Ausfluss aus dem Satze vom zureichenden Grunde zu betrachten, dieser Gedanke hat Newton zweifellos ganz fern gelegen, er w\u00fcrde ihn sonst wohl zum Ausdrucke gebracht haben. Solche Versuche treten auch erst viel sp\u00e4ter auf, wenigstens bei Physikern.\nNach seinen Betrachtungen \u00fcber die Zeit wendet sich nun Newton zu dem Raume (pag. 7):\n\u00bbWie die Anordnung der Zeittheile ist auch die Anordnung der Kaumtheile unver\u00e4nderlich. Gesetzt, sie w\u00fcrden von ihren Orten bewegt, so w\u00fcrden sie (sozusagen) von sich selbst hinwegbewegt. Denn die Zeiten und die R\u00e4ume sind gewisserma\u00dfen Orte ihrer selbst und aller Dinge, in der Zeit ist Alles nach der Ordnung der Aufeinanderfolge , im Raume nach der Ordnung der Lage an seinen Ort gestellt. Zu ihrem Wesen geh\u00f6rt es, Orte zu sein: und absurd w\u00e4re es, die urspr\u00fcnglichen Orte bewegt sein zu lassen. *) Diese also sind absolute Orte; und nur die Uebertragungen von diesen Orten sind absolute Bewegungen\u00ab.\n\u00bbDa nun aber diese Theile des Raumes nicht gesehen und durch unsere Sinne von einander unterschieden werden k\u00f6nnen, so wenden wir an ihrer Stelle ihre sinnenf\u00e4lligen Ma\u00dfe an. Denn aus den Stellungen und Abst\u00e4nden der Dinge von irgend einem K\u00f6rper, welchen wir als unbeweglich betrachten, nehmen wir ihre Orte insgesammt ab ; und alsdann ermessen wir auch alle Bewegungen mit R\u00fccksicht\n1) Aristoteles hatte auf die Unbeweglichkeit des Ortes daraus geschlossen, dass wir den Ort (oft nur momentan) als unbeweglich betr ac hten, d. h. gewisserma\u00dfen unserm Anschauungsraume als unbeweglich einverleiben. In diesem Onto-\u201cgismus sind ihm noch manche neuere Philosophen unbedingt gefolgt, z. B. ^obbes (De corpore, Cap. VIIL 5). Newton, wie man sieht, nur bedingungs-","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nLudwig Lange.\nauf die vorgenannten Orte, insofern als wir die K\u00f6rper von ihnen hin weg versetzt sehen. So bedienen wir uns an Stelle der absoluten Orte und Bewegungen der relativen, was auch in menschlichen Angelegen heiten nicht unangemessen ist : aber in Sachen der Philosophie niusj man von seinen Sinnen abstrahiren. Denn m\u00f6glicher Weise gibt es keinen wirklich ruhenden K\u00f6rper, worauf Orte und Bewegungen zu beziehen w\u00e4ren\u00ab.\nZur Kritik dieser Betrachtungen habe ich nichts Neues hinzuzuf\u00fcgen: sie enthalten keine Argumente f\u00fcr die vorgetragene Lehre Newton selber gibt \u00fcbrigens halb und halb zu, dass man mit den \u00bbabsoluten Orten\u00ab Nichts anfangen k\u00f6nne. Nun aber kommen wir zu dem Kerne der ganzen Lehre, zu den Auseinandersetzungen \u00fcber die Unterschiede zwischen absoluter und relativer Bewegung. Absolute Ruhe und Bewegung unterscheiden sich nach Newton von der relativen Ruhe und Bewegung durch ihre Eigent\u00fcmlichkeiten durch ihre Ursachen, und endlich durch ihre Wirkungen.\nAlles, was Newton \u00fcber die in den Eigenth\u00fcmlichkeiten gelegenen Unterschiede sagt, ist dogmatisch und enth\u00e4lt seinen vorhergegangenen Auseinandersetzungen gegen\u00fcber nicht einmal wesentlich Neues. Gr\u00fcnde sind auch hier noch nicht anzutreffen; und im allgemeinen bemerkenswerth ist nur die Aehnlichkeit zwischen der hier gegen Descartes ge\u00fcbten berechtigten Polemik und derjenigen, welche bei Henry More anzutreffen war. Zur allgemeinen Charak-terisirung hebe ich nur einige S\u00e4tze heraus : \u00bbEine Eigent\u00fcmlichkeit der (absoluten) Ruhe ist es, dass wirklich ruhende K\u00f6rper auch unter einander ruhen\u00ab (pag. 7). \u00bbEine Eigent\u00fcmlichkeit der (absoluten) Bewegung ist es, dass die Theile, welche ihre gegebenen Stellungen zum Ganzen bewahren, an den Bewegungen dieses Ganzen theilnehmen\u00ab (pag. 8). Gegen Des cart es : \u00bbWenn die Schale bewegt wird, so bewegt sich auch der Kern als Theil des Ganzen, ohne dabei aus der Nachbarschaft der Schale \u00fcbertragen zu werden\u00ab. \u00bbUnbewegt sind aber die Orte nur soweit, als sie s\u00e4mmtlich von Ewigkeit zu Ewigkeit ihre gegebenen gegenseitigen Stellungen beib\u00e9halten ; sie bleiben durchaus immer unbewegt, und bilden zusammen den Raum, welchen ich unbeweglich nenne\u00ab.\nNun geht Newton zu denjenigen Unterschieden \u00fcber, welche durch die Ursachen bedingt sind:","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n399\n\u00bbDie Ursachen, wodurch sich die wahren und die blo\u00df relativen Bewegungen von einander unterscheiden, sind die Kr\u00e4fte, welche auf die K\u00f6rper ausge\u00fcbt werden und ihre Bewegung erzeugen. Eine wahre Bewegung wird nur erzeugt oder ver\u00e4ndert durch solche Kr\u00e4fte, welche auf den bewegten K\u00f6rper selbst ausge\u00fcbt werden: die blo\u00df relative Bewegung kann hingegen erzeugt oder ver\u00e4ndert werden, ohne dass auf den K\u00f6rper selbst Kr\u00e4fte ausge\u00fcbt werden. Dazu reicht es n\u00e4mlich hin, dass nur die anderen zur Bezugnahme dienenden K\u00f6rper beeinflusst werden, derma\u00dfen, dass sie vom Flecke weichen und jene Relation ver\u00e4ndert wird, worin die relative Ruhe oder Bewegung dieses K\u00f6rpers selbst besteht. Hinwiederum wird die wahre Bewegung von irgend welchen auf den bewegten K\u00f6rper ausge\u00fcbten Kr\u00e4ften immer ver\u00e4ndert; dagegen braucht die blo\u00df relative Bewegung von diesen Kr\u00e4ften nicht ver\u00e4ndert zu werden. Wenn n\u00e4mlich dieselben Kr\u00e4fte auch auf die anderen zur Bezugnahme dienenden K\u00f6rper derma\u00dfen ausge\u00fcbt werden, dass die relative Lage erhalten bleibt, so wird auch die Relation erhalten bleiben, worin die relative Bewegung besteht. Es kann also eine jegliche relative Bewegung ver\u00e4ndert werden, wo die wirkliche erhalten bleibt, und erhalten bleiben, wo die wirkliche ver\u00e4ndert wird ; und eben darum besteht die wirkliche Bewegung keinewegs in derartigen Relationen\u00ab.\nDiese Stelle enth\u00e4lt offenbar implicite bereits den ganzen dogmatischen Gehalt des N e w t o n\u2019sehen Tr\u00e4gheitsgesetzes , welches erst mehrere Seiten sp\u00e4ter wirklich ausgesprochen wird. Wer nicht mit Newton dies Gesetz auf den transcendent-realen absoluten Raum und die transcendent-reale absolute Zeit bezieht, der muss den vorgebrachten Argumenten alle Beweiskraft absprechen. Man kann \u00fcbrigens von vornherein, ohne sich noch diese Consequenz klar gemacht zu haben, gegen Newtons Ueberlegung einen sehr gewich-hgen Einwand erheben. Newton betrachtet, wie er des \u00f6fteren deutlich zu erkennen gibt, die Kr\u00e4fte nicht als \u00bbqualitates occultae \u00ab der K\u00f6rper; alle Aussagen, welche er \u00fcber irgend welche in der Natur wirksamen Kr\u00e4fte macht, sind deshalb im Grunde Nichts als vereinfachte Aussagen \u00fcber wahrgenommene Bewegungen; diese letzteren aher sind relativ. Wie kann man nun glauben, der Kraftbegriff lasse sich wiederum r\u00fcckw\u00e4rts anwenden, um Aufkl\u00e4rung \u00fcber die absolu-ten Bewegungen zu erhalten? Man muss, um dazu im Stande zu sein,","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nLudwig Lange.\nbereits das Dogma des N e w t o n\u2019sehen Tr\u00e4gheitsgesetzes anerkannt haben !