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{"created":"2022-01-31T12:24:14.725892+00:00","id":"lit4553","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lange, Ludwig","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 3: 643-691","fulltext":[{"file":"p0643.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes und ihr voraussichtliches Endergebniss.\nEin Beitrag zur historischen Kritik der mechanischen\nPrincipien.\nVon\nLudwig Lange.\n(Schluss.)\nCapitel III.\nDer Bewegungsbegriff von Newton bis auf die Gegenwart.\nDie neue Periode des Bewegungsbegriffes, an welche wir nun herantreten, zeichnet sich nicht durch einen \u00e4hnlichen gro\u00dfen Meinungskampf aus, wie die vorhergehende. Das macht, sie ist nicht mehr an das gewaltige Problem des Weltsystemes gekn\u00fcpft; denn Copernicus hat den Sieg davongetragen. Der Begriff der Bewegung entwickelt sich nun nicht mehr mit der Astronomie, sondern mit der Mechanik als reiner mathematischer Disciplin. Newton hat zuerst diese Aenderung herbeigef\u00fchrt. Seine Terminologie gelangt in den Principien der Mechanik zu immer allgemeinerer Geltung, mag man ihr nun genau die Gedanken ihres Urhebers unterlegen, oder mag man, unter unerlaubter Vermengung theoretischer und praktischer Maximen, das verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig unver\u00e4nderliche \u00bbFirmament\u00ab als absoluten Raum, die Sternzeit schlechthin als absolute Zeit gelten lassen. Wer streng an Newtons Lehre festhielt, ohne aber dabei den gro\u00dfartigen teleologischen Hintergrund derselben zu billigen, der erblickte in den Annahmen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit\n42","page":643},{"file":"p0644.txt","language":"de","ocr_de":"644\nLudwig Lange.\nwohl nothwendige Uebel, nicht aber willkommene Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung. Indessen gew\u00f6hnte man sich an das Operiren mit diesen Voraussetzungen ebenso bald und ebenso leicht, wie an den Gebrauch irgend welcher Hypothesen ; und in der Mechanik erstarrte Newtons Lehre von Raum und Zeit ebenso unvermeidlich, wie in der Optik seine Lehre vom Licht. Ganz vereinzelt waren bis vor kaum zwei Jahrzehnten Bestrebungen, welche das Problem von einer neuen Seite her in Angriff nahmen. Ja es kam so weit, dass man Newtons Dogma beihehielt und die Begr\u00fcndungsversuche ganz aus dem Gesichte verlor. Euler und Kant sind die Einzigen, welche in dem ganzen langen Zeitr\u00e4ume nennenswerthe Reflexionen \u00fcber die Relativit\u00e4t oder Nichtrelativit\u00e4t der Bewegungen angestellt haben. Auf sie allein haben wir daher n\u00e4her einzugehen, w\u00e4hrend wir uns im \u00fcbrigen damit begn\u00fcgen k\u00f6nnen, an einigen Beispielen zu zeigen, in welcher Weise vom Anf\u00e4nge des 18. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart der N e w-ton\u2019sche Lehrbegriff durch die gro\u00dfe Mehrzahl der mechanischen Compendien sich fortgepflanzt hat.\nJ. Hermann versucht in seiner 1716 erschienenen \u00bbPhoronomia sive de viribus et motibus corporum . . . libri duo\u00ab das Unm\u00f6gliche, n\u00e4mlich eine friedliche Vereinigung des Newton\u2019schen und Cartesian i s c h e n Bewegungsbegri flies !\n\u00bb\u00a7 1. Absolut bewegt hei\u00dfen K\u00f6rper, wenn ihre Ber\u00fchrung (!) mit den Theilen des allerseits unendlichen und unbeweglichen Raumes stetig sich \u00e4ndert; und in der That besteht die Bewegung selbst in einer derartigen Ver\u00e4nderung der Nachbarschaft. \u00a7 2. Einem K\u00f6rper benachbart sind diejenigen'Theile des unendlichen und unbeweglichen Raumes, welche ihn unmittelbar ber\u00fchren und umgeben; und der Raum hei\u00dft unbeweglich, weil seine einzelnen Theile als best\u00e4ndig denselben Abstand und folglich dieselbe Lage gegeneinander bewahrend gedacht werden; und weil man sich nicht vorstellen kann, dass der ganze doch allerseits ins Unendliche verlaufende Raum aus sich selbst hinausschweife und seine Lage ver\u00e4ndere\u00ab. Diese Interpretation Newtons erinnert einigerma\u00dfen an die scholastischen Interpretationen des Aristoteles!\nDie von Diderot redigirte \u00bbEncyclop\u00e9die\u00ab schlie\u00dft sich (Article \u00bbMouvement\u00ab) wesentlich an H ermanns Definition an, reproducirt jedoch, was nicht gerade h\u00e4ufig ist, Newtons eigene Experimente,","page":644},{"file":"p0645.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewcgungsbegriffes.\t645\ndurch welche er die Annahme einer absoluten Bewegung wissenschaftlich zu begr\u00fcnden versuchte, s\u2019 Gravesande in seinen weit verbreiteten \u00bbElementa physices\u00ab (zweite Auflage 1742) nimmt das Newton\u2019sche Dogma ohne Begr\u00fcndung und ohne Kritik an. d\u2019Alembert kommt in seinem \u00bbTrait\u00e9 de Dynamique\u00ab auf die ganze fundamental wichtige Frage nicht zu sprechen, und auch Lagrange \u00fcbergeht sie in seiner sonst so tiefdringenden \u00bbM\u00e9canique analytique\u00ab einfach mit Stillschweigen. Carnots Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Bewegung ist die gew\u00f6hnliche inhaltslose.1) Laplace l\u00e4sst es wenigstens dahingestellt, oh der absolute Raum als real oder als ideal zu betrachten sei, gibt aber dann durch eine ontologische Begr\u00fcndung des Tr\u00e4gheitsgesetzes den Beweis, dass er sich der Tragweite der Frage nicht klar bewusst ist.2)\nPoisson macht auf die g\u00e4nzliche Unerkennbarkeit der absoluten Bewegungen aufmerksam,3) was aber auch ihn nicht hindert, das Tr\u00e4gheitsgesetz so zu begr\u00fcnden, dass es f\u00fcr jede relative Bewegung gleich gut gelten w\u00fcrde, wenn der Beweis richtig w\u00e4re. Auf derartige verfehlte Begr\u00fcndungsversuche, wie sie sich auch bei d\u2019Alembert und Anderen vorfinden, komme ich bei Euler n\u00e4her zu sprechen.\nCoriolis definirt die absolute Bewegung als eine solche in Bezug auf \u00bbfeste Punkte\u00ab.4) Das Gehl er\u2019sehe \u00bbPhysikalische W\u00f6rterbuch\u00ab lehrt nach einer ganz zutreffenden Kritik der Begriffe \u00bbAbsoluter Ort\u00ab und \u00bbAbsolute Bewegung\u00ab (Artikel Bewegung Bd.I. S. 915 ff.) Folgendes: \u00bbEs ergibt sich sonach gleichsam von selbst, dass man bei.der Bestimmung des Begriffes der absoluten Bewegung nicht allzu \u00e4ngstlich an der Bedeutung des Ausdruckes: absoluter Ort, und dessen Ver\u00e4nderung h\u00e4ngen darf, indem sie vielmehr auf dem Gegens\u00e4tze gegen relative Bewegung beruht. Hiernach besteht also, wie Hutton (Dictionary II. 73) richtig angibt, die absolute Bewegung in der Ver\u00e4nderung des einen Ortes und dem Uebergange in einen anderen, wenn man sowohl jenen als auch diesen absolut und ohne ihr Ver-h\u00e4ltniss (ihre Relation) zu einem dritten Orte oder Gegenst\u00e4nde be-\n1 ) Principes fondamentaux de l\u2019\u00e9quilibre et du mouvement. \u00a7 24.\n2)\tM\u00e9canique c\u00e9leste. Tome I. Part. I. Livre I. Ch. I. p. 3. (1799).\n3)\tTrait\u00e9 de M\u00e9canique, IIi\u00f4me \u00e9d. 1833. Tome I. p. 1.\n4)\tTrait\u00e9 de la M\u00e9canique des corps solides, Ili\u00e8me \u00e9d. 1844.","page":645},{"file":"p0646.txt","language":"de","ocr_de":"646\nLudwig Lange.\ntrachtet. Jede Bewegung ist daher absolut, wenn sie nicht in dieser letzteren Beziehung genommen wird, oder nicht relativ ist\u00ab.\nDass hier die eigenth\u00fcmliche dynamische F\u00e4rbung der New-ton\u2019schen \u00bbabsoluten Bewegung\u00ab v\u00f6llig verflogen ist, sieht man auf der Stelle. Und doch hat die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Bewegung, wenn irgend welchen, nur dynamischen Werth. In der blo\u00dfen Phoronomie ist sie nicht am Orte. Sie hat sich hier nur durch eine einseitige Beachtung dessen eingeschlichen, was Newton \u00fcber die \u00bbEigenthiimlichkeiten\u00ab der absoluten Bewegung geschrieben und in einem ganz anderen Sinne geschrieben hat, als seine Ausleger es verstanden haben (s. o. S. 398 f.). Sie k\u00f6nnte durch die Unterscheidung zwischen \u00bbprim\u00e4rer\u00ab und \u00bbsecund\u00e4rer\u00ab Bewegung sehr zweckm\u00e4\u00dfig ersetzt werden, \u00fcberall, wo sie in dem von Hutton angegebenen Sinne angewandt wird.\nDass man sich in der betrachteten Periode von mathematischer Seite im allgemeinen wenig Scrupel \u00fcber den Begriff der absoluten Bewegung gemacht hat, dazu mag die Laplace\u2019sche Theorie der invariahelen Ebene Viel beigetragen haben. Wenn auch der Fixsternhimmel ver\u00e4nderlich ist, die invariabele Ebene nimmt doch eine feste Lage im \u00bbabsoluten Raume\u00ab ein, und sie ist, wenngleich nur mittelbar, an etwas Materielles gebunden. Der absolute Raum ist nur ein Wort, welches dahinter steht. Mit dieser und \u00e4hnlichen sehr bedenklichen Vermengungen theoretischer und praktischer Gesichtspunkte mag man sich beruhigt haben. Dass man sich \u00fcber die fundamental so wichtige Frage nach dem Unterschiede zwischen absoluter und relativer Bewegung vielfach, ja meistens ganz hinweggesetzt hat, best\u00e4tigt uns auch K. Fr. Gau\u00df in einem von G\u00f6ttingen den 29. September 1837 an M\u00f6bius geschriebenen Briefe1) mit den folgenden Worten: \u00bb. . F\u00fcr diejenigen, die gern Alles aus dem h\u00f6chsten und allgemeinsten Gesichtspunkt betrachten, scheint mir in allen Schriften\u00ab (\u00fcber Bewegungslehre) \u00bbzu wenig auf die Unterscheidung des absoluten und der relativen R\u00e4ume eingegangen zu w'erden... Ich\ngehe \u00fcbrigens gern zu, dass es nicht ganz leicht ist, gleich von vornherein Alles aus dem h\u00f6heren Standpunkt eines \u00fcber der mate-\n1) Mitgetheilt von 0. Neumann in den Sitzungsberichten der Kgl. Sachs. Gesellsch. d. Wissensch. Math.-Phys. Classe, Bd. XXXI. p. 61 f.","page":646},{"file":"p0647.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n647\nriellen Welt stehenden Geistes darzustellen, und dass die H\u00fclfe, welche die Haarspaltereien der sogenannten Metaphysiker gehen, nur eine sehr ungen\u00fcgende sein m\u00f6chte\u00ab.\nWenn sonach meistens die klare Einsicht in das Problem, ja vielfach sogar das Bed\u00fcrfniss nach einer solchen fehlte, so muss es doppeltes Interesse erregen, wenn ein Mann wie Euler sich aufs angelegentlichste mit unserer Frage besch\u00e4ftigt hat. Fassen wir darum seine Auseinandersetzungen n\u00e4her ins Auge.\n\u00a7 1. Euler.\nLeonhard Euler hat sich in drei verschiedenen Schriften \u00fcber die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Bewegung ausf\u00fchrlich ausgesprochen, in seiner \u00bbMechanica\u00ab von 1736, in einer kleineren gesonderten Abhandlung \u00bbR\u00e9flexions sur l\u2019espace et le temps\u00ab1) von 1748 und in seiner \u00bbTheoria motus\u00ab vom Jahre 1765.\nIn der dogmatischen Aufstellung der Begriffe des absoluten Raumes, der absoluten Zeit und der absoluten Bewegung weicht Euler von Newton nicht so sehr ab, als in den Begr\u00fcn dungsversuchen, welche er folgen l\u00e4sst. Immerhin verdienen seine Erkl\u00e4rungen jener Begriffe ein besonderes Interesse.\nWas nun zun\u00e4chst den \u00bbabsoluten Raum\u00ab anlangt, so hat Euler seine Ansichten \u00fcber ihn im Laufe der Zeit nicht unbetr\u00e4chtlich ge\u00e4ndert. In der \u00bbMechanica\u00ab gesteht er, dass man sich von einem (real existirenden) absoluten Raume und seinen \u00bbfesten\u00ab Marksteinen (als solchen) nicht einmal eine bestimmte Idee bilden kann (Tom. I. \u00a7 7), und l\u00e4sst dementsprechend die Frage nach seiner Realit\u00e4t oder Idealit\u00e4t unentschieden. \u00bbOb er existirt oder nicht, k\u00fcmmert uns nicht, wir fordern vielmehr nur, dass man sich zur Betrachtung der absoluten Ruhe und Bewegung einen derartigen Raum vorstelle, und mit Bezug auf ihn \u00fcber den Zustand der Ruhe oder Bewegung der K\u00f6rper ur-theile. Denn am angemessensten wird sich die Berechnung so einrichten lassen, dass wir im Geiste von der Welt abstrahiren, uns einen unendlichen und leeren Raum vorstellen und annehmen, dass\n1) Histoire de l\u2019Acad\u00e9mie Royale des sciences et belles lettres, 1748. Tome IV, Berlin 1750, p. 324\u2014333.","page":647},{"file":"p0648.txt","language":"de","ocr_de":"648\nLudwig Lange.\ndie K\u00f6rper in ihm ihre Orte einnehmen\u00ab (\u00a7 8). Aber vorstellen kann man sich unz\u00e4hlige beliebig gegeneinander bewegte R\u00e4ume welche dynamisch doch keineswegs gleichberechtigt sind; und es fehlt also noch eine n\u00e4here Bestimmung. Diese Unbestimmtheit des ganz ohne R\u00fccksicht auf die gegebene Welt gedachten Raumes mag Euler sp\u00e4ter bemerkt haben, und er ist nun in dem Aufsatze von 1748 bestrebt, die Realit\u00e4t des Raumes nachzuweisen und damit den Betrachtungen der Dynamik ein gleichsam solideres Fundament zu geben. In der \u00bbTheoria motus\u00ab bleibt er diesem Standpunkte treu.\nAuch \u00fcber die Zeit ist Euler nicht immer derselben Meinung gewesen. W\u00e4hrend er in der \u00bbMechanica\u00ab die Frage nach der relativen und absoluten Zeit \u00fcbergeht, sucht er in seinen sp\u00e4teren Schriften die Realit\u00e4t der Zeit in Strenge zu erweisen und damit den Begriff der absoluten Zeit als nothwendige Grundlage der Mechanik zu rechtfertigen.\nUeber die Bewegung hat Euler eine Reihe von Erw\u00e4gungen angestellt, welche der Newton \u2019sehen Darstellung nicht nur zur weiteren Begr\u00fcndung, sondern auch zur Erg\u00e4nzung dienen sollen. Seine Besprechung des Unterschiedes zwischen absoluten und relativen Bewegungen ist viel systematischer als diejenige seines gro\u00dfen Vorg\u00e4ngers. Er f\u00fchrt aus, wie es der relativen Bewegungen eines K\u00f6rpers unendlich viele verschiedene gehen k\u00f6nne (M. \u00a7 12),1) wie die relative Bewegung mit der absoluten nur dann \u00fcbereinstimme, wenn das Bezugsobject absolut ruht, und wie man sonst absolute und relative Bewegungen nicht verwechseln d\u00fcrfe (M. \u00a7\u00a710 sq. Th. m. \u00a7 99). Die Begriffe der absoluten Ruhe und Bewegung, meint er, seien die wahren, echten, denn sie allein seien den Gesetzen der Bewegung angepasst (M. \u00a7 7). Insbesondere sei das Gesetz der Tr\u00e4gheit nicht f\u00fcr beliebige relative Bewegungen, sondern nur f\u00fcr absolute Bewegungen g\u00fcltig, oder doch nur f\u00fcr relative Bewegungen in Bezug auf solche K\u00f6rper, die im absoluten Raume entweder ruhen oder geradlinig und gleichf\u00f6rmig fortschreiten (M. \u00a7\u00a7 59. 69. 77. Th. m. \u00a7\u00a7 84. 99sq.). Dass auf Grund der Bewegungsgesetze die absolute Bewegung nicht ganz unzweideutig festzustellen sei, d. h. dass es nicht\n1) M. = \u00bbMechanica\u00ab, Tom. I., R. = \u00bbR\u00e9flexions . . .\u00ab, Th. m. = \u00bbTheoria motus\u00ab, Tom. I.","page":648},{"file":"p0649.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegrifles.