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{"created":"2022-01-31T14:12:25.387348+00:00","id":"lit4565","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Barth, Paul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 19: 22-48","fulltext":[{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung.\nVon\nP. Barth.\nLeipzig.\nInhalt. Gebundenheit der Wortstellung in fast allen Sprachen. \u2014 Auch das Lateinische hat gebundene Wortstellung in der Volkssprache. \u2014 Urspr\u00fcngliche Freiheit der europ\u00e4ischen Sprachen. \u2014 Einengung dieser Freiheit. \u2014 Ursache dieser Einengung: besonders auch die Association durch Aehnlich-keit des Gef\u00fchls. \u2014 Ein Beispiel der Wirkung derselben ist wohl die Wortstellung im deutschen Nachsatze. \u2014 Die germanischen Sprachen dennoch sehr frei in der Wortstellung. \u2014 Rassenpsyehologische Bedeutung dieser Thatsaclie.\nDie Verschiedenheit der Wortstellung ist eins der bedeutsamsten, aber auch schwierigsten Probleme der vergleichenden Sprachforschung. Und zwar m\u00fcsste sich eine vollst\u00e4ndige Vergleichung nicht blo\u00df auf den gegenw\u00e4rtigen Zustand, sondern auch auf die Vergangenheit beziehen, durch den Lauf der Jahrhunderte den Wandel der Wortstellung verfolgen. Zu dieser Vollst\u00e4ndigkeit fehlt noch sehr viel, selbst da, wo gen\u00fcgende Denkm\u00e4ler sie erm\u00f6glichen w\u00fcrden. Indessen, so viel l\u00e4sst sich schon jetzt aus einem allgemeinen Ueber-blicke ersehen: die Gebundenheit der Wortstellung im Satze ist weitaus vorherrschend, so allgemein, dass die Freiheit ihr gegen\u00fcber eine seltene Ausnahme bildet. Ueberblicken wir einmal die gro\u00dfen Sprachst\u00e4mme in dieser Hinsicht!\nDie indochinesischen Sprachen zeigen uns eine absolut starre Wortfolge im Satze, die keine Ausnahmen zul\u00e4sst. So sagt G. von der Gabelentz1): \u00bbDiese ganze [chinesische] Syntax beruht auf wenigen mehr oder minder unverbr\u00fcchlichen Gesetzen der Wortstellung\u00ab. Und mag auch das classische Chinesisch des Confucius\n1) Chinesische Grammatik, \u00a7 254. Leipzig 1881.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien \"Wortstellung.\n23\nuncl seiner Zeit, auf das sich Gabelentz zun\u00e4chst bezieht, schon das Ergehniss einer langen Entwicklung, mag vielleicht die \u00e4lteste Form der chinesischen Sprache freier in der Wortstellung gewesen sein, jedenfalls seit Confucius, also seit mehr als 2000 Jahren ist die alte Starrheit nur wenig gemildert worden1). Im h\u00f6chsten Grade ist hier entwickelt, was Wundt \u00bbinnere Wortform\u00ab nennt2). Nicht ein \u00e4u\u00dferlich sichtbares Suffix oder Pr\u00e4fix bezeichnet den Casus des Nomens, sondern die Stellung im Satze. Das Subjeet steht vor dem Pr\u00e4dicate, das Object nach dem Yerbum, das bestimmende Wort vor dem bestimmten3).\nAuch die ural-altaischen Sprachen haben eine typische Wortstellung. Meist steht das Object voran, dann das Yerbum, zuletzt das Subject4).\nDie Bantusprachen, die, unter einander aufs engste verwandt, einen sehr ausgepr\u00e4gten, ganz S\u00fcdafrika mit Ausnahme der Hottentotten und Buschm\u00e4nner beherrschenden Typus bilden, zeigen ebenfalls so feste Wortstellung, dass das Subjects- und das Objectsver-b\u00e4ltniss nur aus der Stellung erkannt werden. Desgleichen wird das Genetivverli\u00e4ltniss durch Yorausgehen des Begriffs des Besessenen vor dem mit zwei Partikeln eingef\u00fchrten Begriffe des Besitzers bezeichnet5).\nDie amerikanischen Sprachen, die Wort und Satz unterscheiden, wie z. B. die Sprache der Irokesen, haben ebenfalls gebundene Wortstellung6). Erst recht aber diejenigen, in denen der Satz nur ein erweitertes Yerbum darstellt, die sogenannten ein verleibenden Sprachen, bei denen \u00bbin den ein Satzganzes vertretenden zusammengesetzten Conjugationsformen die Stellung der Glieder eine gegebene ist, die sich dann auf die etwa au\u00dferhalb dieser Formen stehenden isolirten W\u00f6rter \u00fcbertr\u00e4gt\u00ab7).\n1)\tVgl. 0. Arendt, Handbuch d. nordchinesischen Umgangssprache, I. Stuttgart u. Berlin 1891, S. 160: \u00bbDie gew\u00f6hnliche Wortstellung ist Subjeet, Yerbum, Object.\u00ab Und S. 159 wird von Arendt ausdr\u00fccklich die Gleichheit der Stellungsgesetze der modernen Umgangssprache und derer der (nach S. 201) sehr alten Schriftsprache heyvorgehoben.\n2)\tWundt, V\u00f6lkerpsychologie, I, die Sprache, 2. Theil. Leipzig 1900. S. 2.\n3)\tYgl. v. d. Gabelentz, a. a. 0., \u00a7\u00a7 255 \u2014258.\n4)\tWundt, a. a. O., S. 370.\n5)\tVgl. Pr. Muller, Grundriss d. Sprachwissenschaft, 1,2. Wien 1877. S. 262.\n6)\tYgl. Pr. M\u00fcller, H, 1. Wien 1882. S. 207.\n7)\tWundt, a. a. O., I, 2, S. 369.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nPaul Barth.\nW\u00e4hrend alle diese Sprachen das Subject vorausgehen, das Verbum folgen lassen, kehren die malayo-polynesischen und die semitischen Sprachen die Ordnung um, sie lassen das Verbum vorausgehen1.)\nInsbesondere die semitischen Sprachen bieten f\u00fcr die vorliegende Frage viele interessante Erscheinungen. Im Verbalsatze steht das Verbum vor dem Suhjecte, im Nominalsatze das Pr\u00e4dicat nach dem Subjecte, das Object des Verbalsatzes folgt dem Suhjecte2).\nHier liegt keine N\u00f6thigung vor, den Casus durch die Stellung zu bezeichnen; denn das Arabische unterscheidet im Singular oft durch drei Endungen Nominativ, Genetiv, Accusativ, mindestens aber im Singular und im Plural durch zwei Endungen den Subjectscasus gegen\u00fcber dem Genetiv und Accusativ. Eine freiere Stellung des Subjects w\u00fcrde also mit keiner Zweideutigkeit verbunden sein. Dennoch ist sie streng gebunden, jeder Willk\u00fcr des Sprechenden entzogen.\nDas Hebr\u00e4ische hat zwar keine Casusbezeichnung durch Flexion, wohl aber durch Pr\u00e4positionen, es unterscheidet dadurch den Dativ und den Accusativ vom Nominativ; das Genetivverh\u00e4ltniss ist im sogenannten status constructus durch die innere Flexion des besessenen und immer vorangestellten Begriffs kenntlich gemacht. Es liegt also nie die Gefahr vor, die Casus zu verwechseln, gleichviel wo sie stehen. Dennoch ist im hebr\u00e4ischen Satze die Wortstellung eine durchaus gebundene. E. K\u00f6nig meint, dass es m\u00f6glich sei, den \u00bbpr\u00e4ponde-rirenden Satztheil\u00ab, d. h. das psychologisch, nicht grammatisch wichtigste Wort durch Voranstellung auch \u00e4u\u00dferlich hervorzuheben. Doch muss er sogleich zugeben, dass \u00bbdie Anwendung dieser Mittel zum Theil durch eine beim Verbalsatze \u00fcberwuchernde Satzverkn\u00fcpfungs-art und im allgemeinen auch durch die Neigung zur chiastischen Wortstellung beeinflusst\u00ab, d. h. beeintr\u00e4chtigt wurde3). Nur 83 Stellen aus der ganzen Bibel wei\u00df er aufzuz\u00e4hlen, in denen das Object vorangestellt wird4). Und zwar zeigt diese Aufz\u00e4hlung, dass die Mehrzahl der Schriftsteller des Alten Testaments, wie die Verfasser des\n1)\tWundt, a. a. O., I, 2, S. 372.\n2)\tYgl. A. Soein, Arabische Grammatik, \u00a7\u00a7119, 122.\n3)\tE. K\u00f6nig, Historisch-kritisches Lehrgeb\u00e4ude der hebr\u00e4ischen Sprache, II, 2. Leipzig 1897. S. 432 f.\n4)\tA. a. O., S. 435.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung.\n25\nDeuteronomiums, des Buches Josua, des Rickterbuches, der B\u00fccher Samuelis, der Chronik, der B\u00fccher Esra, Nehemia, Esther, der Spr\u00fcche, des Predigers, des Hohenlieds, die Propheten Hesekiel, Daniel, Jo\u00ebl, Amos, Obadja, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, sich einer solchen Voranstellung ganz enthalten. Dabei ist in Bezug auf den hebr\u00e4ischen Accusativ durch die bezeichnende Partikel MS jedes Missverst\u00e4ndniss ausgeschlossen, der Accusativ bedarf nicht der \u00bbinneren Wortform\u00ab, da er eine \u00e4u\u00dfere hat.