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{"created":"2022-01-31T14:24:51.627287+00:00","id":"lit4562","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"H\u00e4nig, David P.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 17: 576-623","fulltext":[{"file":"p0576.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\nYon\nD. P. H\u00e4nig.\nMit 7 Figuren im Text.\nDie Untersuchungen \u00fcber den Geschmackssinn, welche Friedrich Kiesow1) 1892 bis 1894 im Leipziger psychologischen Institute auf Wundt\u2019s Anregung und unter seiner Leitung ausgef\u00fchrt hat, bilden die erste Arbeit \u00fcber dieses Sinnesgebiet vom Standpunkte der experimentellen Psychologie aus. Alle Einzelprobleme, die man innerhalb eines Specialsinnes nach der Betrachtungsweise der physiologischen Psychologie aufzuwerfen pflegt, hat Kiesow in Erw\u00e4gung gezogen und auf Grund eines sorgf\u00e4ltig gesammelten und reichen Beobachtungsmaterials zu l\u00f6sen gesucht. Nur die Frage nach den Beactionszeiten auf die verschiedenen Geschmackseindr\u00fccke hat er unter Hinweis auf die Versuche Schirmer\u2019s2), v. Vintschgau\u2019s und H\u00f6nigschmied\u2019s3) aus dem Kreise seiner experimentellen Untersuchungen ausgeschaltet, obgleich er eine Nachpr\u00fcfung derselben in B\u00fcck sicht auf den von Ludwig Lange4) erkannten Unterschied der sensoriellen und muscul\u00e4ren Beaction f\u00fcr w\u00fcnschenswerth h\u00e4lt.\nDiese geschichtliche Bemerkung soll von vornherein andeuten, dass die gegenw\u00e4rtige Arbeit, welche im n\u00e4mlichen Institute unter der f\u00f6rdernden Leitung Wundt\u2019s entstanden ist, in Ankn\u00fcpfung an Kiesow\u2019s Leistung nur einen bescheidenen erg\u00e4nzenden Charakter\n1)\tBeitr\u00e4ge zur physiolog. Psychologie des Geschmackssinnes. Philos. Stud. X, XII.\n2)\tNonnullae de gustu disquisitiones. 1856.\n3)\tVersuche \u00fcber die Reactionszeit einer Geschmacksempfindung. Archiv \u00a3 d. ges. Physiol. X, 1875, S. 1\u201448; XIV, 1875, S. 529\u2014592.\n4)\tWundt, Physiol. Psychol., 4. Anfl., II, S. 309.","page":576},{"file":"p0577.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n577\nhaben kann. Nicht minder gilt diese Einschr\u00e4nkung auch von der Heranziehung der neueren Literatur, die auf die Psychophysik des Geschmackssinnes irgendwie Bezug nimmt.\nIn dem Oapitel von der Intensit\u00e4t der Geschmacksempfindung hat Kiesow1) das minimum perceptibile f\u00fcr die anerkannten vier Geschmacksqualit\u00e4ten nur an exponirten Stellen des schmeckenden Organs durch l\u00e4ngere Versuchsreihen festgestellt und zwar f\u00fcr die Zungenspitze, die Zungenhasis und die Mitte der Zungenr\u00e4nder. Es erhebt sich nun die Frage, in welchem Grade auch die \u00fcbrigen schmeckenden Tlieile der Mundh\u00f6hle auf Geschmacksreize reagiren, oder im engeren Anschl\u00fcsse an die Sprache der physiologischen Psychologie wird sich die noch zu erledigende Aufgabe pr\u00e4ciser so formuliren lassen: Ermittelung der Beizschwellen an allen perceptionsf\u00e4higen Punkten des schmeckenden Organs f\u00fcr jede specifi-sche Geschmacksqualit\u00e4t. In der Beantwortung dieser Frage erblickt die gegenw\u00e4rtige Abhandlung ihr eigentliches Ziel. Um diesen Kernpunkt krystallisiren sich theils aus versuchstechnischen Gr\u00fcnden mancherlei unumg\u00e4ngliche Vorer\u00f6rterungen, theils zeitigte auch die experimentelle Bearbeitung der Hauptfrage mittelbare Resultate, die f\u00fcr die Erkenntniss des fraglichen Sinnesgebietes nicht ganz belanglos sein d\u00fcrften. Wenn der Beobachter die Reizschwellen in dem angedeuteten Umfange ermitteln will, so muss er zuvor die r\u00e4umliche Ausbreitung des Geschmacksorgans hei jeder Versuchsperson erst genau pr\u00fcfen. Erheischt schon die gro\u00dfe individuelle Verschiedenheit in der Entwicklung der niederen Sinne diese Vorversuche, so umgrenzen doch sie erst das Arbeitsfeld f\u00fcr die Feststellung der Schwellenwerthe. Zugleich d\u00fcrfte eine wiederholte Untersuchung \u00fcber die \u00f6rtliche Verbreitung der schmeckenden Elemente in der Mundcavit\u00e4t neben der methodischen bis zu einem gewissen Grade auch eine selbst\u00e4ndige Bedeutung beanspruchen, herrscht doch \u00fcber diese Frage, wie wir noch des N\u00e4heren sehen werden, unter den Physiologen wie Psychologen durchaus noch keine unbestrittene Uebereinstimmung. Implicite schlie\u00dft die Ermittlung der Reizschwellen f\u00fcr die einzelnen Geschmacksqualit\u00e4ten zugleich auch eine Untersuchung der qualitativen Mannigfaltigkeit des Geschmackssinnes \u00fcberhaupt ein.\n1) Philos. Stud., X, S. 362 fg.","page":577},{"file":"p0578.txt","language":"de","ocr_de":"578\nD. P. H\u00e4nig.\nAuch hier\u00fcber gehen die Ansichten noch weit auseinander. Die vorliegenden psychophysischen Versuche haben wohl nach dieser Seite gar mancherlei empirisches Material ergehen, welches auf die Erkenntnis des Qualit\u00e4tensystems des Geschmackssinnes einiges Licht wirft aber eine definitive Antwort wird auch auf Grund dieser Ergebnisse f\u00fcr das Qualit\u00e4tenproblem nicht m\u00f6glich sein.\nNach dieser orientirenden Uebersicht \u00fcber den Gegenstand wird sich diese Abhandlung zun\u00e4chst mit einer kurzen Darlegung der Versuchsanordnung besch\u00e4ftigen. Daran schlie\u00dft sich die Ermittlung der geschmackempfindenden Regionen in der Mundh\u00f6hle. Als dritten Gegenstand behandelt sie das Qualit\u00e4tensystem des Geschmackssinnes, und das vierte Oapitel befasst sich mit der Intensit\u00e4t der fraglichen Empfindung. Zum Schl\u00fcsse erfolgt eine kurze Beleuchtung der gewonnenen Resultate vom Standpunkte der Entwicklungsgeschichte und der mikroskopischen Anatomie.\nErstes Capitel.\nDie Versuchsanordnung.\nDie vorliegenden Versuche sind, wie schon erw\u00e4hnt wurde, im psychologischen Institute der Universit\u00e4t Leipzig ausgef\u00fchrt worden. Als Versuchszeiten habe ich vier Semester hindurch die Nachmittagsstunden von 3 bis 5 Uhr streng eingehalten, um die Constanz der \u00e4u\u00dferen Bedingungen zu wahren. Wenn der Zustand der S\u00e4ttigung oder der N\u00fcchternheit nach Jo dl1) den Geschmack alterirt, so wird der Versuchsleiter darauf bedacht sein m\u00fcssen, dass diese etwaige Tr\u00fcbung der Versuchsergebnisse wenigstens relativ dieselbe bleibt. Das ist nun dadurch angestrebt worden, dass die Experimente stets in gleichen zeitlichen Distanzen vom Mittagsmahle vorgenommen worden sind. Nur unter dieser Voraussetzung k\u00f6nnen die Versuchsresultate der verschiedenen Beohachtungstage auf einander bezogen und unter einander verglichen werden. In der Auswahl der Geschmacksstoffe habe ich mich den Erfahrungen Kiesow\u2019s2) angeschlossen; L\u00f6sungen von 10^ Sacch. alb., 10% Na CI, 0,2% HCl und 0,1% Chin. suif, sind f\u00fcr die Schwellenermittlung wohl geeignete\n1)\tJodl, Lehrbuch der Psychologie 1896, S. 271.\n2)\tPhilos. Stud. X, S. 339.","page":578},{"file":"p0579.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n579\nGrundmischungen. Diese Substanzen haben den nicht zu untersch\u00e4tzenden Vorzug, dass bei ihrer Application der r\u00e4umlich so nahe Geruchssinn nicht zugleich mit erregt wird, und dass sie m\u00f6glichst einfache reine Geschmacksempfindungen ausl\u00f6sen. Dr. B\u00f6hrig hat mir in seinem Laboratorium je nach Bedarf diese Grundmischungen hergestellt mit genauer Angabe des Mischungsverh\u00e4ltnisses. Mit H\u00fclfe der \u00fcblichen chemischen Messinstrumente war es dann leicht, die erforderlichen Verd\u00fcnnungen, deren Abstufungen nat\u00fcrlich kleiner sein mussten als die Unterschiedsschwelle der Beize1), davon zu gewinnen. Da sich mit der Geschmacksempfindung au\u00dfer den schon erw\u00e4hnten Geruchsempfindungen auch Qualit\u00e4ten des allgemeinen Sinnes compliciren, so suchte ich wenigstens nach Kiesow\u2019s2) Vorgehen die st\u00f6renden Temperaturempfindungen zu eliminiren, indem ich die Beizfl\u00fcssigkeit m\u00f6glichst in der Eigentemperatur des K\u00f6rpers verabreichte. Allzu peinliche Sorgfalt3) in diesem Punkte erwies sich aber im Verlaufe der Untersuchungen als \u00fcberfl\u00fcssig; denn geringe Temperaturabweichungen der objectiven Beizmittel von der Blutw\u00e4rme beeinflussen die Apperception der Geschmacksempfindung nicht, zumal nur eine ganz kleine Fl\u00e4che von der Beizfl\u00fcssigkeit ber\u00fchrt wird. In einem flachen mit Wasser gef\u00fcllten Gef\u00e4\u00dfe erhielt ich die Fl\u00e4schchen mit den Geschmacksstoffen \u00fcber einer regulirbaren Gasflamme in gleicher Temperatur. Damit die Erw\u00e4rmung oder Abk\u00fchlung der Beizmittel durchaus gleichm\u00e4\u00dfig vor sich gehen sollte, wurden ihre Gef\u00e4\u00dfe gleich gro\u00df gew\u00e4hlt, auch enthielten sie immer die gleichen Quantit\u00e4ten. Temperaturschwankungen innerhalb einer Versuchsreihe wirken allerdings ablenkend auf die Apperception ein. Wenn sich nun auch die St\u00f6rungen der Temperaturempfindungen bei den Geschmacksversuchen objectiv ausscheiden lassen, so ist das nicht in gleicher Weise m\u00f6glich mit den Tastempfindungen im engeren Sinne, die sich constant mit Geschmackseindr\u00fccken verbinden. Die Versuchspersonen erreichen aber bald den Grad der Uebung, auf welchem sie mit Sicherheit von den begleitenden Tastempfindungen ab-strahiren k\u00f6nnen, kommt doch dieser Ein\u00fcbung die unserem Bewusstsein\n1)\t\"Wundt, Physiolog. Psychologie, 4. Aufl., I, S. 336. Eechner, Elemente der Psychophysik, I, S. 242.\n2)\tPhilos. Studien, X, S. 331.\n3)\tPhilos. Studien, XII, S. 465.\nW u n dt, Philos. Studien. XVII.\n38","page":579},{"file":"p0580.txt","language":"de","ocr_de":"580\nD. P. H\u00e4nig.\nimmanente Eigenschaft, nach welcher sich die Apperception i) auf einen m\u00f6glichst eng begrenzten Inhalt zu beschr\u00e4nken pflegt, f\u00f6rdernd ent gegen.\nEine nicht unwesentliche Verz\u00f6gerung erfahren aber die Q-e schmacksversuche durch Umst\u00e4nde, die in der Natur des fraglichen Sinnes seihst begr\u00fcndet liegen, indem hei ihm die physiologische Reizung die \u00e4u\u00dfere Reizeinwirkung verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig lange \u00fcberdauert. Die Nachwirkungen des einen Eindrucks m\u00fcssen nun selbstverst\u00e4ndlich erst erloschen sein, ehe ein neuer erfolgen kann. Die Zwischenzeiten sucht man durch Aussp\u00fclen des Mundes \u2014 zun\u00e4chst mit Leitungswasser und danach mit destillirtem Wasser \u2014 m\u00f6glichst zu verk\u00fcrzen. Hinsichtlich der Temperatur muss das Reinigungswasser mit den Schmecksuhstanzen durchaus \u00fcbereinstimmen; diesem Momente hat der Versuchsleiter immer seine Aufmerksamkeit zuzuwenden ; denn es handelt sich dabei um die Reizung gro\u00dfer Fl\u00e4chen, und mit der Gr\u00f6\u00dfe der Reizfl\u00e4chen verfeinert sich die Unterschieds-empfindlichkeit f\u00fcr Temperaturschwankungen. Durch einen Bunsenbrenner erhielt ich mir ein gr\u00f6\u00dferes Gef\u00e4\u00df mit Wasser in gleicher Erw\u00e4rmung wie die Reizfl\u00fcssigkeit.\nWas die Application der Geschmacksstoffe anbelangt, so m\u00f6chte ich hierzu bemerken, dass ich zu meinen ersten Versuchen ein zugespitztes Tropfr\u00f6hrchen mit Gummischluss benutzte. Im Verlaufe der Experimente bew\u00e4hrte sich aber dieses H\u00fclfsmittel nicht, so geeignet es sonst sein mag, wenn man r\u00e4umlich weit entfernte Stellen der Mundh\u00f6hle auf ihre Intensit\u00e4t f\u00fcr Geschmackseindr\u00fccke pr\u00fcfen will. Die Quantit\u00e4t der Reizfl\u00fcssigkeit, die hei dem Drucke auf den Gummiverschluss ausstr\u00f6mt, ist immerhin nicht unbedeutend; dazu kommt noch, dass die Substanzen in den Speichel diffundiren, in Folge dessen wird mit diesem Instrumente eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gro\u00dfe Fl\u00e4che des Organs zugleich afficirt. Mein Bestreben musste vielmehr darauf gerichtet sein, Geschmackseindr\u00fccke ann\u00e4hernd punktueller Art zu erzeugen. Auch hat es der Experimentator mit dem Glasr\u00f6hrchen nicht v\u00f6llig in seiner Gewalt, innerhalb einer Versuchsreihe stets identische Stellen der Zunge zu treffen. Feine Haarpinsel erwiesen sich f\u00fcr meine Zwecke wesentlich brauchbarer. Ich verwandte\n1) Wundt, Physiolog. Psychologie, 4. Aufl., II, S. 267.","page":580},{"file":"p0581.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n581\nsolche mit 2,5 mm Durchmesser am Kiele und 8 mm L\u00e4nge. An jedem Yersuchstage kamen so viel gleich gro\u00dfe Pinsel in Gebrauch, als Fl\u00fcssigkeiten verwendet wurden. An jedem Pinselstiele war in entsprechender H\u00f6he eine kleine Querleiste angebracht, die auf dem Flaschenhalse ruhte, damit der Pinsel freischwebend in der Schmecksubstanz hing. Die Spitzen legen sich unter dem Eigengewichte des Pinsels gar leicht um, die damit betupften Stellen, wie die ausflie\u00dfenden Stoffinengen fallen dann verschieden aus und st\u00f6ren die Einheit der Messung.\nS\u00e4mmtliche Versuche sind mit Ausschluss des Gesichtssinnes am ruhenden Geschmacksorgane vorgenommen worden. Nicht geringe M\u00fche verursachte es anfangs den Betheiligten, die triehartige Bewegung zu unterdr\u00fccken, welche die Zunge auszuf\u00fchren bestrebt ist, sobald ein Geschmacksreiz einwirkt. Mit der gro\u00dfen Bereitwilligkeit, mit der die Herren Institutsmitglieder an den f\u00fcr sie vielleicht recht monotonen Experimenten theilnahmen, fanden sie sich auch noch in diese Entsagung, ohne die eine Constanz der Versuchsbedingungen nicht gut m\u00f6glich war. Gleich an dieser Stelle will ich auch den Herren Alechsieff, Bader, Bergemann, Linke, Dr. Moebius, Dr. Orestano und Wictoroff f\u00fcr ihre treue Mitarbeit an diesem Unternehmen meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Es er\u00fcbrigt noch, zu bemerken, dass alle Experimente bei unwissentlichem Verfahren ausgef\u00fchrt worden sind. Um unliebsame Wiederholungen zu vermeiden, wird erst das IV. Capitel \u00fcber die Protokollform, weil sie mit der Behandlung der Hauptfrage gleichsam organisch verbunden ist, den erforderlichen Aufschluss bringen. Die einzelnen Theilnehmer dieser Uebungen wurden an jedem Versuchstage ca. 30 Min. in Anspruch genommen. Sobald man die Experimente an der n\u00e4mlichen Person \u00fcber diese Zeit hinaus ausdehnt, werden die .Resultate durchaus unsicher und entfernen sich allzu weit von dem wahrscheinlichen Durchschnittswerthe, eine Erscheinung, die sicherlich in peripherischer Erm\u00fcdung ihre Ursache hat. Selbst innerhalb dieser kurzen Versuchszeit ist es rathsam, die Reizordnung m\u00f6glichst zu variiren, einmal erh\u00e4lt man dadurch die peripherischen Endorgane eher ungeschw\u00e4cht perceptionsf\u00e4hig, zum andern verh\u00fctet man auch, dass die Aufmerksamkeit in v\u00f6llig eindeutiger Richtung mechanisch auf die Greschmacksreize reagirt. Unter den psychophysischen Ma\u00dfmethoden\n38*","page":581},{"file":"p0582.txt","language":"de","ocr_de":"582\nD. P. H\u00e4nig.