Open Access
{"created":"2022-01-31T12:24:16.315809+00:00","id":"lit4554","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"M\u00fcller, Robert","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 17: 1-29","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen\nmit R\u00fccksicht auf seine physiologischen und psychologischen Anwendungen.\nYon\nRobert M\u00fcller.\nMit Tafel I.\nIm Jahre 1890 beschrieb Mosso1) einen Apparat, den er als Ergographen bezeichnet, und der ganz im allgemeinen den Zweck hat, zur Untersuchung der Leistungen von Muskeln am lebenden Menschen zu dienen. Der Apparat wurde wiederholt in der experimentellen Psychologie benutzt, um die Verh\u00e4ltnisse auch hei psychischen Leistungen und Erm\u00fcdungsvorg\u00e4ngen zu untersuchen. Vor allem glaubte man f\u00fcr die Anwendung des psychologischen Experiments in den Schulen ein geeignetes Instrument gefunden zu haben, um aus dem Ergogramm, der graphisch mittelst dieses Instrumentes aufgezeichneten Arbeitscurve, und seinem Verlaufe R\u00fcckschl\u00fcsse zu ziehen auf das Zustandekommen und den Grad der Erm\u00fcdung. Da der Ergograph leicht anzuwenden und die Durchf\u00fchrung einer gr\u00f6\u00dferen Anzahl von Versuchen ohne allzugro\u00dfen Zeitaufwand m\u00f6glich ist, da ferner die aufgezeichneten Ourven, wie es von vornherein scheinen m\u00f6chte, \u00fcber eine Anzahl der wesentlichsten in Betracht kommenden Eactoren Aufschluss geben, so w\u00e4re der Ergograph ein sehr brauchbares und vielf\u00e4ltig anwendbares Instrument.\nDa aber anderseits die physiologischen Verh\u00e4ltnisse der in Befracht kommenden Bewegungsvorg\u00e4nge ziemlich verwickelte sind, so\nA Mosso, Archives italiennes de biologie. XIII. p. 123-186. 1890. \u2014 -^na^omie und Physiologie. 1890. Physiolog. Abtheilung. S. 89. \u2014 ea e Accademia dei Line\u00ab. S\u00e9rie 4\u00ab. vol. V. 1888.\nWundt, Philos. Studien. XVII.\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nRobert Muller.\nschien es w\u00fcnschenswerth, beim Arbeiten mit dem Ergographen immerhin auf dieselben zu achten, und beim weiteren Arbeiten dr\u00e4ngten sich auf Grund der Beobachtung eine Reihe von Bedenken auf, welche der Inhalt der folgenden Auseinandersetzungen sind.\nDie Frage, die im vorliegenden Falle zum Experimentiren mit dem Ergographen gef\u00fchrt hatte, war eine recht eigenartige. Bekanntlich ist zur Zeit das Interesse der Psychologen der Frage zugewandt, wie die willk\u00fcrliche Arbeitsleistung der Muskulatur zu rhythmischen Eindr\u00fccken sich verhalte. So interessant diese Frage sein mag, so liegt hier doch eine ganze Reihe psychologischer Probleme vor, welche auf die Relationen der Geh\u00f6rsvorstellungen zu Bewegungsvorg\u00e4ngen, Bewegungsempfindungen und Bewegungsvorstellungen sich beziehen, und unter diesen Beziehungen ist vor allem eine, welche culturhistorisch wie psychologisch und musiktheoretisch gleiches Interesse besitzt, die Frage nach der psychologischen Grundlage der \u00bbNeumen\u00ab1). Bekanntlich griff das Mittelalter bei der Aufzeichnung von Melodien nicht zu der griechischen Notenschrift, die ihm doch sicherlich bekannt war, sondern benutzte zur Mederlegung der Normen des liturgischen Gesanges in der Kirche eine Zeichenschrift, die ganz anderen Ursprunges war und als \u00bbNeumenschrift\u00ab bezeichnet wurde. Diese hatte im Mittelalter weite Verbreitung: so fand sie sich im 5.\u20147. Jahrhundert bei Juden, Griechen, R\u00f6mern, Germanen und Slaven und wird \u00fcberall in den kirchlichen Vortrags-b\u00fcchem angewandt. Schon das Wort \u00bbNeuma\u00ab-weist auf den Ursprung dieser Zeichen aus Ausdrucksbewegungen hin, aus Willensoder Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen, wie der Freude und der Furcht, die durch Geberden der H\u00e4nde, des Gesichtes, oder durch die ganze K\u00f6rperhaltung zum Ausdruck gebracht werden. In diesem Sinne gebraucht noch Notker von St. Gallen im XI. Jahrhundert des \u00f6fteren die Worte: \u00bbFreude zeigen mit Neumen, wie wir es mit Worten nicht k\u00f6nnen\u00ab2), und diese Bedeutung hat das Wort Neuma bis zur Gegenwart im Spanischen behalten3). An den Neumen l\u00e4sst sich verfolgen, in welcher Weise aus diesen Ausdrucksbewegungen zun\u00e4chst\n1)\tOskar Fleischer, Neumenstudien. 2 Bde. Leipzig 1895.\n2)\tYergl. Graff, Althochdeutscher Wortschatz. Berlin 1836. H. p. 1089 ff.\n3)\tDiccionario naccional von Don Ramon Joaquin Dominguez. Madrid 1857.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n3\nein kunstvolles System willk\u00fcrlicher Bewegungen wurde, um den Chor, der auch im Gottesdienste auftrat1), richtig zu vertheilen und zu lenken und mittelst Bewegungen der Hand den Gang der Melodie anzudeuten. Aus dieser Cheironomie sollen dann, wie Fleischer darzulegen sucht, die Neumen entstanden sein. An der Hand von Fleischer\u2019s Darstellung \u00fcber die Neumen l\u00e4sst sich deutlich verfolgen, wie aus Ausdruckshewegungen eine Geberdensprache und aus dieser sich ein System von Schriftzeichen entwickelte. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Darlegungen und den mehrfachen heftigen Widerspruch, den sie gefunden haben, einzugehen, sicherlich haben dieselben das Verdienst, von einem gro\u00dfen zusammenfassenden Gesichtspunkte aus die vorliegende Frage in Angriff zu nehmen.\nDie Lehre von den Ausdrucksbewegungen und die Entstehung eines willk\u00fcrlichen Zeichensysternes in dem vorliegenden Falle legte weiterhin ganz im allgemeinen die Frage nahe nach den Beziehungen von Ausdruckshewegungen zu Geh\u00f6rsvorstellungen. Direct seinen aber diese Frage zun\u00e4chst schwer in Angriff zu nehmen, die Fragestellung war daher eine viel bescheidenere, sie ging dahin: ob und in welcher Weise die Bhythmisirung von Metronomschl\u00e4gen die Arbeitsleistung von Muskeln in sicher constatirbarer Weise beeinflusse und wie sich diese Vorg\u00e4nge der psychologischen Selbstbeobachtung darstellen. Zum Aufzeichnen der Arbeitsleistung wurde Mosso\u2019s Ergograph benutzt; mit diesem wurde dann von bestimmten Gesichtspunkten aus eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Ourven gewonnen. Es sollen aber diese vorl\u00e4ufig nicht n\u00e4her in Betracht gezogen werden, da zun\u00e4chst die Leistungen des Apparates selbst eine kritische Besprechung erheischen.\nZu diesem Zweck wurden im psychologischen Institut zu Leipzig im Sommer 1900 Versuche ausgef\u00fchrt, an denen die Herren K\u00f6hler, Bergemann, Dr. M\u00f6bius und Claus theilnahmen, denen ich auch hier gerne f\u00fcr ihre Theilnahme Dank sage. Dass die Arbeit in der vorliegenden Form nicht auf die unmittelbare Initiative von\n1) Fleischer, I, S. 28. \u00bbIn der That war daher bei den Griechen der Tanz ein Theil des Gottesdienstes, und die \u00e4ltesten Christengemeinden, besonders des Orients, nahmen, auch hierin die Hellenen nachahmend, ebenfalls den -Tanz mit in ihren Gottesdienst auf. Hat doch unser kirchlicher \u00bbChoral- , can-tus choralis, seinen Ursprung im yopoz, chorus der Alten\u00ab.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nRobert Miiller.\nHerrn Professor Wundt zur\u00fcckgeht, m\u00f6chte ich besonders erw\u00e4hnen, da ich f\u00fcr den polemischen Inhalt derselben allein verantwortlich hin. Die Arbeit Mosso\u2019s wird im Folgenden nach den Archives italiennes de biologie X1H citirt werden.\nDer Theil des Apparates, der zur Festlegung des Armes diente '), wurde am Tische angeschraubt parallel und am Rande der Tischkante. Die Schreibvorrichtung war so aufgestellt, dass der zu den Rollen und zum Schreibstifte gehende Faden in derselben Ebene lag wie die Saite, welche die zu hebende Belastung trug. Dadurch war die Reibung so gering wie m\u00f6glich, der Schreibstift folgte allen Bewegungen und zeichnete dieselben in ihrer wahren Gr\u00f6\u00dfe auf. Zur Aufnahme der Ourven diente eine durch ein Gewichtsuhrwerk in Bewegung gesetzte Kymographiontrommel von 50 cm Umfang ; gearbeitet wurde stets mit verticaler Achsenstellung der Trommel. Die Schreibung war eine tangentiale und orthogonale, indem der Schreibstift in einer vertikalen F\u00fchrung ging. Die Reibung des Stiftes an der Schreibfl\u00e4che, als welche beru\u00dftes wei\u00dfes Glanzpapier diente, konnte so weit vermindert werden, dass sie die Curven nicht im mindesten verunstaltete; bei einigerma\u00dfen sorgf\u00e4ltigem Arbeiten waren Fehler, die aus der Art der Auf Schreibung herr\u00fchrten, bequem zu vermeiden.\nUm den Arm zu fixiren, wurde die Abduction des Oberarmes im Schultergelenke so gew\u00e4hlt, dass derselbe mit der Sagittalebene einen Winkel von etwa 60\u00b0 bildete. Bei diesem Grade der Abduction bleibt das Schulterblatt im wesentlichen in seiner urspr\u00fcnglichen Lage stehen, bei diesem Grade der Abduction zeigt auch das Schl\u00fcsselbein keine nennenswerthe Abweichung aus der Ruhelage, ebenso wenig zeigte sich eine functioneile Lordose der Wirbels\u00e4ule. Der Oberarm befand sich mit seiner Achse ungef\u00e4hr in der durch die Gelenkk\u00f6pfe gelegten Frontalebene. Bei dieser Oberarmstellung ist dann ein bestimmteres Urtheil m\u00f6glich \u00fcber die Bewegungsgr\u00f6\u00dfe und Bewegungsrichtung, welche die am Oberarm inseri-renden Muskeln leisten k\u00f6nnen. Die Stellung des Armes im Ellenbogengelenke war eine wechselnde zwischen stumpfwinkeliger und spitzwinkeliger Beugung, es zeigte sich, dass dieser Umstand von\n1) Ygl. Mosso S. 125. 126.