\nDie scharfsinnigsten und originellsten Er\u00f6rterungen Newtons \u00fcber die Bewegung finden sich nun aber in seiner Betrachtung der_ jenigen Merkmale der absoluten Bewegung, welche in ihren empirischen Wirkungen gelegen sind (pag. 9):\n\u00bbDie Wirkungen, wodurch sich absolute und blo\u00df relative Bewegungen von einander unterscheiden, bestehen in den Fliehkr\u00e4ften von der Achse einer Kreisbewegung. Denn bei der blo\u00df relativen Kreisbewegung sind solche Kr\u00e4fte nicht vorhanden, bei der wahren und absoluten aber je nach der Bewegungsgr\u00f6\u00dfe gr\u00f6\u00dfer oder kleiner. Es h\u00e4nge z. B. ein Eimer an einem langen Faden und werde fortw\u00e4hrend im Kreise gedreht, so lange, bis der Faden von der Zusammendrehung recht steif wird; nun f\u00fclle man ihn mit Wasser, und lasse ihn zusammen damit vorerst ruhen ; alsdann empfange er durch irgend eine pl\u00f6tzliche Kraft eine entgegengesetzte Kreisbewegung und werde durch die Wiederaufdrehung des Fadens auf l\u00e4ngere Zeit in dieser Bewegung erhalten. Im Anf\u00e4nge wird die Wasserfl\u00e4che eben sein, wie vor der Bewegung des Eimers : nachdem aber der Eimer allm\u00e4hlich seine Kraft auf das Wasser \u00fcbertragen und so bewirkt hat, dass auch dieses merklich sich umzudrehen beginnt, so wird dasselbe nach und nach von der Mitte weichen und an den W\u00e4nden des Gef\u00e4\u00dfes emporsteigend eine concave Gestalt annehmen (ein Versuch, welchen ich selber angestellt habe) ; und je rascher die Bewegung wird, desto h\u00f6her wird es emporsteigen, bis es sich gleich schnell mit dem Gef\u00e4\u00dfe umdreht und folglich relativ zu demselben ruht. Dieses Steigen zeigt ein Bestreben an von der Bewegungsachse zu fliehen, und durch ein derartiges Streben wird die wahre und absolute Kreisbewegung des Wassers erkannt und gemessen, welche hier seiner relativen Bewegung v\u00f6llig entgegengesetzt ist.*) Anfangs , wo die relative Bewegung des Wassers zum Gef\u00e4\u00dfe am gr\u00f6\u00dften war, rief sie gar keinen Centrifugaltrieb hervor: das Wasser strebte nicht nach dem Umfange hin und stieg nicht an den Gef\u00e4\u00dfw\u00e4nden empor, sondern es blieb\n1 ) Newton meint hier zun\u00e4chst die relative Bewegung im Sinne D e s c a r t e s > und wenn er dabei bliebe, h\u00e4tte er unbedingt Recht mit seiner Polemik. Er aber seine Vorw\u00fcrfe unrechtm\u00e4\u00dfiger Weise auf eine gel\u00e4uterte Auffassung der wegung aus.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n401\neben, und folglich hatte seine wirkliche Kreisbewegung noch nicht begonnen. Nachher aber, als doch gerade die relative Bewegung des Wassers abnahm, zeigte sein Emporsteigen an den Gef\u00e4\u00dfw\u00e4nden einen Centrifugaltrieb an; und dieser Trieb wies hin auf seine wirkliche und immerfort wachsende Kreisbewegung, welche endlich gerade da am gr\u00f6\u00dften geworden war, als das Wasser relativ zum Gef\u00e4\u00dfe sich in Ruhe befand. Jener Trieb h\u00e4ngt also nicht ab von der Uebertragung des Wassers in Bezug auf die umgebenden K\u00f6rper, *) und mithin l\u00e4sst sich die wirkliche Kreisbewegung nicht durch derartige Uebertragun-gen definiren. Ein jeder sich umdrehende K\u00f6rper hat nur eine einzige wirkliche Kreisbewegung, welche nur einem einzigen gewisserma\u00dfen eigenen und gleichwerthigen (adaequato) Effecte entspricht: relativer Bewegungen hingegen gibt es zahllose je nach den verschiedenen \u00e4u\u00dferen Relationen ; und ganz nach Art der Relationen haben sie \u00fcberhaupt keine wirklichen Effecte, sofern sie nicht an jener wahren und einzigen Bewegung einen Antheil haben\u00ab.\nDie hierin liegenden Einw\u00e4nde sind durchaus gerechtfertigt gegen\u00fcber der einseitigen Lehre Descartes\u2019, welcher das Gesetz der Tr\u00e4gheit zweifellos auf den \u00bbmotus ex rei veritate consideratus\u00ab bezogen wissen wollte. Sie sind aber auch gerichtet gegen die minder einseitige Lehre, wonach der Bewegungsbegriff eine Relation auf beliebige Entfernung einschlie\u00dft oder wenigstens nicht die Annahme eines transcendent-realen absoluten Raumes voraussetzt ; und insofern erfordern sie eine besondere Erw\u00e4gung. Man muss gestehen, dass auch in dieser Richtung auf den ersten Blick Newtons Ueber-legungen viel Ueberzeugendes zu enthalten scheinen. Aber fassen wir sie noch einmal ins Auge. Sch\u00e4len wir die dogmatische Schale ab, so bleibt als logischer Kern im wesentlichen die folgende Schlusskette \u00fcbrig :\n1)\tDie Vertiefung des Wasserspiegels ist bedingt durch die Kreisbewegung des Wassers.\n2)\tNun ist sie aber gerade dann am kleinsten, wenn die relative Kreisbewegung des Wassers zum Eimer am gr\u00f6\u00dften ist, und sie erreicht gerade dann ihr Maximum, wenn die Relativbe-wegung ihr Minimum erreicht.\n1 ) Vgl. die Bemerkung auf voriger Seite.\nWandt, Philos. Stadien. III.\n27","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nLudwig Lange.\n3)\tFolglich ist die Relativbewegung des Wassers zum Eimer nicht seine wirkliche Bewegung, sondern nur ein Schein.\n4)\tWenngleich es nun in dem angenommenen Falle zu keinerlei Widerspr\u00fcchen f\u00fchren w\u00fcrde, die Lage des Wassers auf die Erde zu beziehen, so sind doch immerhin F\u00e4lle m\u00f6glich. Wo sich bei jeder \u00e4u\u00dferen Relation solche Widerspr\u00fcche einstellen w\u00fcrden.\n5)\tWir sind also gen\u00f6thigt, die relative Lagen\u00e4nderung nicht als das Wesentliche, sondern nur als \u00e4u\u00dferen Erfolg der Bewegung anzusehen, welche sich ihrem Wesen nach auf den transcendent-realen absoluten Baum bezieht.\nWenn wir aber weder f\u00fcr Newton\u2019s Ansicht vom absoluten Baume und der absoluten Bewegung voreingenommen sind, noch auch uns von dem verh\u00e4ngnisvollen geocentrischen trivialen Bewegungsbegriffe betr\u00fcgen lassen \u2014 der ja in wissenschaftlichen Angelegenheiten \u00fcberall als nicht ma\u00dfgeblich zu betrachten ist \u2014 so werden wir bereits vor dem ersten Schritte dies es Gedankenganges stutzig werden. Wir werden sofort die Gegenfrage stellen: Durch die Kreisbewegung des Wassers? Durch welche denn? Denn wir schreiben dem Wasser nicht schlechthin eine bestimmte Bewegung zu, wie derjenige, welcher von vornherein bereits den Begriff der absoluten Bewegung oder gar unbewusster Weise den trivialen Bewegungsbegriff im Sinne hat, beides gleich unerlaubt in der Wissenschaft. Eine bestimmte Bewegung hat eben nach unserer Ueberzeugung das Wasser nur in Bezug auf ein bestimmtes wahrnehmbares oder gedachtes Bezugssystem, und jede andere Annahme w\u00e4re als Grundlage der in Newtons Gedankengang verwobenen Beweisf\u00fchrung eine offenkundige petitio princi-pii. Demnach werden wir auch nicht gen\u00f6thigt sein, den zweiten Schritt zu thun und schlie\u00dflich zuzugeben, dass die Relativbewegung des Wassers zum Eimer eine nur scheinbare sei; wir werden sie als Bewegung f\u00fcr genau ebenso wirklich halten d\u00fcrfen, wie eine jede andere. Das einzige Zugest\u00e4ndniss , welches wir machen m\u00fcssen, ist dieses, dass nicht die Bewegung des Wassers zum Eimer, sondern diejenige zum geocentrischen Coordinatensysteme (mit hinreichender Genauigkeit) eine \u00bbInertialdrehung\u00ab ist. Die anschauliche Vorstellung des conventionellen Inertialsystemes gen\u00fcgt immer zur Erkl\u00e4rung","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des \u00dfewegungsbegriffes.