\neignet sich f\u00fcr die Reizschwellenbestimmung innerhalb des Geschmacks sinnes keine besser, als die der Minimal\u00e4nderung, weil sie direct ver-werthbare Resultate liefert. Freilich muss der Experimentator fjq. dieses Sinnesgebiet auf die Feinheit der Schwellenbestimmung verzichten, die hei den h\u00f6heren Sinnen und dem Tastsinne der \u00e4u\u00dferen Haut durch Wundt\u2019s1) Ausgestaltung der Methode dadurch m\u00f6glich wird, dass die Minimalreize als Mittelwerthe einer auf- und absteigenden Reihe gewonnen werden. Die Nachwirkung der Geschmacksreize dauert relativ lange, und hei der absteigenden Reihe liegt in Folge dessen die Reizschwelle wesentlich tiefer als in der aufsteigenden.\nZweites Capitel.\nDie r\u00e4umliche Verbreitung der Schmeckf\u00e4higkeit in der\nMundh\u00f6hle.\nEs gibt wohl kaum eine Stelle in Mundh\u00f6hle und Rachen, der die Physiologie im Laufe der Zeit nicht einmal Schmeckf\u00e4higkeit zugeschrieben h\u00e4tte. Die Controversen \u00fcber das periphere Geschmacksorgan haben v. Vintschgau2) und Kiesow3) ersch\u00f6pfend dargelegt. Heute ist man wohl darin einig, dass bei dem Erwachsenen neben der Zungenoberfl\u00e4che, ausschlie\u00dflich ihrer Mittelregion, der weiche Gaumen, das Gaumensegel mit dem Z\u00e4pfchen, die vorderen Gaumenbogen und die Tonsillen am Geschmacksprocesse theilnehmen, fragw\u00fcrdig ist noch die Mitwirkung des harten Gaumens und der unteren Seite der Zungenspitze. Kiesow4) hat unter sieben einen Reagenten gefunden, der mit dem harten Gaumen alle vier specifischen Geschmacksqualit\u00e4ten wahrnahm. Merkw\u00fcrdig ist aber doch, dass gerade bei dieser Versuchsperson der weiche Gaumen g\u00e4nzlich versagte, ein Umstand, den Kiesow bei seinen Bemerkungen \u00fcber Anomalien im Gebiete des Geschmackssinnes v\u00f6llig \u00fcbergeht. Drei Reagenten der Kiesow\u2019sehen5) Gruppe percipirten auch mit der unteren Seite der\n1)\tWundt, Physiolog. Psychologie, 4. Aufl., I, S. 336\u2014341 ff.\n2)\tHermann, Handbuch d. Physiologie, III, 2, S. 154 ff.\n3} Philos. Studien, X, S. 333 ff. Yergl. Landois, Lehrbuch der Physiologie d. Mensehen. 8. Aufl., S. 982\u2014983. Oehrwall, Untersuchungen \u00fcber den Ge_ schmackssinn. Skand. Arch. f. Physiol., H, S. 4 ff.\n4)\tPhilos. Studien, X, S. 340 f.\n5)\tEbenda.","page":582},{"file":"p0583.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n583\nZungenspitze ohne qualitative Beschr\u00e4nkung. Obwohl die Abgrenzung der schmeckenden Zonen des Mundraums f\u00fcr die Ermittlung der Beizschwellen nur mittelbares Interesse hat, so n\u00f6thigten mich gerade diese Abweichungen, die gesammte Mundcavit\u00e4t mit \u00fcbermerklichen Reizstoffen planm\u00e4\u00dfig abzutasten, um wenigstens das empirische Material \u00fcber den fraglichen Punkt zu vermehren und zu erg\u00e4nzen. In die tabellarische Uebersicht habe ich die Resultate \u00fcber die Geschmackspr\u00fcfung an Lippen, Zahnfleisch und Wangenschleimhaut gar nicht erst aufgenommen, diese Theile sind nun wohl endg\u00fcltig aus der Reihe der Geschmackstr\u00e4ger ausgeschieden.\n{+ = Perception* vorhanden.\n0 = Perception fehlt.\n\u2014 = Versuch unaust\u00fchrbar oder misslungen.\n1. Sttf\u00e4.\n\t3\tc\u00e9 M\tBerg.\tt4\tDr. M.\tDr. 0.\t\u00a3\nPalatum durum\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nPalatum molle\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nVelum palatinum\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nUvula\t+\t+\t~b\t+\t\u2014\t+\t+\nArcus palato-glossus\t+\t+\t+\t+\t+\tH\u201c\t+\nTonsillen\t\u2014\t+\t+\t+\t\u2014\t+\t\u2014\nZungenmitte\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nUntere Seite der Spitze\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\n2. Salzig.\n\t*4\tc\u00e9 eq\tBerg.\ti4\tDr. M.\tDr. 0.\t\u00a3\nPalatum durum\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nPalatum molle\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nVelum palatinum\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nUvula\t+\t+\t+\t+\t\u2014\t+\t+\nArcus palato-glossus\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nTonsillen\t\u2014\t+\t+\t+\t\u2014\t+\t\u2014\nZungenmitte\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nUntere Seite der Zunge\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0","page":583},{"file":"p0584.txt","language":"de","ocr_de":"584\nI). P. Haiti g1.\n3. Saner.\n\t3\td PQ\tPQ\t\u00e0\tDr. M.\tDr. 0.\tN\nPalatum durum\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nPalatum molle\tH-\t+\t+\t+\t+\t+\tH\"\nVelum palatinum\t+\t+\t-h\t+\t+\t\"f*\t+\nUvula\t+\t+\t+\t+\t\u2014\t+\t\u2014\nArcus palato-glossus\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nTonsillen\t\u2014\t+\t\u2014\t+\t\u2014\t+\t\u2014\nZungenmitte\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nUntere Seite der Spitze\t\t\t1\t\t\t\t\n4. Bitter.\n\t3\td pp\t\u00a3 <D PP\t\u25ba4\tDr. M. I\tDr. 0. I\t\u00a3\nPalatum durum\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nPalatum molle\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nVelum palatinum\t+\t+\t+\t+\t-1-\t+\t+\nUvula\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nArcus palato-glossus\t+\t+\t+\t+\t+\t+\t+\nTonsillen\t+\t+\t+\t+\t\u2014\t+\t+\nZungenmitte\t0\t0\t0,\t0\t0\t0\t~cT\nUntere Seite der Spitze\t0\t0\t0\t0\t0\t0\t0\nWie aus dieser Zusammenstellung hervorgeht, herrscht in Bezug auf die \u00f6rtliche Verbreitung der schmeckenden Elemente unter diesen Reagenten eine seltene Uebereinstimmung, gewiss ein erfreuliches Resultat f\u00fcr einen gen\u00fcgsamen Interpreten. Unter den sieben Versuchspersonen war also nicht eine, deren harter Gaumen oder untere Zungenseite Geschmackssensationen vermittelte. Die Reizschwellenbestimmung kann darum diese Gebiete ungestraft vernachl\u00e4ssigen; sie wird sich au\u00dferdem noch weitere Einschr\u00e4nkungen auferlegen m\u00fcssen aus Gr\u00fcnden, die erst das IV. Cap. aufzuhellen vermag. Nach Kiesow\u2019s1) Vorgehen habe ich auch an Kindern, und zwar an\n1) Philos. Studien, X, S. 342\u2014343.","page":584},{"file":"p0585.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n585\n25 M\u00e4dchen im Alter von 10\u201411 Jahren, Parallelversuche \u00fcber die Schmeckf\u00e4higkeit gemacht; die vorl\u00e4ufigen Ergebnisse stimmen im allgemeinen mit den Kiesow\u2019sehen \u00fcberein, nur die Perceptions-f\u00e4higkeit der Wangenschleimhaut scheint mir auch im kindlichen Alter durchaus fraglich zu sein. Weil ich diese Experimente in gr\u00f6\u00dferen Zeitintervallen an den n\u00e4mlichen Kindern eine Reihe von Jahren hindurch systematisch fortsetzen will, so werde ich erst nach Abschluss derselben die Ergebnisse, falls sie f\u00fcr die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des Geschmackssinnes einige Bedeutung haben sollten, in einem besonderen Aufsatze ver\u00f6ffentlichen.\nDrittes Capitel.\nDie Qualit\u00e4ten des Geschmackssinnes.\n\u00bbWenn es auch noch nicht feststeht, welche Empfindungen zum Geschmack zu z\u00e4hlen sind, das ist jedenfalls unbestritten, dass S\u00fc\u00df und Bitter die reinsten Geschm\u00e4cke sind.\u00ab Dieser Satz ist einem Vortr\u00e4ge entnommen, den W. Sternberg1) in der f\u00fcnften Sitzung der Berliner physiologischen Gesellschaft 1898 gehalten hat. Kiesow\u2019s2) Zuversicht, die auch Oehrwall\u2019s3) Ueberzeugung f\u00fcr sich hat, dass n\u00e4mlich die Anerkennung des S\u00fc\u00dfen, Salzigen, Sauren und Bitteren als der vier Grundempfindungen des Geschmackssinnes pun endg\u00fcltig sei, wird demnach noch nicht allseitig getheilt. In seiner Abhandlung \u00bbUeber die Beziehung zwischen dem chemischen Bau der bitter und s\u00fc\u00df schmeckenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken\u00ab verr\u00e4th Sternberg4) weit deutlicher noch die kaum misszuverstehende Neigung, sich auf die Seite Valentin\u2019s, Zenneck\u2019s5) und v. Vintsch-gau\u2019s6) zu stellen und nur Bitter und S\u00fc\u00df als die einzig berechtigten speeifisch reinen Geschmacksqualit\u00e4ten zu proclamiren. Es ist immer\n1)\tSternberg, Geschmack und Chemismus. Archiv f. Physiol, u. Anatomie, physiol. Abth., 1899.\n2)\tPhilos. Studien, X, S. 523.\n3)\tOehrwall, Untersuchungen \u00fcber den Geschmackssinn. Skandinav. Archiv f. Physiologie, H, 1891, S. 6 ff.\n4)\tW. Sternberg, Archiv f. Physiologie u. Anatomie, physiol. Abth., 1899, Sitzungsberichte.\n5)\tZenneck, DieGeschmackserscheinungen, in: Kepertor. f. d.Pharmacie, 1839.\n6)\tH ermann, Handbuch der Physiologie, HI, 2, S. 190\u2014196.","page":585},{"file":"p0586.txt","language":"de","ocr_de":"586\nD. P. H\u00e4nig.\nwieder das Moment der begleitenden Tastempfindungen, welches Salzig und Sauer als einfache Geschmackssensationen in Misscredit bringt. Aber Kiesow1) hat dem gegen\u00fcber bereits mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass alle unsere Geschmackseindr\u00fcck\u00f6, auch S\u00fc\u00df und Bitter, von Tastempfindungen begleitet sind, eine Erscheinung die ich auch durch meine Wahrnehmungen voll best\u00e4tigt fand. Man kann nun doch nicht deshalb, weil sich mit H\u00fclfe unserer objectiven Reizmittel Sauer und Salzig nicht ohne aufdringliche Tastsensationen erzeugen lassen, diese beiden Empfindungsinhalte aus der Reihe der Geschmacksqualit\u00e4ten eliminiren. In anderen Sinnesgehieten2) sind uns ja die psychischen Elemente auch nicht als absolut einfache und unzerlegbare Bestandteile gegeben. Wer Salzig und Sauer als specifische Qualit\u00e4ten anzweifelt, m\u00fcsste sich doch auch positiv mit der Thatsache abfinden, dass unsere subjective Analyse aus Empfin-dungscomplexen unzweideutig Salzig und Sauer als nicht weiter definirbare, qualitativ selbst\u00e4ndige Bewusstseinsinhalte auffasst.\nEinem etwaigen Versuche, Salzig und Sauer aus den sogenannten reinsten Geschm\u00e4cken abzuleiten, begegnet man aber in der Wissenschaft auch da nicht, wo man den fraglichen Qualit\u00e4ten ihren Platz unter den Geschmacksempfindungen streitig machen m\u00f6chte. Selbst mit der vollwerthigen Anerkennung des Salzigen und Sauren wird man mit Ziehen3) noch immer bekennen m\u00fcssen, dass der Geschmackssinn qualit\u00e4tenarm ist. Nach Wundt\u2019s4 5) Auffassung scheint gerade die Armuth des Geschmackssinnes an specifischen Empfindungen mit dem Reichthume der von ihm ausgehenden mimischen Bewegungen zusammenzuh\u00e4ngen. Wenn Hermann6) meint, dass meist willk\u00fcrlich S\u00fc\u00df, Salzig, Sauer und Bitter als Elementargeschm\u00e4cke angenommen w\u00fcrden, so m\u00f6chte ich doch die Wucht der Erfahrung, mit der sich diese Empfindungen dem Bewusstsein auf dr\u00e4ngen, dem Scheine der Willk\u00fcr entgegenstellen.\nAnderseits erheben sich auch Stimmen6), die in den vier namhaft\n1)\tPhilos. Studien, X, S. 524\u2014525.\n2)\tWundt, Grundriss der Psychologie, 3. Aufl.. S. 33.\n3)\tLeitfaden d. physiol. Psychologie, 3. Auf!., S. 48.\n4)\tWundt, V\u00f6lkerpsychologie, I, 1, S. 115.\n5)\tLehrbuch der Physiologie, 12. Aufl. 1900, S. 490.\n6)\tJ o d 1, Lehrbuch der Psychologie, 1896, S. 272.","page":586},{"file":"p0587.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n587\ngemachten Qualit\u00e4ten wieder eine unwahrscheinliche extreme Vereinfachung erblicken; das seien nur die allgemeinsten und verbreitetsten Typen aus dem Reichthume der Wirklichkeit. Wenn man dieser Behauptung einen Sinn beimessen will, dann darf man sicherlich den Empfindungshegriff nicht als letzten, nicht weiter zerlegbaren ohjectiven Bestandtheil des psychischen Geschehens auffassen; im andern Falle w\u00fcrde wohl jeder experimentelle Beobachter einigerma\u00dfen in Verlegenheit gerathen, wie er den vermeintlichen Reichthum der schmeckenden Wirklichkeit erschlie\u00dfen und demonstriren sollte.\nNoch nicht v\u00f6llig gekl\u00e4rt ist die Frage, ob Alkalisch und Metallisch als Elementarempfindungen in das Qualit\u00e4tensystem des Geschmackssinnes aufzunehmen sind oder nicht. Zun\u00e4chst sei bemerkt, dass wir den beiden qualitativen Bezeichnungen vornehmlich in Publicatio-nen \u00fcber elektrische Geschmacksversuche1) begegnen; der Anodenschlie\u00dfungsgeschmack wird im allgemeinen als metallisch und der Kathodenschlie\u00dfungsgeschmack als hervorragend laugenhaft benannt. Auffallend ist dabei der Umstand, dass sich die Beobachter dieser Erscheinung hei der einfachen Benennung des Alkalischen und Metallischen nicht beruhigen, sondern sich in der H\u00e4ufung von Attributen nicht genug thun k\u00f6nnen, um die problematischen Empfindungen n\u00e4her zu bezeichnen, so z. B. metallisch-sauer-zusammenziehend oder deutlich-laugenhaft, auch bitter und brennend. Daraus kann man erkennen, wie schwierig es ist, diese eigenartigen Sensationen zu ana-lysiren und in einem ad\u00e4quaten Ausdrucke festzuhalten.\nIm Rahmen der vorliegenden Arbeit musste es darauf ankommen, durch directe Reizung alkalische und metallische Geschmackseindr\u00fccke zu erwecken. Zu diesem Zwecke applicirte ich zun\u00e4chst Natron- und Kalilauge in mannigfachen Concentrationsstufen. Aus der Reihe der Einzelurtheile, die \u00fcber die Qualit\u00e4t der auf diesem Wege ausgel\u00f6sten Empfindungen abgegeben wurden, w\u00e4hle ich folgende als charakteristisch aus :\nHr. Dr. M.: Stark salzig, hintennach bitter. Salzig und bitter-zusammenziehend.\nGanz eigenartige Empfindung, ich w\u00fcrde sie jederzeit wiedererkennen. Man muss die Empfindung gehabt haben, ich kann sie nicht ersch\u00f6pfend beschreiben.\n1) Franz Hofmann u. Rudolf Bunzel, Arch. f. d. ges. Physiol., LXVI. Els\u00e4sser u. M. v. Vintschgau, Arch. f. d. ges. Physiol., XX, S. 112\u2014114.","page":587},{"file":"p0588.txt","language":"de","ocr_de":"588\nD. P. H\u00e4nig.