\nUnd diese Gebundenheit hat sich in den semitischen Sprachen im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende nicht ge\u00e4ndert. Im Neuarabischen wenigstens besteht sie noch heute mit derselben Strenge wie im alten Arabischen. \u00bbDas Subject dieser S\u00e4tze (der Nominals\u00e4tze) hei\u00dft, womit angefangen wird, oder Inchoativ\u00ab. \u00bbDer Verbalsatz besteht in der Regel aus einem Verbum mit nachfolgendem Subject\u00ab, sagt A. Wahrmund1).\nNoch reicher als das doch keineswegs arme Arabische ist an Flexionen das Sanskrit. Acht wohlunterschiedene Casus im Singular, deren sechs oder mindestens f\u00fcnf im Plural, in dem der Form nach einige Casus mit einem andern zusammenfallen, und drei wohlgesonderte Formen des Duals lassen die Gefahr der Unerkennbarkeit des syntaktischen Werthes des Nomens minimal erscheinen. Dennoch hat auch das Sanskrit keine freie, sondern eine traditionelle Wortstellung, allerdings nur, wie B. Delbr\u00fcck sagt2), in der Prosa und auch hier nur \u00bbin ruhiger oder gew\u00f6hnlicher Darstellung\u00ab.\nDieser Forscher fasst (a. a. O.) die Gesetze dieser \u00bbtraditionellen\u00ab Wortstellung folgenderma\u00dfen zusammen: 1. Das Subject er\u00f6ffnet den Satz. 2. Das Verbum schlie\u00dft den Satz. 3. Die \u00fcbrigen Satz-theile werden in die Mitte genommen. 4. Die Apposition folgt ihrem Bezugsworte nach. 5. Der attributive Genetiv und das Adjectivum gehen dem Substantivum voran. 6. Die Pr\u00e4positionen gehen dem Verbum voran, folgen aber ihrem Casus nach. 7. Die enklitischen W\u00f6rter haben, wenn sie nicht zu einem bestimmten Satztheile in nothwendiger Beziehung stehen, die Tendenz, sich an den Satzanfang\n1)\tPraktische Grammatik der neuarabischen Sprache, I, 2. Aufi. Gie\u00dfen 1879. \u00a7\u00a7 336 u. 337.\n2)\tAltindische Syntax (Syntaktische Forschungen V), S. 15 f.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nPaul Barth.\nanzulehnen. Daneben aber gibt es schon in der \u00bbruhigen oder gew\u00f6hnlichen Darstellung\u00ab eine occasionelle Wortfolge, \u00bbderen haupts\u00e4chlichstes Grundgesetz das folgende ist: Je wichtiger ein Wort dem Redenden erscheint, um so entschiedener strebt es dem Anfang des Satzes zu\u00ab.\nBeide Wortfolgen aber, die traditionelle wie die occasionelle, \u2014 das ist als charakteristisch f\u00fcr das Sanskrit festzuhalten, \u2014 gelten nicht f\u00fcr die gehobene Prosa, auch nicht f\u00fcr die Poesie.\nDieser Unfreiheit oder \u2014 wie im Sanskrit \u2014 theilweise verlorenen Freiheit gegen\u00fcber scheinen die classischen Sprachen durch die v\u00f6llige Freiheit ihrer Wortstellung ausgezeichnet. Ein Beispiel sei etwa Plato, Phaedrus, 256 E: xa\u00fcxa, xoao\u00fbxa xal \u00f6sTa, aoi Bcupvjosxai y; -ap\u2019 Ipaaxoo cpiXta. Und f\u00fcr das Lateinische der bekannte Vers Vergils: Infandum, regina, jubes renovare dolorem. Das Princip der Voranstellung betonter Begriffe1), daneben das Gesetz des Wohllauts, scheint in den classischen Sprachen aufs genaueste befolgt zu sein, jede \u00fcberlieferte \u00e4u\u00dfere Norm der Wortstellung zu fehlen.\nUnd vielleicht verh\u00e4lt es sich so im Griechischen. Es hat eine Freiheit der Wortstellung entwickelt, wie keine andre Sprache2). Irgend welche conventionelle Beschr\u00e4nkungen derselben scheinen bis jetzt nicht entdeckt zu sein. Vom Lateinischen aber gilt nicht mehr das Gleiche. F\u00fcr die fr\u00fcheren Philologen gab es nur ein Latein, die gegenw\u00e4rtigen aber haben entdeckt, dass es hei den R\u00f6mern so gut wie hei den V\u00f6lkern der Gegenwart, neben der Kunstsprache, die allerdings hei jenen mit besonderer Virtuosit\u00e4t ausgebildet ist, noch eine von dieser au\u00dferordentlich verschiedene Volkssprache gibt, und dass sich sogar in unsrer Ueberlieferung Proben der Volkssprache in gro\u00dfer Zahl finden lassen.\nSo m\u00fcssen wir wohl die Oom\u00f6dien des Plautus zur Volkssprache rechnen. Desgleichen die mannigfachen Spr\u00fcchw\u00f6rter. Zur Volkssprache geh\u00f6ren ferner die mannigfachen S\u00e4tze, die als Wandinschriften in Pompeji und Herculanum gefunden wurden, vieles in der Cena Trimalchionis und alles, was man jetzt unter dem Namen des\n1)\tVgl. Wundt, V\u00f6lkerpsychologie I, 2, S. 350.\n2)\tVgl. R. K\u00fchner, Ausf\u00fchrliche Grammatik der griechischen Sprache, II, 2 2. Auf!., Hannover 1872. \u00a7 604.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung.\n27\ndes Vulg\u00e4rlateins begreift, das freilich nicht blo\u00df in seiner grammatischen Structur, sondern auch lautlich von der Schriftsprache mannigfach abweicht *). Dieser Volkssprache \u00e4hnlich, \u2014 jedenfalls von der Kunstsprache ebenfalls sehr differenzirt \u2014 zeigt sich die gebildete Umgangssprache, wie sie Terenz in seinen Com\u00f6dien schrieb.\nDass beide, die Volkssprache, f\u00fcr die Plautus, und die gebildete Umgangssprache, f\u00fcr die Terenz typisch ist, von der Kunstsprache der Dichtung wesentlich abweichen, ist jedem Kenner des \u00e4lteren Lateins bekannt. Schon die Nachahmung des griechischen Sprach1 gebrauclis, von der die Kunstsprache sehr durchsetzt ist, die Volksund die Umgangssprache aber frei sind, bewirkt tiefgreifende Unterschiede. Aber auch, wo diese Nachahmung nicht hineinspielt, ist die Kunstsprache freier. In enge Grenzen ist z. B. bei Plautus und Terenz im Gegens\u00e4tze zur Kunstsprache der Gebrauch des Infinitivs eingeschlossen2), desgleichen die Substantivirung des Ad-jectivs, in der die Kunstdichtung kein Ma\u00df kennt3).\nWo mehrere Wortfolgen m\u00f6glich sind, wird in der einfachen, kunstlosen Sprache die Neigung herrschen, diejenige zu w\u00e4hlen, die der nat\u00fcrlichen Gliederung der Gesammtvorstellung entspricht, und darum schon mehr, als die anderen, einge\u00fcbt ist, also f\u00fcr die clas-sischen Sprachen: Subject, Pr\u00e4dicat, Object, oder: Subject Object,\n1)\tVgl. F. G-. Mohl, Introduction \u00e0 la chronologie du latin vulgaire (Biblioth\u00e8que de l\u2019Ecole des Hautes Etudes, vol. 122), Paris 1899, p. 266: \u00bb(Le latin vulgaire) est simplement le d\u00e9veloppement historique de la langue latine dans les diff\u00e9rentes r\u00e9gions de l\u2019Empire romain et durant toute l\u2019histoire de Kome jusq\u2019au d\u00e9membrement de l\u2019Empire, d\u2019abord en dehors de l\u2019idiome litt\u00e9raire du Latium, puis sous son influence et sa direction.\u00ab Die eigentlich r\u00f6mische Volkssprache beschr\u00e4nkt sich also auf Latium ; in allen \u00fcbrigen italischen Landschaften wurde Vulg\u00e4rlatein gesprochen, auch in Campanien, wo Pompeji und Herculanum lagen. Das Vulg\u00e4rlatein ist so einfach eine Mischung der r\u00f6mischen Literatur-sprache mit localen, aus anderen italischen Dialekten stammenden Idiotismen. Da es aber vom Volke gesprochen wurde, ohne dass ihm eine eigne Literatursprache entgegenstand, so wird es in seinem grammatischen Charakter jedenfalls der r\u00f6mischen Volkssprache geglichen haben.\n2)\tVgl. P. Barth, De infinitivi apud scaenicos poetas latinos usu. Diss. inaug. Lipsiae 1881, p. 14, 24.\n3)\tVgl. P. Barth, Die Eleganz des Terenz im Gebrauche des Adjectivs. Neue Jahrb\u00fccher f. dass. Philologie. 30. Jahrg. (1884), S. 177 ff.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nPaul Barth.\nPr\u00e4dicat. Es ist dies die Form des erkl\u00e4renden Satzes1), der doch der h\u00e4ufigste im Verkehr ist.\nIn der That finden wir in den r\u00f6mischen Spr\u00fcchw\u00f6rtem, die doch zweifellos der Volkssprache, mindestens der Umgangssprache angeh\u00f6ren, am h\u00e4ufigsten diese einfache Wortstellung, wenn wir von den metrisch geformten, wo die Erfordernisse des Verses sie umgestalten, und von den blo\u00dfen sprichw\u00f6rtlichen Wendungen, die keine vollst\u00e4ndigen S\u00e4tze sind, absehen.