\n403\nder Ph\u00e4nomene, wenngleich die Relation auf irgendwelche gegebene Materie diesem Zwecke nicht dienlich sein sollte. Niemals haben wir n\u00f6thig, auf einen obj ec tiven realenaber transcendenten absoluten Raum zur\u00fcckzugeben; ein Verfahren, welches \u00fcbrigens zur Befriedigung unseres Erkenntnissbed\u00fcrfnisses auch h\u00f6chst wenig beitragen w\u00fcrde. Das Resultat unserer Pr\u00fcfung ist also dieses : f\u00fcr denjenigen, welcher nicht bereits ein Vorurtheil f\u00fcr Newtons Ansicht hat, ist die ganze obige Schlusskette nicht bindend; der Newtonian er aber braucht sie gar nicht. Dass es ihr gleichwohl auf den ersten Blick nicht an B\u00fcndigkeit zu fehlen scheint, daran ist der triviale Bewegungsbegriff Schuld, welcher unerkannt, aber von der Lebenspraxis best\u00e4ndig gepflegt, neben dem wissenschaftlichen einhergeht und uns zu dem Vorurtheile verleitet, als habe jedes Ding nur eine Bewegung.\nSo also und nicht anders verh\u00e4lt es sich mit dem logischen Kerne der Newton\u2019schen Ueberlegung. Von der dogmatischen Schale ist nur das Eine zu sagen, dass sie das Dogma des auf den absoluten transcendenten Raum bezogenen Tr\u00e4gheitsgesetzes wiederholt. Wenn das Gesetz mit Bezug auf den \u00bbabsoluten Raum\u00ab gilt, so sind die \u00bbFliehkr\u00e4fte von der Achse der Kreisbewegung\u00ab eine noth-wendige Folge und ein wesentliches Merkmal der absoluten Kreisbewegung. H\u00e4tte Newton den Ausspruch des Tr\u00e4gheitsgesetzes seiner obigen Betrachtung vorangestellt, \u2018) und zwar mit deutlicher Hervorhebung der Bezugnahme auf den \u00bbabsoluten Raum\u00ab, so w\u00e4re jene Betrachtung dadurch schlechterdings \u00fcberfl\u00fcssig geworden.\nHier haben wir denn auch die L\u00f6sung des Paradoxons, wovon oben die Rede war. Wenn nicht Newton dogmatisch seinem absoluten Raume die Eigenschaft eines Inertialsystem.es beigelegt h\u00e4tte, so w\u00fcrde \u00fcber die Bewegung zu ihm von Newtons eigenem Standpunkte aus empirisch Nichts festzustellen sein. Man kann sich nicht wundern, an einem \u00bbtranscendenten\u00ab Objecte etwas Empirisches wieder zu finden, wenn man selber es vorher, wiewohl in etwas anderer Gestalt, k\u00fcnstlich hineinverlegt hat. Nur daraus, dass Newton seinen\n1) Andeutungen des Principes finden sich in den vorangegangenen Definitionen III und IV des Werkes. Dass dies nicht zum Vortheile der Systematik ist, tiaben bereits Andere, zum Theil schon seit langem, hervorgehohen.\n27*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nLudwig Lange.\ntranscendenten absoluten Raum mit jener der Empirie zug\u00e4nglichen Eigenschaft ausstattete, ist es \u00fcberhaupt erkl\u00e4rlich, dass der Begriff der absoluten Bewegung auf so lange Zeit in die Wissenschaft \u00fcbergehen konnte. Andernfalls w\u00fcrde er, wie ein Hirngespinnst ohne jegliche Anwendbarkeit auf gegebene F\u00e4lle, alsbald wieder daraus verschwunden sein. So aber bleibt an dem Begriffe der absoluten Bewegung doch immerhin ein werthvoller Kern, bestehend in demjenigen, was er mit dem Begriffe der Inertialdrehung gemein hat.\nLassen wir die g\u00e4nzlich unbegr\u00fcndete Hypothese von der absoluten Ruhe des Weltcentrums fallen, so ist nach Newtons Regeln gar nicht zu entscheiden, ob ein K\u00f6rper sich im absoluten Raume geradlinig-gleichf\u00f6rmig bewegt oder ruht. Wenn es bei N e w t o n hei\u00dft (s. o. S. 398): \u00bbWirklich ruhende K\u00f6rper ruhen auch untereinander\u00ab, so k\u00f6nnen doch zwei \u00bbinertiell-ruhige \u00ab K\u00f6rper sehr wohl geradliniggleichf\u00f6rmig gegeneinander bewegt sein (Philos. Stud. Bdll. S. 280), und Newton hat kein dynamisches Mittel, um etwa nachzuweisen, dass der eine davon ruht, w\u00e4hrend der andere bewegt ist, und nicht umgekehrt. Er k\u00f6nnte gegen das verbesserte (d. h. von der Forderung der Contiguit\u00e4t befreite) Carte sianisch e Reciprocit\u00e4tsgesetz f\u00fcr diesen Fall keinen einzigen dynamischen Einwand erheben. Newtons Nachfolger haben darum zum Theil auch die Reciprocit\u00e4t der geradlinigen gleichf\u00f6rmigen Bewegung zugestanden.\nNewton f\u00fcgt seinem Beispiele vom Wassereimer noch ein zweites \u00e4hnliches bei, welches in gleicher Weise dazu dienen soll, seine Lehre zu erh\u00e4rten. Mit einigen Worten mag auch noch hierauf eingegangen werden. Er hat soeben selber auf das Missliche hingewiesen, welches darin liegt, \u00fcber die Bewegung zum absoluten Raume etwas aussagen zu wollen, und f\u00e4hrt nun fort : \u00bbGleichwohl ist die Sache nicht g\u00e4nzlich hoffnungslos\u00ab. Nach einer allgemeinen (nichts Neues bietenden) Er\u00f6rterung \u00fcber das \u00bbwie so\u00ab denkt er sich sodann beispielshalber zwei Kugeln durch einen Faden verbunden und in den leeren Raum versetzt, so dass eine Relation auf wahrnehmbare Dinge nicht m\u00f6glich ist. Nun f\u00fchrt er aus, wie man aus der Fadenspannung auf eine Bewegung der Kugeln um ihren gemeinsamen Schwerpunkt zu schlie\u00dfen habe und wie man experimentell (mittels eines Dynamometers) sogar die Gr\u00f6\u00dfe und Richtung dieser Bewegung festzustellen im Stande sei.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n405\nUnd dies, ohne im geringsten auf wahrnehmbare K\u00f6rper R\u00fccksicht zu nehmen. Die fragliche Bewegung m\u00fcsse folglich auf seinen absoluten Raum bezogen werden. Aber so steht die Sache denn doch nicht ! Zur Befriedigung unseres Erkenntnissbed\u00fcrfnisses gen\u00fcgt es durchaus, als ideale Convention das Inertialsystem einzuf\u00fchren und hierauf die Bewegungen der Kugeln zu beziehen. Nicht im mindesten gef\u00f6rdert werden wir durch die Annahme eines real-existirenden immateriellen Coordinatensystemes.\nAehnlich steht es mit einer Betrachtung, welche zwar nicht von Newton selber angestellt worden ist, f\u00fcr die \u00bbabsolute Zeit\u00ab aber ganz dasselbe leisten w\u00fcrde wie die letzte Betrachtung Newtons f\u00fcr den \u00bbabsoluten Raum\u00ab. Wir nehmen f\u00fcr den Augenblick an, das geocentri-sche System sei ein genaues Inertialsystem, und Schwerkraft und Luftwiderstand seien aufgehoben. Nun denken wir uns etwa die beiden verbundenen Kugeln Newtons \u00fcber der Erde ohne Rotation schwebend. Wir ergreifen die eine von ihnen und ziehen sie mit beschleunigter Bewegung best\u00e4ndig in Richtung des Fadens so, dass die andere ihr folgen muss. Die Folge davon wird eine Spannung des Fadens sein. Alles zeitliche Werden, Vergehen und Geschehen in der Welt stehe w\u00e4hrend dessen still, d. h. die Zeit sei vollkommen leer. So k\u00f6nnen wir dennoch aus der Fadenspannung auf eine beschleunigte Bewegung der Kugeln schlie\u00dfen, ja die Beschleunigung sogar f\u00fcr jeden Augenblick an einem angebrachten Dynamometer ablesen. Da hierbei jede Relation auf \u00e4u\u00dferes Geschehen ausgeschlossen ist, so m\u00fcssen wir \u2014 k\u00f6nnte Newton gefolgert haben \u2014 eine schlechthin gleichf\u00f6rmig dahinflie\u00dfende reale \u00bbabsolute Zeit\u00ab zur Relation heranziehen. Aber hier werden wir wieder ein wenden : die Annahme einer real existirenden transcendenten Zeit kann uns Nichts helfen, dagegen gen\u00fcgt es vollkommen, die ideale Convention der Inertialzeitscala einzuf\u00fchren und hierauf die Bewegung der Kugeln zu beziehen.