\nHr. Berg. : Salzig schmeckt vor, aber es ist noch etwas dabei. Salzig, vielleicht auch s\u00fc\u00df dabei und seifig. Es kann eine Mischung sein von salzi und s\u00fc\u00df. Brennend und stechend seifig s\u00fc\u00dflich.\nHr. W.: Vorwiegend salzig, vielleicht auch etwas s\u00fc\u00dflich und brennend Beim Aussp\u00fclen des Mundes bestimmt s\u00fc\u00df. Es ist kein reines Salz ja, wie soll ich mich ausdr\u00fccken.\nIn diesen Proben sind alle Varianten aus meinen Versuchs-protocollen vertreten.\nEingedenk der Kiesow\u2019schen1) Alternative: \u00bbEntweder ist das Alkalische keine besondere Geschmacksempfindung neben den \u00fcbrigen vieren, dann aber m\u00fcssen diese Eindr\u00fccke alle oder zum Theil in ihm enthalten sein, oder dies ist nicht der Pall, dann aber ist das Laugenhafte unabweisbar eine f\u00fcnfte Qualit\u00e4t\u00ab, habe ich durch Mischung bez\u00fcglicher Grundqualit\u00e4ten eine gleiche oder wenigstens gleichartige Empfindung zu erwecken gesucht. Da nun bei den meisten Reagenten Salzig und S\u00fc\u00df als Partialempfindungen in dem Totaleindrucke des Alkalischen am h\u00e4ufigsten wiederkehrten, habe ich in Anpassung an die individuellen Schwellenwerthe eine Mischung aus salzigen und s\u00fc\u00dfen Schmecksubstanzen applicirt. Aber jedesmal wurde die Sensation als salzig-s\u00fc\u00df und qualitativ verschieden von laugenhaft be-urtheilt. Im Fortgange der Untersuchungen habe ich dann die beiden Reizcomponenten minimal gegen einander verschoben, sobald aber die Unterschiedsschwelle des einen oder anderen Reizes dabei \u00fcberschritten wurde, lautete die Antwort: \u00bbUeberwiegend salzig mit zartem s\u00fc\u00dfem Beigeschmack\u00ab oder umgekehrt, es fehlte vor allem die eigenartige Tasterregung, welche den Totaleindruck des Alkalischen qualitativ modifieirt. Durch Zugabe einer kleinen Dosis Salzs\u00e4ure versuchte ich die adstringirende Begleiterscheinung zu st\u00e4rken; es gelang wohl ann\u00e4hernd, aber nie vollkommen, einen Eindruck zu erwecken, der bei streng unwissentlichem Verfahren mit den eingeschobenen laugenhaften Empfindungen identificirt worden w\u00e4re. Gleichwohl str\u00e4ubt sich auch unsere unmittelbare Erfahrung, das Alkalische als einfache, untheilbare Geschmacksempfindung anzuerkennen; der analytische Trieb f\u00fchlt sich immer veranlasst, den problematischen Eindruck in seine Componenten aufzul\u00f6sen, unter denen er Salzig, S\u00fc\u00df und Brennend deutlich erkennt. Anderseits kommen wir auch nicht davon\n1) Philos. Studien, X, S. 627.","page":588},{"file":"p0589.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n589\nab, dem gesammten Empfindungscomplexe, den wir alkalisch nennen, vor allen \u00fcbrigen Complicationen im Gebiete des Geschmackssinnes eine relative Selbst\u00e4ndigkeit zuzuschreiben. Mir scheint demnach das Alkalische eine in der Erfahrung gegebene Verschmelzung zu sein, die erst in Eolge der Verbindung von Geschmacks- und Tastelementen ihren specifischen Charakter erlangt. Hierbei wird man die Gef\u00fchlsseite am allerwenigsten \u00fcbersehen d\u00fcrfen. Sind im allgemeinen die einfachen Geschmacksempfindungen an Reinheit des Gef\u00fchlstones *) vor anderen ausgezeichnet, so trifft das nicht in demselben Ma\u00dfe zu f\u00fcr das Alkalische. Nach der subjectiven Seite wird der alkahsche Eindruck von einem Totalgef\u00fchle begleitet, das in R\u00fccksicht auf das Empfindungssubstrat als alkalisches Geschmacksgef\u00fchl bezeichnet werden k\u00f6nnte. Es hat seine ganz bestimmte, jederzeit wiederzuerkennende quahtative F\u00e4rbung; in dieser Gef\u00fchlsbetonung sichert sich wahrscheinlich das Alkalische unter allen Mischungserscheinungen des fraglichen Sinnes in der unmittelbaren Erfahrung eine so hervorragende Selbst\u00e4ndigkeit. Innerhalb des dreidimensionalen Gef\u00fchlssystems1 2) wird das alkahsche Geschmacksgef\u00fchl seine Stelle finden in der Richtung der Unlust, zugleich aber inclinirt es nach Seite der Erregung.\nTrotz einzelner experimenteller Anl\u00e4ufe haben sich mir \u00fcber das Metallische keine nennenswerthen Erfahrungen erschlossen ; so geneigt ich sein m\u00f6chte, a priori die im Vorstehenden entwickelte Ansicht \u00fcber das Alkahsche auch auf das Metalhsche zugleich mit auszudehnen, so muss ich begreiflicher Weise aus Mangel an empirischen Unterlagen damit zur\u00fcckhalten.\nInwieweit die vier Geschmacksqualit\u00e4ten mit ganz bestimmten physikahschen und chemischen Eigenschaften der Schmecksubstanzen in innerem Zusammenh\u00e4nge stehen, ist nach dem heutigen Stande der Forschung noch immer r\u00e4thselhaft. Dankenswerthe Ans\u00e4tze, das Dunkel aufzuhellen, hegen vor in den Arbeiten von H\u00f6her und Kiesow3), Th. Richards4), W. Sternberg5). Wie die Psychologie\n1)\tBemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle. Philos. Studien, XV, S. 166.\n2)\tWundt, Grundriss der Psychologie, 3. Aufl., S. 98.\n3)\tR. H\u00f6her u. Fr. Kiesow, Ueber den Geschmack von Salzen und Laugen. Zeitschr. f. physikal. Chemie, XXVII, 4, S. 601\u2014616.\n4)\tTh. Richards, Chem. Centralbl., 1898, I, S. 704. Original in: Americ. Chem. Journ., XX, p. 121 ff.\n5)\tSternberg, Beziehungen zwischen dem chemischen Bau der s\u00fc\u00df und","page":589},{"file":"p0590.txt","language":"de","ocr_de":"590\nD. P. H\u00e4nig.\ndes Geh\u00f6rs- und Gesichtssinnes durch die Physik umfassende Vorarbeit und stete F\u00f6rderung erfahren hat, so darf vielleicht die Psychologie des Geschmackssinnes erst noch auf eine gleichwerthige Unterst\u00fctzung durch die Chemie hoffen. Aber die Chemie w\u00fcrde sicher die Grenzen, die ihr durch den einseitigen Standpunkt naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise gezogen sind, \u00fcberschreiten, wenn sie von sich aus die Thatsachen der unmittelbaren Erfahrung innerhalb des Geschmackssinnes erkl\u00e4ren wollte. Als Chemiker schlie\u00dft Sternberg seine Analyse der Schmecksubstanzen mit dem theoretischen Satze, dass der Geschmack eine hervorragend constitutive Eigenschaft der Verbindungen sei, als Psycholog w\u00fcrde er in Verlegenheit ge-rathen, wenn er aus dieser These z. B. die Erscheinungen des Contrastes ableiten sollte. Die Sternberg\u2019schen Untersuchungen erstrecken sich bis jetzt nur auf die Qualit\u00e4ten S\u00fc\u00df und Bitter; zwischen diesen beiden ist nun gerade ein gesetzm\u00e4\u00dfiges Contrastverh\u00e4ltniss, soweit ich die einschl\u00e4gige Literatur \u00fcbersehen kann, nicht behauptet worden, sondern nur als individuelles Vorkommniss*), aber die Begr\u00fcndung, dass der Contrast deshalb bezweifelt werden d\u00fcrfte, weil das Molec\u00fcl der s\u00fc\u00df schmeckenden Verbindungen nicht grundverschieden von dem der bitter schmeckenden ist, muss der Psycholog als Erkl\u00e4rungsprincip entschieden abweisen.\nViertes Capitel.\nDie Intensit\u00e4t der Geschmacksempfindungen.\nBei der experimentellen Untersuchung des Geschmackssinnes wird der Psycholog unwillk\u00fcrlich versucht sein, best\u00e4ndig hin\u00fcberzublicken auf die wissenschaftliche Behandlung des Gesichtssinnes. Schon der chemische Charakter in der Transformation der \u00e4u\u00dferen Beize innerhalb beider Sinne l\u00e4sst im voraus ein solches Beginnen begreiflich erscheinen; dieser Uebereinstimmung ist es wohl zum Theil auch zuzuschreiben, dass aus dem wissenschaftlich ungleich mehr gef\u00f6rderten Sinnesgebiete eine fast parallele Problemstellung in die Psychophysik des Geschmackssinnes Eingang gefunden hat. Es sei hier nur daran\nbitter schmeckenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken. Archiv f-Physiol, u. Anatomie, physiol. Abth., 1898, S. 451\u2014483.\n1) Kiesow, Philos. Studien, X, S. 561.","page":590},{"file":"p0591.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n591\nerinnert, mit welcher Sorgfalt z. B. Kiesow den Spuren des Contrastes und Complementarismus der Geschmacksempfindungen nachgegangen ist, um diese Frage nach ihrer physiologischen wie psychologischen Seite in entsprechender Weise wie hei den Farbeneindr\u00fccken zu beantworten. In methodischer Beziehung wird der Experimentator durch eine solche Vergleichung seiner Specialaufgahe mit der Psychologie des Gesichtssinnes manche dankenswerthe F\u00f6rderung erfahren und sich zu gesteigerter Genauigkeit und Sorgfalt anspomen lassen. Freilich erwecken auch solche Vorerw\u00e4gungen hochgespannte Erwartungen, die in Wirklichkeit f\u00fcr dieses Sinnesgebiet gar nicht erreichbar sind. Als es galt, die Intensit\u00e4tsuntersuchung der Geschmacksempfindung in ihrer localen Bedingtheit am percipirenden Organe in Angriff zu nehmen, wurde der Arbeitsplan durch die experimentelle Untersuchung \u00fcber die Farbent\u00fcchtigkeit der Netzhaut beeinflusst. Die Ergebnisse der Beobachtungen \u00fcber die letztere haben bei Kirschmann1) und Hellpach2) einen treffenden graphischen Ausdruck in den Netzhaut-Isochromen gefunden.\nEs schien ein verlockendes Unternehmen zu sein, die Kenntniss \u00fcber die Geschmackst\u00fcchtigkeit der Zunge in qualitativer wie intensiver Beziehung in gleicher Weise sicher zu stellen. Wenn man alle Geschmackspunkte gleicher Sensibilit\u00e4t f\u00fcr jede Geschmacksart ermittelte und diese unter einander verb\u00e4nde, so m\u00fcsste ein System von Linien entstehen, welches Zonen gleicher Empfindlichkeit abgrenzte, und diese Curven k\u00f6nnten als Isochymen (von %v(i6s, Geschmack) den anschaulichen Ausdruck einer \u00e4hnlichen Thatsache bilden wie die Isochromen f\u00fcr die Netzhaut. Eine solche punktuelle Untersuchung des Geschmacksorganes schien vielleicht deswegen nicht ein durchaus abenteuerliches Streben zu sein, weil ja Oehrwall3) und nach ihm Kiesow4) eine gro\u00dfe Zahl von Geschmackspapillen in R\u00fccksicht auf das Gesetz der specifi-schen Energie der Sinne isolirt durchgepr\u00fcft haben. Solche Detailuntersuchungen brauchten ja nur mit Bezugnahme auf die Reizschwellen am Geschmacksorgane r\u00e4umlich allseitig fortgef\u00fchrt zu\n1)\tKirsch mann, Philos. Studien, VUE, S. 592 ff.\n2)\tHellpach, Philos. Studien, XV, S. 524 ff.\n3)\t0 ehr wall, Untersuchungen \u00fcber den Geschmackssinn. Skand. Archiv f. Physiol., II, S. 1 ff.\n4' Kiesow, Schmeckversuche an einzelnen Papillen. Phil. Stud. XIV, S. 591. ff.","page":591},{"file":"p0592.txt","language":"de","ocr_de":"592\nD. P. H\u00e4nig.\nwerden. Der Realisirung dieser Absichten stellten sich jedoch sofort Hindernisse in den Weg. Schon der Eeichthum der zug\u00e4ngigen Geschmackspapillen w\u00fcrde zu einer einmaligen Durchpr\u00fcfung an einem Reagenten eine Versuchsf\u00fclle erfordern, die, abgesehen von technischen Schwierigkeiten, lediglich in ihrem Umfange der Umsicht des Versuchsleiters und der Nachsicht des Beobachters schier un\u00fcberwindliche Zumuthungen auferlegte. Dabei ist noch gar nicht einmal bedacht, dass erst durch mannigfache gleichwerthige Wiederholungen der Experimente die erforderliche Grundlage f\u00fcr allgemeine Folgerungen zu gewinnen ist.\nNun kommt noch hinzu, dass die Zunge nach Form und Gr\u00f6\u00dfe gleichsam ein variables Organ ist, das sich nicht wie die Netzhaut als geometrisch constantes Gebilde behandeln l\u00e4sst. Auch muss der Psycholog des Geschmackssinnes auf Erleichterungen verzichten, wie sie in der Fernewirkung des Auges ihren Grund haben. Am Perimeter kann man gewisserma\u00dfen makrokosmisch die betreffenden Versuche ausf\u00fchren, die man durch Berechnung der entsprechenden Netzhautbilder mikrokosmisch verwerthen kann. Der Geschmackssinn ist aber in des Wortes engster Bedeutung ein Nahesinn. Bei Schmeckversuchen muss der Experimentator die Reize durch unmittelbare Ber\u00fchrung auf das Organ bringen, und noch dazu mit groben Instrumenten. Nach alledem wird von einer Feinheit der Versuchsf\u00fchrung wie in der Erforschung des chromatischen Sehens in den verschiedenen Regionen der Netzhaut in dem vorliegenden Sinnesgebiete nicht die Rede sein k\u00f6nnen. Gleichwohl haben diese Vorer\u00f6rterungen den Gang der Untersuchung dahin bestimmt, dass die Endergebnisse der Reizschwellenermittlung neben anderem auch einen graphischen Ausdruck gefunden haben, wenn auch nicht in Form eines Liniensystems, so doch in einem punktuellen schematischen Bilde \u00e4hnlicher Art, wie durch ein solches die politische Geographie die Bev\u00f6lkerungsdichtigkeit der einzelnen Landschaften darzustellen pflegt.\nJede Versuchsreihe der Schwellenermittlung ist gleich in der Weise vorgenommen worden, dass jedes Protocoll eine directe Vorarbeit f\u00fcr die letzte Zusammenstellung enthielt. Dazu entwarf ich mir von der m\u00e4\u00dfig vorgestreckten Zunge der Versuchsperson eine Oontourenzeichnung wie in Fig. 1. Allerdings weichen die Zungen der verschiedenen Reagenten nach Volumen und Gestalt merklich","page":592},{"file":"p0593.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n593\nvon einander ab; schlie\u00dflich l\u00e4sst sich aber doch f\u00fcr die vorliegenden Zwecke diese individuelle Mannigfaltigkeit auf zwei Grund-typen reduciren, n\u00e4mlich auf eine kurze breite, und l\u00e4nglich schmale Form. Zwei Schemata gen\u00fcgten somit vollauf als Protocollunter-lagen.\nDie Versuche begannen an der Zungenspitze; war nun in der Application der minimal abgestuften Schmecksubstanzen derjenige Concentrationsgrad erreicht, welcher eine ebenmerkliche Empfindung ausl\u00f6st, so wurde der homologe Punkt in dem Protocollschema mit der Procentzahl der Reizfl\u00fcssigkeit versehen. Diese Zahl ist zugleich das directe Ma\u00df f\u00fcr die Schmeckf\u00e4higkeit des ber\u00fchrten Zungentheils innerhalb der erzeugten Qualit\u00e4t. Die subjective Empfindlichkeit steht nun zur St\u00e4rke des objectiven Reizmittels in einem reciproken Verh\u00e4ltnisse. Je kr\u00e4ftiger die Geschmacksfl\u00fcssigkeit sein muss, welche an der zu afficiren-den Stelle des Organs eine unzweideutige Empfindung ausl\u00f6st, um so schw\u00e4cher ist die Perceptionsf\u00e4higkeit der gereizten Stelle.