\nIndem ich die neueste Sammlung2) durchmustere, und mich auf diejenigen beschr\u00e4nke, in denen das Subject nicht in die Verbalform eingeschlossen ist, finde ich folgende, die den eben gekennzeichneten Typus zeigen: Aqua dentes habet (S. 31); Honos alit artes (S. 42); Avaritia omnia vitia habet (S. 51)3); Baibus melius balbi verba cog-noscit (S. 53); Sus Minervam docet (S. 60); Canis caninam non est (S. 70), Non ille capillos liheros habet (S. 74) ; Qui celocem regere nequit, onerariam petit (S. 79); Corvus oculum corvi non eruit (S. 93); Aliud alios decet (S. 106); Dei irati pedes lanatos hahent (S. 110); Dei facientes adjuvant (S. 111); Figulus figulo, faber fabro invidet (S. 136); Homo frugi omnia recte facit (S. 147); Fulmenta lectum scan-dunt (S. 148); Largitio fundum non habet (S. 149); Ignis aurum probat, miseria fortes viros (S. 170); Imperitia confidentiam, eruditio timorem cr\u00e9\u00e2t (S. 172); Strabones, qui holera spectant, lardum tollunt (S. 187); Manus manum lavat (S. 210); Pater tuus mercedes perdidit (S. 219); Mures molas lingunt (S. 234); Is qui arat olivetum, rogat fructum, qui stercorat, exorat, qui caedit, cogit (S. 254); Nemo omnia potest scire (S. 255); Qui in pergula natus est, aedes non somniatur (S. 273); Sol omnibus lucet (S. 326); Ego jam pridern tutorem meum extuli (S. 353); Venter praecepta non audit (S. 364); Quaelibet vulpes cau-dam suam laudat (S. 379); Vulpes pilum mut\u00e2t, non mores (S. 379).\nDiesen 30 Beispielen der typischen Wortstellung, die sich, wenn ich nicht alle in gebundener Bede vorkommenden ausgeschlossen h\u00e4tte, leicht vermehren lie\u00dfen, stehen nur drei gegen\u00fcber, in denen das\n1)\tVgl. Wundt, V\u00f6lkerpsychologie I, 2, S. 361.\n2)\tA. Otto, Die Spr\u00fcchw\u00f6rter und spr\u00fcchw\u00f6rtlichen Redensarten der R\u00f6mer. Leipzig 1890. Die beigef\u00fcgten Ziflern beziehen sich auf die Seitenzahl bei Otto.\n3)\tSo, wie auch einige der folgenden Spr\u00fcchw\u00f6rter, hergestellt aus der in-directen Rede: Avaritiam omnia vitia habere putabant.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung. 29\nObject dem Subject vorausgeht. Und bei diesen l\u00e4sst sich sehr deutlich das psychologische Motiv der Voranstellung erkennen. Es sind folgende : oleum perdit et impensas, qui bovem mittit ad ceroma (253). Hier ist die Breviloquenz des Spr\u00fcchworts, sein Streben nach K\u00fcrze schuld. Es w\u00fcrde sich dieser Satz der herrschenden Form f\u00fcgen, wenn vor dem oleum das grammatisch eigentlich notwendige is st\u00e4nde, das nur der K\u00fcrze wegen weggefallen ist. In den \u00fcbrigen zwei Beispielen aber: fortes fortuna adjuvat (S. 144) und immunem cives \u00f6dere sui (S. 172) vertreten die Anfangsworte offenbar je einen Bedingungssatz = si qui fortes sunt und si quis immunis est (immunis hier = avarus), und sind darum vorangestellt. Denn das Bedingende muss dem Bedingten logisch und darum auch zeitlich und in der Aussage vorausgehen. Jedenfalls ist dieses Vorausgehen des Bedingenden, das Nachfolgen des Bedingten, die nat\u00fcrliche, ungesuchte, sich von selbst darbietende Anordnung1).\nEin gleiches Ergebnis erh\u00e4lt man, wenn man die r\u00f6mischen Kechts-spr\u00fcchw\u00f6rter durchmustert2). Sie zerfallen in zwei Theile. \"Wo nicht besonderer Anlass zur Betonung eines Begriffs gegeben ist, da ist die Wortstellung die normale, d. h. das Subject steht vor dem Pr\u00e4dicate und dem Objecte, so dass da, wo Nominativ und Accusativ gleich lauten,\n1)\tAndere bei Otto vorkommende F\u00e4lle, in denen das Object vor dem nominalen Subject steht, betreffen kein Spr\u00fcchwort. S. 30 citirt er aus Seneca ep. 84, 2 : Apes, ut aiunt, debemus imitari. In dieser trivialen, kein significantes Wort, blo\u00df das matte \u00bbdebemus\u00ab enthaltenden Passung klingt diese Sentenz durchaus nicht spr\u00fcchw\u00f6rtlich. Es ist offenbar, dass Seneca nur den Inhalt, nicht die Form des Spr\u00fcchwortes anf\u00fchrt. S. 87 steht bei Otto ein Satz Ulpians aus den Digesten (48, 19, 18}: Cogitationis poenam nemo patitur. Doch f\u00fcgt Otto selbst hinzu: \u00bbOb derselbe aber schon im Alterthum sprichw\u00f6rtliche Geltung hatte, ist zweifelhaft.\u00ab Endlich, was Otto S. 343 wieder aus Seneca (De Ira, 11,22,3) anf\u00fchrt: \u00bbVeritatem dies aperit\u00ab, ist von Seneca als Spr\u00fcchwort nicht bezeugt und findet sich nie, wie es bei einem Spr\u00fcchwort nothwendig w\u00e4re, mit denselben Worten bei einem andern r\u00f6mischen Schriftsteller. Ebenso wie mit diesem letzten Beispiele verh\u00e4lt es sich mit folgenden: Aequat omnes cinis (229), Permultis ei indigent, qui permulta possident (232). Invenit patella operculum (267, wo mehrere andere Passungen desselben Gedankens citirt werden). Perrum rubigo consumit (135, neben drei anderen Fassungen). Novit salutem medicina, morbos autem non novit (216, wahrscheinlich, wie dort nachgewiesen wird, ein Vers eines Dichters).\n2)\tAm besten zusammengestellt als \u00bbRegister der Par\u00f6mien\u00ab von H. Dern-burg, Pandekten, 6. Auf!., 1900, am Anfang von I, 2, II und HI.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nPaul Barth.\ndas vorangehende Wort den Nominativ bedeutet, z. B. petitorium absorbet possessorium. Wo aber ein Satzglied betont und darum an den Anfang gesetzt wird, tritt eine v\u00f6llige Inversion ein. Das Subject kommt dann ans Ende. Typisch f\u00fcr die erste Form ist: Locus regit actum, f\u00fcr die zweite: Casum sentit dominus. Von 27 Spr\u00fcch-w\u00f6rtem, die, weil Subject, Verbum, Object enthaltend, in Frage kommen, geh\u00f6ren 22 zum ersten Typus, zum zweiten au\u00dfer dem oben angef\u00fchrten folgende drei: Minima non curat praetor. Jura novit curia. Quem de evictione tenet actio, eundem repellit exceptio *). Ein einziges, nulli res sua servit, enth\u00e4lt eine Voranstellung des betonten Begriffs ohne weitere Inversion.\nDieselbe H\u00e4ufigkeit der Wiederholung wie f\u00fcr die Rechtsspr\u00fcch-w\u00f6rter ist wohl f\u00fcr die einzelnen Gesetze anzunehmen, die in den zw\u00f6lf Tafeln verzeichnet waren. Sie sind ja sicherlich nicht vom Gesetzgeber erst festgestellt, sondern, l\u00e4ngst durch den Gebrauch zur Geltung gelangt, von ihm nur aufgezeichnet worden. Nirgends in den \u00dcberresten, die uns erhalten sind, geht das Object dem Nominativ voraus1 2). Si pater filium ter venum duuit ist die typische Wortstellung, die noch starrer als in den Rechtsspr\u00fcchw\u00f6rtem sich darstellt, weil das Verbum fast immer, in Haupt- wie in Nebens\u00e4tzen, am Ende steht. Freilich, bei der Sp\u00e4rlichkeit der \u00fceberreste sind es nur elf S\u00e4tze, in denen diese typische Wortstellung erscheint, denen allerdings kein gegentheiliges Beispiel gegen\u00fcbersteht.\nUm so wichtiger ist f\u00fcr die Kenntniss des Sprachgebrauchs der zw\u00f6lf Tafeln die Nachahmung derselben, die Cicero in seiner Schrift de legibus III, 3 und 4 gegeben hat. Es sind hier 131 S\u00e4tze, in denen das Pr\u00e4dicat 126 Mal am Ende, nur f\u00fcnfmal weiter vorn stellt. Die Nachahmung stimmt darin mit dem Original \u00fcberein, so dass die Endstellung des Verbums f\u00fcr das alte Latein als typisch gelten kann. Ebenso typisch ist die Voranstellung des Nominativs vor das Object. Wenn man die einzelnen Glieder zusammengezogener S\u00e4tze gesondert z\u00e4hlt, gibt es in Cicero\u2019s Nachahmung 39 solcher S\u00e4tze. Wenn man die zusammengezogenen S\u00e4tze nur als je einen gelten l\u00e4sst, sind\n1)\tEin bei Dernburg angef\u00fchrtes Spr\u00fcchwort mit v\u00f6lliger Inversion stammt nicht aus dem Corpus juris, sondern aus den mittelalterlichen Glossen.