\n649\nm\u00f6glich sei, die absolute Ruhe von der geradlinigen gleichf\u00f6rmigen absoluten Translation dynamisch zu unterscheiden, gibt Euler selber zu (M. \u00a7 80). Er tr\u00f6stet sich \u00fcber diesen Mangel der Erkenntniss mit der Bemerkung, dass es f\u00fcr die Mechanik vollst\u00e4ndig gen\u00fcgt, die relativen Bewegungen in Bezug auf solche K\u00f6rper zu betrachten, welche im absoluten Raume ruhen oder ohne Drehung geradlinig und mit beliebiger constanter Geschwindigkeit fortschreiten (M. \u00a7 82). Denn ob ein K\u00f6rper von dieser Art ist, lasse sich auf Grund der Bewegungs-o-esetze empirisch feststellen, und in Bezug auf derartige K\u00f6rper seien dieselben Bewegungsgesetze in Geltung, wie in Bezug auf den absoluten Raum. Ja, Euler empfiehlt hier sogar ausdr\u00fccklich als Mittel zur Vereinfachung der Probleme, nach Gutd\u00fcnken bald diesen geradlinig und gleichf\u00f6rmig fortschreitenden K\u00f6rper, bald jenen gegen ihn bewegten zum Bezugsobjecte zu machen. Zur Kritik dieser Ausf\u00fchrungen ist nach dem Vorigen nichts Neues zu sagen. Zu einer Theorie der Inertialsysteme in unserem Sinne fehlt insbesondere das wesentliche Zugest\u00e4ndniss, dass die geradlinige Bewegung sich selbst \u00fcberlassener Punkte \u2014 wie sie das Beharrungsgesetz in seiner gew\u00f6hnlichen Fassung lehrt \u2014 f\u00fcr drei Individuen einer Gruppe solcher Punkte Sache einer blo\u00dfen Convention in Gem\u00e4\u00dfheit des methodologischen Simplicit\u00e4tsprincips und dann erst f\u00fcr die \u00fcbrigen Individuen Ergebniss der Forschung ist. Dass Euler dieses Zugest\u00e4ndniss nicht machte, steht in engem Zusammenh\u00e4nge mit der ihm wie seinem ganzen Zeitalter und theilweise selbst noch der neuesten Zeit gel\u00e4ufigen Anschauung, als lasse sich das Tr\u00e4gheitsgesetz in seiner gew\u00f6hnlichen Fassung rein apriorisch begr\u00fcnden. Diese Anschauung bildet geradezu die Grundlage aller seiner Betrachtungen \u00fcber relative und absolute Bewegung und verdient darum eine eingehende Kritik.\nDas Beharrungsgesetz hatte, wie wir gesehen haben, bei Galilei und bei Newton zwar die Rolle eines speculativ-inductiv gewonnenen Principes gespielt, aber in seiner allgemeinsten kosmo-dynamischen Fassung ein durchaus nur teleologisches Gepr\u00e4ge angenommen. In dieser Fassung war es ein empirisch nicht zu controlirender Glaubenssatz teleologischer Weltanschauung. Wie es nun \u00fcberhaupt zu den Entwickelungsgesetzen der Naturwissenschaft geh\u00f6rt, dass die teleologischen Erkl\u00e4rungen der Ph\u00e4nomene allm\u00e4hlich","page":649},{"file":"p0650.txt","language":"de","ocr_de":"650\nLudwig Lange.\ndurch causale Erkl\u00e4rungen verdr\u00e4ngt werden, so wurde insbesondere auch das Bed\u00fcrfniss nach einer causalen Begr\u00fcndung des Beharrungg gesetzes an Stelle der teleologischen immer allgemeiner ; und Euler ist einer der ersten Mathematiker, welche dieses Bed\u00fcrfniss zu befriedigen gesucht haben.4)\nEulers Causaldeduction des Tr\u00e4gheitsgesetzes ist nicht immer eine und dieselbe gehliehen, allein es h\u00e4tte f\u00fcr uns gegenw\u00e4rtig wenig Interesse, sie in ihrer Verwandlung zu verfolgen (M. \u00a7\u00a7 56. 63. 65 Th. m. \u00a7\u00a7 83. 86). Nur die letzte Ausf\u00fchrung in der \u00bbTheoria motus\u00ab ist f\u00fcr uns von Bedeutung. Hier hei\u00dft es, ein einmal absolut ruhiger sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper m\u00fcsse in der absoluten Ruhe verharren , weil er nach allen Seiten gleichviel Grund zur Bewegung h\u00e4tte. Ein absolut bewegter sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper m\u00fcsse immer einer geraden Linie folgen, denn es sei kein Grund vorhanden, dass er nach der einen Seite eher als nach der anderen abwiche. Seine Bewegung m\u00fcsse ferner gleichf\u00f6rmig sein, denn jedes andere Gesetz \u00fcber den zeitlichen Verlauf derselben sei willk\u00fcrlich und mit unz\u00e4hligen davon verschiedenen ganz gleich vernunftgem\u00e4\u00df, sodass es vor keinem den Vorzug verdiene.\nDie Unhaltbarkeit dieser und \u00e4hnlicher von anderen Mathematikern versuchter Deductionen ist schon von anderer Seite nachgewiesen worden. Sehr beachtenswerth ist die Bemerkung Wundt s, dass allen diesen Versuchen bei Lichte betrachtet doch das teleologische princi-pium simplicitatis zum Hintergr\u00fcnde dient. \u00bbWarum gibt es keinen Grund, aus dem ein K\u00f6rper eher nach der einen als nach' der anderen Seite, sondern nur in gerader Richtung sich bewegen soll? Doch offenbar nur, weil es am einfachsten ist, dass er die gerade Richtung einschl\u00e4gt .....Der Fehler des Scheinbeweises liegt darin, dass er aus\nder gleichen M\u00f6glichkeit von Bewegungen, die nicht neben einander bestehen k\u00f6nnen, ihrer aller Unm\u00f6glichkeit folgert\u00ab. Der Satz vom zureichenden Grunde \u00bbdient blo\u00df, um das Princip der Sim-plicit\u00e4t zu verstecken\u00ab.1 2)\n1)\tBei Philosophen, z. B. Hobbes, finden sich causale Ableitungen schon weit\nfr\u00fcher, ohne aber hier mit dem Probleme des Bewegungsbegriffes in irgend welchem Zusammenh\u00e4nge zu stehen.\n2)\tW. Wundt, Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causal-princip. 1866. p. 39f. Vgl. auch p. 48f.","page":650},{"file":"p0651.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n651\nAber sehen wir einmal ganz hiervon ab, so lassen sich gegen Eulers Deductionsversuch von seinem eigenen Standpunkte aus die schwersten Bedenken geltend machen. Euler geht, wie ich nachher zeigen werde, aus von dem Bewegungsbegriffe, welcher Bewegung und relative Ortsver\u00e4nderung schlechthin identificirt. Er de-ducirt nun das Tr\u00e4gheitsgesetz auf die angegebene Weise. Sodann zeigt er, dass dieses Gesetz f\u00fcr Bewegungen in dem bis dahin von ihm angewandten Sinne im allgemeinen nicht gilt, und folgert schlie\u00dflich, dass sein Bewegungsbegriff der Corrector bed\u00fcrfe, dass er nicht der \u00bbwahre\u00ab sei. Er kommt so zu der Annahme des absoluten Baumes. Halten wir scharf an diesem Gedankengange fest und verlieren wir Eulers Ausgangspunkt nicht aus dem Auge, so machen wir die \u00fcberraschende Entdeckung, dass Eulers Deductionsversuch nichts Geringeres ist, als ein Versuch, einen entweder inhaltslosen oder sichtlich falschen Satz a priori zu erweisen. Denn von Eulers eigenem urspr\u00fcnglichen Standpunkte aus betrachtet ist jede Angabe \u00fcber Bewegungen ohne gleichzeitige Angabe des Bezugs-systemes inhaltslos. Wenn also das Gesetz dem Beweise ohne Angabe eines Bezugssystemes vorangestellt wird, so hates keinen Sinn, immer betrachtet aus Eulers eigenem urspr\u00fcnglichen Standpunkte. Oder wenn man die mangelnde Angabe des Bezugssystemes so deuten wollte, dass jedes beliebige Bezugssystem zu Grunde gelegt werden d\u00fcrfe, so w\u00e4re das Gesetz positiv unrichtig. Euler deducirt also a priori einen Lehrsatz, welcher nach seinen eigenen Grunds\u00e4tzen als entweder sinnlos oder unrichtig zu betrachten ist; sein Versuch, auf Grund der Deduction dann weiterhin den urspr\u00fcnglich vorausgesetzten Bewegungsbegriff zu corrigiren, erinnert uns, unbeschadet aller Ehrfurcht, die wir dem Genius des unsterblichen Mathematikers zollen, aufs lebhafteste an M\u00fcnchhausens Versuch, aus dem Sumpfe ans Land zu entkommen.\nDas Beharrungsgesetz in der von uns vorgeschlagenen aufgekl\u00e4rten Fassung steht allerdings nicht au\u00dfer Beziehung zum Causalprincip, aber diese Beziehung ist wesentlich verschieden von derjenigen, welche von Euler und Anderen angenommen worden ist. Als Wurzeln des Satzes haben zu gelten : erstens das methodologische Princip der Simplicit\u00e4t, zweitens das erkenntnisstheoretische Princip der Causali-t\u00e4t, und endlich drittens die physikalische Erfahrung,","page":651},{"file":"p0652.txt","language":"de","ocr_de":"652\nLudwig Lange.\nOhne Angabe eines bestimmten Bezugssystemes , wodurch die Bahnen sich seihst \u00fcberlassener materieller Punkte erst bestimmte werden, ist ein Axiom, welches diesen Bahnen bestimmte Gestalten zuschreibt, von vornherein unm\u00f6glich. In der Bestimmung des Bezugssystemes lasse ich mich nun von dem methodologischen Princip der Simplicit\u00e4t leiten. Die geradlinige Bewegung von n Punkten in Bezug auf ein System ist Sache einer blo\u00dfen Convention \u00fcber dieses System, so lange n 3 ist. Wir fassen nun drei sich selbst \u00fcberlassene Punkte P4, P2, Pi ins Auge und zwar der Einfachheit halber solche, die gleichzeitig vom gleichen Raumpunkte projicirt worden sind. Diese Punkte werden mit Bezug auf ein beliebiges Coordinaten-system, das man zu Grunde legt, drei in einem Punkte zusammenlaufende und im allgemeinen krummlinige Bahnen stetig beschreiben. Der Einfachheit halber legen wir nun ein solches System zu Grunde, in welchem diese Bahnen insbesondere geradlinig werden. Solcher Systeme gibt es auch noch unendlich viele ; nachdem man aber einmal eine Auswahl unter ihnen getroffen hat, bleibt das gew\u00e4hlte System, J, unver\u00e4ndert ein bestimmtes \u2014 vorausgesetzt, dass die drei Pundamentalpunkte Pu P2, P3 nicht in einer Geraden liegen. Folglich ist es uns nun auch erlaubt, \u00fcber die Bahnen anderer sich selbst \u00fcberlassener Punkte relativ zu J eine Aussage zu machen : und hier tritt nun das Causalprincip in seine Rechte ein.\nVerstehen wir unter P4 einen beliebigen vierten sich seihst \u00fcberlassenen Punkt, der aber mit P4, P2, P3 gleichzeitig vom seihen Raumpunkte ausgegangen ist, so wird dieser neue Punkt relativ zu J eine Bahn beschreiben, welche durch den Ursprung Oder Punkte P,, P2, P3 hindurchgeht. Da nun f\u00fcr den Punkt P4 die \u00e4u\u00dferen Bedingungen des Geschehens genau die n\u00e4mlichen sind, wie f\u00fcr P4, P2, P3, und da die Bahnen dieser drei Punkte relativ zu J geradlinig sind, so hat man guten Grund zu vermu-then, dass auch die Bahn von P4 im Systeme J geradlinig sein werde. Damit ist der r\u00e4umliche Theil des Gesetzes f\u00fcr einen besonders einfachen Fall aus dem Causalgesetze deducirt. Doch darf nicht \u00fcbersehen werden, dass auf die empirische Best\u00e4tigung trotz dieser Deduction gro\u00dfes Gewicht zu legen ist. Die letztere setzt n\u00e4mlich hei Lichte betrachtet voraus, dass die besondere Rieh-","page":652},{"file":"p0653.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\t653\ntung, welche P4 beim Austritt aus dem Punkte 0 hat, ohne Einfluss auf die Gestalt seiner weiteren Bahn ist, und diese Voraussetzung kann, so nahe sie auch liegen mag, doch keineswegs als selbstverst\u00e4ndlich gelten.\nSoll der r\u00e4umliche Theil des Gesetzes nun gar in seiner ganzen Allgemeinheit aus dem Causalgesetze deducirt werden, so m\u00fcssen noch weitere Voraussetzungen hinzutreten. Es sei P5 ein ganz beliebiger sich selbst \u00fcberlassener Punkt, der also nicht wie P4 an die Bedingung gebunden sein soll, mit P4,\nP-2, Pi gleichzeitig am gleichen Orte gewesen zu sein. Dann ist ersichtlich, dass im allgemeinen die Bahn von P5 im Systeme /nicht durch 0 hindurchgehen wird. Soll man also auf die geradlinige Bewegung von P5 aus der geradlinigen Bewegung der Punkte Pj, P2, P3 schlie\u00dfen, als mit welchen P5 die gleichen \u00e4u\u00dferen Bedingungen des Geschehens theilt, so muss man von der neuen Voraussetzung ausgehen, dass der Durchgang durch 0 f\u00fcr die Bahngestalt nicht wesentlich ist. Diese Voraussetzung kann aber eben so wenig, ja noch weniger als die vorhin erw\u00e4hnte f\u00fcr selbstverst\u00e4ndlich gelten.\nMan wird hiernach \u00fcberhaupt die causale Deduction des Gesetzes nicht als seiner empirischen Best\u00e4tigung ebenb\u00fcrtig, geschweige denn \u00fcberlegen ansehen d\u00fcrfen. Nur in dem Sinne darf sie AVerth und Berechtigung beanspruchen, in welchem Wundt \u00fcberhaupt allen Begr\u00fcndungen a priori Werth und Berechtigung beimisst: \u00bbDie er-kenntnisstheoretische Begr\u00fcndung hat nicht die Erfahrung zu ersetzen, sondern sie soll Rechenschaft geben \u00fcber den wahren Grund jener Evidenz, die wir gewissen Erfahrungsgesetzen beilegen\u00ab. *)\nWas hier \u00fcber den r\u00e4umlichen Theil des Gesetzes und seine Deduction gesagt ist, l\u00e4sst sich so leicht und so genau auf den zeitlichen Theil desselben \u00fcbertragen, dass es unn\u00f6thig w\u00e4re, darauf besonders einzugehen. Man braucht nur statt dreier Fundamentalpunkte einen einzigen zu Grunde zu legen, an Stelle der geradlinigen die gleichf\u00f6rmige Bewegung und an Stelle der \u00bbRichtung\u00ab die \u00bbGeschwindigkeit\u00ab einzusetzen, so geht aus der f\u00fcr den dreidimensionalen Raum ausge-\n1) W. Wundt, Logik, Bd. I. S. 561.","page":653},{"file":"p0654.txt","language":"de","ocr_de":"654\tLudwig Lange.\nf\u00fchrten Er\u00f6rterung die analoge Er\u00f6rterung f\u00fcr die eindimensionale Zeit von selbst hervor. *)\nKehren wir nach diesem Excurs zu Euler zur\u00fcck. Den Versuch aus der apriorischen Geltung des Tr\u00e4gheitsgesetzes die Berechtigung ja die Nothwendigkeit und alleinige Richtigkeit der Begriffe der absoluten Zeit, des absoluten Raumes und der absoluten Bewegung zu deduciren, hat Euler mit besonderer ins Einzelnste gehender Sorgfalt in seiner Abhandlung vom Jahre 1748 ausgef\u00fchrt. Besondere Beachtung verdient es, wenn er hier auf die Realit\u00e4t des absoluten Raumes daraus schlie\u00dft, dass ohne Annahme des letzteren das reelle Gesetz der Tr\u00e4gheit unbegreiflich, ja im allgemeinen unrichtig w\u00e4re ; ein Schluss, den er auch vom Raum auf die Zeit \u00fcbertr\u00e4gt. Beide Argumentationen fallen in sich zusammen mit der Er-kenntniss, dass das Gesetz in der von Euler hier vorausgesetzten gew\u00f6hnlichen Fassung thats\u00e4chlich nicht nur nichts Reelles, sondern sogar schlechthin unhaltbar ist. Gerade Euler aber h\u00e4tte sich angesichts seines eigenen urspr\u00fcnglichen Standpunktes dieser Erkenntniss consequenter Weise nicht verschlie\u00dfen d\u00fcrfen.\nVon Eulers Gr\u00fcnden, warum ohne Voraussetzung des realen absoluten Raumes das Tr\u00e4gheitsgesetz unbegreiflich sei, erfordert immerhin einer noch eine besondere Erw\u00e4gung. Nur im v\u00f6llig leeren Raume, so ist der Grundgedanke von \u00bbTheoria motus\u00ab \u00a7 76, kann ein K\u00f6rper sich selbst \u00fcberlassen sein ; das Tr\u00e4gheitsgesetz fordert also, dass wir einen in Wahrheit vollkommen isolirten K\u00f6rper betrachten, \u00fcber dessen Bewegung zu urtheilen aber nur Sinn hat, wenn wir einen absoluten Raum voraussetzen. Diese Argumentation verliert ihr Gewicht, sobald wir bedenken, dass der sich selbst \u00fcberlassene K\u00f6rper (materielle Punkt) der Mechanik eine mathematische Fiction ist und blo\u00df als solche Anspruch auf Bedeutung hat. Ich will nur an ein geometrisches Analogon erinnern. Aus der geometrischen Fiction eines ausdehnungslosen Punktes als solchen wird Niemand auf eine unendliche Theilbarkeit der Materie schlie\u00dfen. Ganz ebenso unberechtigt ist aber Eulers Schluss von der dynamischen Fiction eines sich selbst iiber-\n1) Der vorstehende Excurs rechtfertigt sich aus \u00e4hnlichen Gr\u00fcnden, wie jener, welchen wir an einer fr\u00fcheren Stelle anl\u00e4sslich der Newton\u2019schen Fassung deS Beharrungsgesetzes eingeschoben haben. Vgl. o. S. 392 Anmerkung.","page":654},{"file":"p0655.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bevvegungsbegriffes.\n655\nlassenen Punktes auf einen realen absoluten Raum. Doch sehen wir einmal hiervon ah, so ist offenbar der Ausspruch des Tr\u00e4gheitsgesetzes f\u00fcr einen isolirten K\u00f6rper auch darum von zweifelhafter Berechtigung, weil es sich in der Anwendung allemal um Gruppen von K\u00f6rpern (materiellen Punkten) handelt, und weil der ganze Gehalt des Gesetzes unverkennbarer Weise darin besteht, dass alle sich selbst \u00fcberlassenen Punkte mit Bezug auf ein Raumsystem und eine Zeitscala geradlinig und gleichf\u00f6rmig bewegt sind.