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Mosso\u2019s Ergographen.\t5\nwesentlichem Einfluss werden kann. Der Unterarm war mittelst eines ersten Eiemens \u00fcber die Ellenbeuge, mittelst eines zweiten \u00fcber seine Mitte gelegten, und mittelst eines dritten Eiemens, der wenig entfernt vom Carpus lag, fixirt. Ein weiterer Eiemen war \u00fcber den Handr\u00fccken gelegt, der zweite und vierte Finger waren in den entsprechenden Haften, und der Mittelfinger in der Fingerh\u00fclse befestigt. Die Application dieser Fingerh\u00fclse muss mit einiger Sorgfalt erfolgen, sie muss genau bis in die Mitte der' Grundphalange vorgeschoben werden; schiebt man sie weiter vor, so klemmt sie bei starker Flexion die Hautfalten zwischen den Fingern; sie muss aber bis zur Mitte der Grundphalanx vorgeschoben werden, um den Effect der Beugung im ersten Interphalangealgelenk auszuschlie\u00dfen. Um ein Abrutschen der Fingerh\u00fclse zu verh\u00fcten, muss dieselbe ziemlich fest angezogen werden; das hat zwei Bedenken, einerseits wird die Sehne mitfixirt und so an ihrem vollst\u00e4ndigen Gleiten verhindert \u2014 wenn man den Sp\u00e4ter zu besprechenden Mechanismus der Fingerbeugung bedenkt, kann diese St\u00f6rung keine ganz unbedeutende sein \u2014 anderseits wird durch die starke Compression die Circulation des Fingers gehemmt, was daran erkenntlich ist, dass nach l\u00e4ngeren Versuchen der Finger cyanotisch wird und sich k\u00fchl anf\u00fchlt.\nDer erste wesentliche Gesichtspunkt, von dem aus gegen den Ergographen Einw\u00e4nde erhoben werden k\u00f6nnen, besteht nun darin, dass nicht ein Muskel oder eine kleine scharf bestimmte Muskelgruppe bei der Entstehung des Ergogramms th\u00e4tig sind, sondern eine ganze Anzahl von Muskeln.\nAuch Mosso geht davon aus, dass die Isolirung eines Muskels Voraussetzung f\u00fcr diese Versuche ist: \u00bbLes difficult\u00e9s, que je dus surmonter, sont essentiellement les deux suivantes: la premi\u00e8re consiste \u00e0 bien isoler le travail d\u2019un muscle de mani\u00e8re qu\u2019aucun autre muscle ne puisse l\u2019aider, lorsqu\u2019il est fatigu\u00e9; la seconde \u00e0 tenir bien bxe une extr\u00e9mit\u00e9 du muscle, tandis que l\u2019autre inscrit les contractons. J\u2019ai essay\u00e9 avec les fl\u00e9chisseurs du pouce, avec l\u2019adducteur te l\u2019mdex, avec le biceps brachial, avec le deltoide, avec le gastro-cnenuus, avec les mass\u00e9ters. Mais c\u2019est seulement avec les fl\u00e9chis-'urs des doigts de la main (M. flexor digitorum communis sublimis *>r\u00b0 i ^Ue ^ai' \u00b0^enu des r\u00e9sultats satisfaisants\u00ab. Es wird m n-c^\u00fcweisen sein; dass die erste Schwierigkeit durch die Con-","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nRobert M\u00fcller.\nstruction des Ergographen keineswegs \u00fcberwunden ist, dass sich vielmehr durch unmittelbare Beobachtung, wie an der Hand der Litteratur der Nachweis f\u00fchren l\u00e4sst, dassMosso\u2019s Annahmen \u00fcber die physiologischen Vorg\u00e4nge bei der Fingerbeugung und -Streckung theils unzul\u00e4nglich, theils falsch sind. Mosso hat keine gen\u00fcgende Analyse der in Betracht kommenden Bewegung gegeben, alles was er eigentlich dar\u00fcber sagt, ist: \u00bbOn comprend, quil y a, isi, deux muscles qui travaillent en meme temps: le fl\u00e9chisseur profond et le fl\u00e9chisseur superficiel des doigts, et que les muscles interosseux ne sont pas absolument exclus\u00ab. Demjenigen, der zum ersten male ohne gen\u00fcgende Vorsicht und Vorkenntnisse an die Benutzung des Ergographen herantritt, k\u00f6nnte es scheinen, als ob dies zutreffe, als ob das Werthvolle der Versuchstechnik mit dem Ergographen darin bestehe, dass die Isolirung der langen Fingerbeuger durchgef\u00fchrt sei, dass also die Verh\u00e4ltnisse in der Weise vereinfacht seien, wie wenn man an einem isolirten Froschgastrocnemius arbeite. Dem ist aber nicht so.\nWenn man n\u00e4mlich w\u00e4hrend der Flexion aufmerksam den Handr\u00fccken betrachtet, dann sieht man, abgesehen von dem Spiele der langen Extensorensehnen, in den Interstitien der Metacarpalknochen Bewegungen, die nach ihrem Aussehen weder auf eine passive Mitbewegung durch die Haut oder durch die Extensorensehnen zu beziehen sind, die man demgem\u00e4\u00df als von einer Betheiligung der Interossei herr\u00fchrend anzusehen hat. An der Hohlhand sieht man nichts derartiges. Das ist nicht verwunderlich, wenn man die anatomischen Verh\u00e4ltnisse der Subcutis und der Palmaraponeurose und der darunter liegenden Gebilde bedenkt. Nat\u00fcrlich ist es unm\u00f6glich, aus den Bewegungserscheinungen in den Metacarpalinterstitien auf Grund des blo\u00dfen Zusehens einen bindenden Schluss auf die Betheiligung der Interossei und eventuell auch der Lumbricales zu ziehen. Dass thats\u00e4chlich der Flexor sublimis und profundus gar nicht die alleinigen Fingerbeuger sind, geht aus Duchenne\u2019s1) Angaben hervor2): \u00bbNach den allgemein acceptirten Vorstellungen waren die\n1)\tDuchenne, Physiologie der Bewegungen, \u00fcbersetzt von C. Wernicke. Cassel 1885. S. 117.\n2)\tW\u00e4hrend der Ausarbeitung hatte ich Gelegenheit, die Symptome einer","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n7\nExtensores digitorum und der Flexor sublimis und profundus die einzigen bekannten Muskeln, welche die Phalangen der Finger streckten oder beugten, und dessen ungeachtet sah ich bald die beiden letzten Phalangen sich strecken trotz der L\u00e4hmung der Extensores digitorum, bald die ersten Phalangen sich beugen, trotzdem der Flexor sublimis und profundus ihre Wirkung auf die beiden letzten und folglich auch die beiden ersten Phalangen eingeb\u00fc\u00dft hatten. Anderemale war, obwohl die Extensores digitorum und der Flexor sublimis und profundus vollkommen unverletzt waren, die Streckung der beiden letzten Phalangen unm\u00f6glich oder sehr beschr\u00e4nkt, und die ersten Phalangen versagten bei der willk\u00fcrlichen Bewegung ihren Dienst. Zu diesen functionellen St\u00f6rungen kamen schwere Verunstaltungen der Hand und selbst Verbildungen der Gelenke, verschuldet durch die fehlerhafte Stellung der Phalangen, welche durch Zugkr\u00e4fte, die der Th\u00e4tigkeit der Extensores digitorum und des Flexor sublimis und profundus sicher fremd waren, nach abnormen Richtungen gezogen wurden. Bei diesen verschiedenen F\u00e4llen bestanden urspr\u00fcnglich weder Muskelcontracturen noch Gelenkl\u00e4sionen, welche als Ursache jener Erscheinungen gelten konnten\u00ab. So l\u00e4sst sich von vorne herein vermuthen, dass die Extensores digitorum und die langen Fingerbeuger nicht alle drei Phalangen mit gleicher Kraft bewegen, dass sich sogar gewisse Phalangen der Th\u00e4tigkeit dieser Muskeln unter physiologischen Umst\u00e4nden ganz entziehen ; auf die Wirkung der anderen eingreifenden Muskeln ist also die gr\u00f6\u00dfte Bedeutung zu legen, da sie jederzeit bei der Fingerbeugung in Betracht kommen, und dabei handelt es sich nicht nur um die Betheiligung eigentlicher Beuger, sondern auch um synergistische und wohl auch antagonistische Bewegungsvorg\u00e4nge. \u00bbIn der That scheint mir die willk\u00fcrliche Zusammenziehung eines jeden Muskels \u2014 mit alleiniger Ausnahme der Ausdrucksbewegungen des Gesichtes, wie ich an einem anderen Orte gezeigt habe* 1) \u2014 immer von der unwillk\u00fcrlichen, oder besser instinctm\u00e4\u00dfigen Contraction eines anderen Mus-\ntraumatischen Ulnarisl\u00e4hmung, die seit zwei Jahren bestand, und Anfang Oktober in der Gie\u00dfener chirurgischen Klinik operirt wurde, genau zu beobachten.\n1) Duchenne, M\u00e9canisme de la physiognomie humaine, ou analyse \u00e9lectrophysiologique de l\u2019expression des passions; applicable \u00e0 la pratique des arts plastiques. 1862.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nRobert M\u00fcller.\ntels begleitet zu werden: Ich werde bald zu zeigen Gelegenheit haben, dass gewisse Phalangen der Pinger und des ersten Mittelhandknochens Bewegungen, die wir durch die isolirte Zusammen-ziehung eines Muskels zu erhalten glauben, willk\u00fcrlich nicht geschehen k\u00f6nnen ohne die synergische Contraction eines oder mehrerer Muskeln, die Winslow1) sehr richtig Moderatoren genannt hat. Diese Muskelcombinationen haben statt, ohne dass wir davon ein Bewusstsein haben, und sie entgehen der Beobachtung, wenn man nicht die gr\u00f6\u00dfte Aufmerksamkeit darauf richtet\u00ab. (Duchenne S. 118.)\nBetrachtet man die Bewegung weiter, so sieht man, dass bei jeder Volarflexion der Grundphalange des Mittelfingers eine Dorsalflexion im Handgelenk eintritt und, was wesentlich ist, dass diese Dorsalflexion mit dem Portschreiten des Versuchs allm\u00e4hlich gr\u00f6\u00dfere Betr\u00e4ge erreicht. Die Extensoren und Plexoren der Handwurzel sind also bei diesen Versuchen keineswegs unbetheiligt, und sie wirken allm\u00e4hlich mit immer wachsenden Betr\u00e4gen mit. Bei unbelastetem Pinger ist es m\u00f6glich, bei Ruhigstellung aller \u00fcbrigen Gelenke die Grundphalange zu beugen, wenn man die Aufmerksamkeit besonders darauf richtet; bei einer gr\u00f6\u00dferen Belastung, die am Mittelfinger applicirt wird, ist sie aber nicht ausschlie\u00dfbar. W\u00fcrde man sie mechanisch unm\u00f6glich machen, so w\u00e4re die n\u00e4chste Folge eine hochgradige Abnahme der m\u00f6glichen Arbeit der Pingerbeuger, au\u00dferdem bliebe dann noch der Einwand, dass diese Muskeln doch inner-virt werden, und im Gegentheil, isometrisch tetanisirt, noch lebhaftere \u00fcmsetzungsprocesse bieten. Eine vollst\u00e4ndige Darlegung dieser Verh\u00e4ltnisse, die wohl bis in die kleinsten Einzelheiten richtig und bewunderungsw\u00fcrdig ist, wurde von Duchenne gegeben: \u00bbSobald die Streckung der Hand verloren gegangen ist, wird auch die Beugung der Finger infolge der Verk\u00fcrzung, in die sich dann der Flexor sublimis und profundus versetzt finden, aufs \u00e4u\u00dferste abgeschw\u00e4cht. \u2014 Mit Unrecht haben die Beobachter, die den Mechanismus dieser Functionsst\u00f6rung nicht kannten, die scheinbare Schw\u00e4che der Pinger in diesem Falle einer l\u00e4hmenden Ursache zugeschrieben. Diese pathologische Erscheinung beweist vielmehr, dass die synergische\n1) Winslow, Exposition anatomique de la structure du corps humain. Paris 1732.