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{"created":"2022-01-31T14:22:07.420134+00:00","id":"lit4548","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Selver, David","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 3: 420-451","fulltext":[{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre\nbis 1695.\nVon\nDavid Selver.\n(Schluss.)\nZweiter Abschnitt.\nErste Analyse des Substanzbegriffes in negativer Richtung.\nErstes Capitel.\nEntscheidender Widerspruch gegen den Cartesianischen K\u00f6rperbegriff.\nDerjenige Satz, durch welchen Leibniz in der f\u00fcr die Ausbildung seines sp\u00e4teren Substanz- und Monadenbegriffes entscheidendstenWeise \u00fcber Cartesius hinausging und den er demselben sp\u00e4ter bei der Einf\u00fchrung seines Systems immer wieder von Neuen entgegenstellt, i'st m der Behauptung enthalten, dass das Wesen des K\u00f6rpers nicht in sei^_ ner Ausdehnung bestehe. Der Gegensatz, der schon in der Hypothesis physica in der abweichenden Auffassung des Continuums als eines discret Getheilten hervorgetreten war, verblieb innerhalb der physikalischen Theorie und hatte, wie wir sahen, zun\u00e4chst keine weiteren Consequenzen f\u00fcr die metaphysisch-ontologische Bestimmung des Substanzbegriffes. Es handelte sich lediglich um die Frage nach der Art, wie die Vertheilung der Materie im Raum zu denken sei. Dass aber das Wesen eines jeden materiellen Punktes, bezn.\n.\tVi p -*\nder Materie, in der Eigenschaft des Ausgedehntseins stehe, war, wie wir sahen, eine Leibniz mit Cartesius gemeinsame","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019scheu Monadenlehre bis 1695.\n421\nGrundvoraussetzung. Die Auffassung des \u00bbinfinitum\u00ab, welches mit der Leibniz\u2019schen Bestimmung des \u00bbcontinuum\u00ab in engster Verbindung steht, geschah lediglich aus mathematischen Gesichtspunkten. Die metaphysische Seite, von welcher Cartesius die alte Unterscheidung von infinitus und indefinitus n\u00e4her bestimmt und principiell geltend gemacht hatte, blieb von Leibniz ganz unber\u00fccksichtigt.!)\nAuch diejenige \u00dcberzeugung, welche Leibniz\u2019 Philosophiren von Anfang an charakterisirt, und deren wissenschaftlicher Begr\u00fcndung fast alle seine bisherigen naturphilosophischen Versuche gewidmet waren, \u2014 die \u00dcberzeugung n\u00e4mlich, dass alle mechanische Betrachtung der Natur auf ein geistiges Princip hinweise und ohne Annahme eines solchen im letzten Grunde unvollkommen bleibe, war Leibniz mit Cartesius gemeinsam. Der Weg, auf dem Leibniz dieses Princip nachzuweisen suchte, war allerdings ein anderer. Die Abweichungen, die hierbei in der sachlichen Auffassung und Erkl\u00e4rung der Naturvorg\u00e4nge, besonders des Bewegungsprincipes, zu Tage traten, waren jedoch nur, wie wir oben gezeigt, theils durch die Bem\u00fchungen Leibniz\u2019 um eine kosmologische Argumentation f\u00fcr das Dasein Gottes, theils durch Einfl\u00fcsse von Seiten der Atomistik veranlasst, die auf Leibniz von Anfang an eingewirkt hatten.\nDerjenige Schritt aber, mit dem Leibniz in der ontologischen Analyse des realen Seins unmittelbar an dem Ausgangspunkt seiner monadologischen Naturauffassung anlangt, und der zugleich den Gegensatz zu Cartesius vollendet, geschieht durch den f\u00fcr uns hier in\n1) Am deutlichsten hat sich Descartes \u00fcber seine Auffassung von infinitus in 4er von Eucken, Gesch. d. phil. Terminol. S. 91 angef\u00fchrten Stelle (ep. I. 119) ausgesprochen: . . .Per infinitam substantiam intelligo substantiam perfectiones veras et reales actu infinitas et immensas habentem. Quod non est accidens notioni substantiae superadditum, sed ipsa essentia substantiae absolute sumptae nullisque e ectibus terminatae, qui defectus ratione substantia accidentia sunt, non autem ln \u00dfhas vel infinitudo. Atque observandum est me nunquam adhibere\n\u00b0ceminfinitiadsignificandumtantummodoaliquidterminiscarens\n9uod utique negativum est, quodque indefinitum appello, sed ad ^1gnifican^um reaie qUj,i incomparabiliter majus terminato quovis. tj eo autem notionemquamdeinfinito habeo priorem esse in me no-u <j*!e initi; quia hoc unoquod concipiamensseuidquodest, nulla\n? ltarationefinitiautinfiniti,infinitumestensilludquodconci-pi\u00b0- M. vgl. aUeh Epist. I. 36.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nDavid Selver.\nFrage kommenden Satz, dass die Ausdehnung nicht zum Begriff deg K\u00f6rpers geh\u00f6re. Leibniz spricht denselben zum ersten Male aus jn einem Ausgangs 1671 oder Anfangs 1672 an Antoine Arnauld ge richteten Briefe.J)\nIn sp\u00e4teren Schriften hat Leibniz diesen Satz, wo er nicht implicite in der positiven Kennzeichnung seines Monaden- und Substanzbegriffs enthalten war, haupts\u00e4chlich durch den Hinweis auf solche Bewegungsthatsachen zu begr\u00fcnden gesucht, die aus den blo\u00dfen Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen der Bewegungsfactoren nicht folgen w\u00fcrden \u00bbWenn lediglich\u00ab, f\u00fchrt er im Specimen dynamicum aus, \u00bbdie mathematischen Begriffe Gr\u00f6\u00dfe, Gestalt und Ort und deren Ver\u00e4nderung in dem Begriff des K\u00f6rpers angenommen w\u00fcrden, so m\u00fcsste daraus folgen, dass auch der gr\u00f6\u00dfte ruhende K\u00f6rper von einem noch so kleinen der auf ihn st\u00f6\u00dft, ohne irgend eine Verz\u00f6gerung der Bewegung des letztem mit fortgef\u00fchrt w\u00fcrde, da ja in einem solchen Begriff der Materie gar kein Widerstand (repugnatio) gegen die Bewegung liegt, sondern vielmehr Gleichg\u00fcltigkeit gegen die Bewegung sowohl wie gegen die Ruhe. Es w\u00fcrde daher nicht schwieriger sein einen gro\u00dfen ruhenden K\u00f6rper als einen kleinen fortzubewegen, die Wirkung w\u00fcrde ohne Gegenwirkung bleiben, und eine Sch\u00e4tzung der Energie (potentia) w\u00fcrde gar nicht m\u00f6glich sein, da jedes von jedem geleistet werden k\u00f6nnte\u00ab.1 2)\nNach einer sachlichen Begr\u00fcndung dieser oder \u00e4hnlicher Art sieht man sich in dem Zusammenh\u00e4nge, in welchem uns dieser f\u00fcr die Monadenlehre so wichtige Satz zum ersten Male entgegentritt, vergeblich um. Er wird zwar auch hier phoronomisch, n\u00e4mlich aus den von Leibniz in der Theoria motus abstracti aufgestellten Lehrs\u00e4tzen \u00fcber die Bewegung, abgeleitet, aber doch ohne einen sachlich und logisch recht zwingenden Grund. Weil, wie Leibniz schon in der Theoria motus abstracti behauptet hat, ohne Annahme eines vacuum weder\n1)\tZuerst 1846 von Gro tefend in der Pertz\u2019schen Ausgabe der Werke Leibniz\u2019 2. Folge Bd. I ver\u00f6ffentlicht; jetzt auch in Gerh. Phil. Sehr. Bd. I. S- 6\u00ae \u201c* \u00dcber das vermuthliche Datum vgl. Grot. a. a. O. S. 137 Amn.\n2)\tGerh. Math. Sehr. Bd. VI. S. 240 ff. Vergl. auch Erdm. O. P. p. 112, Lettres sur la question, si l\u2019essence du corps consiste dans l\u2019\u00e9tendue, und die weitere theidigung p. 113 ff.","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibuiz'schen Monadenlehre bis 1695.\n423\neine geradlinige noch spirale noch elliptische oder ovale Bewegung, ja auch keine kreisf\u00f6rmige um verschiedene Centren begriffen werden k\u00f6nne1), so folge daraus, dass das Wesen des K\u00f6rpers nicht in der Ausdehnung bestehe, \u00bbquia\u00ab, f\u00fcgt Leibniz zur weiteren Begr\u00fcndung hinzu, \u00bbspatium vacuum a corpore diversum esse necesse est, cum tarnen sit extensum\u00ab. Also blo\u00df, weil aus phoronomischen Gr\u00fcnden die Annahme eines vacuum unumg\u00e4nglich sei und zwischen diesem, und der ausgedehnten Substanz eine differentia specifica vorhanden sein m\u00fcsse, so soll dies ein hinreichender Grund sein, das Merkmal der Ausdehnung aus dem Begriff des K\u00f6rpers auszuschlie\u00dfen.\nIn solcher Weise kann nur im Ernst gefolgert werden, wenn man von der Voraussetzung der Cartesianischen Physik ausgeht, dass alle physikalischen Eigenschaften der Materie, wie Widerstandskraft. Schwere u. s. w., nur secund\u00e4rer Art sind, und dass zum Wesen derselben nur die rein geometrisch gedachte Ausdehnung geh\u00f6re. Nur unter dieser Voraussetzung kann gezeigt werden, dass der Begriff des K\u00f6rpers mit dem des leeren Raumes zusammenfallen w\u00fcrde, wenn die Annahme eines solchen aus anderen Gr\u00fcnden nicht ausgeschlossen werden kann. Ebenso ist es nur vom Standpunkt des Cartesianischen Begriffes der ausgedehnten Substanz aus folgerichtig, wenn Leibniz die differentia specifica, nach der er sucht, nicht in einer physikalischen Eigenschaft der Materie, sondern in der Bewegung findet. Denn ist, wie Leibniz ebenfalls in der Theoria motus abstracti ausgef\u00fchrt hatte, weder Consistenz noch Coh\u00e4renz des Stoffes m\u00f6glich, wenn die K\u00f6rper vollkommen ruhend gedacht werden, und daher absolute Ruhe ausgeschlossen, sodass jeder K\u00f6rper, auch wenn er scheinbar ruht, in minimaler Weise bewegt gedacht werden m\u00fcsste, so liegt es nahe, die gesuchte differentia specifica in der Bewegung zu finden, da ja alle anderen Eigenschaften des Stoffes von vome herein nur als secund\u00e4re Qualit\u00e4ten gelten sollen.2)\n1)\tTheorem 22: Si non datur vacuum, nullus quoque motus reetelineus aliusve m se non rediens (v. g. spiralis) dabitur. Gerh. Math. Sehr. Bd. VI. S. 73.\n2)\tDe motu demonstratae sunt a me aliquot propositiones magni momenti, ex (D\u00bbbus nominabo hoc loco duas : primo nullam esse cohaesionem seu consistentiam quiescentig . . . ac proinde, quicquid quiescat quantulocunque motu impelli et dividi P\u00b0sse . . . Altera est, omnem motum in pleno esse circularem homocentricum, nec j^ese Intelligi in mundo motus rectilineos, spirales, ellipticos, ovales; imo nec circules diversorum centrorum, nisi admisso vacuo. De aliis hoc lo\u00e7o dicere nihil ne-","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nDavid Selver.\nWie aber die Substantialit\u00e4t eines K\u00f6rpers gedacht werden soll wenn dieselbe in der Bewegung, d. h. nach Leibniz in der Ortsver\u00e4nderung, besteht, wird von Leibniz hier nicht n\u00e4her angegeben.\nAber Leibniz legt hier offenbar nur auf den negativen Theil seiner These Gewicht. Kam es ihm ja in diesem Briefe haupts\u00e4chlich darauf an, Arnauld den Weg zu zeigen, auf welchem er die praesentia realis des corpus Christi im Abendmahl und das Dogma der Transsubstantiation beweisen k\u00f6nne. Wenn n\u00e4mlich ein K\u00f6rper seinem Wesen nach nicht in der Ausdehnung bestehe, so sei er auch nicht verhindert, ohne Ver\u00e4nderung seines Wesens unter verschiedenen Gestalten oder Eigenschaften (sub multis speciebus) und zugleich an vielen Orten gegenw\u00e4rtig zu sein. Das Letztere besonders, weil derselbe seiner eigensten Natur nach ja gar nicht an die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse (conditionibus loci) gebunden sei. Die M\u00f6glichkeit der Transsubstantiation ist fur Leibniz eine Folge der Multipr\u00e4senz.J)\nAber alle diese theologischen Ausf\u00fchrungen geben keinen weitem Aufschluss \u00fcber den Charakter dieses neuen Stadiums, in welches die Entwicklung der Leibniz\u2019schen Ontologie mit Aufstellung des hier in Frage stehenden Satzes offenbar getreten ist. Die Behauptung, dass das Wesen des K\u00f6rpers nicht in der Ausdehnung bestehe, bedeutet zun\u00e4chst nur einen negativen Schritt in der Analyse des Seinsbegriffes ; denn sie tritt uns in diesem Briefe ohne jede Andeutung einer entsprechenden Synthese entgegen.