\n2)\tVgl. Fontes juris Romani antiq\u00fci ed. E. G. Bruns, 5. ed. Freiburg 1887. S. 14\u201442. In \u00bbrogum ascea ne polito\u00ab (S. 34) ist \u00bbascea\u00ab Ablativ.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung.\n31\nos ihrer immer noch 16, denen nur drei mit umgekehrter Wortfolge entgegenstehen. \u00bb Omnes magistratus auspicium judiciumque habento1) \u00ab, die Wortfolge dieses Satzes ist so allgemein, dass sie beinahe als gesetzm\u00e4\u00dfig gelten kann. Jedenfalls ist die Sprache des alten r\u00f6mischen Rechts in ihrer Wortfolge sehr weit entfernt von individueller Freiheit.\nAber selbst da, wo es sich nicht um formelhafte, gewisserma\u00dfen erstarrte Spriichw\u00f6rter oder Rechtss\u00e4tze handelt, bietet die Volkssprache eine gro\u00dfe Regelm\u00e4\u00dfigkeit der Wortstellung2).\nDie pers\u00f6nlichen Pronomina zeigen eine Wortfolge, die, weil ausnahmslos, als Gesetz gelten kann: 1. Der Nominativ der ersten und zweiten Person steht immer vor jedem Casus obliquus derselben Personen. Z. B. : ego te laudo, nicht umgekehrt. 2. Wenn zwei Casus obliqui der ersten und zweiten Person Zusammenkommen, steht der Accusativ voran. Z. B.: me tui misereri postulas3). Und noch eine Reihe \u00e4hnlicher Regeln l\u00e4sst sich aufstellen, die ebenfalls, weil keine Ausnahme zulassend, Gesetze genannt und von den Ausnahmen zulassenden \u00bbNormen\u00ab ausdr\u00fccklich unterschieden werden4).\nDiese Regelm\u00e4\u00dfigkeit der Stellung gerade der Pronomina gibt vielleicht eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr eine scheinbar zuf\u00e4llige Erscheinung in den romanischen Sprachen. Wenn im Italienischen und im Spanischen sowohl in der modernen wie in der alten Sprache, falls nicht besondere K\u00fcnstelei beabsichtigt ist, das Pronomen der dritten Person, das vom lateinischen ille herkommt, nie dem der ersten vorangeht, sondern immer folgt5), so ist das wohl darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren, dass\n1)\tA. a. 0. ed. Vahlen, 2. ed. Berolini, 1883, lib. III, 3, 10.\n2)\tZuletzt hat dar\u00fcber gehandelt E. Kellerhoff, De collocatione verborum Plautina quaestiones selectae, in Studemund\u2019s Studien auf dem Gebiete des archaischen Lateins, 2. Bd., Berlin 1891, S. 49\u201484. Ich verdanke den Hinweis auf diese Schrift ebenso wie auf die oben genannte von Mohl Hrn. Prof. Pr. Marx.\n3)\tKellerhoff, a. a. \u00d6., S. 51 f.\n4)\tKellerhoff, a. a. 0., S. 50.\n5)\tVgl. P. Diez, Grammatik der romanischen Sprachen, III (5. Auf!.), Bonn 1882, S. 1109 vom Italienischen: \u00bbLi, le, lo, la stehen den andern (F\u00fcrw\u00f6rtern) gew\u00f6hnlich nach, zierlich auch voran.\u00ab Vom Spanischen sagt Diez (a. a. 0.), dass, wenn mehrere F\u00fcrw\u00f6rter Zusammentreffen, der Dativ dem Accusativ vortritt. Da aber die Dative der dritten Person (le, les) dann durch se ersetzt werden, so folgen die wirklich in Verbindung mit andern gebrauchten F\u00fcrw\u00f6rter der dritten Person diesen andern immer nach.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nPaul Barth.\nin der r\u00f6mischen Umgangssprache die Stellung me illi, mihi ilium viel gebr\u00e4uchlicher als die umgekehrte war1).\nAber nicht blo\u00df von dem pers\u00f6nlichen Pronomen gilt diese Kegelm\u00e4\u00dfigkeit. Jedes Pronomens und jedes Nomens Nominativ steht ausnahmslos in der sogenannten Figura etymologica vor dem Casus obliquus. Z. B. : liospes hospitem salutat2). Auch Negationen, Con-junctionen und Partikeln zeigen eine \u00fcberraschende Regelm\u00e4\u00dfigkeit ihrer Stellung3). Ferner sind Formeln wie ita me di ament ganz fest und unab\u00e4nderlich gepr\u00e4gte M\u00fcnzen4). Und dies alles, obgleich die hier in Betracht kommenden Schriftsteller Verse schreiben, also gewiss sehr oft in Versuchung gekommen sind, der Prosodie wegen von dem Gebr\u00e4uchlichen abzuweichen.\nDiese Erstarrung der Wortstellung, die wir an der Umgangssprache des Lateinischen .bemerken, oder vielmehr diese Tendenz zur Erstarrung l\u00e4sst es nicht wunderbar erscheinen, dass wir dieselbe Tendenz in allen romanischen Sprachen wirksam finden, bis sie ganz durchdringt. Dante ist noch viel freier als der italienische Dichter von heute und dieser wieder freier als der Prosaiker. Er darf noch den Accusativ eines Nomens vor das Verbum setzen, was die Prosa stets vermeidet. Ganz \u00e4hnlich verh\u00e4lt es sich im Spanischen, w\u00e4hrend\n1)\tDiese Stellung oder wenigstens die deutliche Tendenz dazu zeigt sich schon bei Terenz. An 53 Stellen steht bei ihm ein Personalpronomen der ersten oder der zweiten Person ohne Pr\u00e4position mit einem Casus von \u00bbille\u00ab so zusammen, dass dieses ohne Substantivum und ohne Pr\u00e4position gesetzt ist, also dem aus ihm entstandenen franz\u00f6sischen pronom conjoint der -dritten Person und den entsprechenden italienischen oder spanischen W\u00f6rtern gleichwerthig ist. An 47 Stellen habe ich das pers\u00f6nliche F\u00fcrwort vor dem Casus von \u00bbille\u00ab stehend gefunden, nur an 6 Stellen, Andr. 952 (ed. Umpfenbach), Haut. 159, 495, 703, Phorm. 676, Hec. 580, folgend. Ad. 829 \u00bbillos tu\u00ab ist nicht zu rechnen, weil \u00bbillos\u00ab zum Relativsatze, \u00bbtu\u00ab zum Hauptsatze geh\u00f6rt. \u00bbIste\u00ab folgt bei Terenz in derselben Weise wie \u00bbille\u00ab 23mal einem pers\u00f6nlichen F\u00fcrwort, nur zweimal, Haut. 683, Phorm. 530, steht es ihm voran. Auch hier ist die Regelm\u00e4\u00dfigkeit auffallend. Wenn man sich auf die Casus obliqui der pers\u00f6nlichen Pronomina und von ille und iste beschr\u00e4nkt, auch diejenigen Accusative, die im Acc. cum Inf. als Subjecte stehen, ausscheidet, kann man ein ausnahmsloses Gesetz der Nachstellung von ille und iste nach den pers\u00f6nlichen F\u00fcrw\u00f6rtern gewinnen. Nur Hec. 580 st\u00e4nde dagegen, wo jedoch die Ueberlieferung unsicher ist.\n2)\tKellerhoff, a. a. 0., S. 58.\n3)\tEbenda, S. 60 ff.\n4)\tEbenda, S. 77 ff.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung.\n33\nim Franz\u00f6sischen auch in der Poesie eine solche Voranstellung des Accusativs unm\u00f6glich, \u00fcberhaupt die Poesie fast ebenso gebunden wie die Prosa ist.\nDie gr\u00f6\u00dfere Freiheit des Angels\u00e4chsischen, von der weiter unten die Rede sein wird, ist nicht mehr vorhanden. Der romanische Einschlag, der mit dem Normannischen ins Angels\u00e4chsische kam, hat hier das Fl\u00fcssige erstarren lassen, so dass das heutige Englisch in Poesie und Prosa der Festigkeit der franz\u00f6sischen Wortstellung nicht viel nachgibt1).\nInteressant ist es nun mit denjenigen modernen Sprachen, die den Einfluss des Lateinischen erfahren haben, diejenigen zu vergleichen, die nur von der Sprache der freiesten Wortstellung, dem Griechischen ber\u00fchrt worden sind, n\u00e4mlich die slavischen Sprachen. Was zun\u00e4chst das Russische betrifft2), so ist im Altrussischen Anfangs- und Endstellung des Verbums herrschend, die erste in der Erz\u00e4hlung, die zweite in der Schilderung, die Mittelstellung, zwischen Subject und Object, tritt nur da ein, wo das Subject besonders betont ist. In der heutigen Volkssprache hingegen \u00bbnimmt die Mittelstellung den breitesten Raum ein, ohne dass sich f\u00fcr ihr Auftreten jedesmal Gr\u00fcnde finden lie\u00dfen; ja sie verdr\u00e4ngt die Anfangsstellung sogar aus ihrem eigensten Gebiete, den S\u00e4tzen mit einleitender Bestimmung. Und das ist im ganzen auch der Standpunkt der Schriftsprache, nur dass die Mittelstellung noch st\u00e4rker \u00fcberwiegt\u00ab3). Berneker ist nicht geneigt, dies auf das Beispiel fremder Sprachen, der deutschen oder der franz\u00f6sischen zur\u00fcckzuf\u00fchren, da auch die von diesem Beispiel unber\u00fchrte Volkssprache in eigener klarer Entwicklung zu dieser Wortfolge gelangt ist. In der polnischen Volks-\n1)\tYgl. E. M\u00e4tzner, Englische Grammatik, III, 2, 3. Aufl., Berlin 1885, 8. 