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber Mosso\u2019s Ergographen.\n9\nWirkung der Streckmuskeln der Hand f\u00fcr die Flexion der Finger absolut nothwendig, und dass dabei die Kraft ihrer Zusammenziehung der Kraft, mit der die Beugung geschieht, proportional ist*. Um dies zu beweisen, f\u00fchrt Duchenne den Versuch an, dass man mit H\u00fclfe des Dynamometers die Kraft der Fingerbeugung bei einer Hand, die gegen den Vorderarm gebeugt gehalten wird, mit einer Hand, der man die Freiheit l\u00e4sst, sich w\u00e4hrend der Beugung der Finger zu strecken, vergleicht. Dabei l\u00e4sst sich constatiren, dass die Beugung im ersteren Falle drei Viertel ihrer Kraft eingeb\u00fc\u00dft hat. \u00bbDiese Streckbewegung des Handgelenks w\u00e4hrend der Beugung der Finger ist so instinctiv und geschieht so zwangsweise, dass es Anstrengung kostet, sie zu verhindern. Wenn man z. B. die Hand, die vorher gebeugt und ge\u00f6ffnet war, pl\u00f6tzlich schlie\u00dfen will, so richtet sie sich auf, und ihre Streckmuskeln contrahiren sich um so st\u00e4rker, je kr\u00e4ftiger die Faust geschlossen wird\u00ab. (Duchenne S. 124.)\n\u00bbSo oft ich bei progressiver Muskelatrophie den Flexor sublimis und profundus atrophirt gesehen habe, habe ich jedesmal constatirt, dass bei den Anstrengungen, die die Kranken machten, um die Beugung der Finger auszuf\u00fchren, die Hand wider ihren Willen in \u00fcbertriebene Strecksteilung gegen den Vorderarm gerieth. Die Function, die darin besteht, die Hand zu schlie\u00dfen, wird durch die synergische und untrennbare Contraction der Beugemuskeln der Finger und der Streckmuskeln der Hand ausgef\u00fchrt\u00ab.\nDieselben Verh\u00e4ltnisse wiederholen sich bei der Streckung, indem die Beugemuskeln der Hand gegen den Vorderarm bei der willk\u00fcrlichen Contraction des Extensor communis und der Extensores digitor. proprii eine synergische Function zu erf\u00fcllen haben, die derjenigen vollkommen entspricht, welche die Streckmuskeln der Hand gegen den Vorderarm bei der willk\u00fcrlichen Contraction des Flexor digi-torum comm. sublimis und profundus zu leisten haben (Duchenne). \u00bbBei der Bleil\u00e4hmung habe ich \u00e4u\u00dferst h\u00e4ufig die partielle L\u00e4hmung des Extensor communis und der Extensores proprii digitorum beobachtet, bei gleichzeitiger Integrit\u00e4t einer oder zweier oder selbst aller drei Streckmuskeln der Hand gegen den Vorderarm. In solchen F\u00e4llen kann jedermann folgendes beobachten. Wenn das Individuum mit dieser localen L\u00e4hmung seine Fingerphalangen gebeugt h\u00e4lt, ann es die Hand kraftvoll gegen den Vorderarm strecken. Will","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nRobert M\u00fcller.\nes aber die Finger ausstrecken, so bleiben seine ersten Phalangen unbeweglich stehen und die Hand beugt sich gegen den Vorderarm mit um so gr\u00f6\u00dferer Energie, je gr\u00f6\u00dfere Anstrengungen der Kranke macht, um die Streckung der Finger herbeizuf\u00fchren\u00ab.\n\u00bbEbenso n\u00e4mlich, wie die Streckung der Hand f\u00fcr die Beugung der beiden letzten Fingerphalangen nothwendig ist, ebenso ist die synergische Contraction der Beugemuskeln der Hand gegen den Vorderarm untrennbar mit der Muskelfunction verkn\u00fcpft, die die willk\u00fcrliche Streckung der ersten Fingerphalangen hervorbringen soll. Der instinctive Zweck dieser Mitwirkung der Beuger der Hand gegen den Vorderarm bei der Streckung ist der, den Extensor communis und die Extensores proprii der Finger in eine gr\u00f6\u00dfere Elongation zu versetzen, um ihre dynamische Wirkung zu verst\u00e4rken\u00ab (Duchenne S. 129).\nDie Wirkung des Extensor communis und der Extensores proprii (indicis et digiti minimi) auf die zwei letzten Phalangen sind ziemlich gering, sodass, wenn diese Muskeln die einzigen Fingerstrecker waren, die Finger jedesmal, wenn die Hand gegen den Vorderarm zur\u00fcckgebogen wird, die Form von Krallen annehmen (vergl. Duchenne, Fig. 23, S. 231). Diese Muskeln sind demgem\u00e4\u00df keineswegs die Extensoren aller drei Phalangen, sondern haben eine Wirkung strenggenommen nur auf die Grundphalangen, weshalb sie eigentlich als \u00bbStrecker der ersten Phalangen\u00ab zu bezeichnen sind. Dazu kommt, dass einzelne Partien des Extensor digitor. communis, und zwar diejenigen, die zum IL, IV. und V. Finger gehen, Seitw\u00e4its-bewegungen dieser Finger bewirken ; nur dem zum Mittelfinger gehenden B\u00fcndel fehlt die Componente, sodass auch in diesem Punkte der Mittelfinger die Achse der Hand ist, was zuerst von Oruveilhier erkannt wurde und als Voraussetzung f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Wirkung der Interossei benutzt wurde.\nF\u00fcr das Verst\u00e4ndniss dieser synergistischen Functionen der Extensoren werden diese wenigen Zeilen hoffentlich gen\u00fcgen1). Es ist nun n\u00f6thig, noch einiges \u00fcber die langen Fingerbeuger zu sagen, um dann endlich zu erkl\u00e4ren, welche Muskeln eigentlich die Beuger\n1) Zur Analyse der Fingerbeugung bei der Faustballung vergl.. die sch\u00f6ne Arbeit von H. E. Hering in Pfl\u00fcgers Arch. LXX. S. 559\u2014621. 1898.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n11\nder Grundphalangen seien, welche Muskeln es also sind, die f\u00fcr die Entstehung des Ergogramms mit in erster Linie in Betracht kommen.\n\u00bbDie elektrische Contraction des Flexor sublimis und des Flexor profundus bewirkt die von allen Autoren beschriebenen Beugehewegungen der zwei letzten Phalangen, d. h. der Flexor suhlimis beugt die zweite Phalanx gegen die erste, wobei die dritte Phalanx in Streckung bleibt, und der Flexor profundus beugt die beiden letzten Phalangen gegen die erste, wobei die dritte Phalanx in Streckung bleibt, und der Flexor profundus beugt die beiden letzten Phalangen gegen die erste\u00ab. \u00bbWas die Beugewirkung betrifft, die diese Muskeln auf die ersten Phalangen aus\u00fcben, so ist sie sehr schwach, sehr secund\u00e4r, weil sie gew\u00f6hnlich erst eintritt, wenn die Muskeln sich schon im Zustande der Verk\u00fcrzung befinden\u00ab (Duchenne S. 133).\nSchlie\u00dflich l\u00e4sst sich auf experimentellem Wege der Beweis f\u00fchren, dass die Extensor es digitorum \u00fcber die beiden langen Fingerflexoren die Oberhand behalten, und es l\u00e4sst sich zeigen, dass diese Muskeln auf die Grundphalangen nicht so viel Einfluss haben, dass man sie als Antagonisten oder Moderatoren der langen Fingerstrecker, die eigentlich die Extensoren der Grundphalangen sind, auffassen d\u00fcrfte. Dies war Mosso, wie es scheint, unbekannt. Die Function der beiden langen, gemeinschaftlichen Fingerbeuger l\u00e4sst sich so auffassen, dass, wenn man ihre Benennung von der ihnen eigenth\u00fcmlichen Wirkungsweise herleiten wollte, man den Flexor sublimis als Beuger der zweiten Phalangen, und den Flexor profundus als Beuger der zwei letzten Phalangen bezeichnen m\u00fcsste. Die eigentlichen Beuger der Grundphalangen und die Extensoren der beiden vorderen Phalangen sind die Interossei zum Theil im Zusammenwirken mit den Lumbri-cales : \u00bbDie elektrische Beizung jedes Zwischenknochenmuskels der Hand bewirkt drei aufeinander folgende Bewegungen: 1) Bei einem m\u00e4\u00dfigen Strome wird der Finger in Abduction oder Adduction, je nach der Lage des der Faradisation unterworfenen Muskels gef\u00fchrt. 3) Bei einem st\u00e4rkeren Strome strecken sich die dritte und die zweite Phalanx gegen die erste. 3) W\u00e4hrend die letztere Bewegung stattfindet, beugt sich gleichzeitig die erste Phalanx gegen den \u2019ttelhandknochen\u00ab. \u00bbDie Contraction der Lumbricales ruft die eiden letzten Bewegungen hervor, d. h. die Streckung der beiden e ten und die Beugung der ersten Phalangen\u00ab.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nRobert Miiller.\n\u00bbDie Musculi interossei und lumbricales bewirken die Streckung der beiden letzten Phalangen mit solcher Energie, dass sie in Zukunft als ihre wirklichen Streckmuskeln betrachtet werden m\u00fcssen, w\u00e4hrend die Streckmuskeln, die vom Vorderarm kommen, sehr schwache H\u00fclfsmuskeln daf\u00fcr sind. Diese Thatsache stellt sich bei folgendem Versuch unbestreitbar heraus: Wenn man den elektrischen Reiz ausschlie\u00dflich auf das B\u00fcndel beschr\u00e4nkt hat, das vom Extensoi digitorum communis kommt und zum Mittelfinger zieht, und nun, w\u00e4hrend durch dessen Contraction die erste Phalanx desselben allein gestreckt ist, ein paar andere Elektroden an den adducirenden In-terosseus des Mittelfingers anlegt, so sieht man, wie sich unter dem Einfluss dieser Interosseusreizung die beiden letzten Phalangen des Mittelfingers sofort gegen die erste, schon in Strecksteilung gegen ihren Mittelhandknochen befindliche Phalanx strecken\u00ab (Duchenne S. 136).