\nAu\u00dfer den im Vorhergehenden entkr\u00e4fteten Argumenten, welche sich auf die Geltung des Tr\u00e4gheitsgesetzes st\u00fctzen, hat Euler noch eine Reihe anderer Argumente f\u00fcr den absoluten Raum ins Feld gef\u00fchrt, welche aber nicht minder unhaltbar sind. So beruft er sich (Th. m. \u00a7\u00a7 79 sq.) darauf, dass auch ein isolirter K\u00f6rper nothwendig entweder (ohjectiv) bewegt oder ruhig sei. Denn derselbe k\u00f6nne nicht beides zugleich und ebenso wenig keins von beidem sein. Die pe-titio principii ist hier offenkundig. Wer consequent auf Eulers urspr\u00fcnglichem (erst noch zu corrigirendem) Standpunkte verharrt, wird einen v\u00f6llig isolirten und auch nicht auf ein ideales Raumsystem bezogenen K\u00f6rper weder f\u00fcr bewegt, noch f\u00fcr ruhig gelten lassen; denn was keinen Ort hat, kann auch keine Ortsver\u00e4nderung und auch nicht das in Verharren am Orte bestehende eigentliche Gegentheil einer solchen aufweisen. In einem idealen Raumsysteme aber kann der K\u00f6rper bewegt oder ruhig sein, ganz wie man will. Man muss folglich, um Eulers Pr\u00e4misse anzuerkennen, bereits einen realen absoluten Raum annehmen, womit die ganze Deduction hinf\u00e4llig wird. H\u00f6chst wahrscheinlicher Weise hat sich Euler hier durch eine Nachwirkung des trivialen Bewegungsbegriffes hinters Licht f\u00fchren lassen. Im trivialen Sinne ist ja freilich ein Ding schlechthin entweder bewegt oder ruhig; aber die Wissenschaft operirt nicht mit dem Bewegungshegriffe des gew\u00f6hnlichen Lebens, und sie darf ihn am allerwenigsten in der Festlegung ihrer Fundamente in Anwendung bringen.\nZu wiederholten Malen habe ich bereits behauptet, dass Euler selbst ausgeht von dem Bewegungshegriffe, welcher Bewegung und relative Ortsver\u00e4nderung identificirt. Hiervon \u00fcberzeugt man sich am sichersten durch n\u00e4here Betrachtung der \u00bbTheoria motus\u00bb. Im ersten Capitel dieses Werkes (\u00bbBetrachtung der Bewegung im allgemeinen\u00ab)","page":655},{"file":"p0656.txt","language":"de","ocr_de":"656\nLudwig Lange.\nwird die Bewegung durchaus als ein relatives Ph\u00e4nomen hingestellt. Die Bezugnahme auf einen absoluten Baum hei\u00dft hier eine \u00bbbedenkliche Abstraction\u00ab, welche vor der Hand wenigstens noch zu verschm\u00e4hen sei (\u00a7 2). Anderw\u00e4rts wird gesagt: \u00bbEs ist nicht otfenbar, was die sogenannte absolute Ruhe sein soll, welche von dem Begriffe eines derartigen (Bezugs-) K\u00f6rpers getrennt ist\u00ab (\u00a7 8).\nNur aus vereinzelten Andeutungen ersieht man schon, dass Euler seihst den in diesem ersten Capitel eingenommenen Standpunkt nicht f\u00fcr endg\u00fcltig, sondern nur f\u00fcr provisorisch angesehen wissen will. Er f\u00fchrt als P\u00e4dagog hier seinen Leser zun\u00e4chst auf einen klaren und leicht verst\u00e4ndlichen Standpunkt , um ihn von da aus im zweiten Capitel (\u00bbUeber die inneren Principien der Bewegung\u00ab) eines Besseren zu belehren, um ihn zu \u00fcberf\u00fchren, dass jener Standpunkt doch noch nicht der richtige sei, vielmehr der Correctur bed\u00fcrfe. Dass und warum ihm dies nicht gelingt, haben wir klar erkannt. Man kann eine unzweideutige Definition wohl durch Entgegenstellung des Sprachgebrauches, wenn dieser seihst consequent ist, aber niemals aus sich seihst heraus bek\u00e4mpfen. Die Widerspr\u00fcche, welche Euler an der Definition der Bewegung als relativer Ortsver\u00e4nderung so unangenehm vermerkt, liegen in Wahrheit gar nicht in jener Definition, sondern in einer falschen Anwendung, welche man hei oberfl\u00e4chlicher Betrachtung davon machen k\u00f6nnte. Dass aus der Ver\u00e4nderung einer blo\u00dfen geometrischen Relation noch kein dynamischer Schluss gezogen werden kann, wenn nicht der dynamische Charakter des Bezugssystemes seihst schon bekannt ist, dies ist eine unbestreitbar richtige Erkennt-niss, welcher aber durch Einf\u00fchrung der Begriffe des Inertialsystemes und der Inertialzeitscala vollst\u00e4ndig und auf die einfachste Weise Rechnung getragen wird. Auf Grund dieser beiden H\u00fclfshegriffe wird man dann Bewegung und relative Ortsver\u00e4nderung durchgehends identificiren k\u00f6nnen, ohne dem Irrthume zu verfallen, als seien zwei geometrisch \u00e4quivalente Bewegungen auch von gleichem dynamischen Werthe.\nDie Antinomie, welcher der Gegensatz zwischen den Grundanschauungen der beiden ersten Capitel der \u00bbTheoria motus\u00ab entspringt, ist darnach keineswegs unvermeidlich. Freilich darf nicht geleugnet werden, dass diese Antinomie dem wissenschaftlichen Bewusstsein au\u00dferordentlich nahe liegt, und dass es M\u00fche kostet, sie in wahrhaft","page":656},{"file":"p0657.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n657\nbefriedigender Weise zu l\u00f6sen. Sehr belehrend ist in dieser Richtung der von Kant in den \u00bbMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaft \u00ab unternommene L\u00f6sungsversuch, auf welchen wir nun zu sprechen kommen.\n\u00a7 2. Kant.\nSchon in seiner vorkritischen Periode hat sich Kant mit der Frage nach dem Bewegungsbegriffe n\u00e4her abgegeben. Es interessirt uns aber hier nur, dass er in seinem \u00bbNeuen Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe\u00ab den \u00bbabsoluten Raum\u00ab als eine unbegreifliche und darum nutzlose Voraussetzung der Bewegungslehre betrachtet,1) w\u00e4hrend er sich sp\u00e4ter durch Eulers Aufsatz vom Jahre 1748 bestimmen l\u00e4sst, in seiner Abhandlung \u00bbVon dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume\u00ab2) den realen absoluten Raum und die absolute Bewegung doch als nothwendige, wiewohl unbegreifliche Grundannahmen der Bewegungslehre anzuerkennen. Die Beschwerlichkeit, wie sie in der Auffassung dieser Begriffe liegt, \u00bbzeigt sich allerw\u00e4rts, wenn man \u00fcber die ersten Data unserer Erkenntniss noch philosophiren will, aber sie ist niemals so entscheidend als diejenige, welche sich hervorthut, wenn die Folgen eines angenommenen Begriffs der augenscheinlichsten Erfahrung widersprechen\u00ab. So scheint also Kent gegen Ende seiner vorkritischen Periode ziemlich genau auf dem Euler-schen Standpunkte gestanden zu haben. Erst im Verlaufe seiner kritischen Periode \u00e4ndert er seine Ansicht und sucht der Antinomie auszuweichen, ohne indess dabei zu dem erreichbaren Ziele zu gelangen. Fassen wir nun diesen Versuch, so wie er uns in den \u00bbMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaft\u00ab (1786) vorliegt, genau ins Auge.\n\u00bbBewegung eines Dinges ist\u00ab nach Kant \u00bbdie Ver\u00e4nderung der \u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse desselben zu einem gegebenen Raum\u00ab\n1)\t1758. Vgl. Smtl. Werke hrsg. v. Rirehmann Bd. VII. Abth. II. S. 421.\n2)\t1768. Smtl. Werke hrsg. v. Kirchmann Bd. V. Abth. III. S. 121 ff. Kants stereometrische Gr\u00fcnde f\u00fcr den realen absoluten Raum kommen hier nicht in Betracht. Die dynamischen entlehnt er von Euler, ohne aber \u00fcber Andeutungen hinauszugehen.\nWundt, Philos. Studien. III.\n43","page":657},{"file":"p0658.txt","language":"de","ocr_de":"658\nLudwig Lange.\n(192).t) Der Grund, warum Kant die Bewegung nicht als Ver\u00e4nderung des Ortes zu einem gegebenen Raume definirt, ist einzig dieser, dass der Ort eines K\u00f6rpers nur in einem Punkte bestehe und \u2014 wie z. B. der Ort einer rotirenden Kugel, als gleichbedeutend mit dem Ort ihres Mittelpunktes \u2014 unver\u00e4ndert bleiben k\u00f6nne, w\u00e4hrend doch der K\u00f6rper sich bewegt. Wenn man aber f\u00fcr \u00bbOrt\u00ab den einfachen Ausdruck \u00bbLage\u00ab'einsetzt, so f\u00e4llt dieses Bedenken hinweg; denn die Vorstellung der Lage eines Punktsystem es ist so viel als die Vorstellung der Orte seiner s\u00e4mmtlichen Punkte.\nBesonderes Gewicht liegt nun in Kants Definition auf der Forderung, dass der Bezugsraum der Bewegung gegeben sein soll. Er soll ein der Empfindung zug\u00e4nglicher Raum, ein materieller Raum sein. Wir beziehen die Bewegungen eines Dinges, so meint Kant, zun\u00e4chst auf einen dasselbe umfassenden1 2) materiellen Raum, wie z. B. die Bewegung der in einem Schiffe befindlichen Gegenst\u00e4nde auf dessen Wandung. Einen solchen umfassenden Raum k\u00f6nnen wir aber immer wieder mit R\u00fccksicht auf einen noch umfassenderen Raum betrachten, in Bezug auf welchen er, weil materiell, (im allgemeinen) beweglich ist ; und in Gedanken dehnt sich diese fortgesetzte Relation in einen unendlichen Process aus, dessen Endziel, d. h. den allumfassenden und darum unbeweglichen Raum, wir nimmer erreichen, aber immerhin als Idee hinstellen k\u00f6nnen. Der ideale allumfassende Raum wird, da er uns nicht materiell gegeben ist, ohne alle Materie gedacht und hei\u00dft darum der \u00bbabsolute Raum\u00ab. \u00bbEinen absoluten Raum, d. i. einen solchen, der, weil er nicht materiell ist, auch kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, als f\u00fcr sich gegeben annehmen, hei\u00dft Etwas, das weder an sich, noch in seinen Folgen (der Bewegung im absoluten Raum) wahrgenommen werden kann, um der M\u00f6glichkeit der Erfahrung willen annehmen, die doch jederzeit ohne ihn angestellt werden muss. Der absolute Raum ist an sich Nichtsund gar kein Object, sondern bedeutet nur einen jeden anderen\n1)\tSeitenzahlen der Smtl. Werke, hrsg. von Kirchmann, Bd. VIL Abth. I.\n2)\tHier liegt noch eine letzte Spur des Aristotelischen Ortsbegriffes vor, in der freieren Form, welche er bereits bei Copernicus angenommen hatte. Dass es uns psychologisch nahe liegt, den umfassenden materiellen Raum zum Bezugsobjecte zu machen, und nicht den umfassten, r\u00fchrt von unserm Streben nach Sim-plicit\u00e4t her. Eine logische Nothwendigkeit ist aber nicht vorhanden.","page":658},{"file":"p0659.txt","language":"de","ocr_de":"659\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\nrelativen Raum, den ich mir au\u00dfer dem gegebenen jederzeit denken kann, und den ich nur \u00fcber jeden gegebenen ins Unendliche hinausr\u00fccke, als einen solchen, der diesen einschlie\u00dft und in welchem ich\nden ersteren als bewegt annehmen kann............Ihn zum wirklichen\nDinge zu machen hei\u00dft . . . die Vernunft in ihrer Idee missverstehen\u00ab (191).\nSo hat sich also der absolute Raum bei Kant in eine \u00bbblo\u00dfe Idee\u00ab verfl\u00fcchtigt (297). Und noch mehr. Er ist gar nicht einmal ein bestimmter, wie der absolute Raum Newtons. Da er vielmehr so viel gilt, als \u00bbjeder andere relative\u00ab allumfassend gedachte Raum, und da er folglich Nichts ist, als der Inbegriff zahlloser gegeneinander beliebig bewegter R\u00e4ume, so gelten mit Bezug auf ihn keine bestimmten Gesetze der Bewegung. Wir werden sehen, in welcher Weise weiterhin Kant seiner Ansicht treu zu bleiben sucht, dass Erfahrung \u00fcber die Bewegung \u00bbjederzeit ohne ihn\u00ab (den absoluten Raum) \u00bbangestellt werden muss\u00ab.\nSo weit hat Kant die Relativit\u00e4t aller erfahrungsm\u00e4\u00dfigen Be-wegung zum Ausdrucke gebracht, und zwar ohne irgend welche Einschr\u00e4nkung. Er kommt nun im Weiteren auf die Correlativit\u00e4t oder Reciprocit\u00e4t der Bewegung zu sprechen und stellt den Grundsatz auf: \u00bbEine jede Bewegung, als Gegenstand einer m\u00f6glichen Erfahrung, kann nach Belieben als Bewegung des K\u00f6rpers in einem ruhigen Raume, oder als Ruhe des K\u00f6rpers und dagegen Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden\u00ab (199). In der Anmerkung zu diesem Grunds\u00e4tze macht Kant gewisse Einschr\u00e4nkungen, auf deren Kritik ich aber erst nachher an passenderer Stelle zur\u00fcckkomme. Davon abgesehen enth\u00e4lt jene Anmerkung den besonders bernerkenswerthen Satz, dass die absolute Bewegung \u00bbf\u00fcr uns Nichts\u00ab ist (\u00bbwenn man gleich einr\u00e4umen wollte, der absolute Raum sei an sich Etwas\u00ab).\nIndem ich nur auf die wesentlichsten Angriffspunkte der Er\u00f6rterungen Kants eingehe, Wende ich mich zu seiner Auffassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes, welche f\u00fcr seine weiteren Erw\u00e4gungen von der gr\u00f6\u00dften Wichtigkeit ist. Auch nach Kant ist das Tr\u00e4gheitsgesetz in seiner \u00fcblichen Fassung von apriorischer Gewissheit, weil es dem Satze vom zureichenden Grunde entspringt. Freilich wendet er nicht mehr die Phrase an, es liege f\u00fcr den sich selbst \u00fcberlassenen Punkt\n43'","page":659},{"file":"p0660.txt","language":"de","ocr_de":"660\nLudwig Lange.\nkein Grund vor, nach der einen oder anderen Seite von der geraden Linie bez. von der gleichf\u00f6rmigen Bewegung abzuweichen. Der Kern seiner Ableitung ist vielmehr der, dass Richtung und Geschwindigkeit die bestimmenden Elemente eines Bewegungszustandes sind (194), und darum nicht ohne \u00e4u\u00dfere Ursache ge\u00e4ndert werden k\u00f6nnen (277). Die unbewusste teleologische Berufung Eulers und Anderer auf das Princip der nat\u00fcrlichen Simplicit\u00e4t ist demnach bei Kant vermieden. Gleichwohl w\u00fcrd dessen Causalableitung von ganz \u00e4hnlichen Einw\u00fcrfen getroffen, wie die Deduction Eulers. Kant stellt seiner Begr\u00fcndung das Gesetz w\u00f6rtlich in der folgenden Fassung voran :\n\u00bbEin jeder K\u00f6rper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder Bewegung in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine \u00e4u\u00dfere Ursache gen\u00f6thigt wird, diesen Zustand zu verlassen\u00ab.\nNun frage ich aber : In Bezug worauf? In Bezug auf welchen gegebenen Raum? Denn \u00bbBewegung ist die Ver\u00e4nderung der \u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse zu einem gegebenen Raume\u00ab. Doch nicht in Bezug auf jeden beliebigen gegebenen Raum! Das w\u00e4re ja \u2014 mit Kant vorausgesetzt die gegenseitige Drehbarkeit gegebener R\u00e4ume \u2014 schlechterdings unm\u00f6glich! Oder meint Kant seinen absoluten Raum? Doch auch mit Bezug auf ihn gibt es keine bestimmten Gesetze der Bewegung und \u00bbjede Erfahrung muss ohne ihn angestellt werden\u00ab (s. o.). Kant bleiht uns die Antwort schuldig. Sein Beweis des Tr\u00e4gheitsgesetzes w\u00fcrde auf jegliche relative Bewegung gleich gut passen, und doch ist es ein Ding der Unm\u00f6glichkeit, dass in jeder beliebigen relativen Bewegung eines sich selbst \u00fcberlassenen Punktes Richtung und Geschwindigkeit unver\u00e4ndert bleiben. Eine Aussage, welche nach den ausdr\u00fccklich zu Grunde gelegten Prin-cipien von vornherein entweder als inhaltslos oder als positiv unwahr gelten muss , kann man nat\u00fcrlicher Weise nicht durch Berufung auf das Causalgesetz mit axiomatischer Evidenz ausstatten. Ein R\u00e4thsel bleibt es, wie Kant dies hat \u00fcbersehen k\u00f6nnen.\nWenden wir uns nun zu dem vierten und letzten Hauptst\u00fccke des Werkes, der \u00bbPh\u00e4nomenologie\u00ab, welche uns am eingehendsten besch\u00e4ftigen wird. Es kommt hier Kant in der Hauptsache darauf an, zusammenh\u00e4ngend auseinanderzusetzen, in welcher Weise aus dei","page":660},{"file":"p0661.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n661\nblo\u00dfen \u00bbErscheinung\u00ab (nicht mit \u00bbSchein\u00ab zu verwechseln), als welche uns die Bewegung allein gegeben ist, durch unsere Verstandes-th\u00e4tigkeit \u00bbErfahrung\u00ab wird. In der blo\u00dfen Erscheinung, so meint er, ist die Bewegung zweifellos reciprok. Aber ist sie es auch durchweg in der Erfahrung? Kant hat diese Frage schon vorher einmal im Vor\u00fcbergehen gestreift und bringt nun hier die systematische Beantwortung.