586: \u00bbDie englische Sprache, obwohl \u00e4rmer an Biegungsformen als die romanischen, hat Vorz\u00fcge vor diesen in der Anordnung der W\u00f6rter und Satzglieder bewahrt, welche sie im wesentlichen dem Angels\u00e4chsischen verdankt .... Die volle Freiheit des Angels\u00e4chsischen ist ihr nat\u00fcrlich selbst in der Poesie versagt ; aber Nachkl\u00e4nge germanischer Wortanreihungen hat sie dauernd bewahrt und am meisten in der Poesie verwerthet, wie in Mundarten und in der Volkssprache mehrfach abgespiegelt.\u00ab Diese Darstellung ist wohl f\u00fcr die Freiheit des heutigen Englischen noch zu g\u00fcnstig.\n2)\tIch folge hier der Schrift von E. Berneker, Die Wortfolge in den slavischen Sprachen. Berlin 1900. S. 29 f.\n3)\tBerneker, a. a. 0., S. 30.\nWundt, Philog. Studien XIX.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nPaul Barth.\nspr\u00e4che sind alle drei Stellungsarten des Verbums ziemlich gleich h\u00e4ufig vertreten1). In der polnischen Schriftsprache aber ist die Mittelstellung des Verbums vorherrschend2). Also auch hier, im Russischen, trotz einstiger Einwirkung des Griechischen, und im Polnischen, finden wir eine Einengung der urspr\u00fcnglichen Freiheit.\nNoch augenf\u00e4lliger aber ist diese Einengung in den reingermanischen Sprachen, soweit ihre Prosa in Betracht kommt. W. Braune3) charakterisirt den Entwicklungsgang ihrer Wortstellung folgenderma\u00dfen :\nDie urgermanische Wortstellung war eine freie, d. h. das Verbum konnte sowohl im Hauptsatze als im Nebens\u00e4tze ganz beliebig am Anf\u00e4nge, in der Mitte oder am Schl\u00fcsse stehen. Ul filas h\u00e4lt sich in seiner \u00dcbersetzung einfach an seinen griechischen Text, weil eben im Gothischen dieselbe Freiheit wie im Griechischen herrschte. Im weiteren Verlaufe der Sprachgeschichte hat eine Beschr\u00e4nkung derselben stattgefunden. Es trat eine Bevorzugung der Anfangsstellung des Verbums in Haupt- und Nebens\u00e4tzen ein, die Schlussstellungen schwanden. Und so verh\u00e4lt es sich noch in den neunordischen Sprachen.\nIm Alt-Angels\u00e4chsischen zeigt sich eine Tendenz zur Differenzi-rung zwischen Haupt- und Nebens\u00e4tzen, zur Schlussstellung in den letzten, zur Anfangsstellung in den ersten. Doch griff diese Tendenz nicht durch. Im sp\u00e4teren Englisch sind Nebensatz und Hauptsatz in Bezug auf die Stellung des Verbums gleich, da beide es an zweiter Stelle haben.\nNur auf dem deutschen Boden ist diese Tendenz zur Differenzi-rung zweier Satzarten durchgedrungen. Schon im Althochdeutschen ist die Schlussstellung des Verbums f\u00fcr den Nebensatz die \u00bbweitaus herrschende Regel\u00ab, im Neuhochdeutschen ist sie ein unverbr\u00fcchliches Gesetz.\nIn Bezug auf das Gothische kommt G. H. Me Knight4) zu demselben Ergehniss wie Braune. F\u00fcr die \u00fcbrigen altgermanischen\n1)\tEbenda, S. 50.\n2)\tEbenda, S. 52.\n3)\tForschungen zur deutschen Philologie (Festgabe f\u00fcr Rudolf Hildebrand). Leipzig 1894. S. 50 f.\n4)\tPrimitive Teutonic Order of Words, in: Journal of Germanic Philology, vol. I (1897), S. 159 f.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung. 35\nDialekte nimmt er eine allerdings auch im Gothischen schon leise beginnende Neigung an, in allen affirmativen S\u00e4tzen, gleichviel ob Hauptoder Nebens\u00e4tzen, das Verbum ans Ende zu setzen1). Aus welchen Ursachen diese Tendenz im Deutschen sich auf die Nebens\u00e4tze beschr\u00e4nkt, in diesen aber auch auf die negativen sich ausgedehnt hat, l\u00e4sst er uner\u00f6rtert. F\u00fcr uns ist wesentlich, dass Me Knight die v\u00f6llige Freiheit der Verbumstellung im Gothischen zugibt. Auch H. Wunderlich, der zuletzt \u00fcber die Frage der deutschen Wortstellung gehandelt hat2), gibt zu, \u00bbdass die \u00e4lteste Wortstellung im Deutschen frei gewesen ist, wie in andern indogermanischen Sprachen, und sich die urspr\u00fcngliche Mannigfaltigkeit, die auch im Hauptsatze die Schluss Stellung (des Verbums) erm\u00f6glichte, erst im Laufe der Entwicklung einengte. \u00ab Als feste Stellungen, die allm\u00e4hlich die urspr\u00fcngliche Freiheit eingeengt haben, nennt Wunderlich3) au\u00dfer der Endstellung des Verbums im Nebens\u00e4tze die des Imperativs, des Jussivs, des Optativs, die immer am Anf\u00e4nge des Satzes stehen, die Frageform, die das betonte Wort an den Anfang setzt, und die Anfangsstellung des Verbums in dem Hauptsatze, der einem Nebens\u00e4tze folgt.\nF\u00fcr die Wortstellung des Nebensatzes macht Wunderlich4) als Erkl\u00e4rungsgrund mit Hecht geltend, dass der Hauptsatz sich in einzelnen Momenten vor dem H\u00f6rer aufbaut, der Nebensatz aber abgeschlossene Vorstellungen dazwischen schiebt, mit denen der Hauptsatz als mit einer Einheit operirt. Daraus ergebe sich, dass das Verbum des Nebensatzes der Tr\u00e4ger des Einheitsgedankens werde und darum nach einem auch sonst geltenden deutschen Gesetze die Eeihe schlie\u00dfen m\u00fcsse. So trete hei Zusammensetzungen das bestimmende Wort ebenfalls voran, das bestimmte, der Tr\u00e4ger der Bestimmung, ans Ende, das Substantiv stehe nach dem bestimmenden Adjectiv, der Infinitiv oder das Participium in der periplirastisehen Conjugation nach dem bestimmenden H\u00fclfszeitworte.\nDesgleichen gibt Wunderlich5) f\u00fcr die Stellung des Imperativs, des Jussivs und f\u00fcr die Frageform den einleuchtenden psychologischen Grund an, dass \u00bbhier jedenfalls derjenige Satztheil an die Spitze tritt,\n1)\tA. a. O., S. 219.\n2)\tDer deutsche Satzbau, I, 2. Aufl., Stuttgart 1901, S. 403.\n3)\tA. a. O., S. 413 ff.\t4) A. a. 0., S. 404.\t5) A. a. 0., S. 414.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nPaul\" Barth.\ndessen Inhalt im Vordergr\u00fcnde des Bewusstseins steht.\u00ab Warum aber, wenn das Subject den Satz nicht er\u00f6ffnet, die Inversion bald stattfindet, bald, wie nach den Bindepartikeln: \u00bbund, aber, auch, oder\u00ab unterbleibt, davon wei\u00df Wunderlich keine Rechenschaft zu gehen. Ebenso wenig von der Anfangsstellung des Verbums im Nachsatze. Denn das \u00bbGef\u00fchl f\u00fcr Parallelismus\u00ab, das er anf\u00fchrt1), k\u00f6nnte sich doch nur auf den voraufgehenden Nebensatz beziehen, m\u00fcsste also das Verbum nicht an den Anfang, sondern ans Ende r\u00fccken. Und schlie\u00dflich muss Wunderlich zugeben, dass die F\u00e4lle, in denen das Verbum aus psychologischem Grunde, weil im Vordergr\u00fcnde des Bewusstseins stehend, vorangestellt wurde, auf die andern, wo dies nicht der Fall war, schablonisirend gewirkt haben.\nAber die Schablonisirung waltet nicht blo\u00df in der Wortstellung des Nachsatzes. Auch in den h\u00e4ufiger gebrauchten Formeln der Umgangssprache macht sie sich geltend. W\u00e4hrend einige derselben noch nicht erstarrt sind, so dass man z. B. ohne erheblichen Unterschied der Schattirung sagen kann, \u00bbw\u00fcnsche viel Vergn\u00fcgen\u00ab und \u00bbviel Vergn\u00fcgen w\u00fcnsch\u2019 ich\u00ab, sind andere schon viel fester geworden. \u00bbIch bitte um Verzeihung\u00ab ist die gew\u00f6hnliche Einleitung zu einem diesem Anf\u00e4nge entsprechenden Satze. Wenn eine Umstellung ein-tritt: \u00bbUm Verzeihung bitte ich\u00ab, so gibt sie der Rede schon eine gewisse Feierlichkeit, weil wir sie als ungewohnt f\u00fchlen. Ebenso wie hei dieser letzten verh\u00e4lt es sich bei anderen conventioneilen Formeln : \u00bbIch habe die Ehre, ich habe das Vergn\u00fcgen, ich bin sehr erfreut, ich bitte mich zu Hause zu empfehlen\u00ab u. a. Ganz fest sind vollends \u00e4hnlich wie im Lateinischen ita me di ament u. a. auch die deutschen Schwurformeln geworden: Gott straf mich, Gott verdamm\u2019 mich, so wahr mir Gott helfe, wei\u00df Gott, da sei Gott vor, und \u00fcberhaupt alle religi\u00f6sen Formeln: Gott sei Dank (\u00bbDank sei Gott\u00ab w\u00e4re ganz ungewohnt und feierlich), Gott sei Loh und Dank, Gott sei\u2019s geklagt, gr\u00fc\u00df Gott u. a. \u00bbGott sei hei uns\u00ab ist sogar zu einem Nomen erstarrt.