\nDurch die Faradisation ist leicht zu constatiren, dass die Interossei und Lumbricales die ersten Pingerglieder mit gr\u00f6\u00dferer Kraft beugen, als der Flexor sublimis und profundus, welche, wie oben auseinandergesetzt ist, bei dem Zustandekommen dieser Bewegung nur schwach mitwirken. Dazu sind die Interossei die einzigen Muskeln, die der tonischen Kraft der Extensores digitorum in ihrem Bestreben, die ersten Phalangen gegen die Mittelhandknochen zur\u00fcckzubiegen, das Gegengewicht halten k\u00f6nnen. Die Interossei sind die einzigen Antagonisten der Flexoren f\u00fcr die beiden letzten Phalangen und der Extensoren f\u00fcr die Grundphalangen.\nDamit d\u00fcrften wohl die wichtigsten Momente erw\u00e4hnt sein, welche thats\u00e4chlich die physiologischen Verh\u00e4ltnisse der Fingerbeugung und -Streckung beherrschen, und es ist wohl der Beweis erbracht, dass die Verh\u00e4ltnisse anders liegen, als wie Mosso auf Grund nicht gen\u00fcgender Analyse annimmt. Die Interossei wirken nicht nur nebens\u00e4chlich mit, sondern sie sind beinahe die wichtigsten Muskeln f\u00fcr die Entstehung des Ergogramms.\nEs ist unn\u00f6thig, an dieser Stelle die anatomischen Verh\u00e4ltnisse der Fingersehnen zu besprechen. Von den geistvollen Irrth\u00fcmern Galen\u2019s und Vesal\u2019s (1519) an f\u00fchrten die Arbeiten des Realdus Columbus und Fallopia (1561) bis auf Wfinslow (1732) zu einei richtigen Ermittelung der h\u00f6chst interessanten Aponeurosenverh\u00e4ltnisse, ohne welche die Wirkungsweise der Fingermuskeln unverst\u00e4ndlich ist.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n13\nDie lange Arbeit, die darauf verwendet wurde, gerieth mit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Vergessenheit, und durch Ohassaignac (1846) und Jean Parise (1842) wurde einiges davon als Neuentdeckungen und nur unvollst\u00e4ndig wieder mitgetheilt. Dieses Vergessenwerden hing damit zusammen, dass diesen Thatsachen ohne einen richtigen Einblick in die Function der Lumbricales und Inter-ossei, der zuerst von Duchenne gewonnen wurde, eine eigentliche Bedeutung nicht recht zukam; erst durch Duchenne und Cru-veilhier wurden die fr\u00fcher bekannten Thatsachen wieder ans Licht gezogen und in ihrer wahren Bedeutung verst\u00e4ndlich. Beim Eingehen auf diese Sehnenverh\u00e4ltnisse w\u00fcrde sich wiederum ergehen, dass von einer physiologischen Isolirung der langen Fingerbeuger gar nicht die Bede sein kann.\nBeobachtet man die Bewegung bei fortschreitender Erm\u00fcdung weiter, so sieht man an den Sehnen, dass auch die langen Daumenmuskeln betheiligt werden, dann sieht man, namentlich bei stumpfwinklig gebeugtem Oberarm, den Muskel, der die Form der Ellenbeuge wesentlich bestimmt, den Brachialis internus, ferner die Tricepsgruppe und den Biceps in Mitwirkung treten; so weit wurde in den Versuchen die Bewegung genau beobachtet, aber ausgeschlossen ist es nicht, dass schlie\u00dflich noch die ganze Schultermuskulatur bis zum Omohyoideus sich betheiligt.\nAus dieser Beobachtung geht hervor, dass, wenn man am Ergographen etwa den Antheil des Flexor communis sublimis und profundus, deren Sehnen am Mittelfinger inseriren, erm\u00fcden will, dies gar nicht isolirt m\u00f6glich ist. Von vornherein wirken, fast \u00fcberwiegend, andere Muskeln mit, die Interossei und Lumbricales ; allm\u00e4hlich werden noch weitere Muskeln herangezogen. Das Ergogramm ist also kurz gesagt die Besultante einer Beihe sich superponirender Wirkungen verschiedener Muskelgruppen, die in ganz verschiedener Weise erm\u00fcdet werden. Es ist wohl anzunehmen, dass bei den Versuchen mit dem Ergographen die in Betracht kommenden kurzen Handmuskeln vollst\u00e4ndig erm\u00fcdet werden, dasselbe kann man wohl f\u00fcr den Mittelfingerantheil des Flexor sublimis annehmen. Dagegen ist es mir unm\u00f6glich, zu sagen, wie es sich mit dem Flexor digitor. communis profundus verh\u00e4lt: aufmerksames Palpiren der Sehne spricht daf\u00fcr, dass er w\u00e4hrend des ganzen Verlaufes der Bewegungen maximal","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nRobert M\u00fcller.\nmitwirkt, doch lie\u00df die an sich wenig zuverl\u00e4ssige Palpation des Muskelbauches, zumal alle diese Muskelb\u00e4uche in der Gegend der Ellenbeuge und des Epicondylus medialis dicht gedr\u00e4ngt und einander zum Theile \u00fcberdeckend zusammenliegen, kein sicheres Urtheil gewinnen. Die Muskeln, welche mit ihren distalen Sehnen am Vorderarm inseriren, k\u00f6nnen die Curve unmittelbar beeinflussen, indem sie den ganzen Vorderarm mit der Hand verschieben; es ist sehr schwer, ohne die Versuchsperson sonst zu st\u00f6ren und zu bel\u00e4stigen, diese Verschiebbarkeit auszuschlie\u00dfen. Eine Contraction des Brachialis internus und Biceps w\u00fcrde dann auf die Curve wie eine Verst\u00e4rkung der Flexion wirken, die Wirkung der Tricepsgruppe w\u00fcrde sich als eine Verst\u00e4rkung der Extension und Verminderung der Flexion darstellen. Ist aber der Unterarm unbeweglich fixirt, so kommt es schlie\u00dflich hei h\u00f6heren Belastungen (3000\u2014 6000 g) und starker Anstrengung des Reagenten dazu, dass der Schulterg\u00fcrtel bewegt wird, und endlich, als \u00e4u\u00dferstes, dass Rotationsbewegungen in den Wirbelgelenken stattfinden. Dabei schlie\u00dft die Versuchsanordnung eine definitive Erm\u00fcdung der h\u00f6her segmentirten Muskeln aus, da diese nicht zur maximalen Contraction kommen k\u00f6nnen. So ist es m\u00f6glich, dass man, wenn die Versuchsperson sich anstrengt, durch mehrere Minuten eine lange Reihe niedriger und constant hoher Erhebungen bekommen kann (man vergleiche den hinteren Abschnitt der vonMosso S. 141 abgebildeten Curve)1), die auf die Einwirkung jener proximal liegenden als Fingerbeuger gar nicht in Betracht kommenden Muskeln zu beziehen ist. Der Beweis daf\u00fcr wurde direct gef\u00fchrt, indem in einem Versuche, bei dem ich selbst Versuchsperson war, durch kr\u00e4ftige isolirte Faradisirung des Flexor carpi ulnaris und Anconaeus quartus die Curve gewonnen wurde, welche Fig. 1 Tafel I abgehildet ist. Solche Versuche wurden noch des \u00f6fteren ausgef\u00fchrt, um eine weitere Angabe Mosso\u2019s zu pr\u00fcfen, und ergaben stets ein gleichartiges Resultat. Bei Faradisirungsversuchen vom Medianus aus ergab sich noch etwas, was mit den vorstehenden Ausf\u00fchrungen \u00fcbereinstimmt: es gelang n\u00e4mlich durch Faradisirung vom Medianus aus durchaus nicht, Curven zu erhalten, die an Regelm\u00e4\u00dfigkeit und Arbeitsgr\u00f6\u00dfe die bei willk\u00fcrlicher Coordination entstandenen erreichen,\n1) Ebenso Eig. 2 der beigeffigten Tafel I, die untere Curve.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"15\nUeber Mosso\u2019s Ergographen.\nwas wohl auf das Fehlen der Action der kurzen Handmuskeln zu beziehen ist.\nDie vorstehende Analyse der verschiedenen betheiligten Bewegungen st\u00fctzt sich auf die genaue Beobachtung derselben; ob mau aus dem Ergogramm auf die Superposition der betheiligten Wirkungen R\u00fcckschl\u00fcsse machen kann, ist besonders zu untersuchen, es scheint thats\u00e4chlich, wenn auch unsicher und schwierig, m\u00f6glich zu sein. Dagegen muss betont werden, dass unmittelbar eine Abgrenzung jener Superpositionen unm\u00f6glich ist, und dass namentlich die letzten Theile des Ergogramms in ihrem Wesen und in ihrem Werthe gleich problematisch sind. Dass die isolirte Erm\u00fcdung eines Muskels oder einer Muskelgruppe mit dem Ergographen nicht ausf\u00fchrbar ist, ist ersichtlich; ob der Apparat so modificirt werden kann, dass er dies leistet, ist hei den mechanischen Verh\u00e4ltnissen unserer Muskulatur \u00fcberhaupt unwahrscheinlich, denn wir agiren physiologisch niemals mit einem Muskel, sondern immer mit Muskelgruppen, und eine zu Stande kommende Bewegung ist ganz allgemein die Resultante aus der Wirkung der Oontractionen mehrerer Muskeln; erst das coordinate Zusammenwirken dieser Muskeln f\u00fchrt zu unseren physiologischen Bewegungen. Es scheint wohl, als oh, wenn man einen Muskel derartig erm\u00fcden wollte, man ihn vorher anatomisch isoliren m\u00fcsste, was wohl am Frosch, aber nicht bei unseren Ergographenversuchen ausf\u00fchrbar ist.\nDaraus geht hervor, dass das Ergogramm \u00fcberhaupt nur von jemand beurtheilt werden kann, der die Anatomie und Mechanik des Bewegungsapparates zuverl\u00e4ssig kennt. Schon aus diesem Grunde geh\u00f6rt es nicht in die experimentelle Schulpsychologie und auch nicht m die H\u00e4nde der Mehrzahl der experimentellen Psychologen, denen eine solche Kenntniss im allgemeinen leider nicht zuzutrauen ist. Die anatomisch-mechanische Analyse muss aber sichergestellt und richtig sein, bevor man \u00fcberhaupt an die weitere Discussion des Ergogramms herantritt. In der Hand desjenigen, der die Verh\u00e4ltnisse \u00fcbersehen kann, ist der Ergograph zur Gewinnung von Er-m\u00fcdungscurven immerhin brauchbar, man darf nur die Curve nicht auf eine scharf circumscripte Muskelgruppe beziehen.\nEs fragt sich aber, was hat man gewonnen, wenn man die Er-m\u00fcdungscurve hat ? Zun\u00e4chst ist sicher, dass ein Kranker mit","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\n\u00dfobert M\u00fcller.