\nWenn Newton im Anf\u00e4nge aller seiner Auseinandersetzungen (8- o. S. 385) \u00fcber Raum, Zeit und Bewegung sagt, aus der empirischen Auffassung dieser Gr\u00f6\u00dfen entst\u00e4nden gewisse Vorurtheile, so roeint er damit blo\u00df das Vorurtheil, als seien geometrisch identische Bewegungen auch dynamisch \u00e4quivalent. Durch die Unterscheidung zwischen blo\u00dfer Bewegung und Inertialdrehung wird dem","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nLudwig Lange.\nUnterschiede von Phoronomie und Dynamik gen\u00fcgend Rechnung ge tragen und jedes Vorurtheil unm\u00f6glich gemacht.\nGegen\u00fcber derCartesianischen Formulirung des Bewegungsbegriffes liegt ein gro\u00dfes, gar nicht genug zu sch\u00e4tzendes Verdienst der Newton\u2019schen darin, dass sie die in der Dynamik so folgenreiche Einheit des Bezugssysternes zum Principe erhoben hat, worin Galilei als Newtons Vorg\u00e4nger zu betrachten ist. Inseinen Anwendungen tr\u00e4gt Newtons Begriff der wirklichen Bewegung als ihm wesentlich ein specifisch dynamisches Gepr\u00e4ge. In wie weit dasselbe zu Rechte besteht, d. h. in wie weit \u2014 um es kurz zu sagen \u2014 man Recht hat, nur dynamisch charakterisirte Bewegungen f\u00fcr wir kli ch, andere f\u00fcr scheinbar zu halten, dies soll hier nochnicht endg\u00fcltig entschieden werden, da noch die ganze Zeit der Nachfolger Newtons vor uns liegt. Jedenfalls bleibt es dabei, dass Newtons eigene Begr\u00fcndungsversuche f\u00fcr jene Einheit des Bezugssystems als eine objectivnothwendige, nicht blo\u00df conventionelle, nicht Stich halten. Den transcendenten absoluten Raum und die transcendente absolute Zeit haben wir auf Grund der N ewton\u2019schen Er\u00f6rterungen nicht einmal als nothwendige Uebel sch\u00e4tzen gelernt. Beides sind \u00fcberfl\u00fcssige Producte des esprit m\u00e9taphysique, was man bekanntlich nicht von allen metaphysischen Grundvoraussetzungen der Naturwissenschaft sagen darf. In dem (1713 verfassten) Schlussscholium der \u00bbMathematischen Principien der Naturphilosophie\u00ab hei\u00dft es (pag. 484): \u00bbHypothesen ersinne ich nicht. Denn Alles, was nicht aus den Erscheinungen geschlossen wird, ist als Hypothese zu bezeichnen; und Hypothesen, seien es nun metaphysische, physische, solche verborgener Qualit\u00e4ten oder mechanische, sind in der Erfahrungswissenschaft (philosophia experimentalis) nicht am Orte. In dieser Wissenschaft werden die Lehrs\u00e4tze aus Ph\u00e4nomenen abgeleitet und auf i n -ductivem Wege verallgemeinert. So sind zu unserer Erkenntniss gelangt die Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit, Beharrlichkeit der K\u00f6rper und die Gesetze der Bewegungen, wie der Gravitation\u00ab. Ist aber Newtons Gesetz der Beharrung im absoluten Raume nach der absoluten Zeit ein Ergebniss der Induction? Ja und nein! New-\" ton hat mit Galilei den Ansto\u00df von der Erfahrung entnommen, um das Gesetz provisorisch aufzustellen; aber er hat bei der endg\u00fcltigen Formulirung desselben die Erfahrung nicht mehr um Rath ge-","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n407\nfragt. Unterst\u00fctzt wurde er dabei von seiner gro\u00dfen religi\u00f6sen Naturanschauung, und dies war eine Sache des Gef\u00fchls. Aber dem Verst\u00e4nde Newtons d\u00fcrfte Nichts angemessener sein als die systematische Trennung von Glauben und Wissen. Formuliren wir also das Tr\u00e4gheitsgesetz unabh\u00e4ngig von dem Glauben an eine zweckth\u00e4-tige Natur oder einen zweckth\u00e4tigen Gott! Dem Glauben des Einzelnen bleibt es dann unbenommen, seine Convention, seine subjective Teleologie als Ausfluss einer a 11 geistigen g\u00f6ttlichen Teleologie aufzufassen.\nWenn wir bedenken, dass unsere modernen Begriffe der Kraft und der Masse ganz \u00e4hnliche, nur noch etwas complicirtere Gedankenbildungen sind, wie die Begriffe des Inertialsystemes und des Inertial-zeitma\u00dfes,1) so muss es uns schwer begreiflich erscheinen, wie Newton \u00fcber die letzten beiden Begriffe ein so undurchdringliches Dunkel hat ausbreiten k\u00f6nnen, w\u00e4hrend er die ersten beiden als unmittelbar verst\u00e4ndliche Dinge angesehen wissen wollte.2) Aber wir m\u00fcssen, wenn wir ihn w\u00fcrdigen wollen, mit seinen eigenen Grundanschauungen rechnen. \u00bbInertialsystem\u00ab und \u00bbInertialzeitma\u00df\u00ab als reale Dinge anzusehen, ist ein immerhin naheliegender Act der Projection innerer Gedankenbilder nach au\u00dfen. Von \u00bbKr\u00e4ften\u00ab und \u00bbMassen\u00ab (Tr\u00e4gheitswiderst\u00e4nden) tragen wir zwar ganz \u00e4hnliche Gedankenbilder in uns, nur spielen dieselben eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig minder wichtige Rolle und fordern darum nicht ganz so dringend unser Projectionsverm\u00f6gen heraus; das Verfahren w\u00e4re sonst hier und dort genau dasselbe. Dazu kommt aber bei Newton noch eins. Raum und Zeit als Gedankenbilder oder, mit einem anderen Worte, als Sch\u00f6pfungen des Ewigen und Allgegenw\u00e4rtigen anzusehen, entspringt einer religi\u00f6sen Auffassung der Natur aufs unmittelbarste, und mit dieser Conception hat man f\u00fcr die Fixirung im \u00e4u\u00dferen transcendenten Raume und in der \u00e4u\u00dferen transcendenten Zeit wenigstens einen gewissen idealen Anhalt gewonnen. Bei der Kraft liegt ein \u00e4hnliches Verfahren minder\n1)\tVgl. hierzu meine Parallele, Philosophische Studien Bd. II. S. 276f.\n2)\tDass freilich auch hierin Newton selber noch nicht das erreichbare Ma\u00df von Klarheit erreicht hat, ist seit langem anerkannt. Ich bin \u00fcberzeugt, dass sich Eier unter Anwendung des Principes der \u00bbparticularen Determination\u00ab mancher dunkle Punkt aufkl\u00e4ren l\u00e4sst. Zur Kritik des Newton\u2019schen Massenbegriffes vgl- E. Mach, Die Mechanik S. 202f. Vgl. auch Philos. Studien Bd. II. S. 277.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nLudwig Lange.\nnahe ; bei der Masse w\u00e4re es absurd, da doch die Welt das Bewegte ist. So wenig auch diese Betrachtungen unmittelbar mit meinem Thema zu thun haben, so d\u00fcrften sie doch zu einem conformen piet\u00e4tvollen Verst\u00e4ndnisse der Newton\u2019schen Aufstellungen immerhin Einiges beitragen. Dass aber Newtons Grundlegung der Dynamik den Anforderungen der neueren Wissenschaft nicht in allen Punkten gen\u00fcgt, dies ist schon von Lagrange hervorgehoben worden und wird gegenw\u00e4rtig immer allgemeinere Ueberzeugung. \u2019) Ich habe versucht, in diesem, wie in den citirten fr\u00fcheren Aufs\u00e4tzen, zu einer zeitgem\u00e4\u00dfen Neuerung das Meinige beizutragen. Im Folgenden werden wir sehen, dass bereits bedeutende Zeitgenossen Newtons berechtigte Einw\u00e4nde gegen seine Lehre erhoben haben.\n\u00a7 6. Newtons Gegner bei seinen Lebzeiten: Leibniz, Huygens, Berkeley.\nUnter den Gegnern Newtons steht allen Anderen voran Leibniz. Von fr\u00fcher Jugend an bis in sein letztes Lebensjahr hat er sich mit dem Bewegungsbegrilfe und der Frage nach seiner widerspruchsfreien Definition eingehend besch\u00e4ftigt. Seine beiden Schriften \u00bbTheoria motus concreti\u00ab und \u00bbTheoria motus abstractive1 2) kommen freilich hier wenig in Betracht, sie beweisen-nur, dass Leibniz seine anderw\u00e4rts ge\u00e4u\u00dferten Ansichten \u00fcber den Unterschied zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung erst nach 1671 gewonnen haben kann.3) Wahrscheinlich ist er zu weitergehenden Betrachtungen hier\u00fcber erst durch seinen Pariser Verkehr, besonders mit Huygens (1672\u20141676), angeregt worden.