\nSomit sind die auf. dem angegebenen Wege ermittelten und in den beigef\u00fcgten Tabellen gesammelten Zahlen die absoluten Schwellenwerthe f\u00fcr die untersuchten Punkte. Au\u00dfer der Spitze gew\u00e4hren die Stellen am hinteren Zungenrande des so variablen Organs einen sicheren Anhalt, welche rechts und links in der Verl\u00e4ngerung der linear angeordneten Pap. vall. liegen (Fig. 1, F und K). Drei unverschiebbare Punkte boten sich somit f\u00fcr die experimentelle Einwirkung dar, bei deren Markirung im Protocollschema sich Schwankungen mit Sicherheit vermeiden lie\u00dfen. Diesen dreien reihen sich als eben so gewiss zu treffende Reizstellen die Mitte der beiderseitigen Zungenr\u00e4nder an. Was nun die Sensibilit\u00e4tsermittlung an der Verbindungsstrecke der hervorgehobenen Punkte betrifft, so \u00fcberzeugte mich die Erfahrung gar bald, dass es vollauf gen\u00fcgte, wenn immer je zwei gleichweit von einander entfernte Stellen darin gepr\u00fcft\nFig. 1.","page":593},{"file":"p0594.txt","language":"de","ocr_de":"594\nD. P. H\u00e4nig.\nwurden. Auf kleinere Zwischenr\u00e4ume lie\u00dfen sich die Abschw\u00e4chungen bezw. Steigerungen der Perceptionsf\u00e4higkeit zahlenm\u00e4\u00dfig nicht so genau auseinanderhalten, zumal die fl\u00fcssigen Schmecksubstanzen in den Speichel diff undiren und dadurch dem Geschmackseindrucke seinen \u00f6rtlich eingeschr\u00e4nkten Charakter nehmen. In Folge der zahlreichen Wiederholungen der Experimente w\u00e4chst ja nicht allein die manuelle Sicherheit des Versuchsleiters in der Verabreichung der Geschmacksfl\u00fcssigkeit, sondern auch die Sch\u00e4rfe in der Distanzsch\u00e4tzung am Zungenk\u00f6rper des \u00dfeagenten, so dass ich schlie\u00dflich auch ohne nachdr\u00fcckliche Bezugnahme auf die anfangs markirten Punkte an den verschiedenen Versuchstagen identische Stellen des Organs zu afficiren im Stande war. Bisher ist nur der Schwellenermittlung am Zungenrande gedacht worden; es er\u00fcbrigt noch, auf die gleichartige Untersuchung der anderen Regionen der Schmeckfl\u00e4che hinzuweisen. Damit die Feststellung der local bedingten Reizschwellen m\u00f6glichst l\u00fcckenlos vor sich gehe, dachte ich mir von der Zungenmitte aus nach den untersuchten Punkten des Randes ein Strahlenbild, wie es in Fig. 1 durch die unterbrochenen Linien skizzirt ist. Dieses Liniensystem projicirte ich dann auf die Zungenoberfl\u00e4che meiner Versuchspersonen. In der Richtung der imagin\u00e4ren H\u00fclfslinien lie\u00df ich nun die \u00e4u\u00dferen Reize vom Zungenrande aus nach der Mitte zu einwirken und notirte mir an den homologen Punkten des Oontourenbildes die absoluten Schwellenwerthe. Auf diese Weise hoffe ich die Schmeckfl\u00e4che der Zunge m\u00f6glichst allseitig durchforscht zu haben.\nAls allgemeine Thatsache, die ich der leichteren Darstellung wegen gleich an diesem Orte vorausnehmen will, ergab sich hierbei, dass die Oberfl\u00e4che der Zunge bez\u00fcglich der Schmeckfunction in zwei Zonen zerf\u00e4llt, in eine peripherische perceptionsf\u00e4hige und eine centrale geschmackslose Zone. Die Grenze zwischen beiden ist nicht als mathematische Linie zu denken, sondern als ein Grenzsaum. Diffusion der Reize einerseits und mangelhafte Localisation anderseits lassen eine exacte lineare Abgrenzung nicht zu. Die am weitesten nach innen zu gelegenen Punkte, an welchen gerade noch mit ein\u00ab deutlichen Geschmacksempfindung reagirt wurde, habe ich in Fig- 1 mit A', B', C etc. bezeichnet. Verbindet man die letzteren unter einander, so gewinnt man die Grenze zwischen den beiden in ihrem Verhalten so grundverschiedenen Zonen. An diesem Grenzsauim","page":594},{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n595\nschwankt die Sch\u00e4rfe der Auffassung nicht nur individuell weit mehr als am Zungenrande, sondern auch die unter gleichen Bedingungen vorgenommenen Versuchsreihen bei einem und demselben Reagenten lassen die gew\u00fcnschte Oonstanz vermissen. Die mittlere Variation ist an der Innenseite der perceptionsf\u00e4higen Zone auffallend gro\u00df.\nAlle die auf dem dargestellten Wege erlangten Schwellenwerthe habe ich in Tabellen gesammelt, die aber nur unter Bezugnahme auf das Protocollscliema Fig. 1 zu verstehen sind. Die Zahlen enthalten das arithmetische Mittel aus f\u00fcnf m\u00f6glichst einwandfreien Experimenten f\u00fcr jeden normirten Punkt. Aus einem Vergleiche der verticalen Rubriken kann man die pers\u00f6nlichen Unterschiede in der Auffassung der Geschmacksreize ahlesen. F\u00fcr die Perceptionsf\u00e4higkeit des Geschmacksg\u00fcrtels an den verschiedenen Punkten seiner Breitenausdehnung ist es mir nicht gelungen, an jedem Reagenten eine gleichgro\u00dfe Zahl von sauber isolirten Resultaten zu gewinnen. Die Zunge ist ja gerade hier stark gew\u00f6lbt, in Folge dessen l\u00e4uft die Schmecksubstanz ungemein leicht in die Breite, und die Reizung geht vielmals an einer anderen Stelle vor sich, als da, wo sie beabsichtigt war. Trotzdem enthalten meine Versuchsprotocolle eine ganze Anzahl Ergebnisse, hei welchen derartige Zweifel ausgeschlossen waren, sie haben auch das abschlie\u00dfende Urtheil \u00fcber die r\u00e4umliche Vertheilung der Geschmackssensibilit\u00e4t der Zunge mit beeinflusst, darum werde ich sie am geeigneten Orte der Abhandlung mit einschalten; nur lassen sich diese Resultate nicht schematisiren wie die \u00fcbrigen, man m\u00fcsste ihnen denn Gewalt anthun. Durch \u00f6ftere Ooincidenz der an einzelnen Versuchstagen doch nur theilweise ausgef\u00fcllten Protocoll-schemata des n\u00e4mlichen Reagenten innerhalb jeder Qualit\u00e4t controlirt der Versuchsleiter am besten, welche Schmeckpunkte etwa vernachl\u00e4ssigt worden sind und darum in der Folge mehr ber\u00fccksichtigt werden m\u00fcssen. Erwies sich somit die Form der Protocollf\u00fchrung \u00e4u\u00dferst zweckm\u00e4\u00dfig f\u00fcr die Ebenm\u00e4\u00dfigkeit in der Versuchsf\u00fchrung, so erleichterte sie auch die erstrebte anschauliche, bildm\u00e4\u00dfige Darstellung der Perceptionsf\u00e4higkeit der Zungenoberfl\u00e4che. Dabei handelt es sich darum, den arithmetischen Ausdruck der Geschmackst\u00fcchtigkeit in ein Raumbild umzuwandeln. Zu diesem Zwecke entwarf ich auf carrirtem Papier ein analoges Zungenbild wie in Fig. 1, aber mit\nWundt, Thilos. Studien. XVII.\t39","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596\nD. P. H\u00e4nig.\neinem L\u00e4ngsdurchmesser von 0,5 m \u2019). F\u00fcr jede Geschmacksqualit\u00e4t w\u00e4hlte ich ein besonderes Zeichen; durch H\u00e4ufung der Symbole soll die gesteigerte, durch weitr\u00e4umige Anordnung die geringere Sensibilit\u00e4t zur Darstellung kommen, und die Abstufungen zwischen der maximalen und minimalen Empfindlichkeit k\u00f6nnen leicht durch Variation in der Dichtigkeit dieser Ausdrucksmittel veranschaulicht werden Damit sich nun auch die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit der psychophysischen That-sache in dem Bilde wiederspiegelt, habe ich die absoluten Schwellen-werthe, allerdings nur in N\u00e4herungszahlen, f\u00fcr jede specifische Qualit\u00e4t auf einen gleichen, m\u00f6glichst kleinen Nenner gebracht, in diesen kleinen Zahlen kann man dann leicht innerhalb jedes Grundgeschmacks die Schwellenwerthe vergleichsweise \u00fcbersehen. Die gr\u00f6\u00dfte absolute Schwelle gilt nach dem reciproken Verh\u00e4ltnisse von \u00e4u\u00dferem Reiz und subjectiver Empfindlichkeit als Ma\u00df der geringsten Perceptionsf\u00e4hig-keit. Setzen wir diesen niedrigsten Sensibilit\u00e4tsgrad gleich Eins, so k\u00f6nnen wir jede gesteigerte Intensit\u00e4t daran messen. Wir nehmen die Quotienten aus den absoluten Schwellenzahlen als Factoren f\u00fcr die gesteigerte Perceptionsf\u00e4higkeit. Wenn z. B. die absolute Reizschwelle f\u00fcr S\u00fc\u00df an der Zungenspitze 0,335 betr\u00e4gt, an der Basis aber 0,670, so wird in diesem Falle die Sensibilit\u00e4t an der Spitze noch einmal so gro\u00df sein als an der Zungenbasis. Die graphische Darstellung wird demnach an der Zungenspitze auf gleicher Raumstrecke doppelt so viel Zeichen unterbringen m\u00fcssen als an der Basis. Nach zwei Dimensionen, das liegt schon in dem Begriffe Schmeckfl\u00e4che, verschiebt sich die Perceptionsf\u00e4higkeit in dem peripheren Geschmacksg\u00fcrtel, einerseits in der Breitenausdehnung, anderseits in Parallelrichtung zur Zungenperipherie; entsprechend muss sich auch der Dichtigkeitsgrad der symbolischen Zeichen \u00e4ndern. Weil zuletzt der Versuch gewagt werden sollte, die Geschmackst\u00fcchtigkeit bez\u00fcglich aller vier Qualit\u00e4ten an einem Zungenbilde zur Darstellung zu bringen, so mussten vier verschiedene Zeichen in Anwendung kommen.\nEhe wir die Er\u00f6rterungen allgemeiner, bezw. methodischer Art verlassen und zur Discussion der gewonnenen Resultate \u00fcbergehen, sei noch kurz begr\u00fcndet, warum sich die Reizschwellenermittelung in\n1) Die erforderliche Verkleinerung dieser Zungenbilder hat Hr. Curt Zwiefel im Atelier der hiesigen photographischen Gesellschaft freundschaftlicher Weise \u00fcbernommen.","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n597\ndem angedeuteten Umfange nur auf die Zunge und nicht zugleich auf die \u00fcbrigen schmeckenden Theile der Mundh\u00f6hle bezieht. Man k\u00f6nnte doch wenigstens eine gleich ausgedehnte Pr\u00fcfung des Palatum molle und des Velum erwarten. Experimente in dieser Richtung sind meinerseits wiederholt vorgenommen worden, aber organische Hindernisse lie\u00dfen das Unternehmen zu keinem befriedigenden Abschluss gelangen. Die zarte Ber\u00fchrung der fraglichen Stellen in der Mund-cavit\u00e4t mit den weichen Haarpinseln erzeugte hei den meisten Beobachtern die Tastempfindung des Kitzels, hei ihr ist aber eine klare Apperception ebenmerklicher Geschmacksreize von vornherein ausgeschlossen. Bei einzelnen Reagenten blieb diese St\u00f6rung aus, aber die Versuche unterschieden sich von denen an der Zunge durch auffallend lange Perceptionszeiten, und schlie\u00dflich localisirte der Reagent die Geschmacksempfindung ganz allgemein im hinteren Mundraume. Es scheint, als wenn in dieser Region die Schmeckstoffe besonders in die Poren, eingedr\u00fcckt werden m\u00fcssten, wenn eine deutliche Empfindung entstehen soll, wie es hei jeder Schlingbewegung thats\u00e4ch-lich geschieht. Versucht man etwa durch k\u00fcnstlichen Druck die Geschmacksfl\u00fcssigkeiten zu appliciren, so treten wieder st\u00f6rende Schlingreflexe auf, und dann ist erst recht nicht an ein apperceptives Erfassen ebenmerklicher Geschmacksinhalte zu denken. Nach diesen hier nur skizzenhaft angedeuteten Zwischenf\u00e4llen gab ich es auf, an diesen Theilen des Organs eine gleich ausgedehnte Schwellenbestimmung vorzunehmen wie an der Zunge. Nicht ganz resultatlos verliefen die experimentellen Beobachtungen an der Medialzone des weichen Gaumens und des Velum. In Folge der leichteren Zug\u00e4ngigkeit kann man an diesem Punkte distincte Reizungen ausf\u00fchren. Die Resultate scheinen auch einer beschr\u00e4nkten Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit nicht ganz zu entbehren. Die absoluten Schwellen ergeben f\u00fcr die gleichzeitig gereizte Mitte des weichen Gaumens und des Velum nachstehende arithmetische Mittel aus 15 Einzelversuchen:\nS\u00fc\u00df: 0,755 Salzig: 0,370 Sauer: 0,0411 Bitter: 0,00022\nVergleichen wir mit diesen Zahlen die kleinsten und gr\u00f6\u00dften Reizschwellen f\u00fcr jede entsprechende Qualit\u00e4t an der Zungenperipherie,\n39*","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598\nD. P. H\u00e4nig.\nso wird uns auf fallen, dass die ersteren ann\u00e4hernd die Mitte bilden zwischen der gr\u00f6\u00dften und kleinsten qualitativ gleichen Reizschwelle an der Zungenumrandung. Diese Einzelbeobachtungen lassen sich somit in den allgemeinen Satz zusammenfassen: Die Perceptionsf\u00e4hig-keit der Medialregion des weichen Daumens und des Velum liegt f\u00fcr alle vier Geschmacksqualit\u00e4ten ungef\u00e4hr in der Mitte der qualitativ entsprechenden maximalen und minimalen Sensibilit\u00e4t der Zungenperipherie.\n1. Schwellenermittelung f\u00fcr S\u00fc\u00df.\nAus Tabelle I ist ohne weitere Interpretation ersichtlich, dass die gesteigertste Perception f\u00fcr S\u00fc\u00df an der Zungenspitze und in den nach rechts und links unmittelbar sich anschlie\u00dfenden Gebieten hegt. Wenn diese Thatsache in dem kurzen Satze ihren Ausdruck findet: \u00bbS\u00fc\u00df wird an der Zungenspitze am intensivsten empfunden\u00ab, so ist die Bezeichnung Zungenspitze eben in dem erweiterten Sinne zu verstehen. In der engsten Bedeutung des Wortes scheint die Spitze ganz hervorragend f\u00fcr Tasteindr\u00fccke adaptirt zu sein, hier ist ja auch, wie wir seit Weber1) wissen, die Raumschwelle des Tastsinnes am kleinsten. Gehen wir von der Spitze aus an den R\u00e4ndern hin, so l\u00e4sst die Perceptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr S\u00fc\u00df best\u00e4ndig nach, im hinteren Randdrittel erh\u00e4lt sie sich beiderseitig eine Strecke hindurch ann\u00e4hernd auf gleicher H\u00f6he, sie sinkt aber ganz merklich wieder auf den Pap. vall. und ihrer linearen Verbindung. W\u00fcrde man die soeben markirte periphere Umgrenzung der Geschmacksfl\u00e4che der Zunge als Abscisse auffassen und in allen durchgepr\u00fcften Randpunkten, wie sie in der Tabelle bezeichnet sind, die absoluten Reizschwellen in ihrer reciproken Umdeutung als Ordinaten errichten, so w\u00fcrde die Perceptionsf\u00e4higkeit des Zungenrandes f\u00fcr S\u00fc\u00df in einer Curve veranschaulicht werden, deren Maximum an der Zungenspitze l\u00e4ge, nach beiden Seiten zu w\u00fcrde sie anfangs stetig fallen, dann eine Strecke parallel zur Abscisse verlaufen und \u00fcber den Pap. vall. ihr Minimum aufweisen (Eig. 5 -o-o-o-o-\u00ab). F\u00fcr die innere Grenze (Fig. 1, A', B', C etc.) w\u00fcrde die Intensit\u00e4tscurve ein ganz analoges Bild ergeben, nur nicht mit so gro\u00dfen Ordinatendifferenzen, verhalten\n1) Wundt, Physiol. Psychologie, 4. Auf!., II, S. 6\u20148.","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\t599\nTabelle I. Scliwellenwerthe f\u00fcr S\u00fc\u00df.\n\t\tLinke\t\tBergemann\t\tWictoroff\t\tDr. Moebius\t\tMittelwerthe\t\n0\t\t0,400\t\t0,413\t\t0,366\t\t0,355\t\t0,384\t\n\tO\u2019\t\t0,750\t\t0,633\t\t0,800\t\t0,800\t\t0,746\nA\t\u2022\t0,383\t\t0,380\t\t0,333\t\t0,300\t\t0,349\t\n\tA!