\namyotropischer Lateralsclerose ein anderes Brgogramm geben wird wie ein gesunder, dasselbe wird f\u00fcr einen schweren Diabetiker oder Phthisiker gelten. Dann ist sicher, dass sich gewisse Erm\u00fcdungstypen differenziren lassen, f\u00fcr welche gewisse Formen der Gipfellinien der Curven bezeichnend sind \u2019). Auch f\u00fcr gewisse Fragen des Muskelstoffwechsels * 2), die Wirkung des Alkohols, des Zuckers, der Narcotica, sind Aufschl\u00fcsse durch das Ergogramm gewonnen worden und ihre Gewinnung denkbar, wenn auch diesen Ergebnissen gegen\u00fcber, wie aus sp\u00e4ter darzulegendem ersichtlich werden wird, ein gewisses Misstrauen durchaus gerechtfertigt ist. Ferner ist es sicher, dass der Apparat f\u00fcr gewisse \u00bbBrutto\u00ab-Untersuchungen der Muskelphysiologie \u00fcber Arbeitsgr\u00f6\u00dfe und Yertheilung der Arbeitsleistung brauchbar ist, \u2014 aber alles das nur in der Hand eines Sachkundigen. Wir wollen also zugeben, dass man mit dem Ergographen Erm\u00fcdungs-curven gewinnen kann, die eine weitergehende Schlussfolge gestatten. Was weiter?\nZun\u00e4chst ist daran festzuhalten, dass das Ergogramm den Verlauf der Erm\u00fcdung von Muskeln darstellt. Darin ist aber verschiedenes enthalten. Diese Erm\u00fcdung k\u00f6nnte ganz dem nerv\u00f6sen Centralorgane angeh\u00f6ren, man m\u00fcsste dann annehmen, dass Nerv und Muskel unerm\u00fcdbar seien; das ist sicher nicht der Fall. Dem Nerven geh\u00f6rt diese Erm\u00fcdung nicht an, denn dieser erm\u00fcdet \u00fcberhaupt nicht oder wenigstens nicht in den hier in Betracht kommenden Zeiten (Wedenski, Mascliek, Bowditch)3). Dann konnte\n1} Mosso, S. 132. Zwei Hauptformen der Gfpfellinie, eine gegen die Ab-scissenachse convexe und eine gegen diese concave.\n2)\tZ. B. Mosso\u2019s Angaben \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Muskelarbeit von der Jahreszeit.\n3)\tWedenski, Telephonische Untersuchungen \u00fcber die elektrischen Erscheinungen in Muskel- und Nervenapparaten. St. Petersburg 1884 (russisch). Centralbl. f. d. medicin. Wissenschaften 1884. No. 5. \u00bbWie rasch erm\u00fcdet der Nerv?\u00ab Die Meinung von der Unerm\u00fcdbarkeit der Nerven wird wohl von der \u00fcberwiegenden Mehrzahl der Physiologen getheilt, aber ganz ohne Widerspruch geblieben ist sie nicht: \u00bbEs liegen ja auch Beobachtungen vor, die daf\u00fcr zu sprechen scheinen, dass in den Nerven selbst ein Verbrauch stattfindet. Ebenso wei\u00df man heute nicht wo und wie in den einzelnen Neuronen einfach leitende Theile von solchen sich scheiden, die au\u00dfer der Leitung noch andere Functionen besitzen, die man als centrale zu bezeichnen pflegt. Die \u00e4u\u00dferen Grenzen von Ganglienzelle und Nervenfortsatz k\u00f6nnen daf\u00fcr nicht entscheidend sein, der Sitz der Erm\u00fcdungs-","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n17\nsie den motorischen Endorganen angeh\u00f6ren, deren Erm\u00fcdungsverh\u00e4ltnisse gegenw\u00e4rtig ein interessantes Thema der Muskelphysiologie sind, oder schlie\u00dflich dem Muskel selbst.\nAus dem von den Physiologen Erarbeiteten ist es m\u00f6glich, dar\u00fcber einige Einsicht zu gewinnen, die schlie\u00dflich darauf hinausl\u00e4uft, dass ein wesentlicher Theil der Erm\u00fcdung rein peripherisch ist. Das motorische Endorgan erm\u00fcdet rascher als der Muskel, ob aber dies hier in Betracht kommt ist fraglich, dem Ergogramm gegen\u00fcber k\u00f6nnen wir mit dieser Einsicht gar nichts anfangen, und ebenso ist das Ergogramm zu Ermittlungen \u00fcber diese Frage vollst\u00e4ndig ungeeignet. In der mittelst des Ergographen erhaltenen Erm\u00fcdungs-curve kann aber auch die centrale Erm\u00fcdung als Componente enthalten sein; diese k\u00f6nnte den trophischen Centren der betreffenden Nervenfasern, also den Vorderhornzellen der zugeh\u00f6rigen B\u00fcckenmarksabschnitte angeh\u00f6ren, oder sie k\u00f6nnte cortical sein. Nur in dem Falle, dass das Ergogramm zu irgend welchen Erm\u00fcdungsvorg\u00e4ngen der Hirnrinde in Beziehung steht, gewinnt dasselbe f\u00fcr den Psychologen \u00fcberhaupt an Interesse.\nEs w\u00e4ren demnach im Ergogramm zwei Scheidungen durchzuf\u00fchren, es m\u00fcsste der rein muscul\u00e4re Erm\u00fcdungsvorgang er\u00f6rtert werden, und es m\u00fcsste gezeigt werden, dass das Ergogramm auf Grund der muskul\u00e4ren Erm\u00fcdungsvorg\u00e4nge nicht in allen seinen Einzelheiten verst\u00e4ndlich ist. Die Behandlung dieser Aufgabe soll nur angedeutet werden, um zu zeigen, wie dabei wohl zu verfahren w\u00e4re. Um die Frage der Muskelerm\u00fcdung zu behandeln, ist es noth-wendig, nicht vom Ergogramm auszugehen, sondern von einer Zuckungsreihe, in welcher der Muskel erm\u00fcdet wird. Solche Zuckungsreihen wurden von Funke* 1) und Marey2), sp\u00e4ter von Bollett3) mitge-theilt. Funke machte zwischen den Einzelzuckungen ein Intervall\nerscheinungen im Centralnervensystem ist uns aber noch ganz unklar, diese weisen aber, ebenso wie gewisse neuropathologische Erscheinungen auf einen tr\u00e4geren Ablauf der in den Nervengeweben sich abspielenden Processe hin\u00ab fRollett, Pfl\u00fcgers Archiv LXIY. p. 508. 1896).\n1)\tFunke, Pfl\u00fcger\u2019s Archiv VIII. S. 213.\n2)\tMare\u00ff, Du mouvement dans les fonctions de la vie. Paris 1868. p. 238. Travaux du laboratoire de M. Marey. II. Ann\u00e9e. 1876. p. 141. La m\u00e9thode graphique Paris 1868. p. 579.\n3)\tRollet, Pfl\u00fcger\u2019s Archiv LXVIII. S..507. 1898.\nWundt, Philos. Studien. XVII.\n2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nRobert Mtiller.\nvon 4 Secunden; dieses ist wohl wegen seiner L\u00e4nge etwas ung\u00fcnstig, er benutzte aber eine gro\u00dfe Anzahl von Zuckungen, er ging bis etwa 800, von welchen er immer eine bestimmte Auswahl aufschrieb. Marey\u2019s Aufzeichnung umfasst nur 88 Einzelzuckungen vom Gastro-cn\u00e9mius des Frosches, dagegen w\u00e4hlte er ein g\u00fcnstigeres Reizintervall von 1,5 Secunden. Aus solchen Zuckungsreihen sieht man, dass die Curven sich in ganz bestimmter Weise ver\u00e4ndern und mit solcher Constanz und Deutlichkeit, dass man daraus den Process der Erm\u00fcdung definirt hat. Man sagte n\u00e4mlich, dieselbe sei charak-terisirt durch die Abnahme der Zuckungsh\u00f6he bei gleichbleibendem Reiz, oder durch die Verst\u00e4rkung des Reizes, die nothwendig ist, um eine constante Hubh\u00f6he zu erhalten. Dabei \u00e4ndert sich die Form der Curve der Einzelzuckung, indem dieselbe gedehnter wird. Diese Dehnung der Curven bei der Erm\u00fcndung hatte bereits Helmholtz1) bemerkt, der von dieser Erscheinung \u00fcberrascht war, denn er meinte, man h\u00e4tte mit der Abnahme der Hubh\u00f6he auch viel eher eine Verk\u00fcrzung zu erwarten. Diese Aenderung der Curve ist aber noch des \u00f6fteren eingehend beschrieben worden, so von Wundt2), Volkmann3) und Funke4).\nDass diese Dehnung der Curve der Ausdruck ganz eigenartiger Verh\u00e4ltnisse der Arbeits\u00f6konomie des Muskels sei, erkannte bereits Volkmann, denn er schreibt: \u00bbBetrachtet man den Inhalt der Curven als Ma\u00df der Arbeit, so sieht man, dass ziemlich betr\u00e4chtliche Erm\u00fcdung der Gr\u00f6\u00dfe der Arbeit nur wenig schadet. Wenn man dagegen beim Bemessen der Arbeit auch auf die Zeit, die sie beansprucht, R\u00fccksicht nimmt, so findet sich, dass sie dann mit der Erm\u00fcdung eine rasche Verminderung erf\u00e4hrt\u00ab, und daraus zieht er den Schluss: \u00bbF\u00fchrt man den Bewegungsvorgang auf seine Ursachen, auf die chemischen Processe zur\u00fcck, so darf man annehmen, dass die Erm\u00fcdung weit weniger die Quantit\u00e4t als die Intensit\u00e4t der Metamorphose \u00e4ndere\u00ab. \u00bbDie Menge der zu verbrennenden Stoffe scheint nur sehr wenig abzunehmen, w\u00e4hrend der Oxydationsprocess auffallend tr\u00e4ger wird\u00ab3).\n1)\tHelmholtz, Archiv f\u00fcr Anat. u. Physiol. 1850 u. 1852.\n2)\t\"Wundt, Lehre von der Muskelbewegung. Braunschweig 1858.\n3)\tVolkmann, Pfl\u00fcgers Archiv. IH. S. 374.\n4)\tFunke a. a. 0.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n19\nDer absteigende Ourventheil der Zuckungen hat in der Regel eine l\u00e4ngere Dauer als der ansteigende, sehr selten ist die Dauer beider gleich. Wenn man nun in einer Zuckungsreihe die Wachsthumsverh\u00e4ltnisse beider Curventheile fortlaufend betrachtet, so bemerkt man, dass beide nicht in demselben Verh\u00e4ltnis l\u00e4nger werden, sondern dass zun\u00e4chst in den Curven der ansteigende Theil st\u00e4rker w\u00e4chst als der abfallende. Bei den von Rollett benutzten, durchbluteten Froschgastrocnemien dauert dies bei schwachen Str\u00f6men bis zur l\u00f6Oten Zuckung, bis dahin hat der ansteigende Ourventheil l\u00e4ngere Dauer, dann aber beginnt der absteigende Ourventheil in seiner Zeitdauer rascher zu wachsen, was etwa bis zur 400. Einzelzuckung in Rollett\u2019s Yersuchen dauerte, um dann weniger rasch zu wachsen und schlie\u00dflich sogar mehr weniger rasch abzunehmen.\nWenn man die Yerdickungscurven des Muskels bei fortschreitender Erm\u00fcdung mit den Yerk\u00fcrzungscurven vergleicht, so stimmen beide in der Art, wie sowohl der ansteigende, wie der abfallende Ourventheil der Myogramme sich \u00e4ndert, \u00fcberein. Diese Ueberein-stimmung berechtigt zur Aufstellung des Satzes, dass f\u00fcr die Ausweichung der Formelemente des Muskels aus der Gleichgewichtslage und zur R\u00fcckkehr in dieselbe die Zeit bei fortschreitender Erm\u00fcdung w\u00e4chst (Rollett 1898).