\nAuch f\u00fcr die Erfahrung g\u00fcltig ist seiner Meinung nach die Reci-procit\u00e4t nur hei der geradlinigen Bewegung, nicht aber bei der krummlinigen Bewegung oder Kreisbewegung, wie sie der K\u00fcrze wegen meist genannt wird. H\u00f6ren wir, wie Kant selbst seiner Ansicht hier\u00fcber Ausdruck und Begr\u00fcndung verleiht.\n\u00bbLehrsatz\u00ab.\n\u00bbHie Kreisbewegung einer Materie ist, zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums, ein wirkliches Pr\u00e4dicat derselben ; dagegen ist die entgegengesetzte Bewegung eines relativen Raums, statt der Bewegung des K\u00f6rpers genommen, keine wirkliche Bewegung des letzteren, sondern, wenn sie daf\u00fcr gehalten wird , ein blo\u00dfer Schein\u00ab.\n,\t\u00bbBeweis\u00ab.\n\u00bbDie Kreisbewegung ist (so wie jede krummlinigte) eine continuir-liche Ver\u00e4nderung der geradlinigten, und da diese selbst eine conti-nuirliehe Ver\u00e4nderung der Relation in Ansehung des \u00e4u\u00dferen Raumes ist, so ist die Kreisbewegung eine Ver\u00e4nderung der Ver\u00e4nderung dieser \u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse im Raume, folglich ein continuirliches Entstehen neuer Bewegungen. Weil nun nach dem Gesetze der Tr\u00e4gheit eine Bewegung, sofern sie entsteht, eine \u00e4u\u00dfere Urteache haben muss, gleichwohl aber der K\u00f6rper in jedem Punkte dieses Kreises (nach ebendemselben Gesetze) f\u00fcr sich in der den Kreis ber\u00fchrenden geraden Linie fortzugehen bestrebt ist, welche Bewegung jener \u00e4u\u00dferen Ursache entgegenwirkt, so beweist jeder K\u00f6rper in der Kreisbewegung durch seine Bewegung eine bewegende Kraft. Nun ist die Bewegung des Raumes, zum Unterschiede der Bewegung des K\u00f6rpers, blo\u00df phoronomisch und hat keine bewegende Kraft. Folglich ist das Urtheil, dass hier entweder der K\u00f6rper oder der Raum in ent-","page":661},{"file":"p0662.txt","language":"de","ocr_de":"662\nLudwig Lange.\ngegengesetzter Richtung bewegt sei, ein disjunctives Urtheil, durch welches, wenn das eine Glied, n\u00e4mlich die Bewegung des K\u00f6rpers, gesetzt ist, das andere, n\u00e4mlich die des Raumes, ausgeschlossen wird; also ist die Kreisbewegung eines K\u00f6rpers, zum Unterschiede von der Bewegung des Raums, wirkliche Bewegung, folglich die letztere, wenn sie gleich der Erscheinung nach mit der ersteren \u00fcbereinkommt dennoch im Zusammenh\u00e4nge aller Erscheinungen, d. i. der m\u00f6glichen Erfahrung, dieser widerstreitend, also Nichts als blo\u00dfer Schein\u00ab (294 f.).\nIndem wir unsere Kritik dieser Beweisf\u00fchrung nur auf deren Hauptpunkte ausdehnen, tritt uns als ein erstes Bedenken die wohl-berechtigte Frage entgegen: Kant redet in dem vorangestellten Lehrs\u00e4tze von kreisf\u00f6rmigen Bewegungen ; auf was f\u00fcr ein Relationsobject bezieht er diese Bewegungen, d. h. \u00bbVer\u00e4nderungen der \u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse zu einem gegebenen Raume\u00ab? Denn eine Bewegung, welche in Bezug auf ein Object kreisf\u00f6rmig ist, ist dies in Bezug auf andere denkbare Objecte keineswegs. Kant musste sich nach einem so radicalen Ausspruche des Relativit\u00e4tsgesetzes selber insgeheim jene Frage vorlegen, er macht aber zun\u00e4chst keinen Versuch, darauf zu antworten.\nDer Kern der Beweisf\u00fchrung ist nun, wie man sieht, mit dem Newton\u2019schen Gedankengange aufs n\u00e4chste verwandt. Weil die Bewegung des Raumes blo\u00df phoronomischen, die des K\u00f6rpers dagegen dynamischen Charakter besitzt, so sind beide Vorstellungen nur pho-ronomisch, nicht dynamisch \u00e4quivalent. Sehen wir einmal davon ab, dass der Vordersatz dieser Folgerung nur so weit richtig ist, als der zu Grunde gelegte Raum inertiell ruht \u2014 eine Bestimmung, welche auszudr\u00fccken sich Kant wohl h\u00fctet \u2014 so werden wir doch nun und nimmermehr zugehen, dass aus der dynamischen Verschiedenheit der beiden in der Erscheinung als gleichwerthig gegebenen reciproken Bewegungen der Schluss zu ziehen sei, als schlie\u00dfe die Annahme der einen die Annahme der anderen aus. Kant, der dieser Folgerung sich hingibt, hat ja doch selber aufs sch\u00e4rfste die Bewegung als einen rein phoronomischen Vorgang definirt, er darf also, wenn er anders consequent sein will, hei Beurtheilung von Bewegungen als solchen gar keine dynamischen R\u00fccksichten nehmen. Sein Verfahren ist nicht besser als das von Euler angewandte, welches wir oben (S. 651) kritisirt haben.","page":662},{"file":"p0663.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n663\nAber selbst wenn es wahr w\u00e4re, dass die beiden Annahmen der Bewegung des K\u00f6rpers und der Bewegung des Baumes sich wegen ihrer Verschiedenheit ausschl\u00f6ssen, so w\u00e4re Kants Schluss auf die Wirklichkeit der Bewegung des K\u00f6rpers und die Scheinbarkeit der Bewegung des Raumes nicht einwurfsfrei. Warum sollte man nicht das Verh\u00e4ltniss umdrehen k\u00f6nnen? Nach Kants Erw\u00e4gungen ist gar nicht abzusehen, warum nicht vielmehr die Bewegung des Raumes als wirklich und die des K\u00f6rpers als scheinbar zu betrachten sei ! Um in dieser Richtung zu einer Bestimmtheit der Auswahl zu gelangen, m\u00fcsste man die Bewegung etwa als etwas specifisch Dynamisches definiren, und dies hat am allerwenigsten Kant gethan. Sonderbarer Weise \u00fcbersieht er obenein v\u00f6llig, dass er auch die geradlinige Bewegung, sofern sie n\u00e4mlich ungleichf\u00f6rmig ist, unter die gleichen Gesichtspunkte h\u00e4tte stellen m\u00fcssen , wie die krummlinige : die dynamischen Kriterien sind doch hier und dort dieselben. Sp\u00e4tere Philosophen haben in dieser Richtung eine gr\u00f6\u00dfere Consequenz ge\u00fcbt. *)\nIn einer kleinen Anmerkung zu dem soeben besprochenen Lehrsatz 2. beruft sich Kant auf Newton: \u00bbUebrigens kann Newtons Scholium zu den Definitionen, die er seinen Princ. Philos. Nat. Math, vorausgesetzt hat, gegen das Ende, hier\u00fcber nachgesehen werden,\naus welchem erhellt,...........dass also eine Bewegung, die eine\nVer\u00e4nderung der \u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse im Raume ist, empirisch gegeben werden k\u00f6nne, obgleich dieser Raum selbst nicht empirisch gegeben und kein Gegenstand der Erfahrung ist, welches Paradoxon aufgel\u00f6set zu werden verdient\u00ab.\nKant gibt also, so scheint es hierauf den ersten Blick, wenn auch widerstrebend, doch absolute Bewegung als Gegenstand der Erfahrung zu, im Widerstreit gegen die oben citirte Behauptung, dass die absolute Bewegung \u00bbf\u00fcr uns Nichts\u00ab ist. Inwieweit dieser auf\n1) So beschr\u00e4nkt J. Fr. Fries das Gesetz der Reciprocit\u00e4t auf die geradlinige und gleichf\u00f6rmige Bewegung, worin sich ihm E.F. Apelt anschlie\u00dft. Man vgl. Fries, Die mathematische Naturphilosophie, Heidelberg 1822. S. 422f. System der Metaphysik 1824. S. 370. Apelt, Metaphysik 1857. S. 555 ff. Vom absoluten Raume h\u00e4lt Fries ebenso wenig wie Kant, ich meine, vom absoluten Raume Newtons.","page":663},{"file":"p0664.txt","language":"de","ocr_de":"664\nLudwig Lange.\nden ersten Blick sich darbietende Anschein einer genaueren Be trachtung Stand h\u00e4lt, wird sich alsbald herausstellen.\nIn der besonders wichtigen \u00bbAllgemeinen Anmerkung zur Ph\u00e4nomenologie\u00ab kommt Kant zun\u00e4chst ausf\u00fchrlicher auf die Stellung zu sprechen, welche er dem absoluten Raume in der Bewegungslehre angewiesen hat. Ernennt denselben hier einen Vernunft!) egriff und zwar einen nothwendigen Vernunftbegriff. \u00bbWie kommen wir aber zu diesem sonderbaren Begriffe, und worauf beruht die Nothwendig-keit seines Gebrauchs?\u00ab so fragt er sich. \u00bbEr kann kein Gegenstand der Erfahrung sein; denn der Raum ohne Materie ist kein Object der Wahrnehmung, und dennoch ist er ein nothwendiger Vernunftbegriff, mithin Nichts weiter als eine blo\u00dfe Idee\u00ab (297). Nun er\u00f6rtert Kant ganz wie fr\u00fcher die Relativit\u00e4t aller erfahrungsgem\u00e4\u00dfen Bewegung und kommt wiederum zu dem Resultat, dass \u00bbabsolute Bewegung . . . schlechthin unm\u00f6glich sei\u00ab; dass man aber gerade, um diese Erkenntnis nie zu vernachl\u00e4ssigen, der Idee des absoluten Raumes bed\u00fcrfe, weil diese uns lehre, nie einen relativen Raum als an sich ruhig zu betrachten, und darum die Relativit\u00e4t der auf letzteren bezogenen Bewegung zu bedenken (299). Dass der absolute Raum, so wie er hier vorgestellt wird, mit dem absoluten Raume Newtons und der heutigen Dynamik gar Nichts als den Namen gemein hat, davon haben wir uns schon \u00fcberzeugt. Er ist wieder Nichts als der Inbegriff aller m\u00f6glichen gegeneinander bewegten und ohne Materie gedachten R\u00e4ume. Vor dem Vorurtheile aber, als ob eine gegebene Bewegung eine nicht relative sei, wird man vollst\u00e4ndig bewahrt durch die best\u00e4ndige Erinnerung daran, dass zwei gegebene relative Bezugsr\u00e4ume im allgemeinen beliebig gegeneinander bewegt sein k\u00f6nnen : ganz \u00fcberfl\u00fcssig ist dazu ein Kunstwort, wie der \u00bbabsolute Raum \u00ab, welches (zumal wegen der ganz anderen Bedeutungen, in denen es noch gebraucht wird) nur dazu dienen kann, die klarsten Dinge unklar zu machen.\nGro\u00dfe Schwierigkeiten erkennt weiterhin Kant selber in seiner Auffassung der Kreisbewegung.\n\u00bbDie Kreisbewegung, weil sie . . auch ohne Beziehung auf den \u00e4u\u00dferen empirisch-gegebenen Raum als wirkliche Bewegung in der Erfahrung gegeben werden kann, scheint doch in der That absolute Bewegung zu sein. Denn die relative in Ansehung des \u00e4u\u00dferen Raums (z. B. die Achsendrehung der Erde relativ auf die Sterne des","page":664},{"file":"p0665.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des \u00dfewegungsbegriffes.\n665\nHimmels) ist eine Erscheinung, an deren Stelle die entgegengesetzte Bewegung dieses Raums (des Himmels) in derselben Zeit, als jener v\u00f6llig gleichgeltend, gesetzt werden kann, die aber nach diesem Lehrs\u00e4tze in der Erfahrung durchaus nicht an deren Stelle gesetzt werden darf, mithin auch jene Kreisdrehung nicht als \u00e4u\u00dferlich relativ vorgestellt werden soll, welches so lautet, als oh diese Art der Bewegung f\u00fcr absolut anzunehmen sei\u00ab (299f.).\nDas kann Kant nicht gelten lassen, wenn er nicht seiner Ansicht von der Unerfahrbarkeit der absoluten Bewegung widersprechen will. Er f\u00e4hrt denn auch fort: \u00bbAlleines ist wohl zu merken : dass hier von der wahren (wirklichen) Bewegung, die doch nicht als solche erscheint, die also, wenn man sie blo\u00df nach empirischen Verh\u00e4ltnissen zum Raume beurtheilen wollte, f\u00fcr Ruhe k\u00f6nnte gehalten werden, d. i. von der wahren Bewegung, zum Unterschiede vom Schein, nicht aber von ihr als absoluten Bewegung im Gegens\u00e4tze der relativen die Rede sei, mithin die Kreisbewegung, ob sie zwar in der Erscheinung keine Stellen-Ver\u00e4nderung, d. i. keine phoronomische, des Verh\u00e4ltnisses des Bewegten zum (empirischen) Raume zeigt, dennoch eine durch Erfahrung erweisliche continuirliche dynamische Ver\u00e4nderung des Verh\u00e4ltnisses der Materie in ihrem Raume, z. B. eine best\u00e4ndige Verminderung der Anziehung durch eine Bestrebung zu entfliehen, als Wirkung der Kreisbewegung, zeige und dadurch den Unterschied derselben vom Schein sicher bezeichne\u00ab. Die Bewegung einer isolirten und durch Centri-fugalkr\u00e4fte abgeplatteten Kugel soll darnach in Wirklichkeit auf den mit ihr selbst verbundenen Raum zu beziehen sein und mit R\u00fccksicht auf denselben in weiter Nichts bestehen als in der empirisch zug\u00e4nglichen Ver\u00e4nderung ihrer Verh\u00e4ltnisse, n\u00e4mlich in der gestaltlichen Ver\u00e4nderung, welche durch die Centrifugalkr\u00e4fte bedingt ist. Kant \u00fcbersieht hier zweierlei. Erstens, wie will er, wenn er die Bewegung der isolirten Kugel in dem auseinandergesetzten Sinne auffasst, eine klare Vorstellung mit der Behauptung verbinden, dass die Kugel \u00bbrotirt\u00ab und in einer bestimmten Zeit, etwa in vierundzwanzig Stunden einmal sich um dreht? Da hilft ihm die Bezugnahme auf den eigenen Raum der Kugel selbst gar Nichts. Zweitens hat man es doch hier, vorausgesetzt die \u00bbgleichf\u00f6rmige\u00ab Umdrehung der Kugel, nicht mit einer \u00bbcontinuirlichen Ver\u00e4nderung\u00ab im Sinne der Kant\u2019sehen","page":665},{"file":"p0666.txt","language":"de","ocr_de":"666\nLudwig Lange.\nBewegungsdefinition, sondern mit einem vollendeten Ver\u00e4ndertseinzu thun. Wo bleibt \u00fcberdies hier die Forderung der Definition wonach es die \u00bb\u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse\u00ab eines bewegten Dinges sein sollen, die sich ver\u00e4ndern? Im Weiteren erkl\u00e4rt sich Kant noch deutlicher. \u00bbDass aber diese Bewegung, ob sie gleich keine Ver\u00e4nderung des Verh\u00e4ltnisses zum empirischen Baume ist, dennoch keine absolute Bewegung, sondern continuirliehe Ver\u00e4nderung der Relation der Materien zu einander, obzwar im absoluten Baume vorgestellt mithin wirklich nur relative und sogar darum allein wahre Bewegung sei, das beruht auf der Vorstellung der wechselseitigen continuirlichen Entfernung eines jeden Theiles der Erde (au\u00dferhalb der Achse) von jedem andern ihm in gleicher Entfernung vom Mittelpunkte im Diameter gegen\u00fcber liegenden\u00ab (301). Wenn man jedoch an Kants eigener Bewegungsdefinition festhalten soll, so darf man nicht einmal die \u00bbwechselseitige continuirliche Entfernung\u00ab der diametralen Theile Bewegung nennen, denn sie besteht nicht in einem Entferntwerden, sondern in einem Entferntwordensein.1) Vollends aber w\u00e4re es ein Missbrauch, wegen jener \u00bbEntfernung\u00ab von Bewegung der Kugel als eines Ganzen zu reden, wie doch Kant will; denn er selbst lehrt: \u00bbdie Bewegung eines Dinges ist mit der Bewegung in diesem Dinge nicht einerlei\u00ab (193). Es handelt sich keineswegs hei Kant \u00bbblo\u00df darum zu zeigen, dass bei der wahren Kreisbewegung durchaus nichts Absolutes erkannt werde\u00ab,2) sondern auch darum zu zeigen, dass die \u00bbwahre Bewegung\u00ab der isolirten Kugel mit der von Kant aufgestellten Bewegungsdefinition in Einklang stehe, und dieser Versuch ist als vollst\u00e4ndig misslungen zu bezeichnen.\nMan kann Kants Er\u00f6rterungen \u00fcber den Unterschied zwischen wahrer und scheinbarer Bewegung durch keinerlei Interpretation von\n1)\tSofern man von dem Gedanken ausgeht, dass die diametralen Theilchen beim Nachlassen der Bewegung sich n\u00e4hern w\u00fcrden, so ist es doch nur eine uneigentliche Redeweise, wenn man ihnen darum ein best\u00e4ndiges Entferntwerden zuschreibt. Wollte man aber die Termini der Kant\u2019schen Bewegungsdefinition in allen m\u00f6glichen uneigentlichen Bedeutungen auffassen, so w\u00fcrde das zu den gr\u00f6\u00dften Ungeheuerlichkeiten f\u00fchren. Man mag sonst so viel uneigentliche Ausdr\u00fccke anwenden, als man will, wenn sich nur die Bedeutung aus dem Zusammenh\u00e4nge ergibt. Aber in der Aufstellung und Anwendung von Definitionen? Nimmermehr. Das hie\u00dfe, auf D efinitionen \u00fcberhaupt verzichten.\n2)\tA. Stadler, Kants Theorie der Materie S. 267.","page":666},{"file":"p0667.