\t\t0,678\t\t0,560\t\t0,800\t\t0,800\t\t0,709\nB\t\t0,400\t\t0,466\t\t0,366\t\t0,350\t\t0,396\t\n\tB'\t\t0,750\t\t0,630\t\t0,800\t\t0,800\t\t0,745\nG\t\t0,400\t\t0,500\t\t0,500\t\t0,450\t\t0,462\t\n\tC\t\t0,950\t\t0,900\t\t1,000\t\t0,800\t\t0,912\nD\t\t0,700\t\t0,675\t\t0,600\t\t0,480\t\t0,614\t\n\tD'\t\t1,000\t\t0,850\t\t0,950\t\t0,820\t\t0,905\nE\t\t0,816\t\t0,750\t\t0,750\t\t0,750\t\t0,767\t\n\tFJ\t\t1,030\t\t0,930\t\t0,900\t\t0,900\t\t0,940\nF\t\t0,833\t\t0,750\t\t0,850\t\t0,820\t\t0,813\t\n\tF\u2019\t\t1,030\t\t1,100\t\t0,900\t\t0,900\t\t0,982\nG\t\t1,600\t\t1,333\t\t0,900\t\t0,800\t\t1,156\t\n\tG'\t\t1,600\t\t1,333\t\t0,950\t\t0,950\t\t1,208\nH\t\t1,600\t\t1,333\t\t0,900\t\t0,800\t\t1,158\t\n\tH'\t\t1,600\t\t1,333\t\t0,900\t\t0,950\t\t1,195\nI\t\t1,600\t\t1,333\t\t0,900\t\t0,780\t\t1,153\t\n\tI'\t\t1,600\t\t1,333\t\t0,955\t\t0,950\t\t1,209\nK\t\t0,816\t\t0,750\t\t0,900\t\t0,800\t\t0,817\t\n\tK'\t\t1,030\t\t1,130\t\t0,925\t\t0,900\t\t0,996\nL\t\t0,850\t\t0,750\t\t0,650\t\t0,780\t\t0,758\t\n\tL'\t\t0,050\t\t0,900\t\t0,920\t\t0,920\t\t0,948\nM\t\t0,700\t\t0,675\t\t0,600\t\t0,480\t\t0,614\t\n\tM'\t\t1,000\t\t0,900\t\t0,900\t\t0,850\t\t0,912\nN\t\t0,400\t\t0,500\t\t0,510\t\t0,810\t\t0,475\t\n\tN'\t\t0,975\t\t0,900\t\t0,990\t\t0,810\t\t0,919\nlinker Band__________ Basis ________________________rechter Rand","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600\nI). P. H\u00e4nig.\nsich doch die absoluten Reizschwellen von \u00c4 u. IT ca. wie 1 \u2022 ?\n* '\nw\u00e4hrend zwischen A und II das Verh\u00e4ltniss von 1:3 obwaltet. Die Schmeckfi\u00e4che f\u00fcr S\u00fc\u00df, die sich concentrisch um die an\u00e4sthetische Mittelzone legt, ist in ihrer Breitenausdehnung nicht \u00fcberall gleich, einmal nach der Zungenspitze und dann wieder nach der Basis hat sie einen gr\u00f6\u00dferen Durchmesser als an den Seiten. Nun fragt es sich noch: Wie verhalten sich die geschmackempfindlichen Punkte innerhalb des Geschmacksg\u00fcrtels ? Meinen Protocollen entnehme ich dar\u00fcber folgende Mittelwerthe, welche aus je 15 Einzelversuchen gewonnen sind; die absolute Schwelle hetr\u00e4gt zwischen:\nC und\tC\t0,710\nE \u00bb\tE'\t0,820\n0 \u00bb\tG'\t1,000\nH \u00bb\tH'\t1,020\nL \u00bb\tL'\t0,850\nN \u00bb\tN'\t0,672\nHalten wir den inneren und \u00e4u\u00dferen Schwellenwerth des n\u00e4mlichen Radius daneben, so erkennen wir, dass die Sensibilit\u00e4t von der peri-\npheren Umrandung des Geschmacksfeldes nach der Mitte zu stetig abnimmt. Eine difficilere Untersuchung der Breitenausdehnung war mir aus den oben entwickelten Gr\u00fcnden nicht m\u00f6glich.\nEs er\u00fcbrigt noch, die Resultate der Reizschwellenermittelung f\u00fcr S\u00fc\u00df, wie sie zahlenm\u00e4\u00dfig in Tabelle I gegeben und in dem beigef\u00fcgten Bilde Fig. 2 r\u00e4umlich anschaulich dargestellt sind, in kurzen S\u00e4tzen auszudr\u00fccken:\n1.\tS\u00fc\u00df wird an allen Punkten der Zungengeschmackszone empfunden, aber in abgestufter Intensit\u00e4t.\n2.\tDas Empfindungsmaximum f\u00fcr S\u00fc\u00df liegt an der Zungenspitze, das Minimum im Bezirke der Papillae vallatae.\n3.\tDie Perceptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr S\u00fc\u00df nimmt nicht nur beiderseitig von der Spitze aus in der Parallelrichtung zum Zungenrande nach der Basis, sondern auch von der Peripherie in centripetaler Richtung stetig ab.\n\nFig. 2.","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n601\nDie t\u00e4gliche Erfahrung bietet uns Geschmacks- und Geruchseindr\u00fccke meist derart miteinander verbunden dar, dass nicht nur das popul\u00e4re Bewusstsein, sondern auch die \u00e4ltere Sinnesphysiologie den wirklichen Gesammteindruck als einen durchaus einheitlichen und untheilbaren hinnimmt. Als olfactorisches Schmecken oder gustatori-sches Riechen, je nachdem der inducirende Reiz vorzugsweise diesem oder jenem Sinnesgebiete angeh\u00f6rt, hat man die Complication in den Kreis wissenschaftlicher Beobachtung gezogen. Dabei sind nun auch Erfahrungen gemacht worden, welche auf anderem Wege die Erscheinung der hervorragenden Adaptation der Zungenspitze f\u00fcr s\u00fc\u00dfe Geschmacksreize best\u00e4tigen. So bemerkte Rollett1), wenn er mit Chloroformd\u00e4mpfen geschw\u00e4ngerte Luft durch die Nase einzog, im Rachen und an der hinteren Fl\u00e4che des weichen Gaumens neben der K\u00e4lte- auch eine S\u00fc\u00dfempfindung; die letztere trat aber viel intensiver auf, wenn er das fragliche Reizmittel durch den Mund einschl\u00fcrfte, sie verdr\u00e4ngte die leise K\u00e4lteempfindung, die anfangs noch bemerkbar war; ihre Intensit\u00e4t verringerte sich von vorn nach hinten. Offenbar hat die gr\u00f6\u00dfere Deuthchkeit und Klarheit der S\u00fc\u00dfempfindung ihre Ursache darin, dass diesmal die vordere Region der Zunge unmittelbar afficirt wurde. Nicht minder wird dieselbe Thatsache durch eine dritte Variation des n\u00e4mlichen Experimentes erwiesen. Rollett hielt mittels eines Hornl\u00f6ffels ein mit Chloroform getr\u00e4nktes Watte-b\u00e4uschchen freischwebend im geschlossenen Munde ; in dem Momente, wo er den Mund \u00f6ffnete, bemerkte er neben der K\u00e4lte- eine rasch vor\u00fcbergehende S\u00fc\u00dfempfindung, und diese wiederum ganz besonders deutlich an den vorderen Theilen der Zunge. Beim Schlie\u00dfen des Mundes und der Bewegung des Speichels durch die Zunge tauchte die S\u00fc\u00dfempfindung abermals auf und Rollett f\u00fcgt ausdr\u00fccklich hinzu: \u00bbNamentlich in den vorderen Partien der Zunge\u00ab.\nDie Benennung des Vorganges als olfactorisches Schmecken erinnert den Psychologen unwillk\u00fcrlich an die in ihrer Bedeutung so vielfach \u00fcbersch\u00e4tzte Erscheinung der Audition color\u00e9e. Eine Parallele zwischen beiden w\u00fcrde bereits ersch\u00f6pft sein in dem Hinweise, dass es sich hier wie dort um eine Complication zweier disparater Qualit\u00e4ten-\n1) Rollett, Beitr\u00e4ge zur Physiologie des Geruchs, des Geschmacks, der \u2022 Hautsinne und der Sinne im allgemeinen. Pfl\u00fcger\u2019s Archiv LXXIV, S. 383\u2014 465. 1899.","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602\nD. P. H\u00e4nig.\nSysteme handelt, aber eine Wesensgleichheit des psychologischen Processes liegt keineswegs vor. In der Audition color\u00e9e erblicken wir mit Recht nur eine associativ erworbene Verkn\u00fcpfung, die vorwiegend durch qualitativ gleichartige Gef\u00fchle vermittelt wird. Ihr seltenes und dazu rein individuelles Auftreten best\u00e4rkt nicht minder die Ver-muthung, dass diese Association erst durch mehr oder weniger bewusste Uebung aus einer successiven in eine simultane \u00fcbergef\u00fchrt worden ist. Das olfactorische Schmecken hingegen ist eine in physiologischen Bedingungen begr\u00fcndete allgemeine Erscheinung. Gewisse Reize aus unserer Umwelt afficiren eben gleichzeitig die peripheren Endorgane sowohl des Geschmacks- als auch des Geruchssinnes, und unsere Organisation kommt einer solchen Complicationswirkung dadurch entgegen, dass die beiden in ihrem Verhalten so \u00e4hnlichen Sinnesapparate auch r\u00e4umlich einander ungemein nahe ger\u00fcckt sind.\n2. Schwellenermittelung f\u00fcr Bitter.\nAu\u00dfer bei S\u00fc\u00df wird der Empfindungsinhalt hei Bitter relativ am wenigsten von st\u00f6renden Tastempfindungen beeintr\u00e4chtigt. Dieser Umstand erleichtert die Schwellenermittelung f\u00fcr diese Qualit\u00e4t, die ohne Schwanken sofort rein erkannt wird. Die mittlere Variation ist darum bei einem und demselben Reagenten gering; anderseits aber unterliegt gerade das Empfindlichkeitsminimum f\u00fcr Bitter gro\u00dfen individuellen Abweichungen. Nicht geringe Wahrscheinlichkeit spricht daf\u00fcr, dass die Gewohnheit des Rauchens diese Abweichungen mit bedingt, und zwar in der Weise, dass bei Rauchern in der vorderen Region der Zunge, wo ohnedies die Empfindlichkeit f\u00fcr die fragliche Qualit\u00e4t gering ist, die Perceptionsf\u00e4higkeit weit mehr herabgedr\u00fcckt ist als bei Nichtrauchern. Im Bezirke der Pap. vall., die ganz eminent f\u00fcr bittere Reize adaptirt sind, scheint das Rauchen eine gleich relative Verschiebung der Reizschwelle nicht zu bewirken. Man vergleiche dazu die 2. und 4. Verticalcolumne in Tabelle II miteinander. Die Resultate von Dr. M. enthalten die Schwellenwerthe f\u00fcr Bitter von einem Raucher; die Mittelwerthe aus den Versuchen mit Al. sind das Ma\u00df der Bitterempfindlichkeit bei einem Nichtraucher. Wenn der Unterschied der absoluten Reizschwellen an der Zungenbasis zwischen Dr. M. und Al. nur 0,00003 betr\u00e4gt, so w\u00e4chst die absolute","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Paychophysik des Geschmackssinnes.\t603\nTabelle II. Schwellenwerthe f\u00fcr Bitter.\n\t\tLinke\t\tAlechsieff\t\tBergemann\t\tDr. Moebius\t\tMittelwertlie\t\nT\t\t0,00028\t\t0,00025\t\t0,00042\t\t0,00045\t\t0,00035\t\u2019\n\t0'\t\t0,00076\t\t0,00070\t\t0,00080\t\t0,00085\t\t0,00078\n7\t\t0,00030\t\t0,00028\t\t0,00045\t\t0,00050\t\t0,00038\t\n\tA'\t\t0,00080\t\t0,00075\t\t0,00080\t\t0,00085\t\t0,00080\nB\t\t0,00030\t\t0,00025\t\t0,00042\t\t0,00045\t\t0,00036\t\n\tB'\t\t0,00076\t\t0,00070\t\t0,00080\t\t0,00085\t\t0,00078\n7\t\t0,00030\t\t0,00022\t\t0,00035\t\t0,00040\t\t0,00032\t\n\to\t\t0,00072\t\t0,00066\t\t0,00075\t\t0,00080\t\t0,00073\nD\t\t0,00024\t\t0,00020\t\t0,00035\t\t0,00042\t\t0,00030\t\n\tD'\t\t0.00070\t\t0,00066\t\t0,00070\t\t0,00080\t\t0,00073\nF\t\t0,00018\t\t0,00015\t\t0,00020\t\t0,00025\t\t0,00019\t\n\tE'\t\t0,00066\t\t0,00060\t\t0,00060\t\t0,00070\t\t0,00064\nF\t\t0,00006\t\t0,00005\t\t0,00007\t\t0,00008\t\t0,00006\t\n\tF\t\t0,00060\t\t0,00050\t\t0,00040\t\t0,00042\t\t0,00048\ne\t\t0,00006\t\t0,00005\t\t0,00007\t\t0,00008\t\t0,00006\t\n\tG'\t\t0,00035\t\t0,00030\t\t0,00040\t\t0,00042\t\t0,00037\n3\t\t0,00006\t\t0,00005\t\t0,00007\t\t0,00008\t\t0,00006\t\n\tH'\t\t0,00035\t\t0,00030\t\t0,00040\t\t0,00042\t\t0,00037\n1\t\t0,00006\t\t0,00005\t\t0,00007\t\t0,00008\t\t0,00006\t\n\tP\t\t0,00035\t\t0,00030\t\t0,00040\t\t0,00042\t\t0,00037\n\u00a3\t\t0,00006\t\t0,00005\t\t0,00007\t\t0,00008\t\t0,00006\t\n\tK\u2019\t\t0,00060\t\t0,00045\t\t0,00045\t\t0,00042\t\t0,00048\ni\t\t0,00020\t\t0,00015\t\t0,00022\t\t0,00028\t\t0,00021\t\n\tV\t\t0,00066\t\t0,00055\t\t0,00065\t\t0,00072\t\t0,00065\n!\t\t0,00024\t\t0,00020\t\t0,00032\t\t0,00040\t\t0,00029\t\n\tW\t\t0,00072\t\t0,00065\t\t0,00070\t\t0,00080\t\t0,00072\nif\t\t0,00028\t\t0,00024\t\t0,00035\t\t0,00042\t\t0,00032\t\n\tN>\t\t0,00076\t\t0,00064\t\t0,00075\t\t0,00080\t\t0,00074\nSpitze\tlinker Rand ______________________a___________________rechter Rand","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nD. P. H\u00e4nig.\nDifferenz an der Zungenspitze bis 0,00022 an. Eine kritische Betrachtung der Kiesow\u2019schen1) Tabelle der absoluten Reizschwellen f\u00fcr Bitter n\u00f6thigt mich zu der Annahme, dass die Versuchsperson H ein Raucher und Reagent G. ein Nichtraucher war. Durch diese Voraussetzung w\u00fcrde nicht nur der gro\u00dfe individuelle Unterschied in den Reizschwellen beider \u00fcberhaupt, sondern auch die auffallend gro\u00dfe Differenz in der Empfindlichkeit an der Zungenspitze (= 0,00034) und die bei weitem geringere an der Basis (= 0,00008) f\u00fcr mich erkl\u00e4rbar sein.\nAuch Tabelle II wird erst verst\u00e4ndlich, wenn man sich die Zahlen wieder \u00fcbertragen denkt in das Contourenbild Fig. 1.\nVersuchten wir etwa auch f\u00fcr diese Qualit\u00e4t entsprechend wie bei S\u00fc\u00df die local bedingte Empfindlichkeit in Ourven zur Darstellung zu bringen, wenigstens f\u00fcr die \u00e4u\u00dfere und innere Grenzlinie des schmeckenden Zungeng\u00fcrtels, so w\u00fcrde die Convexit\u00e4t bezw. Ooncavit\u00e4t der beiden Ourven ebenfalls homolog zu einander liegen, der Kr\u00fcmmungsgrad der inneren Curve w\u00fcrde nat\u00fcrlich viel geringer sein m\u00fcssen als bei der \u00e4u\u00dferen, wie eine vergleichsweise Betrachtung der auf den Radien central vorgeschobenen Schwellenwerthe ohne weiteres ergibt. An der Zungenbasis hat die Function des Bitterschmeckens ihre gr\u00f6\u00dfte und an der Spitze ihre geringste Entwickelung; danach w\u00fcrde sich das Curvenmaximum \u00fcber den Pap. vall., das Minimum \u00fcber der Zungenspitze und den ihr unmittelbar benachbarten Theilen des Zungenrandes erheben (Fig. 5 -\u25a1-\u25a1-\u25a1).\nUeber das Verhalten der schmeckenden Elemente innerhalb der Breitenausdehnung der Geschmackszone geben folgende Zahlen Aufschluss, die wiederum als arithmetische Mittel aus je 15 m\u00f6glichst einwandfreien Versuchen gewonnen worden sind. Zwischen:\nA und A'\t=\t\u00fc,0005\u00f6\nD\t\u00bb\tD'\t=\t0,00052\nE\t\u00bb\tE'\t=\t0,00040\nH\t\u00bb\tE\u2019\t=\t0,00020\nK\t\u00bb\tK'\t\u2014\t0,00025\nL\t*\tL'\t=\t0,00042\nM\t>\tM'\t=\t0,00050\n0\u00bb0'== 0,00060\n1) Philos. Studien, X, S. 363.","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychopbysik des Geschmackssinnes.\n605\nSetzt man diese Zahlen in Relation zu den auf derselben Linie befindlichen Grenzwerthen, so erkennt man, dass sie im Vergleiche zu jenen der Ausdruck einer mittleren Perceptionsf\u00e4higkeit sind. Die Sensibilit\u00e4t f\u00fcr Bitter nimmt demnach auch von der Peripherie aus nach dem geschmackslosen Mittelgebiete der Zunge stetig ab.\nUeber die deutliche Localisation der Bitterempfindung in dem Bezirke der Pap. vall. und foliatae herrscht in der Physiologie wie Psychologie unbestrittene Uebereinstim-mung. Von den neueren Zeugnissen f\u00fcr diese Thatsache sei wieder auf Rollett1) hingewiesen. Dieser Autor hat ganz entsprechend den Chloroformversuchen Experimente mit Aether ausgef\u00fchrt, genau in den Variationen, wie sie oben f\u00fcr das olfactorische S\u00fc\u00dfschmecken beschrieben wurden. Aus dem Empfindungscomplexe, welchen dieser Reiz in der Mundh\u00f6hle ausl\u00f6st, trat dominirend eine Bitterempfindung hervor. Rollett localisirte die qualitativ so bestimmte Geschmacksempfindung an der Zungenbasis, bezw. am weichen Gaumen.\nAnalog zu dem vorausgegangenen Abschnitte fixiren wir die Ergebnisse der Functionspr\u00fcfung des Bitterschmeckens neben der Tabelle und der topographischen Darstellung in Fig. 6 in folgenden drei S\u00e4tzen.\n1.\tBitter wird an allen Punkten der Zungengeschmackszone empfunden, aber in verschiedenen Intensit\u00e4tsgraden.\n2.\tDas physiologisch-peripherische Maximum der Sensibilit\u00e4t f\u00fcr Bitter befindet sich im Bezirke der Pap. vall. und Pap. foliatae, das Minimum an der Zungenspitze und der ihr unmittelbar benachbarten Randgebiete.\n3.\tDie Perceptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr Bitter nimmt von der Region der Pap. vall. bis zur Zungenspitze anfangs pl\u00f6tzlich, dann allm\u00e4hlich ah ;\n1) a. a. 0. S. 408.","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606\nD. P. H\u00e4nig.