\nWenn man eine Zuckungsreihe aufnimmt, so bemerkt man zun\u00e4chst, dass die Hubh\u00f6hen der einzelnen Zuckungen zunehmen, eine Erscheinung, die als Bowditch\u2019sche Treppe bekannt ist. Dann erfolgt der Abfall der Treppe und dann die fortschreitende Erm\u00fcdung. So lange das Stadium der Treppe dauert, nimmt mit der Hubh\u00f6he auch die Dauer des ansteigenden Curvenschenkels zu ; w\u00e4hrend aber dann die Treppe abf\u00e4llt, w\u00e4chst die Dauer des ansteigenden Curventheiles und ist l\u00e4nger als die Dauer des absteigenden, und ebenso verh\u00e4lt es sich mit der Gesammtarbeit.\nDie Arbeit ist das Product aus Kraft und Weg. Bei constanter Belastung ist also die Arbeit nur von der Hubh\u00f6he abh\u00e4ngig. Durch die Treppe nimmt also die Arbeitsleistung bis zu einem gewissen Maximum zu; dann wird der Verlust an Hubh\u00f6he durch die zeitliche Verl\u00e4ngerung der Zuckung l\u00e4ngere Zeit compensirt, bis schlie\u00dflich diese Compensation versagt und die Arbeitsleistung des Muskels immer mehr abnimmt. Zerlegt man aber die Muskelzuckung in ihre\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nRobert Miiller.\nverschiedenen Phasen in der Zeiteinheit, etwa y100\", so ist (^e Arbeitsleistung in der Zeiteinheit das Product aus der mittleren Geschwindigkeit in der Zeiteinheit und dem durchlaufenen Wege, also dem Betrage der Verk\u00fcrzung. Da auch bei der Ausbildung der Treppe der ansteigende Curventheil in seiner Dauer zunimmt, und der Anstieg immer weniger steil als in der vorhergehenden Zuckungscurve ist, so zeigt sich, dass die Arbeitsleistung in der Zeiteinheit in der Zuckungsreihe von vornherein abnimmt.\nEs ist aber ersichtlich, dass man den Betrag der Arbeitsleistung und die Aenderung desselben bei der Erm\u00fcdung in einfacher Weise ermitteln kann, indem man die Fl\u00e4che ausmisst, welche zwischen der Abscissenlinie und der Curve eingeschlossen ist, und den Betrag der Arbeitsleistung in der Zeiteinheit, indem man den Inhalt des Fl\u00e4chenst\u00fcckes ermittelt, das von zwei um eine Zeiteinheit von einander entfernten Ordinaten und dem dazu geh\u00f6rigen Abschnitt der Curve begrenzt wird.\nAus diesen wenigen Worten geht hervor, dass die Muskelsubstanz in sich selbst Eigenschaften besitzt, welche ihre Kr\u00e4fte\u00f6konomie zu einer ziemlich verwickelten machen, und diese ist einer physiologischen Er\u00f6rterung und Definition der Muskelerm\u00fcdung zu Grunde zu legen. In Analogie hierzu wird wohl die Kr\u00e4fte\u00f6konomie aufzufassen sein, welche der Muskel bei der Erm\u00fcdung durch willk\u00fcrliche Muskel-th\u00e4tigkeit aufweisen wird, bei der allm\u00e4hlichen H\u00f6henabnahme der submaximalen glatten Tetani, als welche die Willk\u00fcrbewegungen aufzufassen sind. Wenn man ferner die gro\u00dfe Reihe von Eigenschaften und Erscheinungen bedenkt, die am isolirten Nervmuskelpr\u00e4parat sich finden, so ist es wohl schwierig, solche Ursachen f\u00fcr das Zustandekommen des Ergogramms, welche wo anders als in den Eigenschaften der Muskelsubstanz zu suchen sind, sicher zu bestimmen. Zu diesem Ergebnisse kommt eigentlich auch Mosso: \u00bbLa ressemblance profonde, qui existe entre la courbe inscrite avec la volont\u00e9 et la courbe inscrite en excitant le nerf, ou en excitant directement le muscle, montre avec \u00e9vidence, que les ph\u00e9nom\u00e8nes charact\u00e9ristiques de la fatigue ont leur si\u00e8ge \u00e0 la p\u00e9riph\u00e9rie et dans le muscle\u00ab (Mosso p. 141).\nEbenso wie das Bestimmen von Pflanzen, die Gattungen mit wenig ausgesprochenen Artm 8 kmalen angeh\u00f6ren, wie Hieracien oder Rubus-","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n21\narten, Weiden oder Spliagnaceen, schwieriger und oft unzuverl\u00e4ssiger ist als bei ebenso artenreichen Familien mit distincten Artcharakteren, etwa Saxifragaceen oder G-entianen, so sind Vorg\u00e4nge, welche hei der graphischen Registrirung constante und schai'f umschriebene Bilder gehen, eher zur Grundlage weiterer Untersuchungen brauchbar, als solche, die so stark variiren, dass eine durchgreifende Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit kaum hervortritt. Um auch von diesem Gesichtspunkte aus ein Urtheil \u00fcber den Werth des Ergogramms zu gewinnen, ist es n\u00f6thig, die Constanz dieser Curve unter gleichen Bedingungen zu betrachten. Das Zustandekommen des Ergogramms ist sehr vielseitig bedingt, und die Einzelfactoren scheinen nicht alle restlos ana-lysirbar zu sein ; es w\u00e4re also die Resultante einer unbekannten Anzahl von Variabein, und dies ist schon hei der Xormalcurve der Fall. Aendern sich eine oder mehrere dieser Variahein, so \u00e4ndert sich auch die Curve, die Normalcurve zeigt Variationen. Xun ist zun\u00e4chst der Betrag der Variation der Xormalcurve festzustellen, dann kann man mit weiteren Versuchen beginnen. Wenn man dann aus den unter ver\u00e4nderten Bedingungen gewonnenen Versuchscurven Schl\u00fcsse ziehen will, so ist die erste Forderung, dass diese sich von den Xormal-curven qualitativ oder quantitativ um Betr\u00e4ge unterscheiden, die gr\u00f6\u00dfer sind, als der Bereich der normalen Variation.\nDie Anwendung dieser Forderungen bezieht sich nat\u00fcrlich nur auf Curven, deren Entstehungsbedingungen so verwickelt sind, dass die Analyse derselben nicht restlos durchf\u00fchrbar ist. Wenn man Erscheinungen graphisch untersucht, deren Bedingungen man beherrscht, so kommen den Variationen \u00fcberhaupt nur sehr kleine Betr\u00e4ge zu, oder sie verschwinden ganz. So ist etwa die Hubh\u00f6he desselben iso-lirten Froschmuskels bei gleicher, nicht zu starker Belastung, gleicher Temperatur und gerade maximaler Reizst\u00e4rke immer dieselbe, wenn man die Reizungen in Zeitintervallen auf einander folgen l\u00e4sst, welche die Erm\u00fcdung ausschlie\u00dfen, und wenn die Versuche nicht zu lange dauern. Hat man dagegen Ergogramme von derselben Versuchsperson vor sich, die bei derselben Belastung und demselben Arbeitstempo aufgenommen sind, so sind diese nicht gleich, sondern nur \u00e4hnlich, sowohl die L\u00e4nge \u2014 also die Arbeitszeit \u2014, wie die Summe der Einzelhebungen \u2014 die Arbeitsgr\u00f6\u00dfe \u2014, wie die Form der Gipfellinie, welche Aufschluss gibt \u00fcber die Vertheilung der Arbeitsgr\u00f6\u00dfe","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nRobert Miiller.\n\u00fcber die Arbeitszeit k\u00f6nnen variiren. F\u00fcr die Analyse dieser Verh\u00e4ltnisse enth\u00e4lt die Arbeit Maggiora\u2019s*) eine gro\u00dfe Menge Material, das sich auf die Ver\u00e4nderungen der Erm\u00fcdungscurve bei verschieden gro\u00dfer Belastung, auf den Einfluss des Tempos, die Erholungspause, periodische Muskelarbeit, locale An\u00e4mie, auf die Einwirkung der Erm\u00fcdung anderer Muskeln, auf Schlafen und Wachen, Fasten und schlie\u00dflich auf die Wirkung der Muskelmassage beziehen. Alle diese Verh\u00e4ltnisse bed\u00fcrfen der Ber\u00fccksichtigung, wenn man das Ergogramm zu bestimmten positiven Zwecken verwerten will; es liegt aber hier kein Anlass vor, auf diese, wie es scheint, im einzelnen sorgf\u00e4ltigen und besonnenen Angaben Maggiora\u2019s einzugehen. Ueber die Variation des Ergogramms hat sich Mosso selbst mit folgenden Worten ausgesprochen: \u00bbOn connait la divergeance d\u2019opinion, qui s\u2019est \u00e9lev\u00e9e entre Kronecker et Hermann par rapport \u00e0 la courbe de la fatigue. Les r\u00e9sultats de Kronecker furent confirm\u00e9s par Tiegel, Rossbach et Hart-nack; j\u2019ai \u00e9galement observ\u00e9 que, dans un grand nombre de cas, la hauteur de la contraction va en d\u00e9croissant, de mani\u00e8re que le sommet de toutes les contractions se trouve sur une ligne droite. Mais chez la plupart des personnes, quand les poids qu\u2019elles soul\u00e8vent, ne sont pas trop l\u00e9gers, la courbe de la fatigue pr\u00e9sente la convexit\u00e9 tourn\u00e9e en bas ou en haut; rarement elle forme une double courbe de mani\u00e8re que la ligne qui touche le sommet de toutes les contractions d\u00e9crive un S renvers\u00e9 (~). D\u2019apr\u00e8s mes exp\u00e9riences, je puis conclure qu\u2019il n\u2019existe pas de courbe typique de la fatigue\u00ab.\n\u00bbLe profil de la courbe change pour bien des causes et sp\u00e9cialement par suite de l\u2019influence du poids que doit soulever le muscle, et de la fr\u00e9quence, avec lequel il le soul\u00e8ve. Une condition tr\u00e8s importante pour la courbe c\u2019est celle de la fatigue pr\u00e9c\u00e9dente ou du repos, dans lequel se trouve le muscle. La courbe de la fatigue d\u00e9pend d\u2019un ensemble de causes, qui agissent sur le muscle, sur les centres nerveux et sur la circulation. Quand j\u2019ai dit, que la contraction musculaire a un type caract\u00e9ristique pour chaque personne\n1) Maggi or a, Die Arbeit folgt sowohl in der deutschen Bearbeitung im Archiv f\u00fcr Anat. u. Physiol. 1890, wie in den Archives italiennes, XIII. 1890. p. 187\u2014241 unmittelbar auf die Mo sso\u2019s.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n23\nceci ne doit pas s\u2019entendre en un sens trop absolu, mais en ce sens que chacun de nous, en soulevant un m\u00eame poids, avec le m\u00eame doigt, avec la m\u00eame fr\u00e9quence de contraction et en se trouvant dans les m\u00eames conditions g\u00e9n\u00e9rales de l\u2019organisme, produit le m\u00eame trac\u00e9\u00ab (Mosso, p. 139. 