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n667\ndem Vorw\u00fcrfe innerer Widerspr\u00fcche reinigen. Die \u00bbMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnde\u00ab bezeichnen einen unverkennbaren Fortschritt in der Entwickelung des Bewegungshegriffes, insofern sie in Uebereinstim-mung mit der Vernunftkritik den realen absoluten Raum Newtons zu einer blo\u00dfen Idee verfl\u00fcchtigt haben ; ihr Ende hat aber die Entwickelung damit noch nicht erreicht. Auf dem Wege zum Ziele aufgehalten wurde Kant durch seine Ansicht von der apriorischen Geltung der \u00fcblichen Fassung des Beharrungsgesetzes, welche ihm so unmittelbar einleuchtend erschien, dass er die Frage nach dem Bezugssysteme ganz unterdr\u00fcckte. Hiermit war das Uebel geschehen. Denn nun musste die Kreisbewegung schlechthin (ohne zu fragen, worauf sie sich beziehe) als eine wirkliche betrachtet werden, weil ja das Tr\u00e4gheitsgesetz schlechthin (ohne zu fragen, worauf es sich beziehe) apriorische Geltung besa\u00df. Nachdem aber einmal dieser Schritt gethan war, so musste man entweder die mit Recht verbannte \u00bbabsolute Bewegung\u00ab zur\u00fcckrufen oder der urspr\u00fcnglichen Bewegungsdefinition mit einem Scheine Rechtens untreu werden, wollte man anders nicht in ganz offenen Widerspruch mit sich selbst gerathen. Kant hat den zweiten Ausweg vorgezogen; die neuen Widerspr\u00fcche, in die er sich dabei unvermeidlicher Weise verwickelt hat, konnten einer aufmerksamen Untersuchung nicht verborgen bleiben. Um aber allen Widerspr\u00fcchen mit Sicherheit zu entgehen, braucht man nur zweierlei zu thun. Erstens wird man nicht so \u00e4ngstlich an der \u2014- aus einer Verwechselung von Theorie und Praxis hervorgegangenen \u2014 Bestimmung festhalten, dass der Relationsraum gegeben, materiell sein soll. Man wird sich vielmehr auch mit blo\u00df gedachten R\u00e4umen begn\u00fcgen d\u00fcrfen, welche nur \u2014 wie das Inertialsystem \u2014 conven-tionell irgendwie auf Materie fundirt sein m\u00fcssen, damit der Ueber-gang von der Theorie zu der Praxis unmittelbar m\u00f6glich ist. Zweitens wird man die Begriffe des Inertialsystemes und der Inertialzeitscala einf\u00fchren und damit allen voreiligen Schl\u00fcssen von Phoronomie auf Dynamik ein Ende machen.","page":667},{"file":"p0668.txt","language":"de","ocr_de":"668\nLudwig Lange.\nCapitel IV.\nDer Bewegungsbegriff in Gegenwart und Zukunft.\nDie neueste Entwickelungsperiode des Bewegungsbegriffes. an deren Betrachtung wir nun herantreten, erfordert eine von den bisherigen Perioden einigerma\u00dfen abweichende Form der Darstellung. Wenn bis zu diesem Punkte die Autoren fast ausnahmslos ihrer Zeitfolge nach und die meisten von ihnen auch ziemlich ausf\u00fchrlich zu Worte gekommen sind, so rechtfertigte sich dies vor allem dadurch , dass die langsam und stetig mit der Zeit fortschreitende Entwickelung des Begriffes, so wie sie in jenen vergangenen Zeiten sich vollzog, auf keine andere Weise so klar und gleichzeitig der Kritik so zug\u00e4nglich sich h\u00e4tte beschreiben lassen. In der neuesten auf kaum zwei Jahrzehnte zusammengedr\u00e4ngten Periode kann von einer mit der Zeit fortschreitenden Entwickelung in jenem Sinne nicht die Rede sein. Aus diesem Grunde scheint es geboten, von hier an die systematische Anordnung des Stoffes an Stelle der chronologischen treten zu lassen, zumal auf diese Weise manche sonst kaum vermeidliche Wiederholung in Wegfall kommt.\nDie L\u00f6sungsversuche, welche das Problem des Bewegungsbegriffes in der gegenw\u00e4rtigen Periode erfahren hat, lassen sich am einfachsten nach der Beziehung ordnen, in welcher sie zu den metaphysischen Annahmen des \u00bbabsoluten Raumes\u00ab und der \u00bbabsoluten Bewegung\u00ab stehen. Ich unterscheide darnach folgende Classen von Versuchen :\n1)\tVersuche, die metaphysischen Annahmen des \u00bbabsoluten Raumes\u00ab und der \u00bbabsoluten Bewegung\u00ab im wesentlich unver\u00e4nderten Newton\u2019schen Sinne, wenn auch ohne Newtons teleologische Grundanschauungen, beizubehalten.\n2)\tVersuche, die absolute Bewegung beizubehalten und den absoluten Raum durch eine physikalische Hypothese zu st\u00fctzen.\n3)\tVersuche, die Annahme der absoluten Bewegung, wenn auch nicht diejenige des absoluten Raumes, zu retten.\n4)\tBisherige Versuche, beide Annahmen ganz fallen zu lassen.\n5)\tVersuch des Verfassers, beide Annahmen durch zweckm\u00e4\u00dfige Conventionen zu ersetzen.","page":668},{"file":"p0669.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n669\n1.\nGehen wir zun\u00e4chst auf die gemachten Versuche, die Newton-sche Lehre wesentlich unver\u00e4ndert beizubehalten, n\u00e4her ein. Diese Bestrebungen finden begreiflicher Weise besondere Vertretung in der englischen Fachlitteratur, wo sie vor allem durch gewisse Paragraphen von Thomsons und Taits \u00bbTreatise on Natural Philosophy\u00ab1) deutlich zum Ausdrucke gekommen sind. Bei uns hat sich von Physikern unter anderen Friedrich Z\u00f6llner in dem angedeuteten Sinne ausgesprochen. Von den Philosophen endlich d\u00fcrfte in erster Linie Otto Liebmann zu nennen sein, welcher den absoluten Raum und die absolute Bewegung als Postulate der mathematischen Vernunft bezeichnet und ihnen, wenngleich nicht transcendente Realit\u00e4t, so doch transcendentale Geltung zugestanden wissen will.2)\nNeue Begr\u00fcndungs versuche f\u00fcr die N e wton\u2019sche Lehre, d. h. andere, als schon von Newton selbst, von Euler und von Kant unternommen worden, finden wir kaum vor. Es ist ganz im Sinne Eulers, wenn z. B. Liebmann behauptet: \u00bbNun! Wer das Tr\u00e4gheitsgesetz anerkennt, der gibt absolute Bewegung zu; und wer diese leugnet, st\u00f6\u00dft jenes um\u00ab.3) Da nun durchweg auch hier, wie bei Euler, von dem Begriffe der Bewegung als blo\u00dfer relativer Ortsver\u00e4nderung ausgegangen wird, um von diesem Fundamente aus die Unhaltbarkeit jenes Begriffes nachzuweisen, so bedarf es keiner neuen Widerlegung solcher sich im Kreise drehenden Begr\u00fcndungsversuche (S. 651. 662).\nMehr als diese Begr\u00fcndungs versuche interessiren uns gewisse anderweitige von Seiten neuerer Verfechter des Newt on\u2019sehen Dogmas vollzogene Erw\u00e4gungen, die den Zweck haben, das Dunkel zu lichten, welches die metaphysischen Voraussetzungen des absoluten Raumes und der absoluten Bewegung als solche \u00fcber die mechanischen Principien ausbreiten. Man h\u00e4lt an diesen Voraussetzungen fest, aber man will gleichzeitig ein klar verst\u00e4ndliches mathematischphysikalisches Aequivalent f\u00fcr dieselben bieten. Hierher geh\u00f6rt vor\n1)\tVgl. zum voraus : Preface, p. VII.\n2)\tAn Liebmann schlie\u00dfen sich an : Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft, Bd. IL S. 91 f., und Chr. Sigwart, Logik, Bd. II. S. 315ff.\n3)\tZur Analysis der Wirklichkeit, S. 120 (1. AufL).","page":669},{"file":"p0670.txt","language":"de","ocr_de":"670\nLudwig Lange.\nallem die Auseinandersetzung des Thoms.on-Ta it\u2019sehen Werkes i) inwiefern es m\u00f6glich sei, wenn auch nicht feste Punkte, so doch feste Richtungen \u00bbim Raume\u00ab zu bestimmen, ungeachtet dieser letztere ja an sich unserer Erfahrung unzug\u00e4nglich sei. Als feste Richtung im Raume habe z. B. diejenige der Verbindungslinie zweier gleichzeitig aus demselben Raumpunkte projicirter und dann sich selbst \u00fcberlassener materieller Punkte zu gelten. Wenn auch in Praxis damit nicht viel anzufangen sei, so habe man hier doch gleich gute, allerdings complicirtere Mittel zur Verf\u00fcgung, um feste Richtungen \u00bbim Raume\u00ab zu bestimmen: es folgt der Hinweis auf die Laplace\u2019sche invariable Ebene.\nDass diese Ueberlegungen auf der gew\u00f6hnlichen Formulirung des Beharrungsgesetzes beruhen, welche eine Bezugnahme auf \u00bbden Raum\u00ab, d. h. eben keine menschlicher Erfahrung zug\u00e4ngliche Bezugnahme einschlie\u00dft, ist klar: in der That wird auch bei Thomson und Tait das Gesetz ganz in der gew\u00f6hnlichen Fassung ausgesprochen. Es w\u00e4re eine sehr \u00fcberfl\u00fcssige Wiederholung fr\u00fcherer Erw\u00e4gungen, wollte man die Schw\u00e4chen jener Anschauungen noch besonders hervorheben. Nur soll noch auf die Inconsequenz hingewiesen werden, welche darin liegt, wenn man, wie Thomson und Tait, den absoluten Raum als metaphysische Voraussetzung festh\u00e4lt und die absolute Zeit durch \u00bbparticulare Determination\u00ab* 2) eliminirt : dass Raum und Zeit in dieser Hinsicht parallel zu setzen sind, darauf hat schon Newton mit Recht hingewiesen.\nWenn Z\u00f6llner3) betont, dass die Vorstellung eines realen absoluten Raumes freilich nicht aus extensiven, sondern aus intensiven Empfindungen, insbesondere aus der Empfindung von Druckver\u00e4nderungen abzuleiten sei, so liegt darin bei Lichte betrachtet doch Nichts, was gerade die Realit\u00e4t jenes sogenannten absoluten Raumes plausibler machen k\u00f6nnte. Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, weshalb man jenes Inertialsystem, auf welches man nur Bezug zu nehmen braucht, um die fraglichen Druckver\u00e4nderungen aus Be-\nll A. a. O. Vol. 1. P. I. \u00a7\u00a7 245\u2014249.\n2)\tVgl. \u00bbPhilos. Studien\u00ab, Bd. II. S. 275, sowie \u00bbSitzungsberichte der Kgl-Sachs. Gesellsch. d. Wissenschaften\u00ab, 1885. S. 338, Handnote.\n3)\t\u00bbWissenschaftliche Abhandlungen\u00ab, Bd. II. S. 892 ff.","page":670},{"file":"p0671.txt","language":"de","ocr_de":"671\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\nschleunigungen oder Drehungen gegen dasselbe abzuleiten, als ein reales nach au\u00dfen projiciren sollte. In den Fragen allerdings, zu deren Vorbereitung jene Betrachtungen Z\u00f6llners dienen sollen, mag ein realer absoluter Raum n\u00f6thig sein; in der mechanischen Er-kenntniss aber ist er durchaus \u00fcberfl\u00fcssig, seine Annahme sogar nur verdunkelnd, statt aufkl\u00e4rend.\n2.\nUm den N e w ton \u2019sehen realen absoluten Raum von der ihm anhaftenden Unfassbarkeit zu befreien, hat ihn C. Neumann1) gewisserma\u00dfen materialisirt, m. a. W. an Materie des Weltraumes in hypothetischer Weise angekn\u00fcpft. Ich habe diesen Vorschlag bereits in fr\u00fcheren Arbeiten (s. o. S. 390) in Betracht gezogen. Die Hypothese des concret-existirenden K\u00f6rpers Alpha soll nach Neumann der Bewegungslehre in \u00e4hnlicher Weise zum Fundamente dienen, wie die Hypothese des Licht\u00e4thers der Optik oder die Hypothese der elektrischen Fluida der Elektricit\u00e4tslehre. Dabei soll, gem\u00e4\u00df der herrschenden aufgekl\u00e4rten Anschauung \u00fcber das Wesen der Hypothese, allen diesen Annahmen keineswegs ausgemachte Wahrheit, ja nicht einmal ein angebbarer Grad der Wahrscheinlichkeit, vielmehr nur das Verdienst zugeschrieben werden, dass wir auf Grund ihrer gro\u00dfe Classen von Erscheinungen aus wenigen allgemeinen Principien zu deduciren verm\u00f6gen. Endlich muss noch hervorgehoben werden, dass Neumann auch auf der Hypothese concreter Materialit\u00e4t des K\u00f6rpers Alpha keineswegs mit absoluter Strenge besteht. Statt des K\u00f6rpers Alpha kann auch ein immaterielles System Alpha angenommen werden, welches aber dann an gegebene concrete Materie angeheftet gedacht wird und immerhin noch Gegenstand der Hypothese bleibt: \u00bbSo k\u00f6nnte z. B. das System Alpha constituirt\n1) Ueber die Principien der Galilei-Newton\u2019schen Theorie, Leipzig 1870; vgl. zu Obigem besonders noch S. 21. 9 ff. 24 f. 26. 27. dieser 1869 gehaltenen Antrittsvorlesung. Dieselbe enth\u00e4lt seit Kants \u00bbMetaphysischen Anfangsgr\u00fcnden\u00ab die ersten ausf\u00fchrlicheren Reflexionen \u00fcber unser Thema, und verdient um so gr\u00f6\u00dferes Interesse, als sie zu den meisten neueren Auslassungen \u00fcber den Gegenstand den Ansto\u00df gegeben hat. Unter den Philosophen schlie\u00dft sich, wie hier beil\u00e4ufig bemerkt werden mag, A. Riehl (Der philosophische Kriticismus, Bd. II. Th. 1. Cap. II. S. 92ff.) ziemlich eng an Neumann an.","page":671},{"file":"p0672.txt","language":"de","ocr_de":"672\nLudwig Lange.\nsein durch die dr;\u00fc sogenannten Haupttr\u00e4gheitsachsen irgend eines nicht starren (sondern in seiner Gestaltung sich mit der Zeit \u00e4ndernden) materiellen K\u00f6rpers. Ja man k\u00f6nnte (das Bed\u00fcrfniss nach Einfachheit w\u00fcrde dazu1 hindr\u00e4ngen) die Behauptung wagen, dass das System Alpha repr\u00e4sentirt sei durch die Haupttr\u00e4gheitsachsen des Weltalls (n\u00e4mlich durch die Haupttr\u00e4gheitsachsen s\u00e4mmtlicher im Universum enthaltenen Materie). Nur w\u00fcrde leider eine solche Behauptung so gut wie ohne Inhalt sein, insofern keine M\u00f6glichkeit vorhanden sein d\u00fcrfte, sie durch empirische Data sei es zu befestigen, sei es zu ersch\u00fcttern\u00ab.\nDass die Neu mann\u2019sche Hypothese (in der einen oder anderen Form) vollkommen am Platze w\u00e4re, wenn man durchaus nichts Passenderes an ihre Stelle setzen k\u00f6nnte, ist a. a. O. zugestanden worden. Zugleich wurde aber auch gezeigt, wie man sie durch eine unserm Erkenntnissbed\u00fcrfniss viel ad\u00e4quatere HiilfsVorstellung, n\u00e4mlich die Convention des Inertialsystemes, \u00fcberfl\u00fcssig zu machen im Stande ist.\nZum Beweise der Nothwendigkeit, alle Bewegungen der K\u00f6rper nicht auf andere gegebene K\u00f6rper des Weltalls, sondern auf einen unbekannten hypothetischen K\u00f6rper (System) Alpha zu beziehen, bedient sich Neumann eines einfachen Beispieles, welches ungeachtet gro\u00dfer Aehnlichkeit mit einem der fr\u00fcher besprochenen, von Newton herangezogenen Beispiele doch besondere Besprechung verdient. Ein roti-render Weltk\u00f6rper aus fl\u00fcssiger Materie nimmt durch Centrifugalkr\u00e4fte die abgeplattete Gestalt eines Sph\u00e4roids an. Wenn nun pl\u00f6tzlich alle \u00fcbrigen Himmelsk\u00f6rper au\u00dfer ihm vernichtet w\u00fcrden, so m\u00fcsste, meint Neumann, nach der Auffassung der Bewegung als einer blo\u00dfen relativen Ortsver\u00e4nderung, die Bewegung des Sternes aufh\u00f6ren, er m\u00fcsste also in den Zustand der K\u00fche \u00fcbergehen, folglich mit einem Male Kugelgestalt annehmen. Diese Consequenz ist aber absurd, mithin muss die vorangestellte Ansicht vom Wesen der Bewegung unrichtig sein. Wir m\u00fcssen, so wird weiter gefolgert, um jene Absurdit\u00e4t zu vermeiden, das Princip des unbekannten K\u00f6rpers (Systems) Alpha einf\u00fchren und nur auf diesen die Bewegungen beziehen.\nGegen diese Folgerung lassen sich nun aber doch sehr gewichtige Bedenken geltend machen. Wenn die \u00fcbrigen Himmelsk\u00f6rper au\u00dfer dem rotirenden Stern verschwinden, so h\u00f6rt zwar seine Bewegung","page":672},{"file":"p0673.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n673\nrelativ zu ihnen auf. Aber abgesehen davon, dass doch ein con-sequenter Vertreter der Lehre von der Relativit\u00e4t der Bewegung im Rechte w\u00e4re, die Ruhe des nunmehr isolirten Sternes reichlich f\u00fcr ebenso bestreitbar wie seine Bewegung zu erkl\u00e4ren (s. o. S. 358) \u2014 abgesehen hiervon folgt doch aus dem Verschwinden der \u00e4u\u00dferen umgebenden Himmelsk\u00f6rper noch keineswegs Inertialruhe desSternes, folglich auch nicht Uebergang in die Kugelgestalt. Unser ideales Inertialsystem brauchen wir nicht aus dem Auge zu verlieren, so viel wir auch die Umgebung des Sternes hinwegdenken m\u00f6gen.