\nIm Hinblick auf diesen Sachverhalt h\u00e4tte der fragliche Satz f\u00fcr die genetische Darstellung der Monadenlehre nur den Werth einer chronologischen Grenzbestimmung. Indess ist es entwicklungsgeschichtlich doch wohl von Belang zu constatiren, dass derselbe im Geiste seines Urhebers wenigstens im Zusammenh\u00e4nge\ncesse est. Has autem ideo memoro, quia ex iis sequitur aliquid utile praesenti institute: ex posteriore, corporis essentiam non consistere in extensione, idestmagnitudineetfigura, quiaspatiumvacuum a corpore diver-sum esse necesse est, cum tarnen sit extensum; expriore, essentia\u00ae corporis potius consist ere in motu, cum sp at ii notio magnitudineet figura, id est, extensione, absolvatur. Grotef. p. 141.\n1) Nam hoc quoque ostendetur, quod nemini in mentem venit, transs\u00fcbstantia-tionem et multipraesentiam realem in ultima analysi non differre ; nee corpus aliter in multis locis dissitis esse posse, quam ut substantia sua sub diversis speciebus 111 telligatur. Grotef. a. a. O. S. 145.","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schcn Monadenlehre bis 1695.\t425\nstand mit dessen in der Theoria motus abstracti niedergelegten Grundanschauungen. Es ist dies nicht nur aus der von Leibniz versuchten Begr\u00fcndung dieses Satzes ersichtlich, sondern wird auch ausdr\u00fccklich in dem Schreiben an Amauld best\u00e4tigt. Der Zweck dieses Briefes war n\u00e4mlich die Ankn\u00fcpfung von weiteren pers\u00f6nlichen Beziehungen zu Amauld, welche f\u00fcr Leibniz damals in R\u00fccksicht auf seine geplante Reise nach Paris besonders w\u00fcnschenswerth erscheinen mu\u00dften. Der Brief enth\u00e4lt daher eine Art von \u00dcbersicht \u00fcber seine bisherigen Studien, wissenschaftlichen Leistungen und weiteren Pl\u00e4ne. Und so bemerkt er \u00fcber den Zusammenhang seiner philosophischen Anschauungen: \u00bbIch sah, dass die Geometrie oder Philosophie des Raumes eine Br\u00fccke schlage zur Philosophie der Bewegung oder des K\u00f6rpers und die Philosophie der Bewegung zur Geisteswissenschaft (Metaphysik)\u00ab.1)\nDiese gewiss sehr bemerkenswerthe Mittheilung Leibniz\u2019 hindert aber die Annahme nicht, dass das eigentliche Motiv zur Aufstellung des hier von mis behandelten Satzes weniger aus der Consequenz rein philosophischer Erw\u00e4gungen, als aus einem theologischen Bed\u00fcrfniss entsprungen ist, an dem Leibniz mit seinem eigenen Gem\u00fcthe betheiligt war. Diese Annahme dient so wenig zur Verkleinerung Leibniz\u2019, dass sie vielmehr im Hinblick auf die Art und Weise, wie er in diesem Briefe und auch in den Briefen an den Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-L\u00fcneburg von seinen Beweisen kirchlicher Dogmen und allgemein religi\u00f6ser Glaubenss\u00e4tze spricht, zur Ehre seines Charakters wohl gemacht werden muss. Es ist gewiss ein aufrichtiges Be-kenntniss, wTenn Leibniz in diesem Briefe an Arnauld bemerkt : \u00bbUnter den so mannigfachen Zerstreuungen meines bisherigen kurzen Lebens habe ich mich kaum einem andern Beweise eifriger zugewendet als dem, welcher mich in Betreif meiner Seeligkeit ruhig machen k\u00f6nnte ; und ich gestehe, dass dieses f\u00fcr mich die bei weitem ma\u00dfgebendste Veranlassung zur Philosophie gewesen ist. Ich habe aber auch keine zu verachtende Belohnung davon getragen, n\u00e4mlich die Luhe des Gem\u00fcthes, und dass ich mich r\u00fchmen darf, es sei von mir so Manches in dieser Beziehung bewiesen worden, was bisher entweder blo\u00df geglaubt oder gar, obwohl von gro\u00dfer Wichtigkeit, nicht ge-\nb Grotef. a. a. O. S. 141.","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nDavid Selver.\nwusst wurde\u00ab ;a. a. O. S. 141). Dass Leibniz aber darum nicht blo\u00df theologischer Denker war, beweist u. A. seine Erwiderung auf die Bekehrungsversuche des Landgrafen von Hessen - Rheinfels. Als letzten Grund f\u00fcr seine Weigerung gegen die Zumu-thung, zur r\u00f6misch-katholischen Kirche \u00fcberzutreten, nennt er seine philosophischen Ansichten, welche zu \u00e4ndern ihm unm\u00f6glich sei.1)\nZweites Capitel.\nGestaltung der metaphysischen Grundanschauungen Leibniz\u2019 bis gegen Ende\nvon 1680.\nDie erw\u00e4hnte Reise, welche Leibniz im Fr\u00fchjahr 1672 in einer politischen Mission nach Paris an trat, und welche einen nur durch einen kurzen Ausflug nach London unterbrochenen vierj\u00e4hrigen Aufenthalt daselbst zur Folge hatte, bedeutet eine l\u00e4ngere Pause in der Entwicklung und Ausbildung der Leibniz\u2019schen Metaphysik. Es kann ja wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die mathematischen Studien, denen Leibniz in Paris oblag, und deren Frucht bekanntlich die Entdeckung des Differentials war, sowie ferner die zunehmende allgemein wissenschaftliche Reife Leibniz\u2019 auch in philosophischer Beziehung nicht ohne R\u00fcckwirkung bleiben konnten ; ja, wir werden weiter unten sogar zu zeigen versuchen, dass Leibniz\u2019 Kritik eines Hauptsatzes der Cartesianischen Bewegungslehre, zu der ihn eingehende mechanische und dynamische Studien in den Stand setzten, den Hauptansto\u00df zu der f\u00fcr den Monadenbegriff grundlegenden Substantialisirung des Kraftbegriffes gab. Aber hiervon abgesehen hat die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der Monadenlehre aus der Zeit von Leib-\n1 ) Leibniz und Landgraf Ernst v. Hessen-Rheinfels. Ein ungedruckter Brief Wechsel u. s. w. hg. von Chr. von Rommel Bd. II. S. 20. Treffend scheint uns \u00fc er diesen Punkt eine Bemerkung Zeller\u2019s in seiner Gesch. d. d. Phil. 1. Aufl. S.\n\u00bbEs hie\u00dfe diesen universellen Geist schlecht verstehen, wenn man ihn nur aus e Standpunkt des Theologen beurtheilen oder die Hauptwurzel seines\n\u00fcberwiegend in theologischen Beweggr\u00fcnden suchen wollte. Aber es hie e dererseits auch ein wesentliches Element seiner Bildung und seiner Denkweise au ^ Acht lassen, wenn man die Wichtigkeit leugnen wollte, welche theolo gisc undreligi\u00f6seFragenvonAnfanganf\u00fcrihn gehabt haben.\u00ab","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019sehen Monadenlehre bis 1695.\n427\nniz\u2019 Aufenthalt in Paris und den ersten Jahren nach seiner R\u00fcckkehr nach Deutschland keinen Satz zu verzeichnen, der auf irgend welche Fortbildung der bisherigen Grundanschauungen hindeutete.\nDie zwei ersten Briefe Leibniz\u2019 an Malebranche, welche Guh-rauer und Gerhardt in das Jahr 1674 setzen, geben eine zwischen Leibniz und Malebranche stattgehabte philosophische Discussion wieder. Aber dieselbe drehte sich wiederum nur um die Frage, ob die Aus-; dehnung das Wesen der Substanz ausmache oder nicht. Und wie in dem Schreiben an Arnauld, macht Leibniz auch hier geltend, dass der Begriff der Materie mit dem des leeren Raumes zusammenfallen w\u00fcrde, wenn man mit Descartes die Ausdehnung als das eigentliche Wesen der Substanz ansehen wollte. Eine andere Consequenz des Cartesianischen Substanzbegriffes, meint Leibniz, w\u00e4re, dass es gar keinen leeren Raum g\u00e4be, und dass alles Ausgedehnte stofflicher Natur sei.1) Da Malebranche das Letztere nicht nur zugestand, sondern auch durch den Hinweis begr\u00fcnden wollte, dass der fragliche leere Raum, weil in ihm Theile unterscheidbar sind, gleich der Materie auch wirklich theilbar sei, so spitzte sich schlie\u00dflich die Frage dahin zu, ob zwei Punkte des leeren Raumes, wenn sie auch wirklich getrennt vorstellbar seien, ihr r\u00e4umliches Yerh\u00e4ltniss zu einander durch Bewegung) \u00e4ndern k\u00f6nnten. Da aber Malebranche auf den ersten Brief nur sehr kurz, auf den zweiten gar nicht antwortete, so brach der Briefwechsel zun\u00e4chst f\u00fcr einige Jahre ab und mit ihm der Faden der ganzen Untersuchung.\nGegen Ende seines Aufenthaltes in Paris (1675) traf Leibniz mit dem Freiherrn von Tschimhausen, einem Freunde und Anh\u00e4nger Spinoza\u2019s, zusammen und erhielt von demselben wahrscheinlich auch n\u00e4here Mittheilungen \u00fcber die Lehre Spinoza\u2019s, wenngleich dieser auf die Anfrage, ob Leibniz Einsicht in die Abschriften seiner damals noch nicht gedruckten Werke zu gew\u00e4hren sei, zun\u00e4chst ablehnend geantwortet hat.2)\nAber Leibniz fand bald noch weitere Gelegenheit, den philosophischen Ideenkreis Spinoza\u2019s kennen zu lernen. Auf seiner im\n1) Gerh. Phil. Sehr. Bd. I. S. 221.\nv vi Vgl\u2018 den hierauf bez\u00fcglichen Brief Schaller\u2019s und die Antwort Spinoza\u2019s bei an Vloten: ad. Spin, opera Suppl, p. 314\u2014318; vgl. auch K. Fischer, Gesch.\n\u2022 n Thilos. I, 2 (3. Aufl.) S. 173\u2014175.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nDavid Selver.\nn\u00e4chsten Jahre erfolgten R\u00fcckkehr nach Deutschland besuchte er Spinoza im Haag, und der Inhalt ihrer Unterredungen scheint durchaus nicht so gleichg\u00fcltiger Natur gewesen zu sein, wie ihn Leibniz sp\u00e4ter, besonders in der Theodicee (III \u00a7 376) dargestellt hat.1) Auch erhielt er auf dieser Reise in Amsterdam von Schaller, der die Corre-spondenz Spinoza\u2019s vermittelte, drei Briefe philosophischen Inhalts die von Spinoza an Oldenburg gerichtet waren. Leibniz hat noch in Amsterdam zu diesen Briefen Bemerkungen niedergeschrieben. die er sp\u00e4ter wiederholt \u00e4nderte und corrigirte.2) Aber die Kritik, welche Leibniz hier an den Lehrs\u00e4tzen Spinoza\u2019s \u00fcbte, ist nicht so eingehend und entscheidend, wie man bei den sp\u00e4ter vielfach extremen Gegens\u00e4tzen in den Systemen beider Denker erwarten sollte. Es macht beinahe den Eindruck, als ob Leibniz\u2019 Geist damals von seinen mathematischen Entdeckungen und von der Ausbildung der Lingua charac-teristica in dem Ma\u00dfe occupirt war, dass sein Interesse an den speci-elleren Problemen der Metaphysik erheblich zur\u00fccktrat, obschon es immerhin auff\u00e4llig bleibt, dass Leibniz, w\u00e4hrend er auch in den Briefen aus dieser Zeit keine Gelegenheit vor\u00fcbergehen l\u00e4sst, sich \u00fcber die Philosophie Descartes\u2019 zu \u00e4u\u00dfern, und bei der Wiederaufnahme seiner philosophischen Arbeiten den Lehrmeinungen dieses Philosophen bis in ihre mechanischen und physikalischen Details kritisch folgt, sich Spinoza gegen\u00fcber, wo er ihn nicht mit g\u00e4nzlichem Stillschweigen \u00fcbergeht, mit einer blo\u00dfen Wortkritik und allgemeinen Bemerkungen \u00fcber den paradoxen Charakter der Philosophie desselben begn\u00fcgt.3)\n1)\tDies beweist eine hierauf bez\u00fcgliche \u00c4u\u00dferung an den Abb\u00e9 Galloys. Gerh. Phil. Sehr. I. S. 118. Vergl. auch die Notiz weiter unten S. 431, Anm. 2.