\nhingegen von der \u00e4u\u00dferen zur inneren Grenze der Geschmackszone verringert sie sich stetig.\n3. Schwellenermittlung f\u00fcr Salzig.\nDie Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse f\u00fcr salzige Geschmackseindr\u00fccke zeigen sowohl hei den verschiedenen Individuen, als auch auf dem n\u00e4mlichen Organe auffallende Uebereinstimmung. Kiesow1) versucht diese Erscheinung dadurch zu erkl\u00e4ren, dass er sie in Beziehung setzt zu dem Salzgehalte des Speichels, der ja best\u00e4ndig unsere Zunge umflie\u00dft, und zu der von fr\u00fcher Jugend an gewohnten Beimischung von Salz an die meisten unserer Nahrungsmittel. Wie das diffuse Tageslicht in seinen verschiedenen Helligkeitsgraden fortw\u00e4hrend unser Auge afficirt, so wirken auch salzige Geschmackseindr\u00fccke ununterbrochen auf unsere Schmeckfl\u00e4che ein. Die absoluten Schwellen-werthe sind, wie Tabelle III des N\u00e4heren ausf\u00fchrt, an der Spitze und am vorderen Zungenrande beiderseitig etwas kleiner als an der Basis. Diese Thatsache l\u00e4sst sich gar wohl aus dem Speiclielreieli-thume der vorderen Mundh\u00f6hle begreifen. Nicht minder st\u00fctzt auch der Umstand diese Erkl\u00e4rung, dass wiederum die \u00e4u\u00dferste Bandregion der Geschmackszone f\u00fcr Salzeindr\u00fccke ein wenig bevorzugt ist, weil doch wohl hier der angeh\u00e4ufte Speichel in gesteigerter Weise seinen Einfluss aus\u00fcben kann. Versuchte man gleichfalls die Geschmackst\u00fcchtigkeit der inneren und \u00e4u\u00dferen Grenzlinie der Zungenschmeckfl\u00e4che in Curven darzustellen, so w\u00fcrden sie bei den geringen Ordinatenunterschieden ziemlich geradlinig und parallel zur Abscisse verlaufen. Man achte nur darauf, wie klein die Differenz zwischen dem absoluten Maximum im vorderen Theile der Zunge und dem absoluten Minimum der Pap. vall. ist im Vergleiche zu den anderen Elementargeschm\u00e4cken. In Bezug auf das Verhalten der Geschmackselemente nach der Breitendimension des Geschmacksg\u00fcrtels scheint mir f\u00fcr die vorliegende Qualit\u00e4t noch bemerkenswerth, dass der Empfindlichkeitsunterschied an der Zungenbasis \u2014 in der speichelarmen Gegend \u2014 zwischen der \u00e4u\u00dferen und inneren Grenze fast Null ist, ebenso wenig variirt die minimale Beizbarkeit innerhalb des vorderen Zungengebietes, das in der Buhelage best\u00e4ndig in Speichel eingebettet und\n1) Philos. Studien, X, S. 365.","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\t607\nTabelle III. Scbwellenwerthe f\u00fcr Salzig.\n\t\tBergemann\t\tAlechsieff\t\tLinke\t\t\"Wictoroff\t\tMittelwerthe\t\n0\t\t0,333\t\t0,300\t\t0,333\t\t0,370\t\t0,334\t\n\tO'\t\t0,350\t\t0,350\t\t0,350\t\t0,420\t\t0,368\nA\t\t0,333\t\t0,300\t\t0,333\t\t0,400\t\t0,341\t\n\tA!\t\t0,350\t\t0,333\t\t0,350\t\t0,425\t\t0,365\nB\t\t0,333\t\t0,320\t\t0,330\t\t0,375\t\t0,339\t\n\tB'\t\t0,350\t\t0,325\t\t0,350\t\t0,425\t\t0,362\nG\t\t0,333\t\t0,325\t\t0,330\t\t0,375\t\t0,341\t\n\tO'\t\t0,400\t\t0,350\t\t0,400\t\t0,425\t\t0,394\nD\t\t0,383\t\t0,320\t\t0,383\t\t0,400\t\t0,372\t\n\tD'\t\t0,400\t\t0,350\t\t0,410\t\t0,430\t\t0,397\nE\t\t0,367\t\t0,320\t\t0,367\t\t0,425\t\t0,369\t\n\tE'\t\t0,400\t\t0,350\t\t0,410\t\t0,480\t\t0,410\nF\t\t0,400\t\t0,350\t\t0,400\t\t0,415\t\t0,391\t\n\tF'\t\t0,400\t\t0,360\t\t0,400\t\t0,480\t\t0,410\nG\t\t0,430\t\t0,350\t\t0,425\t\t0,420\t\t0,406\t\n\tO'\t\t0,435\t\t0,360\t\t0,425\t\t0,480\t\t0,425\nH\t\t0,430\t\t0,350\t\t0,420\t\t0,420\t\t0,405\t\n\tH'\t\t0,435\t\t0,365\t\t0,420\t\t0,480\t\t0,425\nI\t\t0,430\t\t0,350\t\t0,420\t\t0,420\t\t0,405\t\n\tI'\t\t0,430\t\t0,360\t\t0,425\t\t0,475\t\t0,423\nK\t\t0,400\t\t0,350\t\t0,400\t\t0,420\t\t0,393\t\n\tK'\t\t0,400\t\t0,360\t\t0,420\t\t0,480\t\t0,415\nL\t\t0,400\t\t0,320\t\t0,370\t\t0,420\t\t0,377\t\n\tL'\t\t0,400\t\t0,350\t\t0,410\t\t0,480\t\t0,410\nM\t\t0,387\t\t0,320\t\t0,383\t\t0,400\t\t0,372\t\n\tM'\t\t0,400\t\t0,360\t\t0,410\t\t0,435\t\t0,401\nN\t\t0,333\t\t0,325\t\t0,360\t\t0,380\t\t0,349\t\n\tN'\t\t0,360\t\t0,360\t\t0,390\t\t0,425\t\t0,384\nSpitze\tlinker Band_______________________a_____________________ rechter Band","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"608\nD. P. H\u00e4nig.\nvon ihm \u00fcberfluthet wird. Nur in den lateralen Streifen des schmacksg\u00fcrtels beobachtet man von au\u00dfen nach innen zu eine merklichere Abnahme der Intensit\u00e4t f\u00fcr salzige Eindr\u00fccke.\nUeberschauen wir die Schwellenermittlung f\u00fcr salzige Geschmacksempfindungen, so lassen sich als allgemeine Ergebnisse daraus folgende S\u00e4tze festhalten:\n1.\tSalz wird an allen Punkten der Zungengeschmackszone empfunden und zwar in ann\u00e4hernd gleicher Intensit\u00e4t.\n2.\tDas Sensibilit\u00e4tsmaximum f\u00fcr Salz liegt an der Zungenspitze und dem vorderen Zungenrande, das Minimum an der Basis.\n3.\tIn centripetaler Richtung bleibt die Perceptionsf\u00e4higkeit von der Spitze und Basis aus ann\u00e4hernd constant bis zur an\u00e4sthetischen Region, nur in den Seitentheilen l\u00e4sst sie merklich nach.\n4.\tSchwellenermittlung f\u00fcr Sauer.\nNicht so widerspruchslos und eindeutig wie hei S\u00fc\u00df und Bitter vollzieht sich die Schwellenbestimmung bei Sauer. Diese Qualit\u00e4t ist durch objective Einwirkung isolirt nicht so rein zu erzeugen wie die s\u00fc\u00dfen und bitteren Empfindungsinhalte. Als Reizmittel empfiehlt sich f\u00fcr diese Versuche entsprechend verd\u00fcnnte Salzs\u00e4ure; Citronen-und Essigs\u00e4ure, die ich anfangs probeweise mit verwendete, wirken selbst in geringen Concentrationsstufen, wenn auch weniger durch die kleinen Quantit\u00e4ten, die bei der Application auf die Zunge gelangen, als vielmehr bei ihrer Erw\u00e4rmung im Versuchszimmer auf den Geruchssinn mit ein. Dadurch entstehen nicht nur st\u00f6rende Com-plicationen mit dem benachbarten Sinnesgebiete, sondern es w\u00e4chst auch die M\u00f6glichkeit f\u00fcr mancherlei associative Verkn\u00fcpfungen, wie etwa Essigpflaumen, Limonade, Moselwein, welche die apperceptive Aufnahme ebenmerklicher Geschmacksqualit\u00e4ten beeintr\u00e4chtigen. Tastsensationen sind ja, wie schon erw\u00e4hnt wurde, im Grunde genommen","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n609\nmit allen Geschmackseindr\u00fccken unvermeidlich verkn\u00fcpft; bei der S\u00fc\u00df-und Bittererregung treten aber die Componenten des Tastsinnes in dem Empfindungscomplexe v\u00f6llig zur\u00fcck. Weit bemerkbarer gesellen sich schon zu salzigen Geschmacksempfindungen brennende Begleiterscheinungen hinzu; ihr Einfluss auf die Schwellenermittlung dieser Qualit\u00e4t braucht jedoch im allgemeinen als Fehlerquelle nicht ernstlich gef\u00fcrchtet zu werden, weil sich die ahlenkenden Tastsensationen erst hei Concentrationsstufen geltend machen, die \u00fcber dem absoluten Schwellenwerthe liegen. Ganz anders ist das Verh\u00e4ltnis hei Sauer; adstringirende Begleiterscheinungen stellen sich schon bei Beizen ein, welche sich noch unterhalb der Geschmacksschwelle bewegen. Diese Nebenwirkung gibt nun der Aufmerksamkeit und den ihr integrirenden Gef\u00fchlen hei der Wiederholung der Versuche eine v\u00f6llig eindeutige Bichtung und verwandelt somit unter der Hand das unwissentlich angelegte Verfahren von selbst in ein wissentliches. Vielfach ist unter solchen Voraussetzungen der Beobachter geneigt, verleitet durch die ank\u00fcndigende Tastempfindung, vorzeitig mit \u00bbdeutlich sauer\u00ab zu reagiren. Darum bedarf es f\u00fcr die Experimente mit saueren Beizfl\u00fcssigkeiten einer bewussten Ein\u00fcbung auf den Schwellenwerth, der somit einen conventionellen Charakter annimmt. In die Tabelle IV sind darum nur Besultate aufgenommen worden, die sich nicht allzu weit von dem durch mannigfache Ein\u00fchungsversuche gewonnenen mittleren Schwellenwerthe entfernen. Vergleichen wir die Kiesow\u2019schen1) Zahlen f\u00fcr Sauer mit den Ergebnissen in Tabelle IV, so wird eine Erkl\u00e4rung daf\u00fcr nicht zu umgehen sein, warum die fraglichen Beizschwellen dort so tief liegen und hier so hoch sind. Zun\u00e4chst sei daran erinnert, dass Kiesow mit Tropfr\u00f6hrchen gearbeitet hat, vorstehende Versuche aber, mit kleinen Haarpinseln ausgef\u00fchrt worden sind. Die Menge der applicirten Beizfl\u00fcssigkeit und die Gr\u00f6\u00dfe der auf der Schmeckfl\u00e4che gereizten Begion sind bekanntlich neben dem Ooncentrationsgrade der Schmecksubstanz mithedingende Factoren f\u00fcr die Intensit\u00e4t der Geschmacksempfindung. Aus dem Hinweise auf diese Momente wird gleichzeitig mit verst\u00e4ndlich werden, warum durchgehends in gegenw\u00e4rtiger Abhandlung die absoluten Schwellenwerthe auch f\u00fcr die \u00fcbrigen Qualit\u00e4ten gr\u00f6\u00dfer sind als in Kiesow\u2019s\n1) Philos. Studien, X, S. 363.","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"610\tD. P. H\u00e4nig.\nTabelle IV. Schwellenwertlie f\u00fcr Sauer.\n\t\tAlechsieff\t\tBergemann\t\tLinke\t\tDr. Moebius\t\tMittelwerthe\t\tf. f PT U a> C\u00a3 2 \u00cf \u00a3 P\n0\t\t0,0425\t\t0,0380\t\t0,0266\t\t0,0422\t\t0,0373\t\t\n\t0'\t\t0,0440\t\t0,0405\t\t0,0280\t\t0,0475\t\t0,0400\t\nA\t\t0,0600\t\t0,0564\t\t0,0400\t\t0,0550\t\t0,0528\t0,0558\t\n\tA!\t\t0,0650\t\t0,0586\t\t0,0420\t\t0,0575\t\t\t\nB\t\t0,0430\t\t0,0375\t\t0,0275\t\t0,0430\t\t0,0377\t\t\n\tB'\t\t0,0445\t\t0,0400\t\t0,0295\t\t0,0480\t\t0,0405\t\nC\t\t0,0440\t\t0,0360\t\t0,0280\t\t0,0435\t\t0,0379\t\t\n\tO\t\t0,0460\t\t0,0380\t\t0,0300\t\t0,0470\t\t0,0403\t\nD\t\t0,0438\t\t0,0335\t\t0,0266\t\t0,0435\t\t0,0368\t\t\n\tD'\t\t0,0450\t\t0,0355\t\t0,0280\t\t0,0470\t\t0,0389\t\nE\t\t0,0400\t\t0,0390\t\t0,0316\t\t0,0435\t\t0,0385\t\t\n\tE\u2019\t\t0,0420\t\t0,0408\t\t0,0332\t\t0,0480\t\t0,0410\t\nF\t\t0,0475\t\t0,0420\t\t0,0325\t\t0,0480\t\t0,0425\t\t\n\tF'\t\t0,0490\t\t0,0445\t\t0,0336\t\t0,0510\t\t0,0445\t\n0\t\t0,0500\t\t0,0460\t\t0,0350\t\t0,0510\t\t0,0455\t\t\n\tG'\t\t0,0525\t\t0,0485\t\t0,0366\t\t0,0540\t\t0,0479\t\nH\t\t0,0500\t\t0,0460\t\t0,0350\t\t0,0540\t\t0,0479\t\t\n\tH'\t\t0,0525\t\t0,0475\t\t0,0366\t\t0,0540\t\t0,0479\t\nI\t\t0,0500\t\t0,0460\t\t0,0350\t\t0,0500\t\t0,0453\t\t\n\tT\t\t0,0530\t\t0,0480\t\t0,0370\t\t0,0540\t\t0,0480\t\nK\t\t0,0480\t\t0,0425\t\t0,0330\t\t0,0490\t\t0,0431\t\t\n\tK!\t\t0,0500\t\t0,0450\t\t0,0348\t\t0,0515\t\t0,0453\t\nL\t\t0,0390\t\t0,0400\t\t0,0320\t\t0,0430\t\t0,0385\t\t\n\tU\t\t0,0415\t\t0,0410\t\t0,0335\t\t0,0490\t\t0,0412\t\nM\t\t0,0400\t\t0,0340\t\t0,0270\t\t0,0430\t\t0,0360\t\t\n\tM'\t\t0,0415\t\t0,0355\t\t0,0285\t\t0,0470\t\t0,0425\t\nN\t\t0,0445\t\t0,0365\t\t0,0285\t\t0,0425\t\t0,0380\t\t\n\tN>\t\t0,0460\t\t0,0378\t\t0,0300\t\t0,0470\t\t0,0402J\t\nSpitze\tlinker liant!\tasls_______________________ reeUtcr liaiul","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n611\nAngaben. Dass aber gerade bei Sauer die Differenz so betr\u00e4chtlich ist, hat vermuthlich darin seinen Grund, dass in Folge der er\u00f6rterten Begleiterscheinungen untermerkliche Empfindungen in die Kiesow-sche Berechnung mit eingegangen sind, die ich alle geflissentlich ausgeschieden habe. Au\u00dferdem kommt anderseits noch hinzu, dass von meinen Versuchspersonen die Geschmacksschwelle f\u00fcr Sauer, die wir der oben dargelegten Nebenumst\u00e4nde wegen als conventionell be-zeichneten, auf mein Anrathen hin ein wenig \u00fcbermerklich angenommen worden ist, um die st\u00f6renden Zweifel in der Beurtheilung dieser Geschmacksqualit\u00e4t auszuschlie\u00dfen. Der Vergleich macht noch auf einen anderen nicht minder sinnf\u00e4lligen Unterschied aufmerksam. Vergeblich sehe ich mich in meinen Protocollen nach so gro\u00dfen individuellen Schwankungen um, wie sie z. B. in Kiesow\u2019s Tabelle zwischen der Sauerperception bei Pr. K. und dem Reagenten Dr. M. bestehen. Betr\u00e4gt beim ersteren die absolute Schwelle an der Zungenbasis 0,0540, so gen\u00fcgt beim letzteren schon eine 0,0075 ^ige Mischung, um eine ebenmerkliche Sauerempfindung zu erzeugen. Wenn man dazu noch bedenkt, dass wir in den Zahlen die Mittel-werthe aus zehn Einzelversuchen vor uns haben, so ist ja daraus noch gar nicht zu ersehen, wie gro\u00df erst die individuellen Differenzen in den concreten Resultaten gewesen sein m\u00f6gen. Diese Erw\u00e4gungen best\u00e4rken mich in der Annahme, dass sich die Kiesow\u2019schen Re-agenten nicht zuvor bewusst auf eine Empfindungsschwelle f\u00fcr Sauer einge\u00fcbt haben, die sie unterst\u00fctzt durch das Bekanntheitsgef\u00fchl im Wiedererkennungsacte als die n\u00e4mliche angeben konnten. Schlie\u00dflich sind aber die Differenzen der absoluten Schwellenwerthe bei der Relativit\u00e4t unserer Bewusstseinsvorg\u00e4nge f\u00fcr die Frage, auf die es zuletzt doch ankommt, von gar keiner Tragweite. Erfreulich ist vielmehr die Uebereinstimmung in den Verh\u00e4ltnissen der Reizschwellen an den einzelnen Zungentheilen, hier wie dort wird der empirische Nachweis erbracht, dass die Perceptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr Sauer an den einzelnen Zungenregionen verschieden ist, und dass diese Verschiedenheit einer nicht zu verkennenden Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit unterworfen ist; nur hat Kiesow blo\u00df einige bevorzugte Stellen des Organs daraufhin gepr\u00fcft, w\u00e4hrend sich die vorliegenden Untersuchungen \u00fcber die ganze Schmeckfl\u00e4che der Zunge erstrecken.\nAuch bei der Discussion \u00fcber die in Tabelle IV niedergelegten\nwundt, Philos. Studien. XVII.\t40","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"612\nD. P. H\u00e4nig.\nYersuchsresultate kann ich es mir der Deutlichkeit wegen nicht versagen, zur Erl\u00e4uterung eine Curvenconstruction zu H\u00fclfe zu nehmen Beginnen wir die Eunctionscurve f\u00fcr die periphere Umgrenzung der Geschmackszone so, dass die Reizschwelle der Zungenspitze die mittelste Ordinate bildet, dann erhalten wir zwei \u00e4quidistante Maxima die sich ziemlich genau \u00fcber der Mitte der Zungenr\u00e4nder erheben und anzeigen, dass die Perceptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr Sauer hier ihre gr\u00f6\u00dfte\nBasis rechter Rand,\tSpitze\tlinker Band, Basis\n--\u00ab--\u00bb-------- SiUs\n\u25a1- Bitt&p\n\u2014-o\u2014\u2014o\u2014 Senter\nKg. 5.