\nHuygens, der in seinem gerade erschienenen \u00bbHorologium oscil-latorium\u00ab (1673) die Gesetze der Centrifugalkraft zuerst systematisch ent-\n1)\tMan vgl. die ausf\u00fchrliche Kritik von E. Mach, Die Mechanik S. 202 bis 228 (welche auch mit demVorigen viele Ber\u00fchrungspunkte bietet), undW. W undt, Logik Bd. II. S. 252\u2014255.\n2)\tOpera omnia coli. Dutens (Genev. 1768) Tomus IL Pars II. pag. 1\u201448.\n3)\tUnter \u00bbmotus abstraetus\u00ab versteht Leibniz die Bewegung als rein geometrisches Gedankending betrachtet, unter \u00bbmotus concretus\u00ab die Bewegung in 4er wirklichen Erscheinungswelt. Mit unserer Eintheilung der Bewegungslehre in Pho-ronomie und Dynamik f\u00e4llt also jene Unterscheidung nicht ganz zusammen.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n409\nwiokelt hatte, mag die Tragweite seiner Untersuchungen anf\u00e4nglich \u00fcbersch\u00e4tzt haben. Er fasste ganz die gleiche Meinung wie Newton, dass sich aus den Centrifugalkr\u00e4ften der K\u00f6rper ihre wirklichen und absoluten Bewegungen erkennen lie\u00dfen, und theilte dies eines Tages Leibniz mit, welcher, wie es scheint, zun\u00e4chst davon \u00fcberzeugt wurde. Dass hier ein Einfluss Newtons vorliegt, ist nicht wahrscheinlich. Die Idee, welche hier in Frage steht, liegt so nahe, dass sie sehr leicht in mehreren K\u00f6pfen unabh\u00e4ngig entstehen kann. ') Um so bemerkenswerther ist es nun, dass Leibniz und Huygens sp\u00e4terhin ganz unabh\u00e4ngig von einander das Bedenkliche der New-ton\u2019schen Lehre erkannt und dieselbe verlassen haben. Vollkommen einig sind sie dann freilich nicht geworden. Huygens ist, soweit sich aus seinen Briefen mit Leibniz entnehmen l\u00e4sst, wenige Jahre vor seinem Tode zu der Ansicht gelangt, dass die Bewegung durchaus ihrem innersten Wesen nach etwas Eeciprokes sei, wobei er aber von der Cartesianischen Forderung der Contiguit\u00e4t absieht. Leibniz hingegen neigt sich \u00fcberhaupt keiner Ansicht mit absoluter Con-sequenz zu. Die geometrische Richtigkeit des Keciprocit\u00e4tsaxiomes erkennt er vollkommen an. Aber au\u00dfer dem rein Geometrischen will er ein h\u00f6heres Princip beachtet wissen, die Kraft; und ihretwegen sei man unter Umst\u00e4nden doch gezwungen, dem einen von zwei in Distanz\u00e4nderung begriffenen K\u00f6rpern die Bewegung zuzuschreiben und nicht dem anderen, wenn gleich geometrisch beide Annahmen auf eins hinausliefen. Leibniz wird hier, wie man sieht, durch seine Grundansichten \u00fcber die principielle Bedeutung der Kraft geleitet.\n1) Irrth\u00fcmlich ist die hier und da anzutreffende Angabe, wonach Newton und\nLeibniz in Paris zusammengetroffen sein sollen. Vgl. \u00bbCorrespondence of Sir Isaac Newton\u00ab, by J. E dlesto n, London 1850, wo in dem vorangestellten chronologischen Ueberblick \u00fcber Newtons Leben von einem Aufenthalte Newtons ln Paris zwischen 1672 und 1676 nicht die Rede ist. Leibniz hat auch bei seiner\nsehr kurzen Anwesenheit in London (Fr\u00fchjahr 1673 und Herbst 1676) mit Newton gar nicht pers\u00f6nlich, sondern nur durch Briefe verkehrt, in denen Nichts enthalten\nwas hier irgend in Betracht k\u00e4me. Vgl. \u00dcb er weg-Heinz e, Grundriss der\neschiehte der Philosophie EU1 * * * * 6 S. 137. Es ist \u00fcbrigens an sich recht wahrschein-\nlch, dass Newton selbst seine Ansichten \u00fcber Raum, Zeit und Bewegung noch \u25a0uehtbei der ersten fl\u00fcchtigen Conception seiner Gravitationstheorie 1666, sondern detV*** ^Cr systematischen Wiederaufnahme seiner Untersuchungen 1678 gehil-","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nLudwig Lange.\nEin ander Mal entscheidet er die Frage von dem Standpunkte des unverf\u00e4lschten metaphysisch-teleologischen Simplicit\u00e4tsprincipes aus. Ein drittes Mal scheint er nur das rein methodologische Prin-cip heranzuziehen und sich dann darauf zu berufen, dass es Convention sei, eine m\u00f6glichst einfache und bequeme Hypothese \u00bbwahr\u00ab zu nennen. Sofern man hier das Wort \u00bbHypothese\u00ab streng fasst, scheint Leibniz die Bewegung immerhin f\u00fcr etwas Transcendentes zu halten; und dies selbst da, wo er sich am meisten der Huygens\u2019schen Ansicht n\u00e4hert, wonach nicht von hypothetisch zu erschlie\u00dfenden transcendenten, sondern von unmittelbar gegebenen ph\u00e4nomenalen Bewegungen Zureden w\u00e4re. Auf Leibnizens Stellung zur Teleologie d\u00fcrfte aus den anzuf\u00fchrenden Stellen des Briefwechsels neues Licht fallen.1) Das Bestreben, sich Huygens anzupassen, f\u00fchrt ihn zu einer immer fortschreitenden Subjectivirung des specifisch Teleologischen, ohne dass freilich die Entwickelung zu dem (gegenw\u00e4rtig) erreichbaren Ziele f\u00fchrte. Auch ist sp\u00e4terhin eine deutliche Entwickelung in der umgekehrten Richtung wahrzunehmen, und bei seinem Tode steht Leibniz wieder genau auf demselben Standpunkte wie vor seinem Briefwechsel mit Huygens.\nDass Leibniz bis zuletzt von einer Bezugnahme auf den absoluten Raum Nichts wissen will, erscheint ganz consequent, wenn man bedenkt, dass er seine urspr\u00fcngliche Ansicht von der Substantialit\u00e4t des Raumes ziemlich fr\u00fch verlassen und es vorgezogen hatte, den Raum wie die Zeit als eine Form der Beziehung, der Ordnung anzusehen. 2) Dementsprechend spielen denn auch die Begriffe des Raumes und der Zeit verglichen mit dem Kraftbegriffe in Leibnizens definitiven Ansichten so gut wie gar keine Rolle: die Kraft nimmt in seiner dynamischen Teleologie genau dieselbe Stelle ein, wie Raum und Zeit in der Newton\u2019schen.\nDies Alles wird am besten aus den sogleich zu citirenden Stellen\n1J Vgl. W. Wundt, Logik Bd. I. S. 574ff. Zu dem vorhergehenden Satze ist zu bemerken, dass Huygens in seinen Briefen das von Leibniz gebrauchte Wort \u00bbHypothese\u00ab ganz vermeidet.\n2) Vgl. J. J. Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik etc. Bd. II. S. lf. 150f. u. a. Stellen. Unter den von Baumann angef\u00fchrten Ste en finden sieh \u00fcberhaupt manche, welche mit dem Obigen verglichen werden k\u00f6nnen, aber nicht viel Neues bieten.","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegnngsbegriffes.\n411\ndes Leibniz-Huygens\u2019schen Briefwechsels klar werden, denen ich zur Erg\u00e4nzung noch einige Citate aus Leibnizens sonstigen Schriften beif\u00fcgen werde.\nHuygens schreibt an Leibniz aus dem Haag am 29. Mai 1694 u. a. : *)\n\u00bbIch will Ihnen nur mittheilen, dass mir in Ihren Bemerkungen \u00fcber Descartes aufgefallen ist, dass Sie meinen, es sei eine widersinnige Annahme, als gebe es keine wirkliche, sondern nur relative Bewegung. Ich halte dies doch f\u00fcr ganz gewiss, ohne mich bei den Erw\u00e4gungen und Experimenten des Herrn Newton in seinen \u00bbPrin-cipien der Philosophie\u00ab aufhalten zu wollen. Ich sehe, dass er im Irr-thume ist, und bin neugierig, ob er nicht seine Ansicht zur\u00fcckziehen wird in der neuen Ausgabe dieses Buches, welche David Gregorius besorgen soll.1 2) Descartes hat von dieser Sache nicht genug verstanden.