\n2)\tDie Belege hierf\u00fcr s. bei Gerh. Phil. Sehr. I. S. 118 ff., wo auch die Bemerkungen Leibniz\u2019 zu den Briefen sowohl wie zu den ersten drei B\u00fcchern der Ethik Spinoza\u2019s sich abgedruckt finden.\n3)\tM. vgl. den bereits erw\u00e4hnten Brief an Galloys aus dem Jahre 1671: 1 (Spinoza) a une \u00e9trange M\u00e9taphysique, pleine de paradoxes. 1678, nachdem er von Schaller die opera postuma Spinoza\u2019s erhalten hatte, schreibt er an Tschirnhausen-In Ethica non ubique satis sententias suas exponit . . . Nonnunquam paralogizat, quod inde factum, quia a rigore demonstrandi abcessit. Erst viel sp\u00e4ter bekun Leibniz, besonders in dem Schreiben an Bourguet, dass er das System Spinoza s tie fer durchdacht hat und, sich des Gegensatzes zu demselben bewusst, auch nach einer Richtung hin zu w\u00fcrdigen vermochte : Il aurait raison, sagt er daselbst von Spinoza, s\u2019il n\u2019 y avait point de Monades. Erdm. S. 720b. (Vgl. auch S. 691b.)","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwicklungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\t429\nDarin, dass er schon hei seiner pers\u00f6nlichen Begegnung mit Spinoza mit seinem eigenen System im Reinen gewesen sei und seinen Gegensatz zu Spinoza schon vollkommen ausgehildet gehabt h\u00e4tte, wie vielfach behauptet wird, *) k\u00f6nnen wir den Grund f\u00fcr diese That-sache nicht finden. Leibniz hatte damals durchaus noch nicht seinen Substanzhegriff in positiver Weise concipirt. Das zeigt sich in einem Schreiben, welches er einige Zeit nach seiner R\u00fcckkehr aus Frankreich, also jedenfalls nach 1676, an Honoratus Fabri gerichtet hat.1 2) Leibniz \u00e4u\u00dfert sich hier sehr ausf\u00fchrlich \u00fcber sein Verh\u00e4ltniss zu Aristoteles, Demokrit und Descartes und wiederholt in streng systematischer Anordnung die Grundz\u00fcge seiner Hypothesis physica. Aber seine theoretischen Anschauungen und sein philosophischer Standpunkt sind dieselben geblieben, wie wir sie aus den Schriften und Briefen Leibniz\u2019 vor seiner Reise nach Paris kennen. Wenn Leibniz seinen Satz, dass das Wesen der Substanz nicht in der Ausdehnung bestehe, wie er ihn in dem Schreiben an Arnauld ausspricht, inzwischen bereits im Sinne seines sp\u00e4tem Monadenbegriffs weiter entwickelt gehabt h\u00e4tte, so w\u00fcrde er in diesem Schreiben, wo er sich gegen den Vorwurf, ein Anh\u00e4nger der Atomistik und ein Gegner des Aristoteles zu sein , rechtfertigt, sicherlich Veranlassung genommen haben, es auszusprechen. Aber statt dessen wiederholt er nur : Ego vero pro certo habeo esse substantias incorporeas, motum a corpore non esse, sed extrinsecus advenire (!); nulla esse corpuscula natura sua insecabilia. Illud nihilo minus Gassendo potius quam Car-tesio assentior, essentiam corporis in extensione non consistere, sed aham loci, aliam materiae naturam esse.3) Dass das Wesen der Substanz die Kraft sei oder die Th\u00e4tigkeit, sagt er nicht ; ja, indem er indirect das Gegentheil sagt, l\u00e4sst er sogar seine Rathlosigkeit in Bezug auf die positive Bestimmung des Substanzhegriffes deutlich durch-blicken. Er kommt n\u00e4mlich gegen Schluss des Briefes noch einmal auf diesen Punkt zur\u00fcck und bemerkt gegen Honoratus: Quod ais corporis naturam in extensione non consistere, assentior, sed veilem dixisses, in quo consist\u00e2t; nam cum dicis exigere inpenetrabi-\n1)\tGuhr. : Leibniz I. S. 278 ; K. Fischer II. S. 168.\n2)\tGerh. Math. Sehr. Bd. IV. S. 81. Der Brief beginnt mit den Worten- Nu-Per ex Gallia reversus etc.\n\u00ae) L. c. p. 84.","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nDavid Selver.\nlitatem, naturaliter scilicet quamdiu ea a Deo non denegatur, dicis quam exigat, non quam habeat naturam. Leibniz kann daher erstgegenEnde der siebziger Jahre mit der Grundlegung seines Monadenbegriffs in positiver Weise begonnen haben.\nDie Gestaltung der einzelnen Grundbegriffe und Wendungen nach ihren erkennbaren oder wahrscheinlichen, sachlichen wie sub-jectiven Motiven wollen wir im folgenden Abschnitt darzulegen versuchen.\nDritter Abschnitt.\nDie dynamische Grundlegung des Substanzbegriffes und erste monadolo-gische Systematisirung desselben.\nErstes Capitel.\nDie Kritik des Oartesianischen Kr\u00e4ftemaCses.\nDie Polemik, welche Leibniz bis jetzt gegen den Oartesianischen K\u00f6rperbegrifF richtete, hatte f\u00fcr sein eigenes System, wie wir sahen, nur einen negativen Erfolg. Was Leibniz an Stelle der Oartesianischen Bestimmung des K\u00f6rperbegriffs setzte, verblieb theils im Unbestimmten, theils innerhalb der blo\u00dfen Analyse des Substanzbegriffes ; irgendwelches synthetische Element der causalen Welterkl\u00e4rung im ontologisch-immanenten Sinne ist in den bisherigen philosophischen Kundgebungen Leibniz\u2019 nirgends zu Tage getreten.\nF\u00fcr die Auffindung und Geltendmachung desjenigen Begriffes aber, welcher nicht nur das Grundelement der Monade ausdr\u00fcckt, sondern auch die Wurzel der speculativen Synthese der Monadenlehre enth\u00e4lt, n\u00e4mlich f\u00fcr die Conception des Leibniz eigent\u00fcmlichen Kraftbegriffes, fruchtbarer scheint die Kritik gewesen zu sein, welche Leibniz an den von Cartesius aufgestellten Bewegungsgesetzen und besonders an dem Oartesianischen Kr\u00e4ftema\u00df ge\u00fcbt hat.\nEinem Hinweise auf den Irrthum, dem Cartesius bei der Auf Stellung seines Kr\u00e4ftema\u00dfes verfallen war, begegnet man bei Leibniz zuerst in einem brieflichen Entwurf, der f\u00fcr Malehranche bestimmt","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019sehen Monadenlehre bis 1695.\n431\ngewesen zu sein scheint, und der etwa dem Jahre 1679 angeh\u00f6rt.1) Nach einer Notiz, die Foucher de Car eil aus den Papieren Leibniz\u2019 mittheilt, 2j d\u00fcrfte dieser schon gegen Ende des Jahres 1676 Spinoza gelegentlich des Besuches, den er demselben im Haag abstattete, den dem Cartesianischen Kr\u00e4ftema\u00df zu Grunde liegenden Irrthum ausein-andergesetzt haben. In der That waren es vorz\u00fcglich dynamische Studien, welche Leibniz gegen Ende seines Aufenthaltes in Paris besch\u00e4ftigt haben. Dies zeigt auch eine Abhandlung, welche er auf seiner Ueberfahrt von England nach Holland im Jahre 1676 verfasste, und deren Inhalt von ihm durch eine am Rande des Manuskripts hinzugef\u00fcgte Bemerkung folgenderma\u00dfen angegeben wird : \u00bbConsideratur hic natura mutationis et continui, quatenus motui insunt. Supersunt ad-huc tractanda tum subjectum motus, ut appareat, cuinam ex duo-bus situm inter se mutantibus asscribendus sit motus, tum vero motus causa seu vis motrix.\u00ab3) Diese Abhandlung, welche f\u00fcr die entwickelungsgeschichtliche Untersuchung der Monadenlehre sicherlich sehr lehrreich sein d\u00fcrfte, ist jedoch bis jetzt noch nicht allgemein zug\u00e4nglich. Gerhardt glaubte dieselbe als eine \u00bbVorstudie\u00ab in die von ihm veranstaltete Ausgabe der mathematischen und dynamischen Schriften Leibniz\u2019 nicht aufnehmen zu sollen.4) Aber schon die eben mitge-theilte Inhaltsangabe derselben zeigt, in welcher Richtung die mechanischen und dynamischen Erscheinungen das Leibniz\u2019sche Denken herausforderten. Namentlich ist der Hinweis auf das \u00bbsubjectum mo-tus\u00ab und die \u00bbmotus causa\u00ab bemerkenswerth. Denn in der That mussten diese den Gegenstand der Untersuchung bilden, nachdem Leibniz durch die Aufdeckung des Cartesianischen Irrthums zu der Einsicht gelangt war, dass die numerisch und geometrisch betrachteten Orts-' er\u00e4nderungen einer an sich indifferenten Masse nicht diejenigen hactoren enthalten, aus denen die constanten Verh\u00e4ltnisse sich bewegender K\u00f6rper folgerichtig abgeleitet werden k\u00f6nnen. 5)\n1)\tVgl. Gerh. Phil. Sehr. Bd. I. S. 334 u. 335\n2)\tR\u00e9futation in\u00e9dite de Spinoza par Leibniz (Paris 1858). S. 64. \u00bbJ\u2019ai pass\u00e9 lue ques heures apr\u00e8s d\u00eener avec Spinoza. Spinoza ne voyait bien les d\u00e9fauts des\nes de mouvement de Mr. Descartes, il fut surpris quand je commen\u00e7ai de lui m\u00bbntrer ...\u00bb\n3)\tVgl. Gerh. Einl. zu Bd. VI. der Math. Sehr. Leibniz\u2019. S. 8.\n4)\tGerh. a. a. O.\n5)\tVgl. unten S. 446, Anm. 3.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nDavid Selver.\nWir k\u00f6nnen zwar auf Grund der f\u00fcr die Erkenntniss der Leibniz\u2019 sehen Anschauungen und ihrer Entwickelung zug\u00e4nglichen Quellen nicht unbedingt behaupten, dass die Einsicht in den Fehler des Carte-sianischen Kr\u00e4ftema\u00dfes es gewesen sei, was Leibniz zur Conception des Kraftbegriffes im metaphysischen Sinne gef\u00fchrt hat. Aber es ist im Hinblick auf den bisherigen Entwicklungsgang der Leibniz\u2019schen Anschauungen sowohl wie auf die Gestaltung derselben in den n\u00e4chsten Jahren doch kaum zu \u00fcbersehen, welchen Ansto\u00df seine auf die begriffliche Feststellung des Substantiellen gerichtete Speculation empfangen musste durch die Aufdeckung der Thatsache, dass es nicht die Factoren eines durch die Zeiteinheit bestimmten r\u00e4umlichen Abstandes einerseits, und des Volumens des an sich indifferenten bewegten Subjectes andererseits sind, nach deren Product sich die Constanz in den Bewegungsvorg\u00e4ngen bemisst, sondern dass das constante Ma\u00df demselben in der Gr\u00f6\u00dfe des Widerstandes gegeben ist, welchen eine sich frei bewegende Masse in der Zeiteinheit \u00fcberwindet , und zwar insofern dieser Widerstand durch die H\u00f6hen ausgedr\u00fcckt wird, bis zu welchen ein emporgeschleuderter K\u00f6rper in den auf einander folgenden Zeiteinheiten aufsteigt, welche aber nach den Untersuchungen G alilei\u2019s nicht in geradem Verh\u00e4ltniss zu der Gr\u00f6\u00dfe der Masse, sondern des Quadrates der den Fallr\u00e4umen zum Ma\u00dfe dienenden Zeiteinheiten stehen. Diese Thatsache zeigt n\u00e4mlich, dass nicht die r\u00e4umliche Gr\u00f6\u00dfe des sich bewegenden Objectes und nicht die Gr\u00f6\u00dfe des von ihm in der Zeiteinheit zur\u00fcckgelegten Raumes, mit anderen Worten, nicht die Factoren der blo\u00dfen Ortsver\u00e4nderung im rein geometrischen Sinne es sind, deren Product ein Constantes darstellt, sondern dass die Wirkungen, beziehungsweise die Arbeitsleistungen der sich bewegenden K\u00f6rper, welche, wie Leibniz schon ganz richtig erkannte, den Ursachen \u00e4quivalent1) sein m\u00fcssen, im Universum constant bleiben. Es war also nur ein Schritt n\u00f6thig, den eine abstracte Speculation, wie die Leibniz\u2019sehe war, sicherlich nicht scheute, um\n1) M. vgl. hier\u00fcber, sowie \u00fcber die Differenz der hier in Frage stehenden Kr\u00e4fte ma\u00dfe: Wundt: Die physikalischen Axiome (6. Axiom), S. 57 ff.; ferner P- a* zer: Leibniz\u2019 dynamische Anschauungen, mit besonderer R\u00fccksicht auf die Ke des Kr\u00e4ftema\u00dfes und die Entwicklg. des Princips der Erhaltg. der Kraft. (Vier e jahrsschrift f\u00fcr wiss. Philos. 