\nFreilich mit dem Begriffe der fortschreitenden Schablonisirung ist noch nichts erkl\u00e4rt. Es ist nur die Thatsache constatirt.\nWarum, um eine von den mannigfachen Schahlonisirungen herauszugreifen, die im Althochdeutschen noch nicht allgemeine End-\n1) A. a. O., S. 418.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung. 37\nStellung des Verbums im Nebensatze sich streng durchsetzt, warum die Inversion in dem auf einen Nebensatz folgenden Hauptsatze, im Mittelhochdeutschen noch keineswegs feststehend, allm\u00e4hlich f\u00fcr die Prosa zum unverbr\u00fcchlichen Gesetze wird, das kann nur aus stetig wirkenden Kr\u00e4ften und Processen des Seelenlebens erkl\u00e4rt werden.\nMit Recht hat Wundt \u00f6fter in seiner \u00bbV\u00f6lkerpsychologie\u00ab alle bewusste Teleologie, auch alle besonderen f\u00fcr die Sprache angenommenen Triebe, den Trieb zur Bequemlichkeit, den Trieb zur Erhaltung bedeutsamer Unterschiede, den Trieb zur Gleichf\u00f6rmigkeit, die \u00bbRudimente der alten Erfindungstheorie vom Urspr\u00fcnge der Sprache\u00ab als unwirklich abgelehnt1). Es bleiben vielmehr auch f\u00fcr die Erscheinungen der Wortstellung nur die Processe der Association und der Apperception als Ursachen aller Ver\u00e4nderungen \u00fcbrig.\nHier liegt noch eine ganze Reihe von Problemen f\u00fcr die Philologen der Einzelsprachen, wie f\u00fcr die vergleichenden Sprachforscher. Da solche Processe wie Erstarrung der Wortstellung nicht pl\u00f6tzliche Ereignisse, sondern langsam sich durchsetzende Ver\u00e4nderungen sind, so ist es gewiss \u00f6fter m\u00f6glich, ihre verschiedenen Etappen nachzuweisen und so auch den zu Grunde liegenden inneren psychologischen Vorgang blo\u00dfzulegen. An dieser Stelle will ich nur eine Erscheinung, f\u00fcr die, wie oben erw\u00e4hnt, Wunderlich keinen Grund wei\u00df, die Voranstellung des Verbums im Nachsatze auf einem wenigstens m\u00f6glichen Wege aufzukl\u00e4ren suchen.\nDie Association, der erste der oben genannten Grundprocesse, ist f\u00fcr die Bildung und das Leben der Sprache von einer anscheinend allm\u00e4chtigen Bedeutung. Wie unendlich viele Neubildungen der Sprache beruhen auf ihr! Es ist kein Wunder, dass D. Hume sie das universale Gesetz des Geisteslebens nannte, das so allgemein herrsche wie das der Gravitation in der Natur.\nDennoch ist sie nicht Alleinherrscherin. Gerade die Wortstellung zeigt eine sehr deutliche Wirkung der Apperception, n\u00e4mlich die Voranstellung des betonten, weil appercipirten, d. h. in den Blickpunkt des Bewusstseins ger\u00fcckten Begriffes.\nDurch solche Apperception ist wohl zuerst eine Einengung der v\u00f6lligen Freiheit der Wortstellung erfolgt. Infolge der Rangordnung, die die Begriffe im Bewusstsein haben, entsteht im bestimmten Falle\n1) V\u00f6lkerpsychologie 1,1, S. 352 f., I, 2, S. 588.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nPaul Barth.\neine bestimmte Wortfolge. Die allgemeine Voranstellung des Verbums, wie sie im Deutschen nach einer adverbialen Bestimmung geschieht, mag zuerst in solchen S\u00e4tzen stattgefunden haben, die zu einer Reihe von S\u00e4tzen desselben Subjects geh\u00f6ren. Solche Reihen sind in der naiven Sprache wohl h\u00e4ufiger, als die mit wechselndem Subjecte, schon weil die Ich-Erz\u00e4hlungen, in denen eine ganze Geschichte hindurch das Subject dasselbe bleiben kann, dem naiven Menschen sehr nat\u00fcrlich und darum sehr h\u00e4ufig sind. Innerhalb einer solchen Geschichte bleibt das Subject das alte, es wird darum nicht weiter betont. Neu sind nur die innerhalb der gleichbleibenden Gesammtlage sich \u00e4ndernden Einzelumst\u00e4nde. Diese werden darum betont und deshalb im Deutschen als adverbiale Bestimmung immer vorangestellt. Neu ist auch jede Einzelphase der Th\u00e4tigkeit des Subjects, also das Pr\u00e4dicat, das darum sofort nach der adverbialen Bestimmung ausgesprochen wird. Dasselbe logische Verh\u00e4ltniss aber, wie zwischen der adverbialen Bestimmung und dem Reste des Satzes, besteht zwischen dem voraufgehenden Nebensatze und dem folgenden Hauptsatze. Darum ist es bei gleichbleibendem Subjecte durchaus nat\u00fcrlich, dass auch hier, im Nachsatze, das Verbum voran, das bereits bekannte Subject nach ihm gesetzt wird. Das Vorbild solcher S\u00e4tze hat aber weiter auf die F\u00e4lle gewirkt, in denen das Subject wechselte, und auch diese der Regel der Voranstellung des Verbums unterworfen. Um ein Beispiel zu geben: Durch die Gesetze der Apperception begr\u00fcndet ist etwa folgende Satz- und Wortf\u00fcgung: \u00bbDer K\u00f6nig traf auf den Feind. Als dessen Stellung erkannt war, erst\u00fcrmte er dieselbe.\u00ab Das Erst\u00fcrmen ist hier bei gleichbleibendem Subject das einzige Neue, darum betont und vorangestellt. Wenn aber bei wechselndem Subject dieselbe Wortf\u00fcgung eintritt, wenn es hei\u00dft: \u00bbDer Feind wurde getroffen. Als seine Stellung erkannt war, erst\u00fcrmte der K\u00f6nig dieselbe\u00ab, so ist dies eine Folge der Analogie des ersten Satzgef\u00fcges, das auf das zweite inducirend gewirkt hat.\nUnd eine solche Induction geschieht durchaus auf dem Wege der Association. Es liegt hier, um einen Ausdruck Wundt\u2019s zu gebrauchen, eine \u00bbassociative Femewirkung\u00ab1) vor, wie sie so h\u00e4ufig auch den Lautwandel in den Sprachen bestimmt und nicht minder\nI) V\u00f6lkerpsychologie 1,1, S. 467 ff.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung. 39\nbedeutsam f\u00fcr den Bedeutungswandel ist. Indessen fast alle sonstigen B\u00e4lle associativer Fernewirkung liegen einfacher, als der Fall der Uebertragung der Wortfolge. Bei der \u00bbfalschen Analogie\u00ab handelt es sich, wie Wundt seine Theorie der Association der Vorstellungselemente damit erh\u00e4rtend nachweist1), um Association gewisser Theile eines Wortes mit \u00e4hnlich lautenden eines andern und um daraus erfolgende Angleichung des ersten an das letzte. Auch in dem gro\u00dfen Gebiete des Bedeutungswandels, z. B. bei der Metapher, handelt es sich, soweit die Association mitwirkt, um zwei Vorstellungen oder Vorstellungscomplexe, die durch Aehnlichkeit oder Complication mit einander verbunden sind. Hier aber, bei den zwei S\u00e4tzen, die beide mit adverbialer Bestimmung beginnen, der eine das bisherige Subject behaltend, der andre ein neues einf\u00fchrend, und ebenso hei den zwei Nachs\u00e4tzen, deren einer durch seine Wortfolge auf den andern wirkt, ist keine weitere Aehnlichkeit vorhanden, als die Gleichheit des logischen Verh\u00e4ltnisses eines jeden der beiden S\u00e4tze zum Vorhergehenden. Wenn nun die Sprache nach logischer Consequenz sich auf baute, so w\u00e4re ja der oben angenommene Uebergang der Wortstellung von Haupts\u00e4tzen gleichen Subjectes auf Haupts\u00e4tze wechselnden Subjectes ohne weiteres erkl\u00e4rt.