\u00ab\nDie Antwort Leibnizens, Hannover 12./22. Juni 1694, enth\u00e4lt nun die folgende Er\u00f6rterung :\n\u00bbWas den Unterschied zwischen absoluter und relativer Bewegung anlangt, so glaube ich, dass, wenn die Bewegung oder vielmehr die bewegende Kraft der K\u00f6rper etwas Reelles ist, wie man doch wohl annehmen muss, es dann auch n\u00f6thig ist, dass jene ein \u00bb\u00bbSubject\u00ab\u00ab hat. Denn wenn a und b gegen einander anlaufen, so gestehe ich, dass alle Ph\u00e4nomene ganz auf dieselbe Weise zu Stande kommen, welcher K\u00f6rper auch deij enige sein mag, worein man die Bewegung oder die Ruhe verlegen wird; und wenn es 1000 K\u00f6rper w\u00e4ren, so gebe ich immer noch zu, dass uns (und nicht minder den Engeln) die Ph\u00e4nomene keinen untr\u00fcglichen Grund geben w\u00fcrden, um den Gegenstand der Bewegung oder eines bestimmten Theiles (degr\u00e9) derselben festzustellen, nnd dass ein jeder f\u00fcr sich als ruhig angesehen werden k\u00f6nnte; und \u00fcies ist auch, so viel ich glaube, Alles was Sie verlangen. Aber ich \u2022lenke, Sie werden nicht leugnen, dass in Wahrheit ein jeder einen bestimmten Grad der Bewegung oder, wenn Sie wollen, der Kraft hat, ungeachtet der Aequivalenz der Hypothesen. Es ist wahr, ich ziehe\n1)\tLeibnizens mathematische Schriften hrsg. v. Gerhardt.\n2)\tIn Wirklichkeit wurde die zweite Auflage von Roger Cotes 1713/14 be-s\u00b0rgt. Eine Aenderung ist nicht erfolgt.","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nLudwig Lange.\ndaraus diesen Schluss, dass es in der Natur noch ein anderes Bing gibt, als was die Geometrie darin bestimmen k\u00f6nnte. Und unter mehreren Gr\u00fcnden, deren ich mich bediene, um zu beweisen, dass man au\u00dfer der Ausdehnung und ihren Variationen, was rein geometrische Dinge sind, ein h\u00f6heres Princip, n\u00e4mlich die Kraft, anerkennen muss' ist dieser nicht der schw\u00e4chsten einer. Herr Newton erkennt die Aequivalenz der Hypothesen im Falle der geradlinigen Bewegungen an ; >) aber in Hinsicht auf die Kreisbewegungen glaubt er, dass der Trieb der umkreisenden K\u00f6rper, sich vom Centrum oder von der Achse der Kreisbewegung zu entfernen, ihre absolute Bewegung erkennen lasse. Aber ich habe Gr\u00fcnde, welche mich glauben lassen, dass Nichts das allgemeine Gesetz der Aequivalenz durchbricht. \u2014 Indessen ist mir so, als ob Sie selbst, mein Herr, ehemals in Betreff der Kreisbewegung der Meinung des Herrn Newton gewesen w\u00e4ren\u00ab.\nWas Leibniz hier anf\u00fchrt, um die Annahme einer nicht blo\u00df relativen, sondern realen Bewegung zu erh\u00e4rten, stimmt, abgesehen von dem fehlenden Hintergr\u00fcnde des \u00bbabsoluten Baumes\u00ab, einigerma\u00dfen mit Newtons Auseinandersetzung \u00fcber die Ursachen der wirklichen Bewegung (s. oben S. 399 f.) \u00fcberein. Es wird von genau denselben Einw\u00e4nden getroffen : die Kr\u00e4fte sind uns nicht unmittelbar gegeben, sie werden vielmehr erst aus den gegebenen relativen Bewegungen erschlossen, und es ist folglich ein Cirkel, aus den Kr\u00e4ften nun umgekehrt Anhalt gewinnen zu wollen, um die Bewegungen in ihrer von der \u00e4u\u00dferen Belativit\u00e4t unabh\u00e4ngigen inneren Wirklichkeit zu erkennen. Wenn man zwischen der hier von Leibniz ge\u00e4u\u00dferten und der Newton\u2019schen Ansicht w\u00e4hlen sollte, w\u00fcrde man sich wohl unbedenklich f\u00fcr die letztere entscheiden. Da Leibniz den absoluten Baum nicht gelten l\u00e4sst, so sieht er sich zu einer h\u00f6chst bedenklichen Verschmelzung zweier an sich doch heterogener Begriffe veranlasst, n\u00e4mlich der Begriffe der Bewegung und der bewegenden Kraft.\nHuygens bleibt in seiner Antwort vom 24. August 1694 dem Reciprocit\u00e4tsaxiom v\u00f6llig treu :\n1) Hier ist L. im Irrthume. Nicht einmal die geradlinige gleichf\u00f6rmi?e Bewegung ist nach Newtons strenger Lehre reciprok, wiewohl er diese Ansicht nicht durch dynamische Gr\u00fcnde annehmbar zu machen im Stande war.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des \u00dfewegungsbegriffes.\n413\n\u00bbIn Betreff der absoluten und relativen Bewegung habe ich Ihr Ged\u00e4chtniss bewundert, wie Sie sich haben erinnern k\u00f6nnen, dass ich in Bezug auf die Kreisbewegung seiner Zeit der Meinung des Herrn Newton war. Dies ist richtig, und erst vor zwei bis drei Jahren habe ich das gefunden, was der Wahrheit mehr entspricht, und wovon Sie, wie mich d\u00fcnkt, gegenw\u00e4rtig nicht mehr weit entfernt sind; abgesehen davon, dass Sie wollen, dass von mehreren relativ zu einander bewegten K\u00f6rpern ein jeder einen bestimmten Grad der Bewegung oder der wirklichen Kraft besitze, worin ich durchaus nicht Ihrer Meinung bin\u00ab.\nKlingt es nicht fast, als habe Huygens noch einen Gedanken im Hintertreffen ?\nLeibniz erwidert hierauf am 4./14. September 1694:\n\u00bbAls ich Ihnen eines Tages zu Paris sagte, dass man M\u00fche h\u00e4tte, den wirklichen Gegenstand der Bewegung zu erkennen, da antworteten Sie mir, dies sei m\u00f6glich vermittelst der Kreisbewegung; das machte mich stutzig und ich erinnerte mich daran, als ich beinahe dieselbe Sache in dem Buche des Herrn Newton las. Damals aber glaubte ich bereits zu sehen, dass die Kreisbewegung hierin gar kein Vorrecht hat. Und ich sehe, Sie sind derselben Meinung. <) Ich halte also daf\u00fcr, dass alle Hypothesen \u00e4quivalent sind, und wenn ich bestimmten K\u00f6rpern gleichwohl bestimmte Bewegungen zuschreibe, so habe ich daf\u00fcr keinen anderen Grund, und kann auch keinen haben, als die Einfachheit der Hypothese, indem ich glaube, dass man (Alles erwogen) die einfachste f\u00fcr die wahre halten kann. Dem entsprechend glaube ich, da ich daf\u00fcr durchaus kein weiteres Kennzeichen habe; der Unterschied zwischen uns liegt nur in der Redeweise, welche ich bestrebt bin, ohne Verletzung der Wahrheit so viel als m\u00f6glich dem gemeinen Sprachge-hrauche anzupassen. Ich bin selbst nicht sehr weit entfernt von der Ihrigen, und in einem kleinen Briefe, welchen ich Herrn Viviani\n1) Vgl. Sixi\u00e8me lettre \u00e0 M. Thomas Burnet (Opera omnia, Genev. 1768.\nVI. p. 253). \u00bbEr (Huygens) und ich, wir waren genau der Meinung des Herrn \u2022 ewton \u00fcber die absolute Bewegung gewesen, und zwar aus demselben Grunde g* entrifugalkraft, welchen Herr Newton vorbringt; als aber das Buch des\nNewton erschien, hatten wir bereits alle Beide in derselben Weise unsere w1C 1 8e\u00e4ndert, ohne dass der Eine dem Anderen Mittheilung davon gemacht e- Wir erkannten es erst sp\u00e4terhin aus unseren Briefen\u00ab (8./18. Mai 1697).","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nLudwig Lange.\nmittheilte, und der mir geeignet schien, Frau Roma zur Erlaubnis der Meinung des Copernicus zu \u00fcberreden, habe ich mich daran an-bequemt. Indessen, wenn Sie diese Meinungen \u00fcber die Wirklichkeit der Bewegung hegen, so denke ich mir, m\u00fcssen Sie wohl \u00fcber dig Natur des K\u00f6rpers Ansichten haben, welche von den gew\u00f6hnlichen verschieden sind. Ich habe solche von recht eigenth\u00fcmlicher Art, die mir aber bewiesen scheinen\u00ab.