1881. S. 265 ff.)","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n433\nin metaphysischer Beziehung aus diesen dynamischen Thatsachen zu folgern, dass das Constante, Beharrende, also Substantielle in den K\u00f6rpern ihre Action sei, mit anderen Worten, dass Action und Substanz Wechselbegriffe sind. Und diese Folgerung war in der That der entscheidende Schritt in der positiven Bestimmung des Leibniz\u2019sehen Substanzbegriffes.\nZweites Capitel.\nSubstantialisirung des Kraftbegriffes,\nDie erste literarische Einf\u00fchrung des Kraftbegriffes als desjenigen, durch welchen die Substanz ihrem eigentlichsten Wesen nach ausgedr\u00fcckt und gekennzeichnet werden soll, geschieht in einem Aufs\u00e4tze , den Gerhardt neuerdings im handschriftlichen Nachlasse Leibniz\u2019 gefunden oder, genauer gesagt, noch einmal gefunden hat, und dessen Abfassung er, wie uns scheint, mit Hecht in die Zeit um das Jahr 1680 setzt.1)\n1) Monatsberichte der Berl. Akad. d. Wissensch. 1880. S. 824 ff. Der in Frage stehende Aufsatz findet sich daselbst unter \u00bbI\u00ab S. 827\u2014831 abgedruckt. Es stimmt aber derselbe w\u00f6rtlich \u00fcberein mit opus XXIV bei Erdmann (p. 109 sq.), welches die von Erdmann herr\u00fchrende \u00dcberschrift De vera methodo phi-losophiae et theologiae f\u00fchrt (cf. praef. XVII) und daselbst zwischen die Jahre 1690 und 1691 gestellt ist. Erdmann\u2019s Annahme der Abfassungszeit konnte allerdings so lange begr\u00fcndet scheinen, als Leibniz\u2019 Briefwechsel mit Arnauld und der Discours deM\u00e9taphysique noch nicht von Grotefend aufgefunden und ver\u00f6ffentlicht war. Nachdem aber durch diese inzwischen erfolgte Ver\u00f6ffentlichung sich gezeigt, dass bereits 1686 (Disc, de M\u00e9t.) die Grundz\u00fcge des Leibniz\u2019schen Systems vollkommen ausgebildet waren, kann zun\u00e4chst als sicher gelten, dass der hier fragliche Aufsatz, in welchem der Leibniz\u2019sche Substanzbegriff sich erst angedeutet, und zwar nur nach dem einen Momente desselben, n\u00e4mlich nach der Gleichsetzung von Substanz und Kraft, und noch nicht nach dem zweiten, den eigentlichen Kern der Monadenlehre ausmachenden Moment der Gleichsetzung von Substantialit\u00e4t und Individualit\u00e4t beurkundet findet, jedenfalls vor 1686 geschrieben sein muss. \u2014 Die Gr\u00fcnde, welche Gerhardt f\u00fcr seine Annahme der Abfassungszeit geltend macht, sind haupts\u00e4chlich den damaligen pers\u00f6nlichen Verh\u00e4ltnissen Leibniz\u2019, wie sie aus seiner Stellung an einem katholischen Hof sich ergaben, entnommen. Es ist aber doch mehr der Gedankeninhalt des Aufsatzes selbst, sein inneres Verh\u00e4ltniss zu den vielen Entw\u00fcrfen und Ausf\u00fchrungen der vorangehenden und folgenden Jahre, welche uns die Gerhardt\u2019-sche Annahme der Abfassungszeit wahrscheinlich machen. Einen gewissen Anhaltspunkt bietet uns auch der Umstand, dass Leibniz im Eing\u00e4nge auf einige \u00bbmerkw\u00fcr-dlge (mathematische) Lehrs\u00e4tze\u00ab hinweist, zu denen er gelangt sei, w\u00e4hrend sie An-wundt, Philos. Studien. III.\t29","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nDavid Selver.\nDen Ausgangspunkt bildet auch hier f\u00fcr Leibniz die Kritik der Cartesianischen Bestimmung des K\u00f6rperbegriffes. Aber der Ausblick ist universeller ; er ist auf die Bedeutung der Philosophie f\u00fcr das Cul-turleben der V\u00f6lker und die Bed\u00fcrfnisse des menschlichen Gem\u00fcthes gerichtet. Leibniz beklagt den Mangel an Exactheit und Evidenz in den metaphysischen Begriffsbestimmungen und die Geringsch\u00e4tzung, welcher die Besch\u00e4ftigung mit den metaphysischen Problemen durch den Missbrauch der Scholastiker anheimgefallen sei. Die scholastische Philosophie friste zwar, w\u00e4hrend sie fr\u00fcher die Alleinherrschaft f\u00fchrte, nur noch ein k\u00fcmmerliches Dasein in frommen Conventikeln. Auch sei das Zeitalter erfreulicherweise von dem \u00fchertriehenen Eifer f\u00fcr die humanistischen Studien, in welchem man \u00fcber eine Silbe im Plautus und Apulejus nicht minder l\u00e4rmend gestritten habe, als fr\u00fcher \u00fcber die Universalien u. s. w., zur\u00fcckgekommen. Man habe erkannt, welche Tragweite und Bedeutung die Erkenntniss der Naturkr\u00e4fte und Naturgesetze f\u00fcr das Leben der V\u00f6lker habe. Dabei sei man aber bis jetzt bei einem blo\u00dfen Sammeln und \u00e4u\u00dferen Beobachten stehen geblieben. Die Besch\u00e4ftigung mit den h\u00f6heren Problemen der Natur-erkenntniss und Metaphysik sei zur\u00fcckgetreten. Er aber verk\u00fcnde dem Zeitalter voraus, dass \u00bbder Werth einer heiligem Philosophie\u00ab von den zu sich selbst zur\u00fcckkehrenden Menschen werde erkannt werden, under wolle inzwischen f\u00fcr die Heilung derer sorgen, die durch eine mit dem Scheine mathematischer Exactheit sich schm\u00fcckende Philosophie irre gef\u00fchrt worden seien. Es sei zwar unzweifelhaft, und auch von Aristoteles anerkannt, dass in der Welt der K\u00f6rper Alles aus Gr\u00f6\u00dfe, Gestalt und Bewegung erkl\u00e4rt werden m\u00fcsse. Aber gerade das Innerste der Bewegung sei noch nicht erschlossen, weil man die \u00bberste Philosophie\u00ab vernachl\u00e4ssigt habe,*) und so\nderen entgangen waren (mira quaedam thereomata se offerebant, quae alios fugerant). Er hat offenbar seine Entdeckung des Algorithmus der Differentialbrechung im Sinne. Diese Entdeckung hat Leibniz nach seiner eigenen Angabe schon 1676 gemacht, aber erst 1684 in den Act. erud. ver\u00f6ffentlicht. W\u00e4re der Aufsatz nach der Ver\u00f6ffentlichung derselben geschrieben, so w\u00fcrde Leibniz sicherlich nicht so unbestimmt un Ausdruck geblieben sein und auch nicht unterlassen haben, auf jenen Au sa selbst hinzuweisen.\t, g\n1) Auch hier zeigt es sich, dass Leibniz mit der Philosophie des Aristo weniger vertraut ist, als man allgemein annimmt; denn nach Aristoteles ist. wegung nicht Gegenstand der \u00bbersten Philosophie\u00ab, sondern der Physik. Die Philosophie\u00ab hat es mit dem Unbewegten, Unk\u00f6rperlichen zu thun.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019sch\u00e9n Monadenlehre bis 1695.\n435\nsei es gekommen, dass bedeutende Philosophen das Wesen der Materie ausschlie\u00dflich in der Aus dehnung erblickten und einen Begriff vom K\u00f6rper aufgestellt haben, den man bisher nicht gekannt, und welcher sich ebenso wenig mit den Naturph\u00e4nomenen wie den Mysterien des Glaubens vereinigen lasse. Es lie\u00dfe sich beweisen, f\u00e4hrt Leibniz fort, dass aus der Ausdehnung allein weder Activit\u00e4t noch Passivit\u00e4t folge, dass aus derselben weder Consistenz noch Coh\u00e4renz der K\u00f6rper erkl\u00e4rt werden k\u00f6nne. Aber Leibniz geht dar\u00fcber rasch hin und unterl\u00e4sst eine sachliche Begr\u00fcndung dieser seiner Behauptung Bestimmter verbreitet er sich \u00fcber die Widerspr\u00fcche, welche sich aus dem Cartesianischen K\u00f6rperbegriff gegen die Abendmahls- und besonders Transsubstantiationslehre ergeben. In einen Widerspruch mit der letztem verwickle sich auch die an sich zwar etwas richtigere Bestimmung des K\u00f6rperbegriffs, welche zur Ausdehnung noch das Merkmal der Undurchdringlichkeit [avuxvnia) oder der Masse hinzuf\u00fcge. Aber auch von jenem Widerspruch abgesehen, sei die Undurchdringlichkeit als ein negativer Begriff nicht geeignet, die Idee des K\u00f6rpers in positiver Weise vollkommen auszudr\u00fccken. Die Bezeichnung der Lndurchdringlichkeit als eine negative Eigenschaft der K\u00f6rper ist zwar sachlich nicht ganz zutreffend ; aber Leibniz scheint hier die Gassendisch-atomistische Anschauung im Auge zu haben, der zufolge die Undurchdringlichkeit aus einer solchen Verbindung der Atome resultirt, bei der zwischen ihnen absolut kein leerer Kaum besteht.\nUm nun, f\u00e4hrt Leibniz fort, einen K\u00f6rperbegriff zu gewinnen, der sowohl den Anforderungen der physikalischen Thatsachen als luch den Lehren der Theologie gen\u00fcge, m\u00fcsse man zu dem, was in der Wahrnehmung des K\u00f6rpers gegeben sei, noch den Begriff der Kraft hinzuf\u00fcgen. Es wird aber im Zusammenh\u00e4nge dieser Stelle weht deutlich ausgesprochen, in welchem Sinne die Hinzuf\u00fcgung des aftbegriffes zu dem sonstigen Inhalt der Sinneswahmehmungen ge-sc ehen soll. Die Wahrnehmung eines K\u00f6rpers, sagt er, enth\u00e4lt dreier-ei: erstens, dass wir wahmehmen, zweitens, dass der K\u00f6rper wahrgenommen wird, und endlich, dass das Wahrgenommene ein Mannig-^ tiges und Zusammengesetztes oder Ausgedehntes sei.\nalb, f\u00e4hrt Leibniz fort, ist dem Begriff der Ausdehnnng und des\n29*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nDavid Selver.\nMannigfachen die Th\u00e4tigkeit hinzuzuf\u00fcgen. Der K\u00f6rper ist also ein ausgedehntes Th\u00e4tiges. *) Soll nun der Kraftbegriff den Wahrneh-mungsinhalt erg\u00e4nzen und mit ihm zusammen den K\u00f6rperbegriff bilden, oder soll der Kraftbegriff im Gegensatz zu der blo\u00df durch die Sinne wahrgenommenen Eigenschaft des Ausgedehntseins das wahre Wesen, die Substantialit\u00e4t des K\u00f6rpers ausdr\u00fccken? Das Befremdliche , das die Bezeichnung der Substanz als \u00bbagens extensum\u00ab in diesem Aufsatze hat, wird durch die R\u00fccksicht auf die fr\u00fche Abfassung desselben kaum beseitigt. Leibniz hatte ja schon in seinem ersten Briefe an Amauld (1671) zu beweisen gesucht und sp\u00e4ter immer wiederholt ausgef\u00fchrt, dass extensio durchaus nicht zum Wesen des K\u00f6rpers geh\u00f6re. Der Widerspruch, der in dieser Ausdrucksweise zu liegen scheint, schwindet nur, wenn man sich an die Definition erinnert , welche Leibniz von der Ausdehnung in seinem allerdings erst 1695 ver\u00f6ffentlichten Specimen dynamicum gibt. Die Ausdehnung, sagt er daselbst, ist nichts anderes als die stetige Fortsetzung oder Ausbreitung einer strebenden oder widerstrebenden, d. h. widerstehenden, bereits vorausgesetzten Substanz. \u00bbTantum abest\u00ab, f\u00e4hrt er fort, \u00bbut ipsammet substantiam facere possit.