140),\nMan k\u00f6nnte z. B. etwa vermuthen, dass die Gef\u00fchlsbetonung von Sinnesempfindungen das Ergogramm beeinflusse, etwa in der Weise, dass die erregende oder die Lustcomponente eines sinnlichen Gef\u00fchles die Arbeitsleistung vergr\u00f6\u00dfere. Wenn man dar\u00fcber experimentirt hat und einen solchen Schluss zu ziehen geneigt w\u00e4re, so w\u00e4re dies nur statthaft bei durchg\u00e4ngiger Constanz der Erscheinungen und bei Betr\u00e4gen in der Aenderung der Curve, welche eben die normale Variationsbreite immer \u00fcbertreffen. Die Ermittlung constanter Zusammengeh\u00f6rigkeiten, etwa einer bestimmten mittleren Arbeitsgr\u00f6\u00dfe zu einer bestimmten Gef\u00fchlsbetonung bleibt aber auch dann schwierig. In Versuchen dieser Art besteht immer die M\u00f6glichkeit, dass Dinge aufeinander bezogen werden, die gar nichts miteinander zu thun haben. So k\u00f6nnte etwa eine constante Differenz in der Arbeitsgr\u00f6\u00dfe aus bestimmten Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr Bewegungsempfindungen herr\u00fchren. Derartige Erscheinungen \u2014 wie etwa Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten des Ged\u00e4chtnisses f\u00fcr Bewegungsempfindungen \u2014 k\u00f6nnen die zu untersuchenden Vorg\u00e4nge, etwa den Einfluss gef\u00fchlsbetonter Sinnesreize, ganz \u00fcberdecken, und zwar in einer Weise, dass ganze Reihen von Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten aufweisbar erscheinen, die thats\u00e4ch-lich den Reproductionen der Bewegungsempfindungen zukommen. Das gilt nicht nur f\u00fcr diese Versuche mit dem Ergographen, sondern f\u00fcr alle Versuche, bei denen Zusammenh\u00e4nge von Bewegungsvor-g\u00e4ngen und Gef\u00fchlsvorg\u00e4ngen in Betracht kommen, und thats\u00e4chlich wurden mir solche Aussagen von sehr zuverl\u00e4ssigen Versuchspersonen gemacht.\nDen Satz Mosso\u2019s: \u00bbun premier fait digne de consid\u00e9ration, c\u2019est que nous obtenons, en irritant le nerf, une quantit\u00e9 de travail m\u00e9canique sup\u00e9rieure \u00e0 celle qui s\u2019obtient au moyen de la volont\u00e9. Avec la volont\u00e9 nous pouvons faire des efforts plus grands et soulever des poids tr\u00e8s lourds, mais l\u2019aptitude au travail s\u2019\u00e9puise vite et l\u2019excitation nerveuse devient inefficace, tandisque l\u2019excitation artificielle des nerfs conserve plus longtemps les muscles en action\u00ab","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nRobert M\u00fcller.\n(Mosso p. 141) anzufechten habe ich keinen Grund. Dagegen glaube ich gegen den zweiten wichtigen Satz: \u00bb l'excitation \u00e9lectrique t\u00e9tanisante du nerf, continu\u00e9e jusqu\u2019\u00e0 l\u2019\u00e9puisement de la force du muscle, laisse encore chez celui-ci un reste d\u2019\u00e9nergie, qui peut \u00eatre utilis\u00e9e par la volont\u00e9, et viceversa, la volont\u00e9 laisse un reste de force qui peut \u00eatre utilis\u00e9e et mise en action par l\u2019\u00e9lectricit\u00e9\u00ab das Bedenken geltend machen zu d\u00fcrfen, dass die Faradisation gar nicht dieselben Muskeln erm\u00fcdete, wie die willk\u00fcrliche Muskelth\u00e4tigkeit. Mo sso faradisirte vom Nervus medianus aus, dabei sind die Interossei, welche vom Ramus profundus rami volaris manus des Ulnaris innervirt werden, unbetheiligt. Wenn also auf eine Erm\u00fcdungsreihe durch Faradisation des Medianus, welche die langen Fingerbeuger betrifft, eine Erm\u00fcdungsreihe durch willk\u00fcrliche Muskelaction folgt, so treten ganz andere Muskeln, n\u00e4mlich die Interossei in Wirksamkeit. Dass dieser Ein wand berechtigt ist, suchte ich dadurch zu beweisen, dass ich die langen Fingerbeuger und die Interossei durch Faradisation gleichzeitig erm\u00fcdete. Dann fiel in der That die von Mos so gefundene Erscheinung weg, es gelang dann trotz wiederholter Versuche nicht, Curven zu erhalten, wie sie Mo sso Fig. 34 p. 150, Fig. 35 p. 151 oder gar Fig. 36 (p. 152) ahhildet. Damit wird auch Mos-so\u2019s h\u00f6chst wichtige Folgerung hinf\u00e4llig: \u00bbD\u2019apr\u00e8s ces recherches la fatigue centrale ou nerveuse apparait avec \u00e9vidence. Nous voyons en effet, que durant le repos de la volont\u00e9 la fonction des mouvements volontaires s\u2019am\u00e9liore; et l\u2019am\u00e9lioration ne peut \u00eatre p\u00e9riph\u00e9rique parceque nous ne laissons pas au muscle le temps de se reposer\u00ab.\nII.\nMit der vorausgehenden Besprechung der muskelphysiologischen Verh\u00e4ltnisse ist die Kritik des Ergogramms in seiner Bedeutung f\u00fcr die Psychologie keineswegs ersch\u00f6pft, im Folgenden m\u00f6gen noch einige vorwiegend psychologische Gesichtspunkte Erw\u00e4hnung finden ; da diese aber mit allgemeineren physiologischen und psychologischen Fragen, mit dem ganzen Erm\u00fcdungsproblem in Beziehung stehen, so ist eine einigerma\u00dfen ersch\u00f6pfende Behandlung dieser Fragen hier unm\u00f6glich,","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergograplien.\n25\nsodass nur das gerade f\u00fcr die Kritik des Ergogramms Wichtige hier herbeigezogen werden soll.\nDer Verwendung des Ergographen von Seiten der Psychologen liegt eine Gruppe von Hypothesen zu Grunde, die verschieden formu-lirt werden k\u00f6nnen, ganz allgemein sich aber in eine der im Folgenden dargelegten Formen bringen lassen; dabei ist ausdr\u00fccklich zu betonen, dass die folgenden Ausf\u00fchrungen sich nicht gegen Mos so wenden, da dieser an der hier eingerissenen Begriffsverwirrung nicht schuldig und nicht betheiligt ist.\nDass das Ergogramm nicht unmittelbar als Ausdruck eines central bedingten Erm\u00fcdungsprocesses aufgefasst werden kann, geht aus allem Vorhergehenden hervor; es k\u00f6nnte demnach vermuthet werden, dass die im Ergogramm sich ausdr\u00fcckenden Erm\u00fcdungsvorg\u00e4nge einen bestimmten Antheil enthalten, der aus der centralen Erm\u00fcdung herr\u00fchrt und diese mitbestimmt. Eine gewisse Berechtigung zu einer solchen Hypothese l\u00e4ge vor, wenn erweisbar w\u00e4re, dass im Ergogramm die Erm\u00fcdung des Muskels durch willk\u00fcrliche Muskelaction eine andere ist, als durch isolirte Faradisirung derselben Muskeln. Eine solche Behauptung wurde in der That von Mos so aufgestellt, es m\u00f6chte aber scheinen, dass man derselben mit schwerwiegenden Bedenken gegen\u00fcbertreten kann. Einer solchen Hypothese gegen\u00fcber k\u00f6nnen wir uns nur auf den Standpunkt stellen, dass die rein muskul\u00e4ren Erscheinungen, die hei der Entstehung des Ergogramms in Betracht kommen, so verwickelte sind, dass der Antheil der centralen Erm\u00fcdung \u00fcberhaupt nicht abgrenzbar ist. Diese Hypothese ist f\u00fcr das Ergogramm durch keine einwandfreien Versuche gest\u00fctzt und deshalb als willk\u00fcrlich abzulehnen. Eine andere Form solcher Hypothesen w\u00e4re die, dass eine bestimmte Menge psychischer Energie vorhanden w\u00e4re, etwa innerhalb der Zeit t bis und dass diese in derselben Weise in der central bedingten Innervation der Muskeln \u25a0wie in anderen centralen Vorg\u00e4ngen verbraucht werde. Annahmen dieser Art sind es oft, die versteckt zu Grunde gelegt werden, wenn aus dem Ergogramm auf die intellectuelle Erm\u00fcdung ein Schluss gezogen werden soll, indem dann stillschweigend angenommen wird, dass f\u00fcr die Muskelaction um so weniger Energie disponibel bliebe, je mehr hei der intellectuellen Arbeit Energie verbraucht worden sei. Diese Hypothese l\u00e4sst sich in einer ansprechenderen Form entwickeln","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nRobert M\u00fcller.\ndurch Anlehnung an die von J. Ranke1) entwickelte Lehre von den Erm\u00fcdungsstoffen, indem man annimmt, dass die bei der cerebralen Th\u00e4tigkeit gebildeten Erm\u00fcdungsstoffe identisch mit denen der Muskelerm\u00fcdung seien, oder in analoger Weise wie diese auf die Muskel-th\u00e4tigkeit wirken. Es ist nicht ang\u00e4ngig, \u00fcber den Werth dieser Form von Hypothesen ein Urtheil auszusprechen, da dieselben durchweg in der Erfahrung nicht soweit sicher gestellt erscheinen, dass eine weitere Ausgestaltung und Anwendung derselben zur Zeit statthaft w\u00e4re. Eine noch zur\u00fcckhaltendere Umformung, aber immer eine Hypothese w\u00e4re es, wenn man sagen wollte, die Muskelerm\u00fcdung und die centrale Erm\u00fcdung verlaufen im allgemeinen gleichartig.\nDiesen Hypothesen k\u00f6nnte man je nach den erstrebten Zwecken die verschiedenste Form geben, etwa, wenn man Beziehungen zwischen der Beschaffenheit des Ergogramms und gef\u00fchlsbetonten Sinnesreizen suchen will, folgende: es ist eine gewisse Summe psychischer Energie vorhanden, von der erregende oder Lustcomponenten von Gef\u00fchlen einen gr\u00f6\u00dferen Betrag activiren \u2014 also die Erm\u00fcdung hinausziehen, die Arbeitsleistung vermehren \u2014 als deprimirende oder Unlustcomponenten.\nAber diesen Hypothesen, die ein phantasievoller Kopf beliebig vermehren und ausgestalten kann, kommt nicht der geringste Werth zu; zur Zeit fehlen die aus der Erfahrung gesch\u00f6pften Anhaltspunkte, aus denen irgendwelche Relationen zwischen centralen und der im Ergogramm zum Ausdruck kommenden peripheren Erm\u00fcdung ableitbar w\u00e4ren. Es fehlt also eine verbindende Theorie, welche das Instrument in der Hand des Psychologen brauchbar machen k\u00f6nnte, wenn dieser nicht gerade darauf ausgeht, die Erm\u00fcdung von Muskelgruppen in toto, wie sie eben physiologisch verl\u00e4uft, zu bearbeiten.