\nMit diesem Briefe bricht die merkw\u00fcrdige Corresponded \u00fcber den Gegenstand ab. Huygens starb bereits am 8. Juli 1695; vielleicht trug er sich mit der Absicht, \u00fcber den Unterschied zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung und \u00fcber seine Berechtigung Etwas zu ver\u00f6ffentlichen, und wurde nur durch den Tod daran gehindert.1) In seiner Schrift \u00bbDe motu corporum ex percussione\u00ab macht er von der Relativit\u00e4t der geradlinigen Bewegung Gebrauch zur Ableitung der Sto\u00dfgesetze, ohne jedoch auf die krummlinige Bewegung dabei einzugehen. In dem posthumen \u00bbCosmotheoros\u00ab beruft er sich zur Bekr\u00e4ftigung der Copernicanischen Ansicht auf das Simplicit\u00e4tsprincip, wobei er zwar die conventionelle Seite desselben bevorzugt, aber durchaus nicht auf die \u00bbsimplicitas n\u00e4turae\u00ab Verzicht leistet.2)\nWenn sich Leibniz in seinen Briefen mit einer gewissen Nachgiebigkeit dem Huygens\u2019schen Standpunkte gen\u00e4hert hat, so ist er darin fast noch weiter gegangen in einer sp\u00e4teren dynamischen Abhandlung, dem zweiten Theile des \u00bbSpecimen dynamicum\u00ab, dessen erster Theil 1695 in den \u00bbActis eruditorum\u00ab erschien. Hier hei\u00dft es, nach einer ausf\u00fchrlichen Betrachtung \u00fcber die ph\u00e4nomenale Aequi-valenz der verschiedenen Hypothesen, welche jedesmal in Frage kommen: \u00bbIndessen dr\u00fccken wir uns, je nach Erfordemiss des einzelnen Falles, im Sinne einer passenderen und einfacheren Erkl\u00e4rung der Ph\u00e4nomene aus, ganz so, wie wenn wir in der sph\u00e4rischen Astronomie die Bewegung des \u00bbprimum mobile\u00ab anwenden und in der Planetentheorie von der Copernicanischen Hypothese Gebrauch machen m\u00fcssen ; so dass doch nachgerade jene mit so viel Eifer ge-\nll Es w\u00e4re wohl der M\u00fche werth, in den zu Leyden sorgf\u00e4ltig aufbewahrten noch ungedruckten Manuseripten Huygens\u2019 nachzusuchen, ob sich nicht he ^ kungen \u00fcber diese Angelegenheiten darin finden. Vgl. M\u00e4dler, Geschichte Himmelskunde, Bd. I. S. 314.\n2) Opera varia, Lugd. Batav. 1724. p. 650 f.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n415\nf\u00fchrten Streitereien (worein sogar Theologen verwickelt gewesen sind) ein Ende nehmen k\u00f6nnten. Denn wiewohl die Kraft etwas Reales und Absolutes ist, so geh\u00f6rt doch die Bewegung in die Classe der respectiven Ph\u00e4nomene, und die Wahrheit liegt nicht sowohl aufSeiten der Ph\u00e4nomene, als auf Seiten der Ursachen\u00ab.1)\nHier hat also Leibniz die Sonderung der vorher unpassender Weise verschmolzenen Elemente selber vorgenommen. Auf eine Entscheidung \u00fcber die Realit\u00e4t der Bewegung verzichtet erg\u00e4nz, und h\u00e4lt nur die Realit\u00e4t der Kraft aufrecht.2) Anderw\u00e4rts hei\u00dft es : 3)\n\u00bbDeshalb ist die Bewegung ihrer eigenen Natur nach respectiv. Dies gilt aber nur in mathematischer Strenge. Indessen schreiben wilden K\u00f6rpern die Bewegung in Gem\u00e4\u00dfheit derjenigen Hypothesen zu, wodurch die Erscheinungen am angemessensten erkl\u00e4rt werden, und es ist gar kein Unterschied zwischen einer wahren und einer passenden Hypothese. Wenn also ein Schiff mit vollen Segeln auf dem Meere dahinf\u00e4hrt, ist es m\u00f6glich, alle Ph\u00e4nomene genau zu erkl\u00e4ren, dadurch dass man das Schiff als ruhend voraussetzt und allen Weltk\u00f6rpern in Gedanken Bewegungen beilegt, welche dieser Hypothese entsprechen. Aber so wenig dies auch durch irgend einen mathematischen Beweis widerlegt werden kann, so w\u00e4re es doch unpassend\u00ab.\nHier kann man an dem Ausdrucke \u00bbHypothese\u00ab mit Recht Ansto\u00df nehmen. Da es au\u00dfer dem Schiffe und dem \u00fcbrigen Weltall nichts Materielles gibt und Leibniz einen \u00bbabsoluten Raum\u00ab nicht annimmt, so bleibt ihm nur ein subjectiver Raum zur Bezugnahme \u00fcbrig; wenn er anders, wie hier sicher feststeht, unter Bewegung eine Ortsver\u00e4nderung verstanden wissen will. Einen subjectiven Raum kann man aber eben so gut an das Schiff anheften, als an das Universum, und es handelt sich hier nicht um Hypothesen, sondern um Conventionen, die unter allen Umst\u00e4nden richtig sind, wofern sie nicht anderen bereits anerkannten zuwiderlaufen. Wenn von zwei m\u00f6glichen Conven-tlonen die eine minder praktisch ist, als die andere, so liegt hierin noch kein Grund, sie f\u00fcr minder richtig zu halten. Man wird sich bei\nb Leibnizens mathem. Schriften hrsg. v. Gerhardt. Bd. VI. p. 247 sqq.\n2) Vgl. Chr. Wolff, Cosmologia generalis, \u00a7 173. p J.Q ^ Dj'namica de Potentia et Legibus Naturae corporeae. Math. Schriften, Bd. VI.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nLudwig Lange.\ndem Ausdrucke eines Sachverhaltes gewiss stets der denkbar zweck m\u00e4\u00dfigsten Conventionen bedienen, ohne aber darum die anderen m\u00f6glichen Conventionen f\u00fcr unrichtig zu halten. Wesentlich andern steht die Sache bei wirklichen Hypothesen. Huygens scheint das Conventionelle der Bezugnahme viel klarer erkannt zu haben.\nAus der Fortsetzung der soeben angef\u00fchrten Stelle erfahren wir nun auch, warum Leibniz von Newtons Ansicht \u00fcber die Kreisbewegung Nichts wissen will. Er meint, die Kreisbewegung k\u00f6nne als Zusammensetzung geradliniger Bewegungen sich nicht anders verhalten als die geradlinige Bewegung, deren Beciprocit\u00e4t Newton zugestehe. Er missversteht seinen Gegner hier. Newton gesteht keineswegs die Beciprocit\u00e4t der geradlinigen Bewegung zu, und insbesondere h\u00e4tte er nur n\u00f6thig gehabt auseinander zu setzen und experimentell zu erl\u00e4utern, wie es mit der ungleichf\u00f6rmig-geradlinigen Bewegung nicht anders als mit der krummlinigen steht ; dann w\u00e4re jener Einwurf ganz hinf\u00e4llig geworden.\nSehr merkw\u00fcrdig ist es zu sehen, dass Leibniz in seinem Briefwechsel mit Clarke (1716) wieder vollst\u00e4ndig zu dem Standpunkte zur\u00fcckkehrt, von welchem er seiner Zeit ausgegangen und zu Gunsten von Huygens ziemlich betr\u00e4chtlich abgewichen war. Er macht dem Vertreter Newtons die Concession:1) \u00bbIch gebe zu, dass zwischen einer absoluten wirklichen Bewegung eines K\u00f6rpers und einer einfachen relativen Ver\u00e4nderung seiner Lage in Bezug auf einen anderen K\u00f6rper ein Unterschied besteht. Denn wenn die unmittelbare Ver\u00e4nderungsursache in dem K\u00f6rper liegt, ist er wirklich in Bewegung ; und alsdann wird sich die Lage der anderen in Bezug auf ihn infolge dessen \u00e4ndern, wiewohl die Ursache dieser Ver\u00e4nderung gar nicht in ihnen liegt\u00ab. Wenn Clarke nun dem Gegner Newtons den Vorwurf der Inconsequenz macht, weil er die Bewegung f\u00fcr etwas wesentlich Absolutes halte und den Baum nicht, so geht er entschieden zu weit. Es liegt hier bei Leibniz wieder nur die gek\u00fcnstelte Verschmelzung des Bewegungsbegriffes mit dem Kraftbegriffe vor, und so bedenklich dieselbe auch ist, so setzt sie doch keineswegs die Annahme eines absoluten Baumes voraus.\nLeibniz und Huygens sind keineswegs die einzigen bedeuten\n1) Opera philosophica ed. Erdmann, p. 770. 782.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungshegriffes.\n417\nden Zeitgenossen Newtons gewesen, welche sich gegen seine Lehren von Raum, Zeit und Bewegung abweisend verhielten. Pierre Bayle macht sich lustig \u00fcber die Leichtgl\u00e4ubigkeit der Newtonianer, welche die Existenz eines absoluten Baumes durch ihren Meister bewiesen w\u00e4hnen. \u00bbW\u00fchlen wir, so viel es uns beliebt, in allen Schlupfwinkeln unseres Geistes herum, wir finden daselbst auch keine Idee von einer unbeweglichen, untheilb\u2019aren und durchdringlichen Ausdehnung\u00ab. *) Bedenkt man, wie eng die Newton\u2019sche Neuerung mit der Gravitationstheorie verbunden war, so wird man es f\u00fcr recht wahrscheinlich halten, dass bei seinem Tode Newton im Auslande auch f\u00fcr seine Lehren von Raum, Zeit und Bewegung, wie f\u00fcr seine Gravitationstheorie , kaum zwanzig Anh\u00e4nger hatte.2) Ich sehe hierbei ab von solchen, welche das Wort \u00bbabsoluter Raum\u00ab gedankenlos \u00fcbernahmen, ohne darunter etwas Anderes als das mit dem Firmament verbunden gedachte heliocentrische Coordinatensystem des Coper-f nicus zu verstehen. Aber auch in England fehlte es keineswegs an Gegnern. So ist der Annahme eines absoluten Raumes mit gr\u00f6\u00dftem Entschiedenheit G. Berkeley entgegengetreten, und zwar sowohl,in seinen 1710 erschienenen \u00bbPrinciples of human knowledge\u00ab als auch in einer besonderen 1721 \u25a0 gedruckten Abhandlung \u00bbDe motu\u00ab. Nach der negativen Seite hin ist er meistentheils im Rechte. Der Begriff der Bewegung sei an sich leicht verst\u00e4ndlich und erst durch die gelehrten Deutungen der Philosophen unklar gemacht worden. \u00bbNehmen, wir einmal vom absoluten Raume die blo\u00dfe Benennung hinweg, und Nichts wird in der Wahrnehmung, Einbildung oder dem Verst\u00e4nde Zur\u00fcckbleiben : mit jener Benennung wird folglich nichts Andeies berr zeichnet, als eine blo\u00dfe Wegnahme oder Negation, d. h. $in rejnefe Nichts\u00ab.3) Die ideale Convention des Inertialsystemes wird von diesem Vorwurfe nicht getroffen. Berkeley geht auch entschieden zu weit, wenn er meint, die Kreisbewegung der beiden verbundenen,\n\u2022) Dictionnaire histor. et critique, IIi\u00e8me \u00e9dition. Tome III. p. 3065. (Article enon dEl\u00e9e.) Bayle verh\u00e4lt sich \u00fcbrigens allen bis dahin (1702) g\u00ebg\u00e8b\u00e9n\u00e9h BeP \"egungsdefinitionen gegen\u00fcber sehr skeptisch. \u00bbDiejenige des Arisfb'telfes ist W*. ers\u00fcu\u00fcg, diejenige des Herrn Descartes ist j\u00e4mmerlich\u00ab (ibid. p.3052)j. In pp-1 wer Richtung hat er die Frage nicht gef\u00f6rdert.\ng 13^ Newtons Leben, von Brewster, \u00fcbers, v. Goldberg, Leipzig 1833,\nl;,-.\tfl .\n3) \u00bbDe motu\u00ab, \u00a7 53. Works, Vol. III. Oxford 1871.\t'\nWundt, Philos. Studien. III.\t28","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nLudwig Lange.\nund isolirten Kugeln Newtons sei unvorstellbar.1) Wir k\u00f6nnen den objectiven absoluten Raum leugnen, ohne unsere subjective Raumanschauung zu verleugnen. Wenn wir uns mit ihrer H\u00fclfe ein Inertialsystem vorstellen und die Spannung des Fadens beachten, so werden wir mit Bestimmtheit eine Kreisbewegung des Kugelpaares zu diesem gedachten Inertialsysteme constatiren. Dies setzt aber freilich eine Kenntniss des Tr\u00e4gheitsgesetzes voraus. Angenommen, wir w\u00e4ren Bewohner einer jener beiden isolirten Kugeln Newtons, und nicht unserer Erde, und wir h\u00e4tten uns auch bereits selbst\u00e4ndig eine Art von Dynamik und insbesondere einen Satz \u00fcber die Bewegungen sich selbst \u00fcberlassener materieller Punkte gebildet. Dieser Satz w\u00fcrde sich dann zun\u00e4chst naturgem\u00e4\u00df auf das mit der bewohnten Kugel fest verbundene Coordinatensystem beziehen, und vorausgesetzt nun, dass die Drehung der Kugeln eine recht schnelle ist, so w\u00fcrden wir eine betr\u00e4chtliche Abweichung jener Bewegungen von der geraden Linie festgestellt haben. Es w\u00e4re nun nicht ausgeschlossen, dass ein Galilei mit der Behauptung auftr\u00e4te: Wir k\u00f6nnen unseren Satz sehr vereinfachen, sofern wir nicht auf unser bisheriges Bezugssystem, sondern auf ein anderes Coordinatensystem uns beziehen, welches zwar materiell nicht so einfach fundirt, aber doch relativ zu jenem materiell fundirten in angebbarer Weise gedreht ist; darin sind n\u00e4mlich die Bahnen sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper geradlinig. Es w\u00e4re Sache eines genialen geometrischen Blickes, diese Vereinfachung zuerst zu erkennen; um aber k\u00fcnftighin in dynamischen Problemen s\u00e4mmtliche Bewegungen auf jenes neue (\u00bbinertielle\u00ab) System zu beziehen, und um insbesondere die Spannung des verbindenden Fadens aus einer Iner-tialdrehung des Kugelpaares abzuleiten, bed\u00fcrfte es lediglich einer guten geometrischen Constructionsgabe. Und wenn es uns auch psychologisch noch so schwer w\u00fcrde, den Ort der bewohnten Kugel angesichts derselben auf ein blo\u00df gedachtes Coordinatensystem zu beziehen, so wird uns bei Behandlung irgend eines Probl\u00e8mes diese geometrische Abstraction ganz leicht sein.\nBerkeleys Kritik des Newton\u2019schen Eimerversuches trifft nicht den Kern der Sache.2) Dagegen ist ganz berechtigt sein Vor\n1)\tIbidem \u00a7 59.\n2)\tPrinciples, sect. CXIV.","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"419\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\nwurf, die Newtonianer seien au\u00dfer Stande selbst nach ihren Principien zu entscheiden, oh das All der Dinge absolut ruhe oder geradlinig und gleichf\u00f6rmig bewegt sei. i) Auf die Hypothese von der Ruhe des Weltcentrums nimmt er hier mit Recht keine R\u00fccksicht.\nWas die Frage nach der Reciprocit\u00e4t der Bewegung anlangt, so glaubt er in den \u00bbPrinciples\u00ab dem gemeinen Sprachgebrauche doch so weit Rechnung tragen zu m\u00fcssen, dass er die Bewegung der Erde zu den F\u00fc\u00dfen des Gehenden leugnet: denn die Th\u00e4tigkeit sei nicht \u00bbdarauf gerichtet\u00ab, die Erde wegzutreten.2) Dass diese Festsetzung in der Dynamik Nichts taugt, brauche ich nicht nochmals zu beweisen. In der Abhandlung \u00bbDe motu\u00ab findet sich denn auch keine Er\u00f6rterung \u00e4hnlicher Art. Berkeley will es hier als wissenschaftliche Convention betrachtet wissen, dass man sich auf das heliocentrische System des Copernicus bezieht, und er meint mit dem Firmamente den nichtssagenden absoluten Raum zu ersetzen.*) Die Entdeckung der Fixsterneigenbewegungen (1718) d\u00fcrfte ihm unbekannt gewesen sein. Positive Besserungen hat er, wie man sieht, nicht vorgeschlagen.\nHiermit sind wir am Ende der Entwickelungsperiode des Bewe-gungsbegriffes angelangt, welche bei Copernicus anhebt und mit Newton schlie\u00dft. Ein kurzer R\u00fcckblick lehrt uns, dass im gro\u00dfen und ganzen das Ergebniss dieser Entwickelung darin besteht, dass die Bewegungsrelation von gegebener Materie in der Theorie losgelost ist. Unstreitig ist dies gegen fr\u00fcher ein gro\u00dfer Fortschritt, insbesondere gegen\u00fcber dem materialistischen Aristotelisch-Car-tesianischen Bewegungsbegriffe. Dagegen bieten die Positionen wnes realen absoluten Raumes und einer realen absoluten Zeit ange nicht die erreichbare Aufkl\u00e4rung in dynamischen Problemen, ir werden nun sehen, wie es dem entsprechend in der Folgezeit urchaus nicht an solchen Bestrebungen fehlt, welche auf eine Idea-'sirung jener Annahmen gerichtet sind.\nB De motu \u00a7 60 sqq. 65.\n2)\tPrinciples, sect. CXIII.\n3)\tDe motu, \u00a7 64.\n(Schluss folgt im n\u00e4chsten Heft.)\n28*","page":419}],"identifier":"lit4547","issued":"1886","language":"de","pages":"337-419","startpages":"337","title":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes und ihr voraussichtliches Endergebniss","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:21:44.081554+00:00"}