\u00ab1 2) Demnach d\u00fcrfte auch an dieser Stelle die extensio nicht als ein der actio coordinirtes, ihr gleichwerthiges Moment des K\u00f6rperbegriffs, sondern vielmehr ganz in demselben Sinne, wie Leibniz sp\u00e4ter die Materie als eine Erscheinung, aber als \u00bbphaenomenon bene fundatum\u00ab, bezeichnete, aufzufassen sein. Der Umstand aber, dass Leibniz hier schon mit aller Bestimmtheit das Th\u00e4tigsein als das eigentliche Wesen des K\u00f6rpers und Kriterium der Substanz bezeichnet, ohne das Moment der extensio ganz aus dem K\u00f6rperbegriff zu eliminiren, kann zugleich als ein Zeug-niss daf\u00fcr gelten, wie sehr Leibniz es angemessen fand, \u00bbsich in sei-\n1)\tQuid ergo tandem extensioni addamus ad absolvendam corporis notionem? Quid, nisi quae sensus ipse testetur? Nimirum tria ilia simul renuntiat, et nos sen-tire, et Corpora sentiri, et quod sentitur varium esse compositumque sive extensum. Notioni ergo extensionis sive varietatis addenda actio est. Corpus ergo est agens\nextensum, modo teneatur, omnem substantiam agere, at omne agens substantiam\nappellari.\n2)\tGerh. Math. Sehr. Bd. VI. S. 235; cf. ibid. p. 99 ff-Extensio est repe-\ntitio continua simultanea, uti duratio successiva, hinc quoties eadem natura per11111 diffusa est. . . Ex his autem patet extensionem non esse absolutum quoddam Prae catum, sed relativum ad id quod extenditur sive diffunditur, atque adeo a natura jus fit diffusio non magis divelli posse quam numerum a re numerate.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwicklungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n437\nnen f\u00fcr die \u00d6ffentlichkeit bestimmten Aufs\u00e4tzen in Gedanken und Terminis nur schrittweise von den herrschenden philosophischen Richtungen, dem Aristotelismus und Cartesianismus, zu entfernen. \u00ab *)\nDrittes Capitel.\nDie Einf\u00fchrung des Begriffs der Einzelsubstanz.\nSo bedeutsam auch dieser Schritt der Gleichsetzung von Kraft und Substanz f\u00fcr die Grundlegung der Monadenlehre gewesen ist, so ist hierin doch nicht das eigentlich Originelle der Leibniz\u2019schen Speculation enthalten, Denn, welches auch die Ausgangspunkte f\u00fcr diese Bestimmung des Substanzbegriffes, und welcher Art auch die speculativ-logische Vermittelung oder empirische Begr\u00fcndung derselben h\u00e4tte sein k\u00f6nnen, \u2014 ohne die Entwickelung und Ausbildung der Idee der individuellen Substanz w\u00fcrde Leibniz mit den von ihm aufgestellten S\u00e4tzen, dass jede Substanz wirke, und dass jedes Wirkende eine Substanz sei, ferner, dass das, was nicht th\u00e4tig sei, auch nicht existire1 2), thats\u00e4chlich nicht \u00fcber die hylozoistische Naturauffassung beispielsweise eines seiner \u00e4lteren Zeitgenossen, des englischen Arztes Glisson, hinausgekommen sein. Und, wenn neuerdings der Versuch gemacht wurdet), die Monadenlehre historisch und ideell mit den Lehren Glisson\u2019s in Zusammenhang zu bringen und Leibniz als den Urheber und Begr\u00fcnder der auch von modernen Physiologen getheilten hylozoistischen Theorien hinzustellen, so beruht dieses nicht minder auf einer Verkennung der Entwickelungsgeschichte der Monadenlehre, als der eigentlichen philosophischen That Leibniz\u2019, auf welche seine Stellung in der Geschichte der Philosophie sich gr\u00fcndet. Doch d\u00fcrfte eine sachliche Widerlegung jener irrth\u00fcmlichen Auffassung der Monadenlehre und ihrer historischen Quellen nur durch eine weitere urkundliche Darlegung ihrer Entwickelungsmo-\n1)\tUeberweg-Heinze, Grundr. III (1883), S. 141.\n2)\tErdm. S. 111 : Satis autem etc.\n. . 3) Marion, \u00bbGlissonius, quid de natura substantiae senserit \u2014 et utrum Leib-nitio de natura substantiae cogitanti quidquam contulerit.\u00ab (Paris, 1880) und Jules o u ry, \u00bbUeber die hylozoistischen Ansichten der neueren Philosophen.\u00ab Kosmos, v. E. Krause, Bd. X 1881/82. S. 245, 251, 411.","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nDavid Selver.\nmente und ihrer ersten Systematisirung gegeben werden, was im P01 genden versucht werden soll.\nWeniger indirect l\u00e4sst sich die Frage erledigen, in wieweit Leibniz hei seiner Aufstellung und Ausbildung des Begriffs der Einzelsubstanz im Sinne seiner Monadenlehre durch die mikroorganischen Entdeckungen seiner Zeitgenossen Leeuwenhoek, Malpighi und Swammerdam bestimmenden Einfluss erfahren hat.\nEs kann keinem Zweifel unterliegen, dass jene Entdeckungen auf Leibniz schon sehr fr\u00fch Eindruck gemacht haben. Wir haben bereits die Stelle aus der Hypothesis physica mitgetheilt 4), wo er sich auf dieselben beruft, und Hinweisen auf diese Entdeckungen begegnet man in den Schriften und Briefen Leibniz\u2019 aus fast allen Epochen seines Lebens.1 2) Nichtsdestoweniger scheint es uns ganz verkehrt, wenn man in der Kenntniss jener Entdeckungen den Hauptansto\u00df zur Ausbildung der Idee des sog. Mikrokosmos und der durchgehenden Beseeltheit des Seins bei Leibniz finden will. Die Berufung eines Philosophen auf die Best\u00e4tigung, welche seine metaphysische Welterkl\u00e4rung durch Thatsachen der empirischen Wissenschaften findet, ist in der philosophischen Literatur nicht ohne Beispiel, kann aber doch nicht so aufgefasst werden, als ob der Philosoph mit denselben auf die eigentliche Quelle seiner Conceptionen hinweisen wollte.3 4)\nAber von diesen allgemeinen Erw\u00e4gungen abgesehen, zeigt auch der philosophische Bildungs- und Entwickelungsgang Leibniz\u2019, dass seine f\u00fcr die Monadenlehre grundlegenden Anschauungen und Ideen fast ausschlie\u00dflich von mathematischen, phoronomisch-dyna-mischen4), nicht aber biologischen Betrachtungen und Studien an-\n1)\tS. oben. S. 261.\n2)\tIn den Briefen an Arnauld, ed. Grot. S. 95, 119, 120; Nouv. ess. Erdm-S. 392, ib. S. 678 (an Bierling), ib. S. 172. Weitere Belege unten S. 439.\n3)\tAls ein Beispiel dieser Art aus der neuesten Zeit diene die Schrift Schopenhauer\u2019s : \u00bbUeber den Willen in derNatur. Eine Er\u00f6rterung der Best\u00e4tigungen, welche die Philosophie des Verfassers seit ihrem Auftreten durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat.\u00ab Werke Bd. IV. Schopenhauer w\u00fcrde aber jede Vermuthung, er sei zur Conception des Weltwillens auf anderem als rein speculativem Wege gelangt, mit Entr\u00fcstung zur\u00fcckgewiesen haben.\n4)\tVgl. oben S. 425 das Cit\u00e2t aus dem Briefe an Arnauld und das Schreiben an den Herzog Joh. Friedr., Gerh. I. S. 50, \u00bbdenn weil mich die Begierde, so ich von Jugend auff gehabt in diesen Dingen auff einen best\u00e4ndigen grundt zu kommen, ge trieben weiter zu gehen ; sohabe ich mit suchen allzeit riewe Materie zu suchen funoe","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgaag der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n439\ngeregt und bestimmt wurden. So hat sich uns bei der Kenntnissnahme von der Theoria motus abstracti ergeben, dass Leibniz bei seiner Auffassung des Unendlichkleinen sowohl als Element des R\u00e4umlich-physischen als auch des R\u00e4umlich-Zeitlichen der Bewegungsvorg\u00e4nge, sowie seiner hierauf begr\u00fcndeten Behandlung des Stetigkeitsproblems sich ausdr\u00fccklich auf die Geometrie der Indi visibilia des Cavaleri gest\u00fctzt und berufen hat. Ja, selbst seine \u00bbLex con-tinuitatis\u00ab, bei deren Erw\u00e4hnung er sp\u00e4ter \u00f6fter auf die Ergebnisse der in Frage stehenden mikroorganischen Untersuchungen als auf That-sachen hinweist, welche zeigen sollen, dass Leben und Tod, Entstehen und Vergehen nur Entwicklungs- und Uebergangszust\u00e4nde sind, und dass es in der Natur kein \u00bbvacuum formarum\u00ab gebe 4), wurzelt logisch, wie wir nachgewiesen, in seiner bereits in der Theoria motus abstracti versuchten L\u00f6sung des Problems der Stetigkeit aus dem Gesichtspunkte der realen M\u00f6glichkeit einer Differenzirung jeder Gr\u00f6\u00dfe und aller quantitativen Ueberg\u00e4nge durch Einschiebung unendlichkleiner Gr\u00f6\u00dfen und in der Annahme einer logischen und realen Proportionalit\u00e4t von Grund und Folge, Ursache und Wirkung.2) Der vorwiegend logisch-mathematische Charakter des Gedankenganges, aus dem im Geiste Leibniz\u2019 die Idee des Continuit\u00e4tsprincipes hervorging, ist auch darin documentirt, dass Leibniz bei seiner ersten Einf\u00fchrung und Begr\u00fcndung in dem bekannten Schreiben an Bayle vom Jahre 1687 sich ausschlie\u00dflich auf mathematische Thatsachen berief, wie die M\u00f6glichkeit der Auffassung der Parabel und des Kreises als Ellipse mit unendlich gro\u00dfem oder unendlich kleinem Abstande der beiden Brennpunkte. 3)\nEs ist von Zeller treffend bemerkt worden, dass die Monadenlehre Leibniz\u2019 schon bei ihrer ersten Kundgebung \u00bbgleich in voller R\u00fcstung aus seinem Haupte trat\u00ab.4) Dies gilt besonders von der ersten literarischen Einf\u00fchrung ihres metaphysischen Hauptbegriffs, n\u00e4mlich des Begriffs der \u00bbindividuelle^. Substanz\u00ab durch den\nand nicht geruht bis ich zu den letzten urspr\u00fcnglichen gr\u00fcndten kommen, so in der 'on gro\u00dfe, figur und Bewegung handelnden Kunst, das ist in der mathesi und physica sich befinden.\u00ab\n1)\tErdm. O. P. p. 125 (\u00a7 \u00a7 6, 7), 392, 715, 180. Grotef. 120.\n2)\tVgl. oben S. 261. Anm. 2.\n3)\tErdm. O. P. p. 105a.\n4)\tGesch. d. d. Philos. S. 90.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nDavid Selver.\nDiscours de M\u00e9taphysique 1686, der allerdings zun\u00e4chst nur f\u00fcr eine private Mittheilung niedergeschrieben worden zu sein scheint. In dem fast ein Jahrzehnt sp\u00e4ter im \u00bbJournal des S\u00e7avans\u00ab unter dem Titel \u00bbSyst\u00e8me nouveau de la nature\u00ab etc. mitgetheilten Grundriss sei* nes Lehrgeb\u00e4udes hat Leibniz nicht nur die sachliche Induction seines Substanzbegriffes ergiebiger als im Disc, de M\u00e9t. gegeben, sondern auch auf einige historische Ausgangs- und Ankn\u00fcpfungspunkte seines Gedankenganges hingewiesen. *) Allein, so dankenswerth und lehrreich auch jene Andeutungen Leibniz\u2019 \u00fcber seinen urspr\u00fcnglichen Gedankengang sind, so sind sie doch im Ganzen l\u00fcckenhaft und im Einzelnen unvermittelt und nur durch eine subsidi\u00e4re Interpretation verst\u00e4ndlich. Es scheinen n\u00e4mlich jene Notizen weniger auf eine sachliche Orientirung des Lesers \u00fcber die innere Genesis der Monadenlehre und ihre historischen Ankn\u00fcpfungspunkte berechnet zu sein, als vielmehr auf eine Bekanntmachung desselben mit dem Urheber dieses \u00bbNeuen Natursystems\u00ab, dessen erster Eindruck vielfach kein anderer als der des Paradoxen, um nicht zu sagen des Phantastischen, sein kann.1 2) Leibniz scheint es nicht f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig gehalten zu haben, den Leser im Eing\u00e4nge darauf aufmerksam zu machen, dass er es hier mit einem Manne zu thun habe, der mit der Philosophie des Aristoteles und der Scholastiker nicht minder als mit der neuem Corpus-cularphilosophen und Atomistiker vertraut sei und auch selbst\u00e4ndige, umfassende mathematische und mechanische Studien und Untersuchungen hinter sich habe ; ferner, dass derselbe seiner Zeit zu den Lehrmeinungen sich bekannt, die er mit seinem jetzigen System zu widerlegen, andererseits Anschauungen und Begriffe f\u00fcr leer und philosophisch werthlos angesehen habe, die er jetzt zum Theil zu re-habilitiren beabsichtige.3)\nW\u00e4hrend aber der Leser mit allen jenen Mittheilungen \u00fcber den Urheber des Systems, seine philosophischen Studien und seinen Entwickelungsgang au\u00dferhalb des Systems selbst gehalten wird, wird er im Disc, de M\u00e9t. durch die Darlegung des Begriffs der individuellen Sub-\n1)\tSyst. nouv. \u00a7 2\u20143. Erdm. p. 124.