\nSteigerung hat. Das Curvenminimum hingegen befindet sich \u00fcber der Zungenspitze, beinahe ebenso weit n\u00e4hert sich die Curve auch im Gebiete der Pap. vall. der Abscisse (Fig. 5 \u2014c\u2014>\u20141>). Die Sensibilit\u00e4t f\u00fcr Sauer an dem centralen Grenzsaume der Schmeckregion ergibt die n\u00e4mliche Curve nur in verj\u00fcngtem Ma\u00dfstahe und mit kleineren Kr\u00fcmmungsgraden.\nAls absolute Reizschwellen f\u00fcr einzelne Punkte innerhalb des Geschmacksg\u00fcrtels w\u00e4hle ich aus meinem Beobachtungsmateriale folgende als typisch aus. Zwischen:\nA und A' = 0,0540 0 *\t0\t=\t0,0390\nE \u00bb E' = 0,0400 H \u00bb H! = 0,0470 L \u00bb L' = 0,0390 N \u00bb & = 0,0390 0*0'= 0,0380\nVergleichen wir diese Zahlen mit den peripheren und centralen Schwellenwerthen der n\u00e4mlichen Radien, so erkennen wir auch f\u00fcr diese Qualit\u00e4t wieder die gleiche Erscheinung, dass sich die Perceptionsf\u00e4higkeit von der Zungenumrandung in radialer Richtung nach der f\u00fcr Geschmack unempfindlichen Mitte zu stetig vermindert-","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n613\nDie experimentelle Untersuchung der peripherisch bedingten Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der Sauerempfindung f\u00fchrt zu folgenden zusammenfassenden S\u00e4tzen:\n1.\tSauer wird an allen Stellen der Zungengeschmackszone empfunden, aber in verschiedener Intensit\u00e4t.\n2.\tDas physiologisch-peripherische Maximum der Sauerperception liegt in der Mitte der beiderseitigen Zungenr\u00e4nder, das Minimum im Bezirke der Pap. vall. und an der Zungenspitze.\n3.\tDie Sensibilit\u00e4t f\u00fcr Sauer w\u00e4chst auf jeder symmetrischen Zungenh\u00e4lfte von der Spitze aus in paralleler Richtung zur Umgrenzungslinie des Organs bis zur Mitte des Randes und sinkt von da ab allm\u00e4hlich bis zur Basis; ebenso verringert sich die Perceptionsf\u00e4higkeit von der Peripherie in centraler Richtung bis zur an\u00e4sthetischen Zungenmitte.\nF\u00fcnftes Capitel.\nZusammenfassende Betrachtung.\n1. Welchen Aufschluss, so fragen wir am Ende der Specialuntersuchungen, erhalten wir an der Hand der eingehenden Functionspr\u00fcfungen \u00fcber die peripherisch-organische Grundlage des Schmeck-processes ?\nBei der Sensibilit\u00e4tsermittlung bez\u00fcglich der vier prim\u00e4ren Ge\u00bb schmacksempfindungen trat uns allenthalben die Thatsache entgegen, dass die Zungenmitte f\u00fcr keinen der anerkannten Geschmackseindr\u00fccke empfindlich ist. Rings um diese unempfindliche Mittelregion lagert sich die perceptionsf\u00e4hige Zone, die bei dem n\u00e4mlichen Individuum f\u00fcr alle Qualit\u00e4ten identisch ist. Darin liegt ein durchaus abweichendes Verhalten der schmeckenden Zungenschleimhaut von der Netzhaut des Auges. Wenn die Isochromen Gebiete qualitativ verschiedener Empfindlichkeit abgrenzen, so k\u00f6nnten Isochymen \u00fcberhaupt nur in\n40*","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"614\nD. P. H\u00e4nig.\nEinschr\u00e4nkung auf die intensive Seite der Geschmacksempfindung innerhalb ein und derselben Qualit\u00e4t einen Sinn haben. Was die Breitenausdehnung des Geschmacksg\u00fcrtels anbelangt, so ist schon am anderen Orte bemerkt worden, dass er an der Spitze und der Zungenbasis einen gr\u00f6\u00dferen Durchmesser hat als in den lateralen Gebieten. Individuell schwankt wiederum die Breitenanordnung der schmeckenden Elemente auf der Zunge ; die topographische Darstellung konnte darum nur ein mittleres Bild der Schmeckfl\u00e4che wiedergehen (Eig. 7). Die Thatsache der in ihrer Function so verschiedenen Zungenregionen findet auch in den Untersuchungen \u00fcber den elektrischen Geschmack empirische St\u00fctzpunkte. Experimente der letzteren Art erfreuen sich, wie es nach den zahlreicheren Puhlicationen scheinen m\u00f6chte, f\u00fcr das fragliche Sinnesgehiet einer gro\u00dfen Beliebtheit. Gegen die unmittelbare Einwirkung mit fl\u00fcssigen Substanzen gew\u00e4hren die Beobachtungen des elektrischen Geschmackes technisch sicherlich nicht zu verkennende Vortheile. So k\u00f6nnen dabei z. B. die r\u00e4umliche Distanz der einzelnen Geschmackseindr\u00fccke sowie der zeitliche Verlauf des Processes wesentlich exacter verfolgt werden. Diesen Vorz\u00fcgen gegen\u00fcber darf man auch die Nachtheile der genannten Untersuchungsmethode nicht \u00fcbersehen ; einmal ist die elektrische Beizung unseren t\u00e4glichen Erfahrungen im Gebiete des Geschmackssinnes durchaus inad\u00e4quat, zum anderen stehen wir gegenw\u00e4rtig noch inmitten widerspruchsvoller Interpretationen der physiologischen Beizung hei der elektrischen Geschmackserregung. Oh nun heim sogenannten elektrischen Geschmacke Stammesreizung vorliegt, ob die elektrolytische Theorie Becht hat, oder oh directe Nervenreizung und indirecte durch elektrolytische Producte Zusammenwirken, wie Hofmann und Bunzel1) vermuthen, so kann doch durch die Verschiedenheit in der Auffassung an der Erfahrungs-thatsache nichts ge\u00e4ndert werden, dass die Zungenmitte, wie es bei Erwachsenen die Begel ist, f\u00fcr keine der vier Geschmacksqualit\u00e4ten Empfindlichkeit besitzt; Hof mann und Bunzel f\u00fcgen dem noch hinzu, dass sich auch dort kein elektrischer Geschmack erzeugen l\u00e4sst.\nAus dieser Functionspr\u00fcfung kann man demnach mit gro\u00dfer Wahrscheinlichkeit schlie\u00dfen, dass die Zungenmitte heim erwachsenen Menschen der geschmackempfindenden Elemente v\u00f6llig entbehrt.\n1) Franz Hofmann und Rudolf Bunzel, Untersuchungen \u00fcber den elektr. Geschmack. Pfl\u00fcger\u2019s Archiv, LXVI, S. 215\u2014232.","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n615\nDie Specialuntersuchungen haben uns zweitens noch von der allgemeinen Erscheinung \u00fcberzeugt, dass die Perceptionsf\u00e4higkeit von der Peripherie aus nach der Zungenmitte hin stetig abnimmt. Bei salzigen Geschmackseindr\u00fccken fanden wir zwar die Empfindlichkeitsabstufung weniger sinnf\u00e4llig, aber die Tendenz dazu war auch hier vorhanden. Errichten wir auf dem Zungenovale ein polares Ordinaten-system, so steigert sich auf jeder Ordinate von der inneren Grenze der Geschmackszone ab die Geschmackst\u00fcchtigkeit bis zum peripheren Endpunkte, hier erreicht sie jedesmal ihren relativen Maximalwerth. Hofmann und Bunzel1) best\u00e4tigen in ihrer Publication \u00fcber den elektrischen Geschmack dieselbe Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit: \u00bbEs l\u00e4sst sich eine allm\u00e4hliche Abnahme der Empfindlichkeit von den B\u00e4ndern gegen die Mitte der Zunge zu nachweisen. Substanzen, welche, auf die Zungenr\u00e4nder gebracht, stark schmecken, erzeugen einen um so schw\u00e4cheren Geschmack, je weiter sie nach einw\u00e4rts vom Rande aus applicirt werden. An der Grenze der unempfindlichen Zone ist der Geschmack nur noch ganz schwach angedeutet. Ganz dasselbe gilt auch f\u00fcr den elektrischen Geschmack.\u00ab Welchen Schluss k\u00f6nnen wir auf Grund dieser Beobachtungen \u00fcber die Beschaffenheit des peripherisch-physiologischen Substrates des Schmeckens wagen? Nach Analogie des Tastsinnes der \u00e4u\u00dferen Haut und des Gesichtssinnes werden wir diese Steigerung der Sensibilit\u00e4t auch nur begreifen k\u00f6nnen aus der Annahme, dass die Dichtigkeit in der Yertheilung der schmeckenden Elemente w\u00e4chst, je weiter wir uns der Zungenperipherie n\u00e4hern. Nur w\u00fcrde im Vergleiche zur Netzhaut die Dichtigkeitslagerung der Endgebilde am Geschmacksorgane eine geometrisch entgegengesetzte sein; dort w\u00e4chst die Sehsch\u00e4rfe in centripetaler Richtung in Folge der gr\u00f6\u00dferen Anh\u00e4ufung der St\u00e4bchen und Zapfen bis zur Fovea centralis, hier steigert sich die Feinheit des Geschmackes vermuthlich aus analogen Bedingungen, aber in centrifugaler Richtung.\nWenn oben gesagt worden ist, dass das periphere Ende jeder polaren Ordinate die gr\u00f6\u00dfte Empfindlichkeit f\u00fcr alle vier Hauptqualit\u00e4ten besitzt, so gilt das nur mit der Einschr\u00e4nkung auf die jeweilige Breitendimension des Geschmacksg\u00fcrtels. Vergleichen wir\n1) a. a. O. S. 220.","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"616\nD. P. H\u00e4nig.\ndie vier relativen Maxima eines solchen Punktes untereinander So wird uns sein unterschiedliches Verhalten gegen\u00fcber den qualitativ wechselnden Geschmackseindr\u00fccken deutlich entgegentreten, weil sich die Gebiete feinster Unterscheidung f\u00fcr die prim\u00e4ren Geschmacksqualit\u00e4ten auf unserem Organe nicht decken. So liegt ja, wie wir im vorangegangenen Capitel nachgewiesen haben, das absolute Sensibilit\u00e4tsmaximum f\u00fcr S\u00fc\u00df am Ende der polaren Ordinaten, die nach der Zungenspitze zu ausstrahlen, f\u00fcr Sauer an der Mitte der beiderseitigen Zungenr\u00e4nder, und die feinste Empfindlichkeit f\u00fcr Bitter fanden wir im Bezirke der Pap. vall. Obgleich f\u00fcr Salz die localen Bedingungen zu Intensit\u00e4tsunterschieden nicht in gleicher Weise ausgebildet sind, als f\u00fcr die \u00fcbrigen Grundempfindungen, so haben wir doch auch f\u00fcr diese Qualit\u00e4t wenigstens eine Neigung zu gesteigerter Sensation in der seitlichen und vorderen Randregion der Zunge constatiren k\u00f6nnen.\nNach dieser eingehenden Sensibilit\u00e4tsermittlung vermuthen wir, dass unter den reizbaren Elementen des Geschmacksorgans eine functionelle Differenzirung eingetreten ist, und dass sich die in ihrer Adaptation f\u00fcr ad\u00e4quate Reize \u00fcbereinstimmenden Endapparate besonders an den Stellen der Zungenoberfl\u00e4che h\u00e4ufen, wo die betreffende Qualit\u00e4t ihr Empfindungsmaximum besitzt. In Anlehnung an gel\u00e4ufige Ausdr\u00fccke aus der Psychologie des Gesichtssinnes l\u00e4sst sich das Gesammtergebniss der Reizschwellenermittlung allgemein auch so formuliren: Das Zungenschmeckfeld ist f\u00fcr alle Qualit\u00e4ten identisch, der Schmeckpunkt im Sinne feinster Unterscheidung ist f\u00fcr jede einzelne Qualit\u00e4t innerhalb des Schmeckfeldes r\u00e4umlich verschieden. Wir begegnen hierin wiederum einer Umkehrung der Verh\u00e4ltnisse auf der Netzhaut, insofern n\u00e4mlich der Blickpunkt in Bezug auf die qualitativ verschiedenen Farbeneindr\u00fccke allenthalben derselbe ist und die chromatischen Blickfl\u00e4chen nach den Seitenregionen der Netzhaut verschiedene Ausdehnung haben.\nDurch die gesetzm\u00e4\u00dfige Vertheilung der functionell differenzirten Endorgane des Geschmackssinnes ergibt sich auch eine entfernte Beziehung zum Geh\u00f6rssinne ; letzterer ist ein eminent analytischer Sinn, und auch dem Geschmackssinne wohnt eine analysirende Kraft inne; complicirte Geschmacksinhalte l\u00f6st er bekanntlich in seine Componen-ten auf. Dabei habe ich an mir des \u00f6fteren wahrgenommen, dass ich den fraglichen Reizstoff, der die gemischte Empfindung ausl\u00f6ste,","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n617\nunwillk\u00fcrlich so in der Mundcavit\u00e4t hin- und herzubewegen strebte, dass er von jedem der Geschmackspunkte gleichsam deutlich fixirt werden konnte. In diesem motorischen Momente klingt gewisserma\u00dfen auch im Gebiete des Geschmackssinnes das Gesetz von der Correspondenz zwischen Fixation und Apperception an, freilich nicht in dem einheitlichen Sinne wie beim Sehen, sondern in aufgetheilter Energie f\u00fcr die anerkannten specifischen Qualit\u00e4ten mit Ausnahme des Salzigen.\nNach dem Functionshefunde postuliren wir f\u00fcr die Zunge als Geschmacksorgan folgende Merkmale:\n1.\tDie specifischen Endapparate des Geschmackssinnes beschr\u00e4nken sich beim Erwachsenen auf den Zungenrand.\n2.\tIhre Dichtigkeit ist an der Peripherie der Schmeckfl\u00e4che am gr\u00f6\u00dften.\n3.\tNach ihrer functionellen Differenzi-rung vertheilen sich die peripheren physiologischen Substrate so auf der Zungenoberfl\u00e4che, dass die s\u00fc\u00dfempfindenden Elemente besonders geh\u00e4uft an der Zungenspitze, die sauerpercipirenden an der Mitte der R\u00e4nder und die f\u00fcr Bitter adaptirten im Bezirke der Pap. vall. auftreten.\nEinen anschaulichen Ausdruck der im Vorstehenden postulirten Merkmale f\u00fcr unser Geschmacksorgan enth\u00e4lt das Zungen-\t7-\nbild in Fig. 7. Da sind die symbolischen\nZeichen f\u00fcr alle vier Qualit\u00e4ten nach Ma\u00dfgabe der \u00f6rtlichen Geschmackst\u00fcchtigkeit eingetragen worden. Wenn zur Form der Symbole noch die Farbe als Unterscheidungsmittel hinzutr\u00e4te, dann w\u00fcrde die Darstellung an Anschauungswerth noch gewinnen. Es bedarf \u00fcbrigens wohl kaum der Bemerkung, dass die topographische Wiedergabe wie die Ourvenconstruction (Fig. 5) lediglich didaktische Bedeutung haben soll. Wie schwierig ist es doch, die Intensit\u00e4tswerthe der qualitativ verschiedenen Geschmacksempfindungen auf einander zu beziehen und nach dem subjectiven Eindr\u00fccke mit Sicherheit urtheilen zu wollen, dass die S\u00fc\u00dfempfindung, die etwa von 0,335 ^iger L\u00f6sung","page":617},{"file":"p0618.txt","language":"de","ocr_de":"618\nD. P. H\u00e4nig.\nherr\u00fchrt, intensiv v\u00f6llig gleich sei einer Bitterempfindung, welche von einem 0,00006 ^igen Chininderivat ausgel\u00f6st wird, und so fort die vier Qualit\u00e4ten durch. Zu einem solchen subjectiven Einheitsma\u00dfe f\u00fchren die experimentellen Beobachtungen im Gebiete des Geschmackssinnes nicht. Wie mangelhaft unser Ged\u00e4chtniss f\u00fcr Geschmackseindr\u00fccke \u00fcberhaupt ist, zeigt sich auch hierbei wieder. Darum kann die graphische Darstellung, die die qualitativ verschiedenen Reizschwellen auf ein Zungenbild projicirt, nur ein approximativer Ausdruck f\u00fcr die psychophysische Wahrheit sein. F\u00fcr die vergleichsweise Beurtheilung der verschiedenen Geschmacksempfindungen fehlt uns ein objectives Kriterium, wie wir es bei den ad\u00e4quaten Reizen der h\u00f6heren Sinne in Wellenl\u00e4nge, Schwingungsgeschwindigkeit Schwingungsweite u. dgl. besitzen, berechnen und variiren k\u00f6nnen. Das Wesen der chemischen Agentien, welche die objectiven Voraussetzungen zu unseren subjectiven Geschmacksempfindungen bilden, ist f\u00fcr uns noch v\u00f6llig in Dunkel geh\u00fcllt. Mit der chemischen Formel gewisser Substanzen ist uns da nicht geholfen.