\nAber die Sprache verf\u00e4hrt nicht nach formaler Logik. Sonst m\u00fcsste im Deutschen die Inversion nach allen Bindew\u00f6rtern stattfinden, nicht nach \u00bbund, aber, auch, oder\u00ab unterbleiben. Eine logische Sprache w\u00fcrde auch nicht sagen, wie es im Deutschen hei\u00dft. \u00bbEhe du nicht gesund wirst, bin ich nicht ruhig\u00ab, sondern w\u00fcrde die erste Negation weglassen. Offenbar ist die unlogische Verneinung entstanden durch associirenden Einfluss einer andern Anschauung desselben Sachverh\u00e4ltnisses, die vollkommen logisch gefasst wird: \u00bbSo lange du nicht gesund bist, bin ich nicht ruhig\u00ab. Es muss also auch zwischen den beiden oben unterschiedenen Nachs\u00e4tzen nicht eine logische Consequenz, sondern ein associirendes Moment die Verbindung hergestellt haben. Welcher Art aber ist dieses, da eine Aehnlichkeit ihrer concreten Elemente nicht vorhanden ist?\nAm n\u00e4chsten scheinen diesem Falle der Einwirkung der Wortstellung des einen Nebensatzes auf einen andern Processe zu kommen,\n1) A. a. O., S. 460 ff.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nPaul Barth.\nwie der, aus dem die Zahlw\u00f6rter entstehen. Hier sind es auch nicht die concreten Elemente, die die Association bewirken. Bei den Naturv\u00f6lkern sind es ja bekanntlich collectiv auftretende Gegenst\u00e4nde, die zu Vertretern des Zahlbegriffs werden. \u00bbZehen des Strau\u00dfes\u00ab bedeutet 4, \u00bbFinger der Hand\u00ab oder \u00bbHand\u00ab 5, \u00bbFinger zweier H\u00e4nde\u00ab oder \u00bbzwei H\u00e4nde\u00ab 10, der \u00bbganze Mensch\u00ab (womit die Finger und die Zehen zusammengenommen gemeint sind) 201). Und noch in den classischen Sprachen deutet die Etymologie auf eine ebenso concrete Urbedeutung der Zahlw\u00f6rter. Das griechische Ssxa ist verwandt mit SarroXoc, 8etxvo(u, decem ebenfalls mit digitus, das deutsche \u00bbzehn\u00ab mit \u00bbzeihen\u00ab und \u00bbzeigen\u00ab. Welche Aehnlichkeit oder Gleichheit ist es nun, die den Wilden veranlasst, bei dem Anblick von 10 B\u00fcffeln an die 10 Finger seiner Hand zu denken und zu sagen: \u00bb2 H\u00e4nde B\u00fcffel\u00ab. Man k\u00f6nnte geneigt sein eine besondere, neue Art von Association anzunehmen, etwa eine \u00bbahstrahirende Association\u00ab, kraft deren eine abstracte Beziehung, in diesem Falle die Zahl der Wiederholungen, als gleich erkannt sei und die Verbindung hergestellt habe. So sehr dies im allgemeinen hei einem hoch entwickelten Intellecte m\u00f6glich ist, bei dem eine Solche ahstrahirende Association sicherlich wirkt, so wenig darf man f\u00fcr das primitive Denken und f\u00fcr das in der Sprachbildung wirksame Denken, die beide nicht nach logischen Motiven arbeiten, eine solche logische Association annehmen. Vielmehr scheint es mir nothwendig, einen andern Weg zum Verst\u00e4ndnis beider F\u00e4lle zu bahnen, des einen, in dem scheinbar der abstracte Zahlbegriff, des andern, in dem das logische Verh\u00e4ltniss des Nachsatzes zum Vorders\u00e4tze associirend wirkt.\nWas den Wilden veranlasst, etwa die Strau\u00dfzehen mit 4 B\u00fcffeln in Verbindung zu bringen, ist wohl weniger ein Vorstellungselement, als vielmehr eine Aehnlichkeit des begleitenden Gef\u00fchles, die Wundt \u00bbAnalogie der Empfindung\u00ab genannt hat. Jede Wiederholung, wie der Anblick von 4 B\u00fcffeln, erzeugt ein unwillk\u00fcrliches Aufmerken auf die Thatsache der Wiederholung, die gegen\u00fcber dem sonst allgemeinen Wechsel der Erscheinungen eine Ueberraschung ist. Dies Aufmerken aber ist eine Anstrengung, mit dem Gef\u00fchle der Th\u00e4tig-\n1) Vgl. Wundt, V\u00f6lkerpsychologie I, 2, S. 25 ff. Auch B. B. Tylor, Einleitung in das Studium der Anthropologie und Civilisation, deutsche Uebersetzg., Braunschweig 1883, S. 372 f.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung. 41\nkeit verbunden. Und zwar ist das begleitende Gef\u00fchl verschieden, je nachdem das Aufmerken ein-, zwei-, drei- oder viermal geschieht. Wenn nun 4 B\u00fcffel erblickt werden, so wiederholt sich das Gef\u00fchl, das beim Anblick der immer verbundenen vier Strau\u00dfenzehen oft aufgetreten ist, und bewirkt die Reproduction dieser schon sehr einge\u00fcbten Vorstellung.\nAehnlich geht es zu hei der Uebertragung der Wortstellung von Satzreihen gleichen Subjects auf solche, deren Suhjecte ungleich sind. In den ersten wird das Verbum im Nachsatze vorangestellt, weil es zweifellos der wesentliche, weil neue Bestandtheil des Nachsatzes ist. Man hat nach dieser Voranstellung das Gef\u00fchl, das Noth-wendige jedenfalls gesagt zu haben, selbst wenn die Rede pl\u00f6tzlich abbr\u00e4che, ein Gef\u00fchl der L\u00f6sung gegen\u00fcber der Spannung, die im Vorsatze des Aussprechens eines complexen Gedankens liegt. Dieses Gef\u00fchl tritt nach Voranstellung des Verbums dann auch in solchen S\u00e4tzen ein, wo das Verbum nicht so zweifellos das einzige Neue und darum Wichtigste ist. Das Gleiche in beiden Satzgef\u00fcgen ist das Gef\u00fchl der Abgeschlossenheit des Nebensatzes und das Streben, vom Hauptsatze nun das Neue, Wichtigste vorauszunehmen. Diese beiden Gef\u00fchlsmomente bewirken die Reproduction eines seiner ganzen Natur nach h\u00e4ufigeren, besser einge\u00fcbten Satzgef\u00fcges mit gleichem Subjecte im voraufgehenden Satze und vorangestelltem Verbum im Nachsatze des folgenden Gef\u00fcges und bewirken durch ihre Gleichheit in beiden F\u00e4llen, dass der zweite Fall, das Satzgef\u00fcge mit einem gegen das vorausgehende neuen Subjecte, dem ersten so \u00e4hnlich wie m\u00f6glich, also das Verbum auch vorangestellt werde.\nDie Association infolge analoger Gef\u00fchle ist von Wundt sehr oft zur Erkl\u00e4rung der Erscheinungen herangezogen worden, \u00f6fter \u2014 und, wie mir scheint, immer mit Recht, \u2014 als von den fr\u00fcheren Psychologen. Schon die mimischen Bewegungen sind urspr\u00fcnglich durch Sinnesreize hervorgerufene Triebbewegungen, werden aber sp\u00e4ter allem m\u00f6glichen seelisch Bitteren oder S\u00fc\u00dfen zugesellt, und zwar \u00bbinfolge jener Association analoger Gef\u00fchle, die ihrerseits nur als ein Specialfall des durch zahlreiche Erfahrungen best\u00e4tigten allgemeinen Associationsprincips angesehen werden muss\u00ab1). F\u00fcr die\n1) V\u00f6lkerpsychologie 1,1, S. 112.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nPaul Barth.\nLautsprache aber, auch eine Geb\u00e4rde, wie die mimischen Bewegungen, ist nach Wundt von grundlegender Bedeutung die \u00bbLautmetapher\u00ab. Sie ist die Verbindung des Gef\u00fchlstones einer Vorstellung mit dem Gef\u00fchlstone eines Lautes, und bewirkt neben andern Factoren die Entstehung der Bedeutung des Lautes, spielt also eine sehr wichtige Rolle schon f\u00fcr den Ursprung der ersten Beziehungen der Laute zur objectiven Welt. Besonders sicher glaubt Wundt da eine Lautmetapher annehmen zu d\u00fcrfen, wo eine correlative Ver\u00e4nderung des Lautes sowohl als der ihm entsprechenden Bedeutung stattfindet1). So beruht auf Lautmetapher der Wechsel des Consonanten sowohl in den pers\u00f6nlichen F\u00fcrw\u00f6rtern des Sanskrit (ma, ta, sa, = ich, du, er) als in den gleichbedeutenden und gleichklingenden W\u00f6rtern der Lappen (mon, ton, son). Auf Lautmetapher beruhen auch die parallel gehenden Variationen des Verbalstammes sowohl als der Bedeutung, die in den hebr\u00e4ischen und in den arabischen, \u00fcberhaupt in den semitischen \u00bbConjugationsformen\u00ab erscheinen. Erh\u00f6hung oder Vertiefung des Vocaltons und Verst\u00e4rkung des Anlauts durch Pr\u00e4fixe dr\u00fccken hier erregende oder herabstimmende Gef\u00fchlswirkung aus, die den das Activum oder Passivum oder Reflexivum oder Causa-tivum begleitenden Gef\u00fchlen analog ist. Das subjective Gef\u00fchl allein ist auch das Mittelglied, durch das eine Verdoppelung von Silben oder Lauten, also ein extensives Wachsthum des Wortes zur Bezeichnung gr\u00f6\u00dferer Intensit\u00e4t, also eines intensiven Wachsthums der hezeichneten Vorstellung gebraucht werden kann2).