\n2)\tDiese Wirkung seiner Lehre hatte Leibniz bereits an Amauld erfahren, der Leibniz\u2019 S\u00e4tze in einem Briefe an den Landgrafen Ernst v. Hessen-Rheinfels geradezu als \u00bbchoquant\u00ab bezeichnete, was L. auch im Eingang zum Syst. nouv. andeutet.\n3)\t1. c. \u00a7 3. Il fallut donc rappeler et comme r\u00e9habiliter les formes substantielles, si d\u00e9cri\u00e9es aujourd\u2019hui.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n441\nstanz, die hier ganz unvermittelt auftritt, in den Mittelpunkt des Systems versetzt. Ein genaueres Eingehen auf die Ausf\u00fchrungen des Disc, de M\u00e9t. zeigt, dass der Begriff der individuellen Substanz von vorne herein im Zusammenh\u00e4nge aller derjenigen Probleme, deren L\u00f6sung Leibniz mit der Aufstellung seines Systems unternahm, con-cipirt wurde und zwar als Ausgangspunkt und Grundlage jener beabsichtigten L\u00f6sungen.\nDabei handelte es sich f\u00fcr Leibniz nicht unmittelbar um die L\u00f6sung des Problems der Individualit\u00e4t oder der Materie, noch um sonst irgend welches specielle Problem der Psychologie oder der Naturphilosophie, sondern um die ihn viel tiefer ber\u00fchrenden, die speculative Theologie nicht minder als die Metaphysik besch\u00e4ftigenden Probleme, wie: das Verh\u00e4ltniss von Gott und Welt, die Freiheit des menschlichen Willens, die g\u00f6ttliche Providenz und die Vertr\u00e4glichkeit des Uebels der Welt mit der g\u00f6ttlichen Gerechtigkeit etc. Die k\u00fcrzeste Form f\u00fcr die L\u00f6sung aller dieser Probleme suchte und fand Leibniz in der Bestimmung des Begriffes von der individuellen Substanz. M\u00f6gen ihm die urspr\u00fcnglichen atomistischen Ausgangspunkte seiner Naturbetrachtung den R\u00fcckgang vom Ganzen als einem Zusammengesetzten auf das Einfache, Einzelne, und die sp\u00e4teren dynamischen Studien die Bestimmung des Substanzbegriffes durch das Merkmal der Activit\u00e4t nahe gelegt haben, wie sie ja in der That die empirischen Grundlagen seines philosophischen Gedankenganges bilden : allein ohne die Aussicht, durch die Aufstellung des Begriffs der individuellen Substanz die erw\u00e4hnten Probleme der speculativen Theologie l\u00f6sen zu k\u00f6nnen, w\u00fcrde Leibniz sicherlich den ganzen Gedankengang fallen gelassen haben. Ein R\u00fcckblick auf den bisherigen Gang des Leibniz\u2019schen Philosophirens nicht nur nach seinen einzelnen Wendungen, sondern auch nach seinen inneren Motiven, wie wir sie im Verlaufe unserer Abhandlung urkundlich darzulegen versucht haben, wird das Gesagte best\u00e4tigen und die inneren Motive sowie den ideellen Zusammenhang seines Systems, wie es uns schon im Disc, de M\u00e9t. vollkommen ausgebildet entgegentritt, deutlicher erkennen lassen.\nSo haben wir bereits im ersten Abschnitt unserer Abhandlung ahrgenommen, wie fr\u00fchzeitig das Leibniz\u2019sche Denken auf den Be-\"eis f\u00fcr das Dasein Gottes gerichtet war, und wie die M\u00f6glichkeit","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nDavid Selver.\neiner bequemen und beweiskr\u00e4ftigen Argumentation in dieser Richtung entscheidend wurde f\u00fcr das Ma\u00df, in welchem er sich der mechanischen Naturerkl\u00e4rung anschloss. Ebenso unverkennbar war dag Bestreben, das Problem der Transsubstantiation zu l\u00f6sen, das Hauptmotiv f\u00fcr seinen ersten entschiedenen Widerspruch gegen den Carte-sianischen K\u00f6rperbegriff. Ja, selbst bei der Einf\u00fchrung des Kraftbegriffes machte Leibniz geltend, dass nur eine aus diesem Begriff sich ergebende Definition des K\u00f6rpers den Anforderungen des Glaubens gen\u00fcge. Allerdings gestattet ihm die Gleichsetzung von Substanz und Kraft die Elimination des Merkmals der Ausdehnung aus dem K\u00f6rperbegriff, und damit auch der Transsubstantiationslehre den Stein des Ansto\u00dfes aus dem Wege zu r\u00e4umen. Aber mit der Bestimmung der Substanz als Kraft war andererseits wieder ein immanentes Moment in die Causalit\u00e4t des Seins und der Naturvorg\u00e4nge eingef\u00fchrt, w\u00e4hrend das Widerstreben Leibniz\u2019 zu Beginn seines Philosophirens, wie wir sahen, besonders gegen jede immanente Auffassung der Naturvorg\u00e4nge gerichtet war. Im Interesse einer kosmologischen Argumentation f\u00fcr das Dasein Gottes war er in der Betrachtung der Natur als todten Mechanismus noch weit \u00fcber Cartesius und die Atomistik hinausgegangen. Nicht einmal die Bewegung oder genauer die Ursachen der Orts Ver\u00e4nderungen, wollte er als dem Universum immanent aufgefasst wissen. Diejenigen, welche den Thieren eine Seele zuerkannten, und den Pflanzen und Elementen substantielle Formen, schienen ihm einen heidnischen Polytheismus zu bef\u00f6rdern. Denn in der Natur gebe es keine Weisheit und kein eigenes Streben; ihre sch\u00f6ne Ordnung r\u00fchre nur daher, dass sie das Uhrwerk Gottes sei.1) Nur eine streng mechanische Auffassung der Naturvorg\u00e4nge, welche jedes innere Princip ausschloss und in den Gebilden der Natur nur Analoga zu den von Menschenhand gefertigten Mechanismen erblickte, fand Leibniz damals mit dem Dasein Gottes vereinbar. Ab-strahirte er aber auch in der begrifflichen Auffassung der Materie bei seinem Streben, alle inneren Kr\u00e4fte und realen Qualit\u00e4ten von der\n1) Ep. ad. Thom. (Erdm. p. 53b) : Ita reditur ad tot deunculos, quot forma* substantiales et gentilem prope polytheismum. . . . Quum tarnen re vera in natura nulla sit sapientia, nullus appetitus, ordo vero pulcher ex eo oriatur, quia est horo logium Dei. Ex his patet hypotheses philosophiae reformatae hyP\u00b0, thesibus scholasticis eo praevalere, quod non superfluae, contra tarnen clarae sunt.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\t443\nCausalit\u00e4t der Naturvorg\u00e4nge auszuschlie\u00dfen, von allen physikalischen und chemischen Eigenschaften der K\u00f6rper, und versuchte er sogar die Coh\u00e4renz als ein Product von Bewegungsvorg\u00e4ngen zu erkl\u00e4ren, so musste er doch mit Descartes die Ausdehnung als eine prim\u00e4re, zum Wesen des materiellen Substrats geh\u00f6rende Eigenschaft gelten lassen. Aber diese Bestimmung des K\u00f6rperbegriffs widersprach nicht nur der M\u00f6glichkeit der praesentia realis des corpus Christi beim Abendmahl,\n__auch dynamische Studien hatten Leibniz, insofern sie ihn zu der\nErkenntniss brachten, dass aus der blo\u00dfen Ausdehnung und den Ortsver\u00e4nderungen des Ausgedehnten die Thatsachen der Physik nicht erkl\u00e4rtwerden k\u00f6nnten, zum Aufgeben seines urspr\u00fcnglichen Standpunktes in der Physik veranlasst. Indem er nun aber, wie bereits bemerkt, durch Aufstellung seines Kraftbegriffes in causaler Hinsicht zu einer immanenten und spontanen Naturauffassung zur\u00fcckkehrte, kehrten ihm hierbei auch die alten Probleme der speculativen Theologie und Metaphysik wieder, n\u00e4mlich die Fragen nach der Wirksamkeit Gottes und seines Verh\u00e4ltnisses zur Welt u. s. w. Und diese Probleme hatten f\u00fcr ihn durch die inzwischen kennen gelernte Philosophie Spinoza\u2019s und Malebranche\u2019s nur noch eine versch\u00e4rftere Bedeutung gewonnen.\nDer Begriff der Substanz war bei Descartes und Spinoza vornehmlich durch das Merkmal causaler Selbst\u00e4ndigkeit und Selbstgen\u00fcgsamkeit gekennzeichnet worden. Zu einer anderen ontologischen Bestimmung des Substanzbegriffes konnte auch Leibniz, nachdem er in der Activit\u00e4t das wesentliche Merkmal des Substantiellen gefunden hatte, nicht gelangen. Der Begriff Kraft ist zwar umfassend genug, um die empirische Verschiedenheit percipirender und blo\u00df activer Substanz einzuschlie\u00dfen; durch die Position desselben war in der That der cartesianische Dualismus leicht zu \u00fcberwinden. Aber auch der reale Gegensatz von Gott und Welt ist durch diesen Begriff aufgehoben, wenn die causale Immanenz der Dinge nicht im Principe eingeschr\u00e4nkt, oder wenn ihre Substantialit\u00e4t nicht im Sinne Spinoza\u2019s und ihre Selbstth\u00e4tigkeit im Sinne Malebranche\u2019s preisgegeben werden s\u00b0ll. Leibniz entscheidet sich f\u00fcr das erstere. Er versucht die immanente Activit\u00e4t der Einzelsubstanzen durch ihre Individualit\u00e4t einzuschr\u00e4nken. So nimmt er von der Vertr\u00e4glichkeit der realen Substan-tialit\u00e4t (in dem cartesianisch-spinozistisch strengen Sinne dieses Begriffes) und Spontaneit\u00e4t der Dinge mit der Wirksamkeit Gottes bei","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nDavid Selver.\nder Einf\u00fchrung des Begriffes der individuellen Substanz im Disc de M\u00e9t. seinen Ausgangspunkt. \u00bbPour distinguer les actions de Dieu et des cr\u00e9atures, hei\u00dft es in der vorl\u00e4ufigen Inhaltsangabe der einzelnen S\u00e4tze des Disc, in dem Briefe an den Landgrafen von Hessen-Eheinfels, on explique, en quoi consiste la notion d\u2019une substance individuelle\u00ab1)\n\u00dcber die Begr\u00fcndung der Substantialit\u00e4t der Einzeldinge geht Leibniz in den entsprechenden Ausf\u00fchrungen des Disc, selbst rasch hinweg. Sie wird hier, wie wir weiter unten ausf\u00fchren werden, zwar ebenfalls im Sinne der Activit\u00e4t, aber blo\u00df durch einen scholastischen Satz angedeutet. Leibniz versucht vielmehr zu zeigen, worin die Individualit\u00e4t einer Substanz bestehe. Diese besteht darin, f\u00fchrt er aus dass sie ein \u00bbvollst\u00e4ndiges Wesen\u00ab (\u00eatre complet) sei, d. h., dass alle ihre Zust\u00e4nde, die gegenw\u00e4rtigen sowohl wie die k\u00fcnftige Abfolge derselben, in ihrem Wesen angelegt sind und aus ihrer eigensten Natur verm\u00f6ge ihrer Selbstth\u00e4tigkeit folgen, so dass der Begriff einer solchen Substanz schon alle Pr\u00e4dicate desjenigen Subjectes, welches durch ihn bezeichnet wird, einschlie\u00dft, und jeder, der den Begriff einer solchen Substanz vollkommen durchschaue, aus demselben alle ihr realiter zugeh\u00f6rigen Pr\u00e4dicate ableiten k\u00f6nne. So w\u00fcrde beispielsweise ein vollkommener Intellect wie der g\u00f6ttliche, der einen vollkommenen Begriff von Alexander dem Gro\u00dfen, und somit eine Kennt-niss seiner individuellen Substanz oder seiner H\u00e4cceit\u00e4t bes\u00e4\u00dfe, a priori, und nicht erst durch Erfahrung feststellen k\u00f6nnen, ob er eines nat\u00fcrlichen Todes oder durch Gift gestorben sei.2)\nIst aber auch die Einzelsubstanz der causale, durchaus selbst\u00e4ndige Tr\u00e4ger aller ihrer Actionen und Zust\u00e4nde, so ist sie doch zugleich auf dieselben beschr\u00e4nkt und somit nicht nur gegen sich selbst und durch ihr eigenes Wesen, sondern auch gegen die anderen Einzelsub-\n1)\tBriefwechsel ed. Grot. S. 2. (Nr. 8).