\nDie bleibende Abplattung werden wir aus einer Rotation des Sternes relativ zu einem Inertialsysteme oder, wenn man lieber will, aus einer Rotation eines Inertialsystemes um den Stern in befriedigender Weise und so einfach als m\u00f6glich erkl\u00e4ren k\u00f6nnen. W\u00e4re auch jede M\u00f6glichkeit der praktischen Constitution eines Inertialsystemes in diesem Falle ausgeschlossen, so w\u00fcrde dies, da sich alle Erkl\u00e4rungen der Dinge nicht drau\u00dfen, sondern in uns abspielen, ganz gleichg\u00fcltig sein. Vorausgesetzt wird lediglich, dass wir bereits ein andermal \u00e4hnliche Centrifugalerscheinungen aus Drehungen zu wirklich construirten Inertialsystemen abgeleitet haben : wer noch nie in diesen Fall gekommen w\u00e4re, w\u00fcrde sich \u00fcber die M\u00f6glichkeit einer Erkl\u00e4rung jener Abplattung \u00fcberhaupt keine Gedanken machen.\n3.\nDie in neuester Zeit von physikalischer Seite gemachten Versuche, !) wenn auch nicht den absoluten Raum,1 2) so doch die absolute Bewegung3) beizubehalten, sind, was wenigstens die daf\u00fcr beigebrachten wissenschaftlichen Gr\u00fcnde anlangt, implicite durch das Vorige so gut wie erledigt. Da hier von einer Verinnerlichung des Bewegungsbegriffes \u2014 wonach die Lagen\u00e4nderung nur \u00e4u\u00dferer Erfolg der Be-\n1)\tYgl. Maxwell, Substanz und Bewegung, deutsch von E. v. Fleischl, Braunschweig 1878.\nH. Streintz. Die physikalischen Grundlagen der Mechanik, Leipzig 1883.\nJ. Thomson, Proceedings of the R. S. of Edinburgh, 1883/84. Vol. XII. No.116. p. 568\u2014578.\n2)\tYgl. Maxwell, a. a. O. S. 14. 93. Streintz, an vielen Stellen. J. Thomson, 1. c. p. 573.\n3)\tMaxwell, S. 95\u201499. Streintz, S. 17. Thomson p. 577.\nWundt, Philos. Studien. III.\t44","page":673},{"file":"p0674.txt","language":"de","ocr_de":"674\nLudwig Lange.\nwegung w\u00e4re (s. o. S. 340) \u2014 nicht die Rede ist, so wird man schon von vornherein diese Versuche der Inconsequenz zeihen m\u00fcssen, und eine einfache Folge dieser Inconsequenz ist es denn auch, wenn die Verteidiger der absoluten Bewegung um das offene Zugest\u00e4ndniss des absoluten Raumes bisweilen doch nur mit genauer Noth herumkommen k\u00f6nnen. Was hat man z. B. unter der absoluten \u00bbRichtung einer Linie in einem materiellen Systeme\u00ab zu verstehen, deren Constanz oder Ver\u00e4nderlichkeit sich nach Maxwell (a.a.O. S. 95) erkennen lassen soll \u2014, wenn man keinen absoluten Raum zu Grunde legt ?\nDurchweg eigenth\u00fcmlich ist diesen Versuchen, dass sie nicht eine absolute Bewegung im allgemeinsten Sinne, sondern nur eine absolute Rotation anerkannt wissen wollen. Die fr\u00fcherhin von uns erwiesene Thatsache, dass mit gleichem Rechte wie von einer absoluten Rotation von einer absoluten Beschleunigung bei geradlinigen Bewegungen geredet werden k\u00f6nnte (s. o. S. 663), wird nicht etwa nur \u00fcbersehen, sondern mehrfach geradezu geleugnet.1)\nVon den Er\u00f6rterungen \u00fcber die Noth Wendigkeit der Annahme absoluter Drehbewegungen d\u00fcrfte allenfalls eine von Streintz angestellte neues Interesse verdienen. Wie ich anderw\u00e4rts 2j auseinandergesetzt habe, bezieht sich Streintz auf sogenannte \u00bbFundamentalk\u00f6rper\u00ab, welche durch physikalische und zwar insbesondere durch gyroskopische Beobachtungen als \u00bbnicht rotirend\u00ab erkannt worden sein m\u00fcssen. Mit R\u00fccksicht auf Fundamentalk\u00f6rper ist, so meint Streintz, das Beharrungsgesetz auszusprechen und sind alle Drehbewegungen, soweit sie wirklich sein sollen, zu bemessen. Die Drehbewegungen, welche so erkannt werden, sollen nun nach Streintz absolute sein, d. h. nicht etwa auf die \u00bbfesten\u00ab Achsenrichtungen seiner Gyroskope sich beziehen, wie es auf den ersten Blick scheinen k\u00f6nnte. Dies gehe daraus hervor, \u00bbdass die Drehung von der Wahl dieser Apparate sich ganz unabh\u00e4ngig ergibt. Alle Beobachter, welcher (gyrosko-pischen) Compass\u00e9 sie sich auch bedienen m\u00f6gen, werden......die-\nselben Resultate erhalten. Zwei K\u00f6rper, von welchen ohne gegenseitige Beziehung erkannt worden ist, dass sie Drehungen von gleicher Ge-\n1)\tZ. B. Maxwell, a. a. O. S. 29. Streintz, a. a. O. S. 17.\n2)\tSitzungsberichte d. Kgl. Sachs. Gesellschaft, 1885. S. 348 f. \u00bbPhilosophische Studien\u00ab, Bd. II. S. 281.","page":674},{"file":"p0675.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n675\nschwindigkeit ausf\u00fchren, werden mit einander verglichen dieses Resultat best\u00e4tigen\u00ab.1) Ich sehe aber nicht ein, wieso aus diesen Betrachtungen die behauptete Nichtrelativit\u00e4t der beobachteten Rotation folgen sollte. Weil man, um die Rotation eines K\u00f6rpers zu ermitteln, nicht nothwendig auf einen bestimmten Apparat sich zu beziehen braucht, soll die ermittelte Rotation \u00fcberhaupt keine Bezugnahme in-volviren. Wider einen ganz \u00e4hnlichen Fehlschluss bemerkt Mach2) sehr zutreffend: \u00bbWeil ein Papiergulden nicht nothwendig durch einen bestimmten M\u00fcnzgulden fundirt sein muss, sondern durch einen beliebigen Miinzgulden fundirt sein kann ; so darf man nicht glauben, dass er gar nicht fundirt zu sein braucht\u00ab. Dass \u00fcbrigens die verschiedenen Apparate verschiedener Experimentatoren dieselben Rotationselemente eines K\u00f6rpers liefern, ist unter Zugrundelegung eines Inertial-systemes leicht daraus zu begreifen, dass alle Rotationsachsen nach dynamischen , dem Beharrungsgesetze entspringenden Theoremen feste Richtungen in jenem Inertialsysteme einnehmen m\u00fcssen. Streintz freilich, welcher auf Grund der angef\u00fchrten und anderer Erw\u00e4gungen das Beharrungsgesetz erst noch formuliren will, muss jene Unabh\u00e4ngigkeit der Versuche von einzelnen besonderen Apparaten \u2014 nicht in Wirklichkeit von Apparaten \u00fcberhaupt \u2014als eine ge-heimnissvolle Erfahrungsthatsache hinnehmen, was in den Principien der Mechanik nicht nur h\u00f6chst unelegant, sondern auch verdunkelnd ist.\n4.\nVerh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gering ist in der Gegenwart die Zahl Derer, welche sich durch die veralteten Begr\u00fcndungsversuche fr\u00fcherer Jahrhunderte nicht haben abhalten lassen, sowohl den absoluten Raum als auch die absolute Bewegung als unbegreifliche und \u00fcberfl\u00fcssige Fictionen des esprit m\u00e9taphysique ganz und gar \u00fcber Bord zu werfen.\nOhne n\u00e4here Beschr\u00e4nkung d\u00fcrfte hierher \u00fcberhaupt nur E. Machs3) Versuch zu rechnen sein, die Bezugnahme auf den absoluten\n1)\tStreintz, a. a. O. S. 17.\n2)\tE. Mach in der ersten seiner beiden sogleich anzuf\u00fchrenden Schriften, S. 48.\n3)\tDie Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag, 1872. Ferner: Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch darge-\n44*","page":675},{"file":"p0676.txt","language":"de","ocr_de":"676\nLudwig Lange.\nRaum durch die Bezugnahme auf das All der Weltk\u00f6rper zu ersetzen und an Stelle der absoluten Bewegung eines Punktes sozusagen seine mittlere Bewegung gegen das Weltall einzuf\u00fchren. Diesen Vorschlag habe ich schon anderw\u00e4rts * 1) besprochen und einer kurzen Kritik unterzogen. Nur Eins mag noch bemerkt werden. Der Grund, warum Mach sich auf die sinnlich gegebene Materie des Weltraumes bezieht, liegt darin, dass er den Uehelstand des \u00bbabsoluten Raumes\u00ab vermeiden m\u00f6chte, dessen wir einmal trotz aller Bem\u00fchungen \u00bbnicht habhaft werden k\u00f6nnen\u00ab. Dieser dem realen absoluten Raum mit vollstem Rechte gemachte Vorwurf trifft indess, wie Mach kaum bestreiten wird, nun und nimmermehr die von dem betrachtenden Subjecte ausgehende Convention des idealen Inertialsysternes. Dass wir aber in den letzten Gr\u00fcnden der Naturbetrachtung \u00fcber gewisse reine Ideen einmalnichthinwegkommen, wird von Jedermann zugestanden, und dass auch blo\u00dfe Ideen in der Erkl\u00e4rung der Dinge zul\u00e4ssig sind, wird ja am allerwenigsten von der Mach\u2019sehen Grundanschauung geleugnet, welche das Wesen und die Aufgabe der wissenschaftlichen Erkenntnis darin erblickt, Ph\u00e4nomene und Erinnerungsbilder von Ph\u00e4nomenen auf die denkbar \u00fcbersichtlichste Weise und \u00fcberhaupt unter Ber\u00fccksichtigung instinctiver Forderungen des Geistes mit einander \u2014 durch Vermittelung h\u00f6herer Principien \u2014 in Einklang zu setzen.\nIn etwas beschr\u00e4nkterem Sinne scheinen mir hierher auch gewisse von Hermann Lotze2) in seiner \u00bbMetaphysik\u00ab angestellte Erw\u00e4gungen zu geh\u00f6ren. Lotze pr\u00fcft die Annahmen eines absoluten Raumes und einer absoluten Bewegung mit der gr\u00f6\u00dften Objectivit\u00e4t auf das F\u00fcr und Wider (\u00a7\u00a7 164ff.), und kommt so zu dem Endergebniss, dass es w\u00fcnschenswerth w\u00e4re, wo m\u00f6glich etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen. \u00bb Kann nun \u00ab, so fragt er weiterhin, \u00bb die Ansicht, welche dem Raume eine nur ph\u00e4nomenale Geltung zugesteht, zur L\u00f6sung\nstellt, Leipzig 1883. Die in der ersten Schrift angestellten Erw\u00e4gungen hat Mach bereits 1868 zu Prag m\u00fcndlich ausgef\u00fchrt in einer \u00f6ffentlichen Vorlesung \u00bbUeber einige Hauptfragen der Physik\u00ab. Das durch keinerlei Abh\u00e4ngigkeit erkl\u00e4rte Zusammentreffen mit Neumann bietet den besten Beweis f\u00fcr die Wichtigkeit und Zeitgem\u00e4\u00dfheit der von beiden Forschern angeregten Frage.\n1)\t\u00bbSitzungsberichte u. s. w.\u00ab 1885. S. 348. \u00bbPhilosophische Studien\u00ab Bd. II-S. 272.\n2)\tSystem der Philosophie, Theil II. Metaphysik (1879) \u00a7\u00a7 161\u2014170.","page":676},{"file":"p0677.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n677\ndieser Zweifel etwas Zufriedenstellendes anbieten?\u00ab (\u00a7 167). Die Antwort des Philosophen l\u00e4uft wesentlich hinaus auf einen Versuch, den realen absoluten Kaum durch den Lotze\u2019schen \u00bbph\u00e4nomenalen\u00ab Raum zu ersetzen. So wird die M\u00f6glichkeit, \u00fcber die Drehung oder Nichtdrehung einer isolirten Kugel zu urtheilen, dadurch plausibel gemacht , dass man sich selbst doch als Beobachter hinzuzudenken habe (\u00a7168f.|i M.a.W. es wird ein ideales Coordinatensy stem eingef\u00fchrt, um die Dinge darauf zu beziehen. So unbestreitbar die Richtigkeit dieses Gedankens ist, so fehlt doch die nichts weniger als unwesentliche n\u00e4here Bestimmung \u00fcber den dynamischen Charakter desjenigen idealen Coor-dinatensystemes, welches den absoluten Raum ersetzen soll, und man muss nothwendig die Definition des Inertialsystemes hinzuf\u00fcgen, um diese L\u00fccke auszuf\u00fcllen.\nWenn wir L otzes Erw\u00e4gungen nicht ohne Beschr\u00e4nkung hierher gerechnet haben, so geschah dies darum, weil in dem letzten der citirten Paragraphen seines Werkes (\u00a7 170) die Meinung ausgesprochen ist, man m\u00fcsse der \u00e4u\u00dferen r\u00e4umlichen Bewegung als Antecedens ein inneres unr\u00e4umliches Geschehen in den bewegten Dingen zuordnen, welches seinerseits freilich unbegreiflich bleibe. Es ist hier nicht der Ort, die f\u00fcr eine solche Annahme vorgef\u00fchrten Gr\u00fcnde zu kiitisiren. Es gen\u00fcgt zu bemerken, dass sie rein metaphysischer Natur sind und f\u00fcr die Dynamik nicht in Betracht kommen. In dieser Wissenschaft w\u00e4re die Annahme solcher innerer Zust\u00e4nde nicht von auf kl\u00e4render, sondern im Gegen theil von verdunkelnder Wirkung.\n5.\nEinen wirklichen vollg\u00fcltigen Ersatz f\u00fcr die veralteten metaphysischen Voraussetzungen des realen absoluten Raumes und der realen absoluten Bewegung zu liefern, unternimmt der L\u00f6sungsversuch des Verfassers. Da dieser Versuch seinen Grundz\u00fcgen nach schon im Vorhergehenden entwickelt worden ist, so wird es an dieser Stelle gen\u00fcgen, seine Hauptpunkte kurz, aber systematisch geordnet noch einmal zusammenzufassen.\nWir haben gesehen, wie diejenige Definition der Bewegung, wonach das Wesen der letzteren in der \u00e4u\u00dferen Ver\u00e4nderung der relativen Lage besteht, durchaus dem Geist der Wissenschaft am n\u00e4chsten","page":677},{"file":"p0678.txt","language":"de","ocr_de":"678\nLudwig Lange.\nliegt. So gehen, um nur zwei der wichtigsten Beispiele anzuf\u00fchren, sowohl Kant als auch Euler von ihr aus und legen sie ihren ferneren Untersuchungen zu Grunde. Wenn sie nun im Weiteren dennoch von ihr abweichen, so thun sie es nur aus Anlass besonderer Umst\u00e4nde, n\u00e4mlich gewisser angeblich unvermeidlicher Widerspr\u00fcche , in welche man durch den Gebrauch jener Definition verwickelt werde. Diese Widerspr\u00fcche aber existiren, wie gezeigt worden ist, in Wirklichkeit gar nicht, und wenn man zur Erg\u00e4nzung des allgemeinen Bewegungs-begriffes die Begriffe des Inertialsystemes, der Inertialzeitscala, der Inertialdrehung und der Inertialruhe einf\u00fchrt, so wird dadurch aufs sicherste jeder falschen Anwendung des allgemeinen Bewegungsbegriffes vorgebeugt, welche den Schein innerer Widerspr\u00fcche desselben nach sich ziehen k\u00f6nnte. Die metaphysischen Voraussetzungen des realen absoluten Raumes und der realen absoluten Bewegung werden durch diese neuen Begriffsbestimmungen in allen ihren f\u00fcr die Mechanik bedeutsamen Functionen vollkommen ersetzt und \u00fcberfl\u00fcssig gemacht.\nAls grundlegende Definition der Mechanik hat darnach die folgende zu gelten :\nBewegung ist die Ver\u00e4nderung der relativen Lage zu irgend einem gegebenen Bezugsk\u00f6rper oder auch zu irgend einem blo\u00df vorgestellten Bezugssysteme.\nBei Urtheilen \u00fcber die Bewegung eines Dinges ist also, um Missverst\u00e4ndnissen vorzubeugen, Angabe des Bezugsk\u00f6rpers oder Bezugs-systemes erforderlich ; ausgenommen sind nur solche F\u00e4lle, wo durch den Zusammenhang der Rede oder sonst irgendwie jeder Zweifel \u00fcber die Bezugnahme von vornherein ausgeschlossen ist.\nNach dieser Principiensetzung f\u00e4llt die althergebrachte Unterscheidung zwischen \u00bbwahrer\u00ab und \u00bbscheinbar er\u00ab B ewe gun g als g\u00e4nzlich grundlos und \u00fcberfl\u00fcssig hinweg. Die t\u00e4gliche Umdrehung des Firmamentes um die Erde ist genau eben so wirklich, als die t\u00e4gliche Rotation der Erde, wie sie Copernicus lehrt. Ja sogar die Umw\u00e4lzung der Erde und des Weltalls um den K\u00f6rper eines Tanzenden ist durchaus kein blo\u00dfer Schein, sondern vielmehr eine unbestreitbare Erfahrungstatsache. Die Bezugnahme auf den Tanzenden ist keineswegs","page":678},{"file":"p0679.