\nZur Zeit besteht allenfalls eine Verwendbarkeit des Ergographen nur f\u00fcr die Muskelphysiologie, zum Studium der Muskelerm\u00fcdung und der diese beeinflussenden Factoren. Dabei sind wieder die allgemeinen Stoffwechselverh\u00e4ltnisse des Muskels ebenso zu ber\u00fccksichtigen, wie die besonderen in den Versuchen zu variirenden Factoren der Belastung, des Tempos u. a. m. Hier ist ferner das Eingreifen\n1) Ranke, Tetanus. Leipzig 1865. Zur Kritik vergl. Hermann, Handb. d. Physiol. I. Th. 1. S. 123.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n27\nsubjectiver Vorg\u00e4nge zu beachten, n\u00e4mlich die Empfindungsvorg\u00e4nge, welche die Erm\u00fcdung begleiten, und anderseits die M\u00f6glichkeit der verschiedenen rhythmischen Betonung und G-ruppirung der gleichartigen, das Arbeitstempo markirenden Sinnesreize. Die Empfindungsvorg\u00e4nge bei der Erm\u00fcdung m\u00f6gen nun soweit erw\u00e4hnt werden, als sie hier unmittelbar in Betracht kommen. Von den Erm\u00fcdungsempfindungen l\u00e4sst sich sagen, dass sie zunehmen mit der Abnahme der Arbeitsleistung des Muskels, aber die Erm\u00fcdungsempfindungen sind als solche weder mit der Muskelerm\u00fcdung identisch, noch quantitativ aus dem Ergogramm bestimmbar. Ferner ist die Erm\u00fcdungsempfindung nichts einheitliches, sondern ein h\u00f6chst verwickelter Complex, indem zun\u00e4chst der subjective, ihr widerstreitende, aus anscheinenden Willens- und Empfindungselementen zusammengesetzte, problematische Complex der Anstrengung auszuschalten ist. Dann setzen sich die Empfindungsvorg\u00e4nge bei der Erm\u00fcdung zusammen aus der Ver\u00e4nderung von Muskel- und Innervationsempfindungen, deren Verh\u00e4ltnisse bereits bei den Bewegungsvorg\u00e4ngen nicht erm\u00fcdeter Muskeln durchaus strittig sind. Da sie ein subjectives Geschehen enthalten, steht es den Psychologen durchaus zu, die Analyse der Empfindungsvorg\u00e4nge bei. der Erm\u00fcdung, oder k\u00fcrzer gesagt, die Erm\u00fcdungsempfindungen als zu ihrem Arbeitsgebiet geh\u00f6rig zu betrachten. Es m\u00f6chte auch scheinen, dass die Bearbeitung derselben ebenso interessant wie ersprie\u00dflich sein k\u00f6nne, interessant, indem m\u00f6glicherweise von Psychologen von ihrem Gebiete aus ein tieferer Einblick in die Fragen der Muskelsensibilit\u00e4t gewonnen werden k\u00f6nnte, ersprie\u00dflich, weil vielleicht andere Gebiete von einer sorgf\u00e4ltigen psychologischen Analyse dieser Vorg\u00e4nge Nutzen ziehen k\u00f6nnten; es sei hier nur auf die abnormen Erm\u00fcdungsvorg\u00e4nge bei der Neurasthenie hingewiesen. Dass diese Empfindungsvorg\u00e4nge f\u00fcr das Ergogramm in Betracht kommen, hatMosso selbst ausgesprochen: \u00bbLorsqu\u2019on travaille avec un poids qui n\u2019est pas tr\u00e8s consid\u00e9rable, on sent que, tout d\u2019abord, on atteind le maximum de flexion sans-que les muscles aient fait tout l\u2019effort dont ils sont capables; et en dernier lieu lorsqu\u2019on est fatigu\u00e9, on ne r\u00e9ussit plus, malgr\u00e9 tous ses efforts, \u00e0 soulever le poids. Il n\u2019est donc pas possible d\u2019\u00e9tablir une comparaison exacte entre la premi\u00e8re et la derni\u00e8re partie de la courbe. Toutefois, m\u00eame dans ces conditions, c\u2019est-\u00e0-dire, lorsque les poids sont tels que pour","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nKobert M\u00fcller.\naccomplir une \u00e9l\u00e9vation maxima, il n\u2019est pas besoin d\u2019un effort maximum, on peut encore obtenir des trac\u00e9s r\u00e9guliers et utiles pour l\u2019\u00e9tude de la fatigue si l\u2019on cherche \u00e0 maintenir constant l\u2019effort de la volont\u00e9 jusqu\u2019\u00e0 l\u2019\u00e9puisement de la force musculaire\u00ab (Mosso p. 130). Von dieser \u00bbsubjectiven\u00ab Erm\u00fcdung ist also die physiologische, welche auf Stoffwechselvorg\u00e4ngen des Muskels und eventuell der nerv\u00f6sen Substanzen beruht, zu trennen ; f\u00fcr die Untersuchung dieser letzteren ist eigentlich der Ergograph construirt, er gen\u00fcgt aber nicht zur L\u00f6sung aller dahin geh\u00f6rigen Fragen, er ist nur anzuwenden in Verbindung mit den \u00fcbrigen Methoden der allgemeinen Bewegungsphysiologie.\nDie Identificirung der subjectiven Erm\u00fcdung mit den physiologischen Erm\u00fcdungserscheinungen ist, wie gesagt wurde, von vorherein unstatthaft; dass beide in enger Beziehung mit einander stehen, ist sicher, aber die Beobachtung, z. B. hei Hysterischen und Maniakali-schen und Katatonikern zeigen ebensowohl wie die methodischen Ueberlegungen, dass eine unmittelbare Identificirung beider nicht statthaft ist. So kommt man zu den rein psychologischen Fragestellungen: 1) Wie verhalten sich die Erm\u00fcdungsempfindungen bei der Muskelerm\u00fcdung zu andersartigen Erm\u00fcdungsvorg\u00e4ngen (etwa der Erm\u00fcdung durch intellectuelle Th\u00e4tigkeit) ? und 2) wie verh\u00e4lt sich der als Anstrengung bezeichnete Complex von Empfindungs- und Willensvorg\u00e4ngen (?) zu den Componenten in den Erm\u00fcdungsempfindungen, sind diese selbst verst\u00e4rkte Innervationsempfindungen (?) oder von der Peripherie aus bedingt?\nMit der zweiten Frage ist dann unmittelbar die verkn\u00fcpft, ob die Erm\u00fcdungsempfindungen eine Ver\u00e4nderung von Bewegungsempfindungen enthalten.\nDiese Untersuchung der Empfindungsvorg\u00e4nge bei der Erm\u00fcdung ist, wie es scheint, einer der wenigen directen Wege, um an die Frage der centralen Erm\u00fcdung \u00fcberhaupt mit einer zuverl\u00e4ssigen Handhabe heranzutreten, und diese subjective Methode ist keineswegs uninteressant oder bedeutungslos: \u00bbWir haben unsere Sinnesempfindungen so ausgibig ben\u00fctzt, um unsere Au\u00dfenwelt zu erkennen und sie uns dienstbar zu machen, ben\u00fctzen wir sie nun auch, um das stoffliche Geschehen unseres eigenen K\u00f6rpers zu erforschen, indem wir mit ihrer H\u00fclfe zuv\u00f6rderst das untersuchen, was wir nicht, wie","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Mosso\u2019s Ergographen.\n29\ndie Au\u00dfendinge, nur mittelbar sondern unmittelbar empfinden, n\u00e4mlich den Stoffwechsel unseres Nervensystems\u00ab1). Dieses unmittelbare Erleben der fortschreitenden Dissimilationsvorg\u00e4nge gerade im Zusammenh\u00e4nge mit Bewegungsvorg\u00e4ngen der der Willk\u00fcr unterworfenen Muskulatur ist, wie man vielleicht vermuthen darf, bei den subjects gegebenen Empfindungsvorg\u00e4ngen bei der Erm\u00fcdung vorhanden.\nOb der Ergograph dazu brauchbar ist, Ermittelungen \u00fcber den Vorgang der willk\u00fcrlichen Innervation selbst zu geben, das zu entscheiden wird wohl nach den vorhergehenden Ausf\u00fchrungen kaum verlangt werden. Die Nichtidentit\u00e4t der willk\u00fcrlichen motorischen Muskelth\u00e4tigkeit mit der nach elektrischer Beizung ist auf Grund mannigfacher pathologischer und physiologischer Erfahrungen \u00fcberaus wahrscheinlich2), und auch K\u00fchne3) sagt, dass die elektrischen Innervationshypothesen auf sehr schwachen F\u00fc\u00dfen stehen; darauf sei hier nur fl\u00fcchtig hingewiesen.\nDaraus geht wohl hervor, dass eine Beihe von Fragen existirt, f\u00fcr welche die Einf\u00fchrung muskelphysiologischer Methoden und die Benutzung derselben vom Standpunkte der experimentellen Psychologie wohl w\u00fcnschenswerth w\u00e4re, denn ich stehe nicht an, die experimentelle psychologische Analyse der willk\u00fcrlichen Bewegung als eine der wichtigsten, weittragendsten und auch aussichtsreichsten Aufgaben dieser Wissenschaft zu bezeichnen.\nDie dazu nothwendige umsichtige Ausarbeitung und Benutzung der Methodik wird dann aber wohl dazu kommen, weitere ganz andersartige H\u00fclfsmittel heranzuziehen, die geeignet sein m\u00f6gen, die mittelst des Ergographen nur schwierig zu bearbeitenden Fragen unter g\u00fcnstigeren Verh\u00e4ltnissen in Angriff zu nehmen.\n1) Hering, Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wissenschaften Wien. LXIX. III. Abth. S. 189.\n2} Z. B. Versuche von Prey er, wiederholt und best\u00e4tigt von Schiff, Claude Bernard (Revue des cours scientif. 1865. Nr. XV. p. 244) u. a.\n3) K\u00fchne, Untersuchungen aus dem physiolog. Institut der Universit\u00e4t Heidelberg. HI. Heft 1. S. 88 ff.","page":29},{"file":"p0184s0001table1.txt","language":"de","ocr_de":"Wundt, Philosophische Studien. XV\u00ef\u00ef.Band.\nTaf.l.\n\nFig. 1. Belastung 5 kg. 68 Hebungen in der Minute. Isolirte Faradisirung des Anconaeus und Fl \u00e4xor carpi ulnaris,\nFig. 2. Bei der oberen Curve 47 Hebungen in der Minute, bei der unteren 82 Hebungen, bei bei Beschaffenheit der Curven zu zeigen, die den vorliegenden Er\u00f6rterungen zu Grunde liegen. Die Form der Gi Anfangstheilen der Curven, r\u00fchren von Schleuderungen her. Der zweite Theil der unteren Curve zeigt zugleich d\nm eine Belastung von 5 kg. Diese Curven werden beigegeben, um die allgemeine illinie ist eine f\u00f6rmige. Die spitzen Zacken an der Fusslinie, namentlich in den Perioden, die Warren P. Lombard, Archives italiennes XIII. p. 371\u2014381, behandelt hat.\nVerlag v. Wilhelm Engelmaim inLeipr\nLifti.Anst. Julius Hinidiardt,Leipzig.","page":0}],"identifier":"lit4554","issued":"1901","language":"de","pages":"1-29","startpages":"1","title":"Ueber Mosso\u2018s Ergographen mit R\u00fccksicht auf seine physiologischen und psychologischen Anwendungen","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:24:16.315815+00:00"}