\n2)\tDisc. \u00a7 8: ... il faut que le terme du sujet enferme toujours celui du pr\u00e9dicat, en sorte que celui qui entendrait parfaitement la notion du sujet, jugerait aussi, que le pr\u00e9dicat lui appartient. Cela \u00e9tant, nous pouvons dire que la nature d une substance individuelle ou d\u2019un \u00eatre complet est, d\u2019avoir une notion si accompli\u00ae qu\u2019elle soit suffisante \u00e0 comprendre et \u00e0 en faire d\u00e9duire tous les pr\u00e9dicats du sujet \u00e0 qui cette notion est attribu\u00e9e etc. Ibid \u00a7 13 ; \u00a7 33 . . . tout ce qui arrive \u00e0 1 \u00e2me et \u00e0 chaque substance est une suite de sa notion, donc l\u2019id\u00e9e m\u00eame ou essence l\u2019\u00e2me porte, que toutes ses apparences ou perceptions lui doivent na\u00eetre (spon de sa propre nature. (Vgl. Briefw, S. 63 extr. 71, 110 extr. 123).","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2019sehen Monadenlehre bis 1695.\t445\nstanzen und ihr Wesen begrenzt und somit in ihrem letzten Seinsgrunde durch den Zusammenhang mit dem Ganzen der Dinge bedingt ; sie ist unbeschadet ihrer Spontaneit\u00e4t und Substantialit\u00e4t doch abh\u00e4ngig und determinirt. \u2014\nAn diese Ausf\u00fchrungen reiht Leibniz dann eine Anzahl weiterer bekannter S\u00e4tze seiner Monadenlehre, die er hier aber selbst nur als \u00bbparadoxes consid\u00e9rables\u00ab bezeichnet. Da n\u00e4mlich die Zust\u00e4nde einer Einzelsubstanz immer nur aus dieser ihrer individuellen Begrenztheit und Anlage folgen, und somit zu ihrer Wesenseigenth\u00fcmlichkeit geh\u00f6ren, den Begriff derselben ausmachen, so folgert Leibniz daraus, dass jede Einzelsubstanz solchergestalt von jeder andern verschieden sein m\u00fcsse, dass es auf keine Weise zwei gleiche Substanzen geben k\u00f6nne. ') Ferner, dass die Einzelsubstanzen auf nat\u00fcrliche Weise weder entstehen noch vergehen k\u00f6nnen, und dass ihre Anzahl weder vermehrt noch vermindert werden k\u00f6nne, dass eine Substanz weder getheilt, noch mehrere Substanzen zu einer zusammengesetzt werden k\u00f6nnen, und dass jede Substanz in solcher Beziehung zum Universum stehe, dass jede in ihrer Weise ein Spiegel desselben,2) und das Universum daher ebenso vielf\u00e4ltig sei, als es Substanzen gebe. \u00bbLa gloire de Dieu, f\u00e4hrt er fort, est redoubl\u00e9e de m\u00eame par autant de repr\u00e9sentation toutes diff\u00e9rentes de son ouvrage\u00ab.3)\nWie bereits bemerkt, versucht Leibniz hier weniger darzulegen, warum den Einzeldingen Substantialit\u00e4t zukomme, als vielmehr ihre Individualit\u00e4t zu kennzeichnen und diesen Begriff speculativ zu ver-werthen. Aus der determinirten Individualit\u00e4t jeder Substanz folgt ihre Abh\u00e4ngigkeit von Gott \u2014 das Dasein Gottes ist also implicite im Begriff der individuellen Substanz gegeben. Die \u00bbCompossibilit\u00e4t\u00ab der einzelnen Substanzen innerhalb des Universums ist f\u00fcr ihre Sch\u00f6-\nll Disc. \u00a7 9. Vgl, Briefw. S. 32, extr. 33, 46 extr. Das principium indiscerni-b ilium als solches wird gew\u00f6hnlich auf Nikolaus von Kues (Cusa) zur\u00fcckgef\u00fchrt; aber der Gedanke, dass alle Einzelwesen von einander verschieden sind, in der Weise, dass nicht einmal zwei Bl\u00e4tter einander v\u00f6llig gleichen, findet sich schon in der stoi-schenPhysik ausgesprochen. Vgl.Ueberweg-Heinze, Grundr. I, 6. Aufl., S. 237, und Dicken, Gesch. u. Krit. der Grundbegriffe der Gegenwart S. 201, wo aber trotz der inweise auf die fraglichen stoischen Anschauungen S. 203 jenes Princip Nikol, v. Kues vindicirt wird.\n2) Disc. \u00a7 9. Vgl. Monadol. \u00a7 4-6. \u00a7\u00a7 56, 57.\n\u25a01) 'V gl. hierzu den Anhang am Schl\u00fcsse dieser Abhandlung, S. 449.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nDavid Selver.\npfung ma\u00dfgebend und somit die Bedingung ihrer wirklichen Existe^ im Gegensatz zu der blo\u00df m\u00f6glichen im Bereiche der g\u00f6ttlichen Ideen Und so gelangt Leibniz nicht blo\u00df zu den Grundlehren seiner Theo-dicee, zum Begriff der besten der m\u00f6glichen Welten, sondern auch zu der eigentlichsten und philosophisch bedeutendsten Synthese seines Systems, zur pr\u00e4stabilirten Harmonie.*)\nAber, so mannigfach auch die ideellen Antriebe und Beziehungspunkte der Leibniz\u2019schen Speculation waren, so weisen doch die historischen Quellen im Grunde nur auf zwei Entwicklungsreihen hin in denen der Monadenbegriff seinen Ursprung hat.\nDass der Begriff der Kraft und die Activit\u00e4t in den Dingen den Ausgangspunkt bildet f\u00fcr den Begriff der Substantialit\u00e4t, wie wir oben dargelegt haben, deutet Leibniz auch im Discours an. Und es ist f\u00fcr seine Art, \u00bbdas Eigene am Fremden zu entwickeln\u00ab1 2), sicherlich charakteristisch, dass er seine auf dem Wege eingehender dynamischer Studien gewonnene Erkenntniss, dass die Kraft als eine absolute Realit\u00e4t anzusehen ist,3) hier in die scholastische Formel kleidet: acti-ones sunt suppositorum (\u00a7 8), um anzudeuten, dass, da jede Th\u00e4tig-keit auf ein Subject hinweise, Activit\u00e4t und Substantialit\u00e4t Wechselbegriffe sind. Dieses ist zwar auch die stillschweigende Voraussetzung seiner oben mitgetheilten Kennzeichnung der Substanz als Individualit\u00e4t. Denn nur wenn die Activit\u00e4t die Wesenseigenth\u00fcmlichkeit der\n1)\tDisc. \u00a7 14\u201415, 31\u201433. Vgl. Briefw. S. 38, 43, 47, 49: Ainsi chaque substance individuelle ou \u00eatre complet est comme un monde \u00e0part, ind\u00e9pendentdetoute autre chose que de Dieu . . . Mais cette ind\u00e9pendence n\u2019emp\u00eache pas le commerce des substances entre elles ; car comme toutes les substances cr\u00e9\u00e9es sont une cr\u00e9ation continuelle du m\u00eame souverain \u00eatre selon les m\u00eames dessins, et expriment le m\u00eame univers ou les m\u00eames ph\u00e9nom\u00e8nes, elles s\u2019entrecordent exactement, et cela nous fait dire que l\u2019une agit sur l\u2019autre, parceque l\u2019une exprime plus distinctement que l\u2019autre la cause ou raison des changements etc. Ibid. p. 131 : ... je tiens qu\u2019une substance cr\u00e9\u00e9e n\u2019agit pas sur une autre dans la rigueur m\u00e9taphysique, c\u2019est \u00e0 dire avec une influence r\u00e9elle. Aussi ne saurait-on expliquer distinctement, en quoi consiste cette influence, si ce n\u2019est \u00e0 l\u2019\u00e9gard de Dieu, dont l\u2019op\u00e9ration est une cr\u00e9ation continuelle et dont la source est la d\u00e9pendence essentielle des cr\u00e9atures.\n2)\tEucken, Geschichte der philos. Terminologie. S. 100.\n3)\tVgl. den Brief an Arnauld vom Jan. 1668 (Briefw. S. 131) : Le mouvement en lui m\u00eame, s\u00e9par\u00e9 del\u00e0 force, est quelque chose de r\u00e9latif seulement, et on ne saurait d\u00e9terminer son sujet. Mais la force est quelque chose de r\u00e9el et d\u2019absolu, et son calcul \u00e9tant diff\u00e9rent de celui du mouvement, comme je d\u00e9monstre clairement) il ne faut pas s\u2019\u00e9tonner que la nature garde la m\u00eame quantit\u00e9 de la force et non pas la m\u00eame quantit\u00e9 du mouvement. Ausf\u00fchrlicher in Disc. \u00a7 18.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\n447\nSubstanz ausmacht, kann in ihr auch realiter der zureichende Grund aller ihrer Handlungen gefunden werden. Aber Leibniz sagt hier nicht, dass aus der Activit\u00e4t der Dinge auch ihre Individualit\u00e4t folge. Eine solche Ableitung des Begriffs der Individualit\u00e4t findet sich, soweit wir sehen konnten, auch in seinen sp\u00e4teren Schriften nirgends, obschon in den bedeutendsten und bekanntesten Darstellungen der Leibniz\u2019schen Philosophie der Begriff der Monade gerade durch eine solche Formel sich abgeleitet findet.1) Die Bestimmung der Substanz als Individualit\u00e4t, so weit sie nicht an und f\u00fcr sich, wie wir oben darzulegen versuchten, durch die Natur der Alternative bedingt war, vor welche Leibniz sich gestellt sah, wofern er nicht auf einen Abschluss seines Denkens \u00fcber Gott und Welt verzichten wollte, weist historisch auf eine ganz bestimmte Gedankenreihe in der Leibniz\u2019schen Naturbetrachtung hin. Wir haben im Verlaufe unserer Abhandlung gesehen, dass Leibniz seine in sein Knabenalter zur\u00fcckreichende Auffassung des materiellen Continuums als eines discret Getheilten im Grunde nie wieder aufgegeben hat, so viele Schwankungen auch in der physikalischen Bestimmung der elementaren Theilchen die vor-monadologischen Schriften Leibniz\u2019 auch aufzuweisen haben. Der Satz, dass alles Zusammengesetzte auf Einfaches hinweise, wird von Leibniz nicht nur im Briefwechsel mit Amauld und im Syst. nouv. \u2014 also bei der ersten literarischen Einf\u00fchrung seines Substanzbegriffs \u2014 sondern auch noch in der Monadologie von 1714, der sp\u00e4testen und reifsten Darstellung seiner Monadenlehre, f\u00fcr die Begr\u00fcndung der Annahme absolut einheitlicher Substanzen geltend gemacht.2) Eine\n1)\tErdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Gesch. der neueren Philos. II, 2. S. 34; K. Fischer, Gesch. d. n. Philos. II. (2. Aufl.) S. 311,\n; Zeller, Gesch. d. deutschen Philos. (1. Aufl.) S. 105 ff. (am letzten Orte : \u00bbIV ie aber jede Substanz th\u00e4tige Kraft ist, so muss auch jede . .. . ein streng einheitliches Wesen, eine Monas, sein . ,. Th\u00e4tige Kraft und Individualit\u00e4t sind f\u00fcr ihn iLeibniz] Wechselbegriffe\u00ab). Aber die Stellen, auf welche Zeller und Erdmann ln (h\u00aeser Beziehung verweisen, besagen, so weit der Verfasser sie verstehen konnte, a\u00ae nicht. In der von Zeller.u. a. angef\u00fchrten Stelle aus dem Syst. nouv. (\u00a7 3) folgert eibniz gerade umgekehrt : Weil man letzte Einheiten annehmen m\u00fcsse, k\u00f6nne man 1 re Wesenseigenth\u00fcmlichkeit nur in der Kraft finden.\n2)\tBriefw. S. 92: ... tout \u00eatre par aggr\u00e9gation suppose des \u00eatres dou\u00e9s d\u2019une heritable unit\u00e9, parcequ\u2019il ne tient sa r\u00e9alit\u00e9 que de celle de ceux dont il est compos\u00e9.\na- P- 93 : ... le pluriel suppose le singulier, et l\u00e0 ou il n\u2019y a pas un \u00eatre, il y aura Picore moins plusieurs \u00eatres. Que peut-on dire de plus clair? Syst. nouv. \u00a7 3,","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nDavid Selver.\nsubstantielle absolute Einheit ist aber das physische Atom nicht da jeder Theil der Materie noch immer theilbar bleibt.