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n679\nunrichtig, sondern nur so unpraktisch, dass Niemand sie im Ernste der umgekehrten Bezugnahme vorziehen wird. Es sei mir gestattet, bei diesem Beispiele, zum letzten Male, auf Gegengr\u00fcnde Bezug zu nehmen. Man k\u00f6nnte gegen die Bewegung der Welt um den Tanzenden zweierlei Einw\u00e4nde erheben, welche auf den ersten, aber auch nur auf den ersten Blick viel Gewicht zu haben scheinen. Erstens: Wie ist es m\u00f6glich, dass der T\u00e4nzer durch seine geringe Muskelkraft die ungeheure Masse der Welt um sich herumw\u00e4lzt ? Nach dem Princip von der Erhaltung der Fl\u00e4chen m\u00fcsste doch er seihst dadurch in eine unendlich viel geschwindere Umdrehung ge-rathen ! Man vergisst hier, dass das Princip von der Erhaltung der Fl\u00e4chen sich auf ein Inertialsystem bezieht und nur insoweit, als es dies thut, auf Wahrheit beruht: Niemand behauptet ja, dass der T\u00e4nzer inertiell-ruhig bleibe und die Welt in Inertialdrehung versetze 1 Zweitens: Zugegeben, der Tanzende k\u00f6nne die Erde in Rotation um sich versetzen, wie sollte sich diese Bewegung auf die \u00fcbrigen Himmelsk\u00f6rper \u00fcbertragen? Dazu m\u00fcsste doch die Schwungkraft der Erde auf dieselben \u00fcbertragen werden, was durchaus eine materielle Verb in dung zwischen Erde und Himmelsk\u00f6rpern voraussetzen w\u00fcrde, welche ohne Zweifel nicht besteht ! Man vergisst hier, dass nur der Uehergang aus der Inertialruhe in die Inertialdrehung, nicht aber der Uehergang aus der Ruhe in die Bewegung schlechthin Kraft erfordert. Sobald man sich dies vergegenw\u00e4rtigt, f\u00e4llt es einem geradezu wie Schuppen von den Augen und man erkennt aufs klarste die Haltlosigkeit des zweiten gegen die Reciprocit\u00e4t der \u00bbBewegung\u00ab soeben erhobenen Einwandes. Ganz \u00e4hnlich steht es nun mit allen derartigen Einw\u00e4nden, wie sie sich uns wohl gelegentlich aufdr\u00e4ngen k\u00f6nnen, wenn wir vor\u00fcbergehend einmal unser Fundament aus dem Auge verloren haben. Sobald wir einen solchen Einwand ernstlich pr\u00fcfen, entdecken wir auf einmal die alte ewige petitio principii darin, welche infolge der Nachwirkung des trivialen Bewegungshegriffes anf\u00e4nglich unseren Blicken verborgen blieb.\nKehren wir nach dieser Abschweifung zur Exposition der mechanischen Fundamente zur\u00fcck. Als zweite grundlegende Definition der Mechanik ist diejenige des Inertialsystemes, als dritte diejenige der Inertialzeitscala aufzustellen; beide Definitionen sind, wie kaum gesagt zu werden braucht, mit dem Ausspruche des Beharrungs-","page":679},{"file":"p0680.txt","language":"de","ocr_de":"680\nLudwig Lange.\ngesetzes zu verschmelzen.1) Daran haben sich dann endlich viertens und f\u00fcnftens die Erkl\u00e4rungen der Ausdr\u00fccke \u00bbInertialruhe\u00ab und \u00bbInertialdrehung\u00ab anzuschlie\u00dfen, eine Erg\u00e4nzung, durch welche jede missbr\u00e4uchliche Anwendung des allgemeinen Bewegungsbegriffes unm\u00f6glich gemacht wird. (Vgl. o. S. 667.)\nDas Copernicanische Weltsystem in der Fassung, worin die Bewegung des Himmels um die Erde als Schein bezeichnet wird Avar den von uns entwickelten Principien zufolge als irrth\u00fcmlich zu bezeichnen. Sein ganzer Wahrheitsgehalt l\u00e4sst sich nunmehr auf die allerdings unanfechtbare Behauptung reduciren, dass die Erde nicht inertiell-ruhig, sondern auf gewisse Weise in Inertialdrehung begriffen ist, w\u00e4hrend das Firmament, von den verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringen Fixsterneigenbewegungen abgesehen, als inertiell-ruhig zu gelten hat. Pr\u00e4ciser noch werden Avir so sagen k\u00f6nnen: Der Schwerpunkt der von der Sonne regierten Weltk\u00f6rpergruppe darf mit hinreichender Genauigkeit als inertiell-ruhig gelten; nennen wir nun dasjenige unzweideutige Inertialsystem, worin er ruht, das \u00bbheliocentrische Inertialsystem \u00ab,2) so ist relativ zu letzterem die Erde in einer zwiefachen Bewegung, n\u00e4mlich einer j\u00e4hrlichen Revolution um jenen Schwerpunkt und einer t\u00e4glichen Rotation um eine in ihr gelegene Achse von nahezu (d. h. Pr\u00e4cession und Nutation abgerechnet) constanter Inertialrich-tung begriffen, w\u00e4hrenddessen die nach den Fixsternen gezogenen Strahlen ihre Richtung im heliocentrischen Inertialsysteme nur \u00e4u\u00dferst langsam ver\u00e4ndern. In dem Copernicanischen Weltsysteme mehr erblicken zu Avollen, als hier auseinander gesetzt worden ist, hei\u00dft: die Grenzen menschlicher Erkenntniss \u00fcberschreiten.3) In Avie unange------------ 0\n1)\tEs versteht sich von seihst, dass man hierbei in einer systematisch ausgef\u00fchrten Entwickelung der mechanischen Principien von der urspr\u00fcnglichen geocentrischen Fassung des Beharrungsgesetzes ausgehen w\u00fcrde, um von da aus durch die verschiedenen m\u00f6glichen Zwischenstufen zu der vorgeschlagenen Fassung fortzuschreiten. Vgl. \u00bbPhilosoph. Studien\u00ab, Bd. II. S. 267 f.\n2)\tDas heliocentrische Inertialsystem ist ein besonders sch\u00f6nes Beispiel des allgemeineren \u00bbharycentrischen Inertialsystemes\u00ab, welches sich hei Betrachtung materieller Systeme vor anderen Inertialsystemen durchg\u00e4ngig durch besondereVer-einfachung der Rechnungen auszeichnet.\n3)\tIch erinnere hier an die auf denselben Gegenstand bez\u00fcglichen Worte Herbarts (Allg. Metaphysik \u00a7 296): \u00bbJeder Mathematiker hat ein Recht, seine Gleichung zu ordnen, um sie aufzul\u00f6sen. Die Anordnung ist aber nicht die Wahrheit der Gleichung ; dieser kann sie Nichts gehen noch nehmen\u00ab. Von dieser und","page":680},{"file":"p0681.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n681\nnehmer Weise sich aber eine solche Ueherschreitung r\u00e4chen kann, daf\u00fcr l\u00e4sst sich ein merkw\u00fcrdiges und hier in mehrfacher Beziehung interessantes Beispiel aus der Geschichte der Stellarastronomie anf\u00fchren.\nBekanntlich nimmt die neuere Astronomie seit William Her-schel (1783) eine wahre Eigenbewegung, wie aller \u00fcbrigen Fixsterne, so auch unserer Sonne mitsammt ihrem ganzen Systeme an. Wer sich gegenw\u00e4rtig h\u00e4lt, was man unter den \u00bbwahren Bewegungen\u00ab der Planeten versteht, n\u00e4mlich so viel als deren Bewegung zum heliocen-trischen Inertialsysteme, der wird a priori vermuthen d\u00fcrfen, dass sich die \u00bbwahren Bewegungen\u00ab der Sonne und der Fixsterne auf ein solches Coordinatensystem beziehen, mit Bezug worauf der Schwerpunkt des Fixsternhimmels ruht, und welches bei etwaiger dynamischer Untersuchung der allm\u00e4hlichen Verschiebung aller himmlischen Constellationen hinreichend genau als Inertialsystem gelten darf. M. a. W. er wird sich unter der \u00bbwahren Bewegung\u00ab der Sonne so viel denken als ihre Bewegung relativ zum \u00bbbarycentrischen Inertialsysteme\u00ab des Fixsterncomplexes. Erw\u00e4gt man indessen die mancherlei Methoden, welche von den Astronomen zur Ermittelung der wahren Sonnenbewegung angewandt worden sind, so \u00fcberzeugt man sich, dass die Bezugnahme bei dieser Bewegung, so wie die letztere von den Astronomen gelehrt wird, ihrem Wesen nach eine ganz andere ist und h\u00f6chstens durch reinen Zufall mit dem barycentrischen Inertialsystem des Fixsterncomplexes Etwas zu thun haben k\u00f6nnte. Nun aber hat der ber\u00fchmte Astronom Argeiander aus der Richtung der \u00bbwahren Sonnenbewegung\u00ab auf die Gegend am Himmel geschlossen, wo das dynamische Centrum dieser Bewegung seinen Sitz habe. Da n\u00e4mlich die \u00bbwahre Bewegung\u00ab eines Planeten \u2014 infolge der geringen Excentricit\u00e4t seiner Bahn \u2014 ziemlich senkrecht zu dem nach\neinigen sich anschlie\u00dfenden sehr zutreffenden Bemerkungen abgesehen d\u00fcrften Herharts \u00fcbrige Ausf\u00fchrungen \u00fcber den Bewegungsbegriff hier von geringem Interesse sein. Insbesondere werden darin die dynamischen Paradoxien, welche doch gegenw\u00e4rtig den Kern der ganzen Pr\u00e4ge ausmachen, ignorirt und auf die Gr\u00fcnde der Gegner wird \u00fcberhaupt viel zu wenig R\u00fccksicht genommen, als dass die ge\u00e4u\u00dferten Ansichten weitere Anregung h\u00e4tten gehen k\u00f6nnen. \u2014 Vgl. zu Obigem auch Mach, Die Mechanik S. 216: \u00bbRelativ sind die Bewegungen im Weltsystem . . . . dieselben nach der Ptolem\u00e4ischen und nach der Copernicanischen Auffassung. Beide Auffassungen sind auch gleich richtig, nur ist die letztere einfacher und praktischer\u00ab.","page":681},{"file":"p0682.txt","language":"de","ocr_de":"682\nLudwig Lange.\nder Sonne gezogenen Vector steht, so verfiel Argeiander auf den Gedanken, das dynamische Centrum der \u00bbwahren Bewegung\u00ab der Sonne \u2014 nat\u00fcrlich unter der (hier nicht weiter zu kritisirenden) Hypothese einer ebenfalls nahezu kreisf\u00f6rmigen Gestalt der Sonnenbahn \u2014 etwa 90\u00b0 vom Zielpunkt (Scheitelpunkt, Apex) der wahren Sonnenbewegung zu suchen. Dieser Analogieschluss st\u00fctzt sich auf den Gleichklang des Wortes \u00bbwahre Bewegung\u00ab in Planetentheorie und Stellarastronomie; er w\u00e4re aber doch nur dann logisch gerechtfertigt, wenn die gleichklingenden Worte auch analoge Vorg\u00e4nge bezeichneten, m. a. W. wenn in Analogie zur \u00bbwahren Bewegung\u00ab der Planeten die \u00bbwahre Bewegung\u00ab der Sonne auf das barycentrische Inertialsystem des Fixsterncomplexes sich bez\u00f6ge, was nach dem Vorhergehenden nicht im geringsten der Fall ist. Dieser offenkundige Trugschluss eines so hochhedeutenden Astronomen w\u00e4re unm\u00f6glich gewesen, wenn man statt von \u00bbwahrer Bewegung\u00ab bei den Planeten von heliocentrischer Inertialdrehung, bei der Sonne etwa von mittlerer Bewegung relativ zum Fixsterncom-plexe1) geredet h\u00e4tte. Argelanders Anschauung ist nun zwar aus anderen Gr\u00fcnden von der Wissenschaft schon l\u00e4ngst verworfen worden. Dennoch glaubte ich sie in Betracht ziehen zu sollen, weil sie so recht deutlich zeigt, wie gef\u00e4hrlich der Gebrauch solcher mysteri\u00f6ser Worte, wie \u00bbwahre\u00ab und \u00bbabsolute Bewegung\u00ab, in der Wissenschaft werden kann.\nNach dieser Abschweifung d\u00fcrfte es schlie\u00dflich noch am Platze sein, einige allgemeiner interessante dynamische (Konsequenzen der von mir entwickelten Anschauungen kurz anzudeuten. Abgesehen von dem Gau\u00df\u2019schen Princip des kleinsten Zwanges, dessen Ausspruch \u00fcberhaupt kein bestimmtes Bezugssystem der Bewegung voraussetzt, sind die s\u00e4mmtlichen teleologisch gef\u00e4rbten Haupts\u00e4tze der Dynamik, insbesondere diejenigen von der Erhaltung des Schwerpunktes, der Erhaltung der Bewegungsgr\u00f6\u00dfe und der Erhaltung der lebendigen Kraft, ferner der Satz von der invariabeln Ebene durchweg nur g\u00fcltig, sofern man ein Inertialsystem zu Grunde legt. Die Energie\n1) Mehr als dies zu sein, kann die sogenannte \u00bbwahre\u00ab Bewegung der Sonne auf keinen Fall beanspruchen. Ich komme hierauf, wie auf die Schwierigkeiten, welche es macht, jene Art der Bewegung klar zu definiren, im Anh\u00e4nge dieser Abhandlung ausf\u00fchrlich zu sprechen.","page":682},{"file":"p0683.txt","language":"de","ocr_de":"683\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\neines materiellen Syst\u00e8mes ist bemerkenswerther Weise auch unter Zugrundelegung eines Inertialsysternes nichts Bestimmtes, sondern ganz von der Wahl eines einzelnen besonderen Inertialsystem.es abh\u00e4ngig. ')\nSchlusswort.\nWir sind am Ende unserer Untersuchungen angelangt. Es d\u00fcrfte sich im Laufe derselben aufs klarste herausgestellt haben, dass die von mir bef\u00fcrworteten Principien der Bewegungslehre sich in gleichem Ma\u00dfe durch ungest\u00f6rte innere Harmonie wie durch eine au\u00dferordentliche Einfachheit der Gestaltung auszeichnen. Wenn ich schon aus diesen beiden Gr\u00fcnden von der zuk\u00fcnftigen Adoption jener Principien durch die Wissenschaft fest \u00fcberzeugt bin, so werde ich in dieser Ueberzeugung durch einen Blick auf die vergangene Entwickelung des Bewegungsbegriffes nur best\u00e4rkt. Die von mir vorgeschlagene Modification dieses Begriffes bietet in der That nach zwei verschiedenen Seiten hin die naturgem\u00e4\u00dfe ungezwungene Vermittelung zwischen gewissen bemerkenswerthen Entwickelungsformen dar, welche der Begriff fr\u00fcherhin durchlaufen hat. Erstens hat die Anwendung des Bewegungsbegriffes eine eigenth\u00fcmliche Entwickelung durchgemacht in Hinsicht der obersten logischen oder methodologischen Principien, auf welche man dabei Bezug nahm. Die Erkl\u00e4rung der gegebenen Bewegungsph\u00e4nomene geschah wesentlich teleologisch bei Aristoteles; causal aus einem (objectiv-)teleologisch gegr\u00fcndeten Princip bei Galilei und Newton; endlich causal aus einem Princip, welches selbst wieder causal begr\u00fcndet wurde, bei Kant. Wir haben gesehen, dass gegenw\u00e4rtig sowohl die objectiv-teleologische als auch die rein causale Begr\u00fcndung jenes Princips nicht zu halten ist. Hier treten uns nun die vorgeschlagenen Grundlagen der Bewegungslehre in gewissem Sinne als vermittelnde entgegen, insofern sie dazu f\u00fchren, die gegebenen Bewegungsph\u00e4nomene causal aus einem Princip abzuleiten, welches selbst theils auf zweckm\u00e4\u00dfiger Convention, d. h. subjectiver\n1) Schon Maxwell hebt mit Hecht hervor, dass der uns bekannte Werth der Energie eines K\u00f6rpers nichts Absolutes ist. Vgl. Substanz und Bewegung, S. 103.","page":683},{"file":"p0684.txt","language":"de","ocr_de":"684\nLudwig Lange.\nTeleologie, theils auf dem allgemeinen Causalgesetze , theils endlich auf der physikalischen Erfahrung basirt ist. Noch in einer zweiten Hinsicht dient der vorgeschlagene Bewegungsbegriff auf die ungezwungenste Weise zur Vermittelung, n\u00e4mlich was seine \u00e4u\u00dfere Seite, was den zu Grande zn legenden Bezugsraum der Bewegung anlangt. Von dem Bezugsraume der Bewegung, sofern sie eine wirkliche sein soll, forderte Aristoteles (und im Anschl\u00fcsse an ihn Descartes) Materialit\u00e4t, ja sogar Contiguit\u00e4t mit dem bezogenen K\u00f6rper, Newton dagegen Immaterialit\u00e4t sowie transcendente Realit\u00e4t. Zufolge der vorgeschlagenen Begriffssetzung gilt hingegen eine Bewegung als gleich wirklich, einerlei oh der Bezugsraum materiell oder oh er immateriell und ein blo\u00df vorgestellter, idealer ist ; Bezugsr\u00e4ume von transcendenter Realit\u00e4t werden allerdings nicht zugelassen, weil sie nachgewiesener Ma\u00dfen der Erkl\u00e4rung der Erscheinungen in keiner Weise dienlich sind.\nEin Blick auf die neueste Litteratur \u00fcber die Principien der Bewegungslehre l\u00e4sst erkennen, dass sich das Interesse f\u00fcr die in vorliegender Abhandlung ber\u00fchrten Fragen w\u00e4hrend der letzten Jahre betr\u00e4chtlich gesteigert hat. M\u00f6ge es mir gelungen sein, die Theil-nahme an jenen Grundfragen der Mechanik durch die angestellte historisch-kritische Untersuchung meinerseits so viel als m\u00f6glich zu f\u00f6rdern und insbesondere die erste und wichtigste dieser Fragen, die Frage nach der widerspruchsfreien Formulirung des Bewegungsbegriffes, der Entscheidung n\u00e4her zu f\u00fchren, welcher sie in der neuesten Zeit sichtlich zudr\u00e4ngt.","page":684},{"file":"p0685.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n685\nAnhang.\nUeber die sogenannte \u00bbabsolute Translation\u00ab der Sonne und die Vorstellung , welche in Wirklichkeit damit zu verbinden ist.\nNachdem wir die metaphysische Voraussetzung des realen absoluten Raumes endg\u00fcltig aufgegeben haben, dr\u00e4ngt sich uns die nicht unwichtige Frage auf, was denn eigentlich unter der, von den Astronomen durchweg auf \u00bbden Raum\u00ab, d. h. den \u00bbabsoluten Raum\u00ab bezogenen, sogenannten \u00bbabsoluten Translation\u00ab oder \u00bbwahren Eigenbewegung\u00ab der Sonne in Wirklichkeit zu verstehen sei.