\n2. Wie ist vom entwicklungsgeschichtlichen Standpunkte aus die eigenartige Gestaltung des Geschmacksorgans zu begreifen? Kiesow1) hat seiner Abhandlung \u00fcber die physiologische Psychologie des Geschmackssinnes einen entwicklungsgeschichtlichen Excurs eingef\u00fcgt, phylo- wie ontogenetisch hat er die Abwandlungen und Vervollkommnung des fraglichen Organs in aufsteigender Reihe verfolgt. Das Resume seiner Darstellung, soweit sie f\u00fcr uns actives Interesse hat, ersch\u00f6pft sich in dem Satze, dass sich mit dem Auftreten der Zahnreihe und der damit Hand in Hand gehenden Ern\u00e4hrungsver\u00e4nderung die Schmeckfunction von der Mitte der Zunge mehr und mehr zur\u00fcckzog und allm\u00e4hlich lediglich auf die Randzone beschr\u00e4nkte. Mit diesem genetischen Argumente stehen unsere Specialuntersuchungen \u00fcber die Schmeckfl\u00e4che durchaus im Einkl\u00e4nge. Gehen wir diesem entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkte weiter nach, so werden sich auch die \u00fcbrigen Merkmale, die wir oben nach dem Functionsbefunde als Postulate hingestellt haben, zwanglos in die Betrachtung einordnen. Die peripherischen Endorgane, die Schmeckzellen, sind erwiesenerma\u00dfen eingebettet in die sogenannten Schmeckbecher oder\n1) Philos. Studien, X, S. 345 ff.","page":618},{"file":"p0619.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\t619\nGeschmacksknospen. Vielleicht haben die flaschenf\u00f6rmigen Gebilde \u00e4hnlich wie nach Wundt1) die Pacini\u2019schen K\u00f6rperchen f\u00fcr die Endigung der Tastnerven, unter anderem die Aufgabe, die Geschmacksnervenenden vor inad\u00e4quaten Reizen zu sch\u00fctzen. Die Reizfl\u00fcssigkeit kann nur durch den engen Geschmacksporus, der nach Ranvier2) in die oberfl\u00e4chliche lamellare Schicht des Epithels eingegrahen ist, bis zu den Geschmackszellen Vordringen. Das Eindringen wird sicherlich durch \u00e4u\u00dferen Druck nicht nur erleichtert, sondern auch beschleunigt. Die erforderliche Unterst\u00fctzung findet das Geschmacksorgan an dem Widerstande der Z\u00e4hne und des Zahnfleisches. Am wirksamsten kann sich nat\u00fcrlich der Gegendrack an der Zungenperipherie geltend machen. Sollte hierin nicht vielleicht der wesentlichste Factor daf\u00fcr zu erblicken sein, dass sich gerade die schmeckenden Elemente der \u00e4u\u00dfersten Randzone der Zunge so hervorragend den Geschmacksreizen adaptiren konnten? Vielleicht vermindert sich die Sensibilit\u00e4t der Randzone zungeneinw\u00e4rts genau in dem Ma\u00dfe, als die Wirkung dieses Widerstandes nachl\u00e4sst? Somit k\u00f6nnen wir aus dem n\u00e4mlichen genetischen Gesichtspunkte auch eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die centripetale Abstufung der Perceptionsf\u00e4higkeit auf der Schmeckfl\u00e4che ableiten. Nicht minder ungezwungen kann man aus dem Momente des Gegendrucks auch die gesteigerte Empfindlichkeit der einzelnen Zungenregionen entwicklungsgeschichtlich zu begreifen versuchen. Durch Wundt\u2019s3) Theorie der Ausdrucksbewegungen ist diese Auffassung bereits vorgezeichnet; es sei dabei nochmals erinnert an die Correspondenz von Fixation und Apperception im Gebiete des Gesichtssinnes. Wenn wir aus einem Geschmackseindrucke complexer Natur neben der dominirenden Empfindung die ebenmerklichen (Komponenten herausfinden wollen, etwa einen zarten s\u00fc\u00dfen Beigeschmack, so percipiren wir mit der Zungenspitze in der Weise, dass wir damit gegen die vordere Zahnwand, mehr noch aber gegen die geschlossenen Lippen reiben. So weit sich nun diese Reibungsfl\u00e4che auf der Zunge ausbreitet, so weit reicht auch das f\u00fcr s\u00fc\u00dfe Geschmacksreize bevorzugte Gebiet. Ganz analog verhalten wir uns, wenn wir ebenmerk-\n1)\tWundt, Physiol. Psychologie, 4. Auf!., I, S. 303.\n2)\tRanvier, Technisches Lehrbuch der Histologie. Uebersetzt von Nicoti u. Wyss. S. 867.\n3)\tWundt, V\u00f6lkerpsychologie, I, 1, S. 32 ff.","page":619},{"file":"p0620.txt","language":"de","ocr_de":"620\nD. P. H\u00e4nig.\nliclie saure Reize erkennen wollen. Da stellt sich unbewusst eine Compression der Wangenschleimhaut ein. An der so zwischen die obere und untere Zahnreihe beiderseitig eingezogenen Wangenschleim-haut bewegen wir dann die Zunge hin und her. Es muss dabei auffallen, dass sich diese Zungenreihungsfl\u00e4chen mit jenen Randregionen decken, welche die maximale Empfindlichkeit f\u00fcr Sauer besitzen. F\u00fcr die Bittersensation an der Zungenbasis ist der nat\u00fcrliche Gegendruck am Palatum molle, Velum und den Gaumenbogen ohne weiteres gegeben, hei jeder Schlingbewegung macht er sich wirksam und presst die Reizsubstanz in den Porus ein. Diese Intensit\u00e4tssteigerung durch den Gegendruck wollen wir eben umgehen, wenn wir bei Einwirkung stark sauer schmeckender Stoffe den Mund in die Breite ziehen oder wenn wir den Gaumen heben und die Zunge hinten m\u00f6glichst niederdr\u00fccken, sobald wir recht widerw\u00e4rtig bitter schmeckende Stoffe verschlucken m\u00fcssen. Anderseits streben wir bei S\u00fc\u00dfempfindungen eine Verst\u00e4rkung der Sensation dadurch an, dass wir nach Wundt\u2019s1) Beobachtung die Zungenspitze in schwachen Saugbewegungen den angenehm schmeckenden Stoffen intermittirend entgegenf\u00fchren. Wenn aus diesem Zusammenh\u00e4nge genetisch verst\u00e4ndlich wird, warum sich gerade die in der Specialuntersuchung erkannten Zungenregionen den Geschmackseindr\u00fccken so besonders fein adaptiren konnten, so m\u00f6chte ich kaum eine Vermuthung dar\u00fcber wagen, weshalb sich die qualitative Differenzirung gerade in der vorliegenden Reihenfolge und Vertheilung vollzogen hat. Am ehesten k\u00f6nnte man f\u00fcr die S\u00fc\u00dfadaptation dem Umstande einen Erkl\u00e4rungswerth beimessen, dass im fr\u00fchen Kindesalter die saugende Aufnahme s\u00fc\u00dfer Stoffe \u00fcberwiegt und dadurch die Perceptionsf\u00e4higkeit f\u00fcr diese Qualit\u00e4t an der Zungenspitze erh\u00f6ht wird. F\u00fcr die \u00fcbrigen Elementargeschm\u00e4cke entbehren wir auch einen solchen wahrscheinlichen Erkl\u00e4rungsgrund.\n3. Zum Schl\u00fcsse werfen wir noch einen Blick auf die physiologische, anatomische und histologische Forschung \u00fcber den Geschmackssinn insoweit, als ihre Resultate zu den auf Grund von Functionspr\u00fcfungen erkannten Merkmalen des fraglichen Sinnes\n1) Wundt, Physiol. Psychologie, 4. Aufl., II, S. 604. V\u00f6lkerpsychologie 1,1. S. 98 \u2014 99. Bemerkungen zur Theorie der Gef\u00fchle, Ph\u00fcos. Stud. XV, S. 166.","page":620},{"file":"p0621.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n621\nirgendwie in Beziehung stehen. Begegnet man in den Hand- und Lehrb\u00fcchern der genannten Disciplinen \u00fcber die Verbreitung der Nerven in der Zungenschleimhaut im allgemeinen theils ungenauen, theils einander widersprechenden Ansichten, so vermisst man noch ganz besonders einheitliche Angaben dar\u00fcber, welchen Nerven \u00fcberhaupt die specifische Leitung der Geschmacksempfindung zum Centralorgane zukommt. Die Controverse, ob ausschlie\u00dflich der N. glosso-pharyngeus oder oh mit ihm zugleich der N. lingualis die Geschmackssensation vermittelt, reicht herein bis in die Fachliteratur unserer Tage. Eine Zusammenstellung derselben mit Hervorhebung dieses Gesichtspunktes finden wir neuerdings bei Zander1), ausf\u00fchrlicher noch bei Bautenberg2). Gegenw\u00e4rtig scheint ja die Ansicht, dass der N. glossopharyngeus nur zu dem hinteren Theile der Zunge Geschmacksfasem liefert und der N. lingualis die R\u00e4nder und die Zungenspitze mit solchen versorgt, die Oberhand zu gewinnen. Die Einschr\u00e4nkung der Glossopharyngeusinnervation auf die Zungenbasis machen die Durchschneidungsversuche des betreffenden Nerven, wie sie v. Vintschgau und H\u00f6nigschmied3), Sandmeyer4) und Semi Meyer5 6 *) ausgef\u00fchrt haben, im hohen Grade wahrscheinlich; hei diesen Experimenten traten nach einigen Tagen auffallende Ver\u00e4nderungen in den Geschmacksknospen des zugeh\u00f6rigen Bezirkes ein; von all den genannten Autoren wurde der Vorgang in gleicher Weise erkannt, wenn auch verschieden interpretirt. F\u00fcr die Bedeutung des N. lingualis im Dienste des Schmeckprocesses sprechen namentlich die pathologischen Beobachtungen Feodor Krause\u2019s8); seinem Berichte entnehme ich folgenden Satz: \u00bbAus diesem Befunde geht hervor, dass der Trigeminus Fasern enth\u00e4lt, welche die Geschmacksempfindungen f\u00fcr einzelne Qualit\u00e4ten, haupts\u00e4chlich f\u00fcr S\u00fc\u00df, Sauer und\n1)\tZander, Ueber das Verbreitungsgebiet der Gef\u00fchls- und Geschmacksnerven in d. Zungenschleimhaut. Anatom. Anzeiger, XIV, Nr. 5, S. 131\u2014145. 1897.\n2)\tRautenberg, Beitr\u00e4ge zur Kenntniss der Empfindungs- und Geschmacksnerven der Zunge. K\u00f6nigsberger Dissertation 1898.\n3)\tv. Vintschgau und H\u00f6nigschmied, Pfl\u00fcger\u2019s Archiv, XIV, 1876;\nXXin, 1880.\n4)\tSandmeyer, Archiv f\u00fcr Physiologie und Anatomie, physiol. Abtheilung. 1895, S. 269.\n5)\tSemi Meyer, Berliner Dissertation 1899.\n6)\tF. Krause, Die Physiologie des Trigeminus u. s. w. M\u00fcnchener medic.\nWochenschrift 1895, S. 629.","page":621},{"file":"p0622.txt","language":"de","ocr_de":"622\nD. P. H\u00e4nig.\nSalzig vermitteln; und dass diese Fasern sich in der Zungenspitze und in den vorderen zwei Dritteln des Seitenrandes der Zunge vertheilen. \u00ab Wenn also die anatomische Forschung unterst\u00fctzt durch klinische Erfahrungen1) das Verbreitungsgebiet der bezeichneten Nerven richtig umgrenzt hat; dann zeugen die vorliegenden Reizschwellenermittlungen entschieden zu Gunsten der Ansicht, welche dem N. lingualis \u2014 ganz im Sinne der Krause\u2019sehen Angaben \u2014 hervorragenden Antheil an dem Zustandekommen der Geschmacksempfindungen sichert. So gern man vielleicht aus theoretischen Erw\u00e4gungen heraus f\u00fcr den Geschmackssinn wie f\u00fcr die \u00fcbrigen Specialsinne eine einzige centripetale Nervenleitung ausfindig gemacht und darum an dem N. glossopharyngeus als dem ausschlie\u00dflichen Geschmacksnerv festgehalten h\u00e4tte, so muss man doch die Hoffnung auf Best\u00e4tigung eines Ergebnisses, welches Analogieschl\u00fcsse vorwegnahmen, in Anbetracht solcher Erfahrungsthatsachen f\u00fcglich aufgeben.\nWird somit durch naturwissenschaftliche Betrachtungen im allgemeinen die im psychologischen Laboratorium gewonnene Anschauung \u00fcber die r\u00e4umliche Ausbreitung der Zungenschmeckfl\u00e4che best\u00e4rkt, so m\u00f6chte ich noch referirend auf eine anatomische Untersuchung hinweisen, die eventuell auch die gesteigerte Perceptionsf\u00e4higkeit einzelner Regionen innerhalb des Geschmacksg\u00fcrtels zugleich mit erkl\u00e4ren k\u00f6nnte. Zander2) und auch Rautenberg3) haben in der Zungenschleimhaut doppelt innervirte Bezirke nachgewiesen. Zu den schon vor ihnen erkannten Anastomosen der Endver\u00e4stelungen des linken und rechten N. glossopharyngeus und des N. lingualis und N. glossopharyngeus derselben Seite beschreiben die genannten Autoren auch Anastomosen zwischen den Endverzweigungen des linken und rechten N. lingualis namentlich in der Zungenspitze. Man k\u00f6nnte ohne weiteres geneigt sein, die verfeinerte Sensibilit\u00e4t der Zungenspitze, des mittleren Randdrittels und der Basis mit diesem anatomischen Befunde in Zusammenhang zu bringen, wenn nicht zugleich der ganze Medialstreifen der Zungenoberfl\u00e4che mit zu den doppelt innervirten Bezirken geh\u00f6rte, wo erwiesenerma\u00dfen gar keine Geschmacksempfindungen ausgel\u00f6st werden. Zander f\u00fcgt zwar hinzu, dass das Mittelgebiet des Zungenr\u00fcckens etwa 1 cm von der Spitze ab bis 3 cm vor\n1) L. v. Frankl-Hochwart, Ueber die Innervation des Geschmacks. Cen-\ntralblatt f. Physiologie, X, S. 60.\t2) a. a. 0.\t3) a. a. 0.","page":622},{"file":"p0623.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes.\n623\ndem Foramen caecum nur sp\u00e4rlich innervirt sei, und dass hier die Lingualiszweige nur bis an die Mittellinie hinan oder h\u00f6chstens 2 bis 3 mm \u00fcber sie hinaus pr\u00e4parirt werden konnten.\nWeil nun die Nervenfasern von sich aus als einfache Leiter zur Aufnahme von Geschmackserregung gar nicht bef\u00e4higt sind, so kann auch durch die Topographie der Nervenzweige, die ja zugleich auch Tastfasern enthalten, das peripherische Sensorium des Geschmackes allein nicht festgestellt werden. Erg\u00e4nzend m\u00fcssen Nachweise \u00fcber die r\u00e4umliche Anordnung und Dichtigkeit der Sinneszellen hinzukommen, in welchen sich die Transformation der physikalischen Beize vollzieht. Die Schmeckzellen vereint mit St\u00fctz- oder Deckzellen bilden die sogenannten Geschmacksknospen, die wir als organische Be-standtheile in gr\u00f6\u00dferer oder geringerer Zahl in den Pap. vall., fol. und fungiformes vorfinden. lieber die H\u00e4ufung dieser Gebilde bezw. \u00fcber ihren Beichthum an Schmeckzellen finden wir in der einschl\u00e4gigen Literatur nur sp\u00e4rliche Angaben. W. Krause1) unterscheidet zwei Arten von Pap. fungiformes, von denen er die eine am Seitenrande der Zunge gelegene Art als Pap. lenticulares, die andere am Zungenr\u00fccken befindliche als Pap. conicae bezeichnet. Nur die mehr flachen Pap. lenticulares sollen nach diesem Autor Geschmacksknospen enthalten. Nicht minder wie durch diese Bemerkung wird auch durch eine Notiz hei Merkel2) die maximale Perceptionsf\u00e4higkeit des Zungenrandes begreiflich gemacht. \u00bbDie pilzf\u00f6rmigen Papillen nehmen nach den B\u00e4ndern an Zahl zu; hier h\u00e4ufen sie sich, und besonders die Spitze zeigt sie oft in betr\u00e4chtlicher Anzahl. \u00ab\nIst die Ausbeute der literarischen Umschau in den Disciplinen, welchen die Causalerkl\u00e4rung unserer unmittelbaren Erfahrung ihre Erg\u00e4nzungsglieder zu entnehmen pflegt, auch arm an positiven Angaben f\u00fcr die vorliegenden Functionspr\u00fcfungen, so darf man vielleicht die Thatsache, dass den Besultaten dieser psychophysischen Untersuchungen in den wissenschaftlichen Grenzgebieten weder direct noch indirect widersprochen wird, vor der Hand in zustimmendem Sinne deuten.\n1)\tW. Krause, Handbuch der menschl. Anatomie. 3. Aufl., II, S. 404. \u2014 Broesicke, Lehrbuch der normalen Anatomie. 6. Aufl. 1899. S. 561.\n2)\tFr. Merkel, Handbuch der topograph. Anatomie, I, S. 377.","page":623}],"identifier":"lit4562","issued":"1901","language":"de","pages":"576-623","startpages":"576","title":"Zur Psychophysik des Geschmackssinnes","type":"Journal Article","volume":"17"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:24:51.627292+00:00"}