* 1) Dazu kommt noch, dass f\u00fcr die Atomistik der Unterschied der Einzelsubstanzen und der letzten Einheiten, von der Configuration abgesehen, nur \u00e9in quantitativer sein kann, f\u00fcr Leibniz aber sollte er ein individu, eil er sein. Nur durch die Setzung substantieller Einheiten und in. dividueller Unterschiede, meint Leibniz, werde die Schwierigkeit der unendlichen Theilbarkeit oder unendlichen \u00bbZusammensetzung des Continuums\u00ab beseitigt.2) Leibniz setzte daher an Stelle des physischen Atoms die \u00bbsubstantielle Form\u00ab oder, wie man in seinem Sinne sagen m\u00fcsste, die individuelle Form. Und w\u00e4hrend er auf der einen Seite f\u00fcr die Kennzeichnung der individuellen Natur der letzten Einheiten im ganzen Bereiche des Seins kein anderes Analogon fand, als die menschliche Seele,3) war andererseits der Kraftbegriff, obschon an und f\u00fcr sich eine dynamisch-physikalische Abstraction, umfassend genug, um auch realiter sowohl alle seelischen Actionen als alle k\u00f6rperlichen Energien in seinen Rahmen aufzunehmen.4)\nSo liefen denn in dem Leibniz\u2019sehen Begriff der Monas die F\u00e4den mathematischer Distinctionen, dynamisch - phoronomischer Berechnungen, atomistischer Abstractionen und theologischer Bestrebungen zusammen, um von einem, wenn auch nur k\u00fcnstlich geschaffenen, Mittelpunkte aus die ganze F\u00fclle des Seins mit seinem Reichthum an Gegens\u00e4tzen und Differenzirungsm\u00f6glichkeiten innerer Regungen und \u00e4u\u00dferer Spiegelungen zu einem Systeme zu verkn\u00fcpfen, welches sich im Geiste seines Urhebers als ein nirgends unterbrochener Zusammenhang harmonischer, systematischer Anordnung und Abstufung darstellte. Aber wie jedes Glied dieses Systems, jede Monade, das\nErdm. p. 124 : La multitude ne pouvant avoir sa r\u00e9alit\u00e9 que des unit\u00e9s v\u00e9ritables etc. Monadol. \u00a7 2 : Il faut qu\u2019il y ait des substances simples, puisqu\u2019il y a des compos\u00e9s, car le compos\u00e9 n\u2019est autre chose, qu\u2019un amas, ou aggregatum des simples.\n1)\tSyst. nouv. \u00a7 3 : Il est impossible de trouver les principes d\u2019une v\u00e9ritable unit\u00e9 dans la mati\u00e8re seule ou dans ce qui n\u2019est pas passif, puisque tout n\u2019 y est que collection ou amas de parties \u00e0 l\u2019infini. \u2014 Vgl. auch oben S. 236, Anm. 1.\n2)\tBriefw. S. 94.\n3)\tDisc. \u00a7 12 ; Syst. nouv. \u00a7 3. (Vgl. Briefw. S. 65. extr. 66.)\n4)\tHierin d\u00fcrfte nicht minder ein wesentlicher Unterschied enthalten sein zwischen der Monadenlehre und dem pantheistischen Hylozoismus eines Bruno wie anderer theosophischer Systeme.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwicklungsgang der Leibniz\u2019schen Monadenlehre bis 1695.\n449\nGanze nur von einem bestimmten Gesichtspunkte aus darstellt, so hat Leibniz das von ihm im Geiste geschaute System in seinen einzelnen zahlreichen philosophischen Schriften immer nur von einer Seite zur Darstellung gebracht. Wie diese Schriften von 1695 ab, jede f\u00fcr sich und alle im Ganzen, das System darstellen, dies zu zeigen ist nicht mehr die Aufgabe dieser unserer Abhandlung. Ihr Ziel, das sie auf historischem Wege zu erreichen suchte, war der Mittel- und Schwerpunkt des Systems, ihr Ausgang die ersten Anf\u00e4nge seines Entwickelungsprocesses.\nAnhang zu S. 445.\nPointirungen, wie sie an der hier angef\u00fchrten Stelle und an anderen Orten Vorkommen, haben h\u00f6chstens die Bedeutung von Corollarien. Sie sind Bilder und Gleichnisse, die Leibniz zur Erl\u00e4uterung seiner metaphysischen Begriffe, \u2014 \u00bbpour rendre le raisonnement sensible \u00e0 tout le monde\u00ab bemerkt er einmal an Yarignon, sich wegen seiner Relativirung des Unendlichkleinen durch ein unpassendes Gleichniss entschuldigend, Gerh., Math. Schr.IV. S. 89; cf. Cohen, Princip der Infinitesimalmethode p. 61 \u2014 oder einem ihm auch sonst nicht fremden dichterischen Zuge nachgebend, als poetischen Schmuck seiner Darstellung nicht verschm\u00e4hte. Der Umstand, dass Leibniz hierbei gewisse aus der Literatur der neuplatonischen und mystischen Theosophie stammende Metaphern wiederholt anwendet, darf aber nicht dazu verleiten, wie das h\u00e4ufig geschehen, in jenen Schriften eine Quelle der Monadenlehre zu erblicken. Ein genaues Eingehen auf den Zusammenhang der monadologischen Lehrs\u00e4tze und ihre principielle Begr\u00fcndung zeigt, dass jene Metaphern bei Leibniz meist einen ganz andern Sinn haben, als die Urheber derselben mit ihnen verbanden, und auf das Tertium Comparationis kommt es ja wohl beim Gebrauch von Metaphern haupts\u00e4chlich an. So bezeichnet beispielsweise Nikolaus v. Kues, der am h\u00e4ufigsten als Vorg\u00e4nger Leibniz genannt wurde, den Geist nur insofern als einen Spiegel des Welt-*\u00ab,. a^s er bestimmt ist, das Bild desselben in sich aufzunehmen oder in sich \u2019\u25a0b\u00e4tig abzubilden ; einen ganz andern Sinn hat diese Metapher bei Leibniz.\n- ur insofern als jede wirkliche, oder wie Leibniz auch oft in Accommo-ation an den theologischen Sprachgebrauch sagt, jede \u00bbgeschaffene\u00ab Monade\nur nach Ma\u00dfgabe ihrer Compossibilit\u00e4t (sc. mit dem Bestand der anderen Wundt, Philos. Studien. III.\t,\u00bb","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nDavid Selver.\nMonaden bezw. des Universums) existirt und somit integrirender Bestand theil des durchaus systematisch und harmonisch angelegten Weltalls ist j8j der Plan des Ganzen, ja das Ganze selbst an jedem Theile erkennbar. \u00dfa aber auch die Innenzust\u00e4nde jeder Monade mit zum Plan des Ganzen geh\u00f6ren, so erzeugt oder spiegelt jede Monade innerlich in verschiedenen Graden von Deutlichkeit den Inhalt und den Plan des Universums ab. Insofern es sich um die \u00bbRepr\u00e4sentation\u00ab des \u00e4u\u00dferen Zusammenhanges des Weltalls von Seiten jeder Monade handelt, vergleicht Leibniz ihr Verh\u00e4ltniss zu demselben mit dem der verschiedenen Erscheinungsweisen einer Stadt zu den jeweiligen Standorten des Beschauers (cf. oben S. 242, Anm. 2); insofern es sich um den inneren Zusammenhang des Weltalls handelt, braucht Leibniz das Bild vom Spiegel. Aehnlich wie mit den neuplatonischen und mystischen Metaphern verh\u00e4lt es sich mit dem Ausdruck Monade, den Leibniz seit etwa 1697 zur Bezeichnung der Einzelsubstanz terminologisch anwandte, und der von Bruno etwa ein Jahrhundert fr\u00fcher als Titel einer besondern Schrift benutzt worden war. Nun soll nach der Meinung einiger Schriftsteller Leibniz nicht nur den Ausdruck von Bruno entlehnt haben, \u2014 was wir auf sich beruhen lassen, \u2014 sondern mit dem Ausdruck auch die Sache. Es w\u00fcrde hierzu weit f\u00fchren, wollten wir zur Widerlegung jener Behauptung auf die principiell durchaus verschiedene, ja gegens\u00e4tzliche Welt- und Naturauffassung Bruno\u2019s und Leibniz\u2019 im Einzelnen eingehen. Wir beschr\u00e4nken uns darauf daran zu erinnern, dass bei Bruno der Ausdruck Monade zun\u00e4chst eine arithmetische Einheit bezeichnet und zwar das \u00bbGr\u00f6\u00dfte\u00ab und \u00bbKleinste\u00ab zugleich. Als ersteres repr\u00e4sentirt die Monade die neuplatonische Weltseele, als letzteres ist sie so zu sagen eine atomi-stische Existenz, und somit zwar durchaus materieller Natur, aber doch auch psychisch, weil sie selbst als Kleinstes an der Weltseele Theil hat. Aber auch nur insofern bildet sie eine Realit\u00e4t; denn an sich wird von Bruno den Einzelsubstanzen in pantheistischer Weise Realit\u00e4t abgesprochen. Alle diese Merkmale, durch die der Begriff des Kleinsten bei Bruno gekennzeichnet wird, bilden lauter Gegens\u00e4tze zur Leibniz\u2019sehen Bestimmung der Monade. Ist ja die Spitze der Leibniz\u2019sehen Monadenlehre gegen alle pan-theistischen und materialistischen Systeme gerichtet ! Die Idee des Unendlichkleinen aber sowie die Betrachtung jedes Ganzen als eines Zusammengesetzten und die Aufl\u00f6sung desselben in seine Grundbestandtheile war Leibniz sowohl von seinen ersten, mathematisch-analytischen Studien wie von seiner atomistischen Naturphilosophie her gel\u00e4ufig. Diese Anschauungen bilden, wie wir sahen, die allerersten Ausgangspunkte seines naturwissenschaftlichen und philosophischen, in sein Knabenalter zur\u00fcckreichen den Denkens. Er hatte es also nicht n\u00f6thig, dieselben den Schriften Bruno s","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695.\t451\nZu entlehnen. \u2014 Schlie\u00dflich sei noch, um den Schein einer unabsichtlichen Uebergehung zu vermeiden, bemerkt, dass wir auch in den Schriften des j\u00fcngeren van Helmont keinerlei Quelle der Leibniz\u2019schen Monadenlehre entdecken k\u00f6nnen. H. Ritter, der die Schriften des v. H. als diejenigen ansieht (Gesch. d. Philos. XII. Bd. S. 4. 67ff.), aus denen Leibniz, da er Nikol, v. Kues nicht gekannt zu haben scheint, theosophische und mystische Anregungen empfangen, beruft sich besonders auf einige theosophische Wendungen und mystische Ankl\u00e4nge, denen man schon in Leibniz\u2019 Jugendschriften begegnet. Allein da gerade der Standpunkt derselben als der der modernen, mechanischen Naturerkl\u00e4rung nach unserer eingehenden Analyse ihres Lehrgehalts und Leibniz\u2019 eigenem Zeugnisse in keiner Weise zweifelhaft sein kann, so d\u00fcrfte auch f\u00fcr die Beurtheilung der fraglichen Ausdr\u00fccke und Wendungen der richtige Gesichtspunkt nahe genug liegen. Was speciell die ebenfalls der vormonadologischen Epoche angeh\u00f6renden Briefe an den Herzog Joh. Friedr. v. Braunschw.-L\u00fcneburg anbetrifft, in denen dergleichen theosophische Wendungen am zahlreichsten anzutreffen sind, so haben wir in der That dieselben neben den sonstigen Schriften dieser Periode von wissenschaftlichem Charakter nicht als eine ungetr\u00fcbte Quelle f\u00fcr die Kennt-niss der fr\u00fchesten Leibniz sehen Ideen und Anschauungen ansehen k\u00f6nnen. Wir haben uns auf sie nur bez\u00fcglich ihrer biographischen und sonstigen literarischen Angaben bezogen. Statt aller inneren Gr\u00fcnde aber, die wir gegen eine Ableitung der Monadenlehre aus theosophischen Quellen geltend zu machen h\u00e4tten, wollen wir nur daran erinnern, dass die monadologische Ankl\u00e4nge enthaltenden Schriften v. H.\u2019s erst in den Jahren 1690/93 erschienen sind, w\u00e4hrend Leibniz mit der positiven Ausbildung seines Systems, wie nachgewiesen, bereits um 1680 begonnen hat. Da die beiden M\u00e4nner, wie H. R. zu berichten weiss, sp\u00e4ter wieder in pers\u00f6nlichem Verkehr standen, kann umgekehrt L. als Quelle f\u00fcr die Lehrmeinungen des v, H. angesehen werden.\n30*","page":451}],"identifier":"lit4548","issued":"1886","language":"de","pages":"420-451","startpages":"420","title":"Der Entwickelungsgang der Leibniz\u2018schen Monadenlehre bis 1695 (Schluss)","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:22:07.420139+00:00"}