\nBei Bestimmung der Richtung und Geschwindigkeit dieser Bewegung st\u00fctzen sich die Astronomen bekanntlich auf die durch Beobachtung erkannten Verr\u00fcckungen der \u00bbwirklichen\u00ab Fixstern\u00f6rter, d. h. auf die \u00bbFixsterneigenbewegungen\u00ab.1) W\u00e4re der Complex der Fixsterne ein unver\u00e4nderliches materielles System, so w\u00fcrden sich diese Eigenbewegungen ganz und gar aus einer gewissen Translation der Sonne relativ zu ihm ableiten lassen, und diese Translation best\u00fcnde demnach nur in einer Bewegung relativ zu jenem Complexe, von dem man gar nicht wissen k\u00f6nnte, ob er nicht im \u00bbabsoluten Raume\u00ab irgendwie, z. B. geradlinig und gleichf\u00f6rmig bewegt w\u00e4re; kurz man h\u00e4tte nicht den geringsten Grund, die ermittelte, den beobachteten Fixsterneigenbewegungen entsprechende Translation als eine \u00bbabsolute\u00ab anzusehen. Nun aber sind die Eigenbewegungen aus einer blo\u00dfen Translation der Sonne relativ zum starr gedachten Complexe der anderen Fixsterne nicht vollst\u00e4ndig zu erkl\u00e4ren, und aus diesem Grunde werden sie von den Astronomen nicht nur von einer absoluten Trans-\n1) Eigenbewegungen hei\u00dfen diese Verr\u00fcckungen im Gegens\u00e4tze zu den verschiedenartigen sonstigen Verr\u00fcckungen der Fixstern\u00f6rter, welche der Astronom aus der Bewegung der Erde ableitet. Von den \u00bbEigenbewegungen\u00ab zu unterscheiden sind die sogenannten \u00bbwahren\u00ab Eigenbewegungen (s. u.).","page":685},{"file":"p0686.txt","language":"de","ocr_de":"686\nLudwig Lange.\nlation der Sonne, sondern auch von absoluten Translationen der Fixsterne hergeleitet. Die Eigenbewegungen der Fixsterne seien, so hei\u00dft es, nur zu einem gewissen Theil \u00bbwahre\u00ab, zum anderen Theil aber scheinbare, parallaktische, blo\u00df durch die Translation der Sonne (und damit auch unseres Standpunktes) hervorgebrachte Bewegungen. Um nun die \u00bbwahren Eigenbewegungen\u00ab der Fixsterne von den blo\u00df parallaktischen Antheilen abzusondern, welche au\u00dfer ihnen in den beobachteten Eigenbewegungen noch enthalten sind, gehen die Astronomen von der Vermuthung aus, dass (was Richtung und Geschwindigkeit anlangt) die wahren Eigenbewegungen im Gegens\u00e4tze zu den parallaktischen (eine einfache und bestimmte Regel befolgenden) Verschiebungen ganz regellos verstreut seien; dass also, wenn man nur eine hinreichende Anzahl von Sternen in Betracht z\u00f6ge, die Re-sultirende ihrer wahren Eigenbewegungen sozusagen verschwinden m\u00fcsste. ')\nWorauf aber st\u00fctzt sich denn diese Vermuthung? Schlechterdings auf gar Nichts! Denn woher will man wissen, dass nicht z. B. einmal der ganze Complex der Fixsterne einen gemeinsamen Antrieb erhalten und dadurch relativ zum absoluten Raume eine gemeinsame geradlinige und gleichf\u00f6rmige Bewegung angenommen hat? Wir k\u00f6nnen nun einmal \u00fcber die Bewegung relativ zu diesem Gespensterraume Nichts aussagen, ohne die unserer Erkenntniss gesteckten Grenzen zu \u00fcberschreiten.\nWenn sich sonach die gel\u00e4ufige Anschauung, welche in der von den Astronomen gefundenen Translation der Sonne eine absolute Bewegung derselben erblickt, als vollkommen unhaltbar herausgestellt hat, so bliebe doch vielleicht die Berechtigung \u00fcbrig, jener Translation als bez\u00fcglich auf irgend ein conventionelles System eine gewisse Bedeutung beizumessen. Ehe wir aber untersuchen, in welcher Weise dieses conventionelle System etwa zu definiren w\u00e4re, gilt es, die zur Ermittelung der Fixsterneigenbewegungen von den Astronomen angewandte Methode in genauere Erw\u00e4gung zu ziehen.\nDie Fixsterneigenbewegungen pflegen inRectascension [AR] und Declination il)) angegeben zu werden, sind aber keineswegs identisch\n1) P. A. Seechi, Die Sterne, Leipzig 1878. S. 203.","page":686},{"file":"p0687.txt","language":"de","ocr_de":"687\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\nmit den Verr\u00fcckungen der Sterne nachM-\u00df und I). welche durch unmittelbare Messung mit den astronomischen Instrumenten erhalten werden. Ist uns n\u00e4mlich die Verr\u00fcckung eines Sternes nach AR und D durch unmittelbare Messung gegeben, so m\u00fcssen wir, um daraus seine \u00bbEigenbewegung\u00ab zu erhalten, erst noch Einiges in Abrechnung bringen. Ich will einmal annehmen, die von der Erdrevolution herr\u00fchrenden Antheile, Parallaxe und Aberration, seien bereits abgerechnet, so dass also der Rest auf ein Coordinatensystem zu beziehen w\u00e4re, welches sein Centrum in der Sonne hat und im \u00fcbrigen dem durch den Erdmittelpunkt als Centrum gelegten urspr\u00fcnglicheren M\u00df-D-Systeme parallel ist. Was alsdann von Aenderung der AR und D \u00fcbrig bleibt, ist auch noch keineswegs zu identificiren mit der Eigenbewegung des Sternes. Vielmehr muss noch die Ver\u00e4nderung abgerechnet werden, welche die beiden sph\u00e4rischen Coordinaten durch Pr\u00e4cession des Er\u00fchlingspunktes sowie durch Nutation der Erdachse erleiden. Das heliocentrische AR-D-System ist n\u00e4mlich in einer eigenth\u00fcmlichen zwiefachen Drehung sowohl zu dem (verh\u00e4lt-nissm\u00e4\u00dfig als starr zu betrachtenden) Fixsterncomplexe, als auch, wie d\u2019Alembert theoretisch aus der allgemeinen Schwere abgeleitet hat, relativ zu dem heliocentrischen Inertialsysteme begriffen. Die Drehung zum Fixsterncomplexe wird nun von den Astronomen so genau angegeben, dass man nur annehmen kann, sie bilde das Mittel aus zahlreichen auf verschiedene einzelne Fixsterne bez\u00fcglichen Drehungen, welche ja wegen der Ver\u00e4nderlichkeit des Complexes um ein Betr\u00e4chtliches von einander ab weichen m\u00fcssen. Dass aber diese mittlere Drehung hinreichend genau f\u00fcr eine etwaige Dynamik der Eigenbewegungen mit der Rotation zum heliocentrischen Inertialsysteme \u00fcbereinstimme, daf\u00fcr haben wir absolut keine Gew\u00e4hr und die Wahrscheinlichkeit ist \u00e4u\u00dferst gering.\nNun wollen wir einmal annehmen, auch die Antheile der Pr\u00e4cession und Nutation seien in Abrechnung gebracht, so erhalten wir diejenige Ver\u00e4nderung der AR und D des Sternes, welche der Astronom die \u00bbEigenbewegung\u00ab desselben nennt. Da sich bei Bestimmung der Pr\u00e4cessions- und Nutationsconstanten eine mittlere Beziehung auf den ver\u00e4nderlichen Fixsterncomplex eingeschlichen hat, so folgt, dass die Eigenbewegung des Sternes ebenfalls eine mittlere Beziehung auf den Complex involvirt; freilich d\u00fcrfte es kaum","page":687},{"file":"p0688.txt","language":"de","ocr_de":"638\nLudwig Lange.\nm\u00f6glich sein, eine kurze Definition dieser Art von \u00bbmittlerer Beziehung\u00ab aufzustellen, man w\u00fcrde vielmehr einer recht weitl\u00e4ufigen Auseinandersetzung bed\u00fcrfen, um dieselbe begrifflich zu bestimmen.\nWir wenden uns nun zur \u00bbabsoluten Translation\u00ab der Sonne zur\u00fcck. Um dieselbe zu bestimmen, geht, wie gesagt, der Astronom von der Kenntniss der Fixstemeigenbe wegungen aus. Er fragt sieb: Gegen welche Region der Sph\u00e4re muss eine durch die Sonne hindurchgehende gerade Linie gerichtet sein, damit, wenn auf ihr ein Punkt in directem Sinne fortschreitet, die dadurch f\u00fcr ihn bedingten parallaktischen Verschiebungen der Sterne solcher Art sein werden, dass, nachdem man sie von den Eigenbewegungen in Abrechnung gebracht hat, die zur\u00fcckbleibenden Antheile die Resultante Null geben (s. o. S. 686)'? Nachdem er die fragliche Gerade ermittelt hat, erkl\u00e4rt er sie \u2014 wie gezeigt, ganz ohne Grund \u2014 f\u00fcr die absolute Translationsrichtung der Sonne und die zur\u00fcckgebliebenen Antheile der Eigenbewegungen f\u00fcr die \u00bbwahren Eigenhewegungen\u00ab der Fixsterne, oder richtiger f\u00fcr deren Componenten senkrecht zum Visionsradius.\nEs liegt auf der Hand, dass sich hier eine zweite mittlere Beziehung auf den Fixsterncomplex zu jener ersten hinzugesellt, welche schon hei Bestimmung der Eigenhewegungen sich eingeschlichen hatte. Die Art dieser zweiten mittleren Beziehung ist aber wiederum ihrer verwickelten Beschaffenheit wegen nicht so einfach anzugehen, und noch viel weniger ist es die Complication, welche durch das gemeinsame Auftreten beider Arten von mittlerer Beziehung erzeugt wird. Nun bedenke man noch, dass die Bewegungen l\u00e4ngs dem Visionsradius von vornherein ganz au\u00dfer Rechnung geblieben sind, so wird man sich nicht verhehlen k\u00f6nnen, dass eine Definition des r\u00e4umlichen Coordinatensysternes, worauf sich sowohl die \u00bbabsolute Translation\u00ab der Sonne als auch die \u00bbwahren Eigenhewegungen\u00ab der Fixsterne beziehen, schlechterdings unm\u00f6glich sein d\u00fcrfte. Nur so viel wissen wir, die \u00bbabsolute\u00ab Translation der Sonne so gut wie die \u00bbwahren, absoluten\u00ab Eigenhewegungen der Fixs terne sind nichts Ahsolutes, sondern schlie\u00dfen eine Bezugnahme auf den Fixsterncomplex ein.\nImmerhin k\u00f6nnte uns noch ein Einwurf gemacht werden, welcher n\u00e4here Beachtung verdient. Die Astronomen haben ihren Be-","page":688},{"file":"p0689.txt","language":"de","ocr_de":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\n689\nrechnungen des Sounenapex (d. h. des Zielpunktes der \u00bbabsoluten Translation\u00ab der Sonne) nat\u00fcrlich nicht die Gesammtheit aller Fixsterne, aber auch nicht einmal immer dieselbe Sterngruppe, sondern vielmehr sehr verschiedene Sterngruppen zu Grunde gelegt. Trotzdem hat sich wesentlich immer derselbe Apex ergeben. Wie w\u00e4re das nun m\u00f6glich, wenn nicht gleichwohl eine wirkliche absolute Sonnenbewegung gegen jenen Apex hin stattf\u00e4nde?\nHierauf l\u00e4sst sich zweierlei erwiedern.\nErstens: So \u00fcbertrieben gro\u00df ist die Uebereinstimmung der Resultate denn doch nicht. Die von verschiedenen Astronomen auf Grund verschiedener Sterngruppen (und unter Anwendung verschiedener Rechnungsmethoden) f\u00fcr die Rectascension des Apex ermittelten Werthe schwanken zwischen 244\u00b0 und 286\u00b0; \u2018) die f\u00fcr die Declination ermittelten Werthe schwanken zwischen +10\u00b0 und + 53\u00b0.1 2) Das Schwankungsgebiet erstreckt sich also rund \u00fcber 40\u00b0 Rectascension und 40\u00b0 Declination, ein ganz betr\u00e4chtliches St\u00fcck der Himmelskugel.\nZweitens: Sollte man denn wirklich, um diese rechtm\u00e4\u00dfige Uebereinstimmung der Resultate zu erkl\u00e4ren, gen\u00f6thigt sein, eine ihrem Begriffe nach selbst unklar bleibende \u00bbabsolute Bewegung\u00ab der Sonne gegen jenen Apex hin zu supponiren? Sind nicht vielleicht andere Erkl\u00e4rungen m\u00f6glich, mit denen man eine klare Vorstellung verbinden kann? Die Antwort lautet: Ja! In der That k\u00f6nnte man jene Uebereinstimmung der Resultate z. B. sehr gut aus der Hypothese erkl\u00e4ren, dass r\u00fccksichtlich des ganzen Fixstern-complexes die mittlere Bewegung der Sonne eine sehr betr\u00e4chtliche Geschwindigkeit besitzt im Vergleiche mit den mittleren Bewegungen bei weitem der meisten\n1)\tArg el ander (1837) 1. Gruppe : 256\u00b0 25 ',1 + 12\u00b0 21',3.\nMartini (1882) Zone I: 244\u00b0 47'.\nRanck\u00e9n (1880): 285\u00b0 51'.\n2)\tLundahl (1840): + 14\u00b0 26',1 \u00b1 4\u00b0 29',3.\nMartini (1882) Zone III : + 13\u00b0 0'.\nId. Zone IV: + 52\u00b0 43'.\nVgl. H. Martini, Beitrag zur Frage der Eigenbewegung des Sonnensystemes. Inauguraldissertation, Leipzig 1882.\nWundt, Philos. Studien. III.\n45","page":689},{"file":"p0690.txt","language":"de","ocr_de":"690\nLudwig Lange.\nanderen Fixsterne.1) Nun scheint dieser Hypothese allerdings die Yermuthung Martinis2) zu widersprechen, dass die Sonne zu den Sternen mit verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kleinen Eigenbewegungen geh\u00f6re. Allein Martini selbst misst seiner Vermuthung keine besondere Sicherheit bei, und Argeiander nahm, wie bemerkt zu werden verdient, genau im Gegentheil an, dass die Sonne in die Classe der stark bewegten Fixsterne zu rechnen sei.3) Die Mehrzahl der Astronomen d\u00fcrfte indess gegenw\u00e4rtig der Ansicht sein, dass die ungen\u00fcgende Kenntniss der Fixsternabst\u00e4nde eine auch nur einigerma\u00dfen genaue Bestimmung der \u00bbabsoluten Sonnengeschwindigkeit\u00ab nicht erm\u00f6glicht. 4)\nSo bliebe denn von der \u00bbabsoluten Translation\u00ab der Sonne nach Abzug dessen, was der esprit m\u00e9taphysique \u00fcberfl\u00fcssiger Weise hinzugedichtet hat, als thats\u00e4chlicher Rest lediglich die mittlere Bewegung der Sonne relativ zum Fixsterncomplexe \u00fcbrig. Man wird sich hiernach schwerlich der T\u00e4uschung hingeben, als sei der Entdeckung William Hers cheis, auch abgesehen davon, dass sie in der Geschichte der Himmelskunde schon ein gro\u00dfartigeres Vorbild fand, nur entfernt eine \u00e4hnliche Tragweite wie der Entdeckung des Copernicus beizumessen. Dies w\u00e4re nur dann der Fall, wenn die gefundene Translation ihrem Wesen nach auf das barycentrische Inertialsystem des Fixsterncomplexes sich bez\u00f6ge, wovon nach dem Vorhergehenden nicht die Rede sein kann. F\u00fcr eine Dynamik der Fixsterneigenbewegungen, zu der es ja freilich noch gute Wege hat, w\u00e4re die von den Astronomen ermittelte Sonnenbewegung ein ganz werthloses Datum, es k\u00f6nnte hier h\u00f6chstens eine noch zu ermittelnde barycentrische Inertialdrehung in Frage kommen. Insofern also die Bem\u00fchungen der Astronomen um Feststellung jener Sonnenbewegung als Vorarbeiten zu einer Dynamik der Eigenbewegungen gelten sollen, sind sie als durchaus verfr\u00fcht zu betrachten.\t\u201e\nAber auch aus dem Gesichtspunkte der reinen Phoronomie\n1)\tWie das Bezugssystem dieser mittleren Bewegungen von Rechts wegen zu definiren ist, wird auf f. S. angegeben werden.\n2)\tA. a. O. S. 25.\n3)\tVgl. Humboldt, Kosmos, Bd. I. S. 154.\n4)\tVgl. P. A. Secchi, Die Sterne, S. 205f.","page":690},{"file":"p0691.txt","language":"de","ocr_de":"691\nDie geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes.\nbetrachtet hat die ermittelte \u00bbTranslation der Sonne gegen das Sternbild des Hercules hin\u00ab sowie die ermittelten \u00bbwahren Eigenbewegungen\u00ab der anderen Fixsterne nur in beschr\u00e4nktem Sinne die Bedeutung, welche man sonst relativen Bewegungen in Bezug auf ein nicht iner-tielles Coordinatensystem beilegen darf und welche darauf beruht, dass man unter Voraussetzung eines solchen Coordinatensystemes wenigstens eine einheitliche Uebersicht \u00fcber die Bewegungen des zu betrachtenden Punktsysternes gewinnen kann. Denn nur hinsichtlich der Verr\u00fcckungscomponenten der Sterne auf der Sph\u00e4re, nicht aber hinsichtlich der Componente l\u00e4ngs der Gesichtslinie wird uns durch jene mittlere Beziehung auf den Fixsterncomplex eine gewisse Lebersicht erm\u00f6glicht (s. o. S. 688.). Sollte die Uebersicht sich statt auf blo\u00df zwei auf alle drei Ra um dim en si on e n erstrecken, so m\u00fcsste \u00fcberhaupt an Stelle des zweidimensionalen -4.\u00cf\u00cf--D-Systemes ein dreidimensionales Raumsystem zu Grunde gelegt werden. In diesem Sinne k\u00f6nnte das r\u00e4umliche Coordinatensystem, worauf von Rechts wegen die mittlere Bewegung eines Fixsternes gegen den ganzen Complex zu beziehen w\u00e4re, etwa definirt werden als dasjenige Coordinatensystem, worin die Summe der Geschwindigkeitsquadrate aller Fixsterne jederzeit ein Minimum ist. Nur fehlt es leider gegenw\u00e4rtig und vielleicht f\u00fcr immer an Mitteln, um dieses Coordinatensystem und die darauf bez\u00fcglichen Bewegungen genauer zu bestimmen.\nDruck von Breitkopf & H\u00e4rtel in Leipzig.","page":691}],"identifier":"lit4553","issued":"1886","language":"de","pages":"643-691","startpages":"643","title":"Die geschichtliche Entwickelung des Bewegungsbegriffes und ihr voraussichtliches Endergebniss, Schluss","type":"Journal Article","volume":"3"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:24:14.725897+00:00"}