\nSehr bedeutungsvoll sind ferner die Associationen auf Grund \u00fcbereinstimmender Gef\u00fchle heim Bedeutungswandel3). So, wenn \u00bbelend\u00ab aus der urspr\u00fcnglichen Bedeutung \u00bbau\u00dfer Landes\u00ab in die weitere \u00bbungl\u00fccklich\u00ab \u00fcbergeht.\nUnd eine Wirkung des Gef\u00fcldStones ist es meines Erachtens auch, wenn eine in einem bestimmten Falle psychologisch begr\u00fcndete noth-wendige Wortstellung sich auf einen andern Fall \u00fcbertr\u00e4gt, in dem sie blo\u00df wegen allgemeiner Aehnlichkeit der logischen Verh\u00e4ltnisse m\u00f6glich, aber nicht nothwendig ist. Jedenfalls ist es wohl ganz falsch, hier eine bewusste logische Consequenz, ein bewusstes Streben\n1)\tV\u00f6lkerpsychologie I, 1, S. 333, 338.\n2)\tEbenda, 1,1, S. 588 f., 596.\n3) Ebenda, I, 2, S. 530.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien \"Wortstellung.\n43\nnach Einheitlichkeit der Wortstellung 'anzunehmen. Diese Einheitlichkeit der Erscheinungen ist vielmehr, wie Wundt oft hervorhebt1), nicht das vorschwebende Motiv, sondern das unbeabsichtigte Ergehniss der sprachlichen Ver\u00e4nderungen. Und einmal, wo die logische Verbindung scheinbar mit H\u00e4nden greifbar ist, macht Wundt doch keinen Gebrauch davon, um die vorliegende Association zu erkl\u00e4ren. Es ist dies die Vertauschung von Begriffen gleicher Gattung wie \u00bbgehen\u00ab und \u00bbfahren\u00ab, die in dem pathologischen Zustande der Paraphasie vorkommt. Hier glaubt Wundt nicht, dass es der logische Zusammenhang, die fr\u00fcher einge\u00fcbte Subsumtion unter den Gattungsbegriff der \u00bbFortbewegung\u00ab ist, was die Association und dadurch die Verwechselung bewirkt, sondern dass es die \u00bb\u00fcbereinstimmenden Begriffsgef\u00fchle* sind, \u00bbdurch die W\u00f6rter gleicher Gattung verbunden sind, und die ihrerseits mit gewissen \u00fcbereinstimmenden Begriffselementen Zusammenh\u00e4ngen. So kann man sich z. B. die Verwechselung zwischen \u00bbgehen\u00ab und \u00bbfahren\u00ab durch ein an das identische Element der Fortbewegung gebundenes Gef\u00fchl vermittelt denken2).\u00ab\nFreilich, der Weg, auf dem ich die Anfangsstellung des Verbums des Nachsatzes allgemein geworden denke, ist nur eine M\u00f6glichkeit, eine M\u00f6glichkeit allerdings, eine Hypothese, die ich der Wirklichkeit f\u00fcr entsprechend halte. Vielleicht kann ein Germanist aus den Denkm\u00e4lern den Nachweis f\u00fchren, dass in der That zuerst die Anfangsstellung des Verbums im Nachsatze nur da auftritt, wo das im vorstehenden Hauptsatze herrschende Subject als solches beihehalten wird, erst sp\u00e4ter diese Anfangsstellung auf alle Nachs\u00e4tze ausgedehnt erscheint.\nIch f\u00fchre ferner die mannigfachen Wirkungen, die der Gef\u00fchlston f\u00fcr Constituirung und Geschichte der Sprache hat, hier an, um darauf hinzuweisen, dass auch er zu der Uniformirung der Sprache beitr\u00e4gt. An und f\u00fcr sich sollte man, da er eben rein suhjectiv ist, meinen, dass er, zur Individualisirung dr\u00e4ngend, den in den objectiven Verh\u00e4ltnissen liegenden Antrieben zur Objectivirung und der damit gegebenen Gleichmachung der Rede der Menschen entgegenwirke. So hebt ja auch Wundt3) hervor, dass wenigstens hei der Production (nicht blo\u00dfen Reproduction) eines Satzes, \u00bbdie aus den dem individuellen Bewusstsein eigenth\u00fcmlich zukommenden Bedingungen heraus entstand,\n1)\tV\u00f6lkerpsychologie I, 2, S. 364 ff.\n2)\tEbenda, I, 1, S. \u00d614.\n3) Ebenda, I, 2, S. 239.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nPaul Barth.\nwir die der wirklichen Satzbildung zukommenden subjectiven Merkmale erwarten d\u00fcrfen\u00ab. Aber \u00bbsubjectiv\u00ab ist doch eben nicht gleichbedeutend mit \u00bbindividuell\u00ab. Auch das Subjective h\u00e4ngt ab von dem allen Individuen gemeinsam gegen\u00fcberstehenden, von ihnen unabh\u00e4ngigen Objectiven. Die Gef\u00fchle werden durch das Objective zwar nicht erzeugt, aber bedingt. Und wie das Objective sich in allen \u00e4hnlich spiegelt und vor allen Dingen bei wiederholter Auffassung sich \u00e4hnbch spiegelt, so k\u00f6nnen auch die Gef\u00fchle aller \u00e4hnlich sein und innerhalb desselben Subjects bei gleichen Anl\u00e4ssen die gleichen bleiben. So kommt es, dass gerade die \u00bbAnalogie der Gef\u00fchle\u00ab, obgleich ein rein subjectives Yerh\u00e4ltniss, doch nicht minder als die objectiven die Sprache erzeugenden und regelnden Factor en, zur Herstellung ihrer Gleichf\u00f6rmigkeit beitr\u00e4gt.\nDie Gleichf\u00f6rmigkeit der \"Wortstellung wird au\u00dferdem noch sehr lebhaft beg\u00fcnstigt durch ein starkes Bed\u00fcrfniss, das nicht hypothetisch ist, wie der Bequemlichkeitstrieb oder der Trieb zur Erhaltung bedeutsamer Unterschiede, sondern hei unz\u00e4hligen Anl\u00e4ssen gerade dem Menschen der Gegenwart sich sehr deutlich und f\u00fchlbar geltend macht, das darum von Wundt1) mit Hecht zur letzten Erkl\u00e4rung mancher sprachlichen Erscheinung herangezogen worden ist, n\u00e4mlich durch das Verlangen nach Beschleunigung der Bede wie des Denkens, das im Fortschritte der Cultur immer m\u00e4chtiger wird, weil in gleicher Zeit immer mehr Gedanken dem Bewusstsein Zustr\u00f6men und zum Ausdruck dr\u00e4ngen. Diese Beschleunigung beg\u00fcnstigt und erh\u00e4lt das, was einge\u00fcbt, mechanisirt ist und darum am schnellsten ahl\u00e4uft. Der Mechanisirung des Ausdrucks wiederum werden diejenigen Gedanken am meisten zug\u00e4nglich sein, die am h\u00e4ufigsten wiederkehren, also diejenigen, die Spr\u00fcchw\u00f6rtern, Rechtsgrunds\u00e4tzen, Formeln des geselligen und des religi\u00f6sen Lehens zu Grunde liegen, wie wir thats\u00e4chlich im Lateinischen und im Deutschen gesehen haben. Im Allgemeinen wird \u00fcberhaupt die an bekannte, sich oft wiederholende Situationen ankn\u00fcpfende und darum wenig originale Gedanken enthaltende Umgangssprache in Bezug auf die Wortstellung von der Kunstprosa, wie diese wiederum von der Poesie scharf zu unterscheiden sein.\n1) V\u00f6lkerpsychologie 1,1, S. 404, 418.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung. 45\nSo ist es denn kein Wunder, dass wir \u00fcberall eine fortschreitende Einengung der urspr\u00fcnglichen Freiheit der Wortfolge feststellen mussten, dass wir sogar im Lateinischen, wenigstens in der Volksund Umgangssprache, fest gewordene starre Regeln und Wortcomplexe fanden, die jede Freiheit ausschlie\u00dfen. Und wenn einst die griechischen Spr\u00fcchw\u00f6rter, die griechischen Rechtsformeln und die jedenfalls auch vorhandene, wenn auch bisher noch zu wenig aufgedeckte griechische Volkssprache, womit ich nicht die griechische Vulg\u00e4rsprache der verschiedenen Provinzen des Hellenismus, sondern die von Attikern selbst gesprochene Volkssprache meine, nach dieser Seite genauer durchforscht sind, so wird sich h\u00f6chst wahrscheinlich auch da ergeben, dass die schrankenlose Freiheit nicht oder nicht mehr vorhanden ist.\nUm so bedeutsamer ist es, wenn inmitten der immer weiter um sich greifenden Schablonisirung der Wortstellung, die, wie wir gesehen haben, schon im Lateinischen beginnt und in den europ\u00e4ischen Sprachen allm\u00e4chtig wird, die deutsche und \u2014 fast in gleichem Grade \u2014 alle rein germanischen Sprachen noch eine weitgehende Freiheit bewahrt haben1). Diese Freiheit ist der Energie des Ausdruckes und der Verwendung der Sprache in vielen Beziehungen sehr f\u00f6rderlich. Zun\u00e4chst ist die Hervorhebung des im Bewusstsein bevorzugten Wortes auf die einfachste Weise, ohne H\u00fclfsconstruction, m\u00f6glich. Der Franzose muss sagen: c\u2019est lui que j\u2019ai vu, also zwei S\u00e4tze machen, der Deutsche sagt einfach: Ihn hab\u2019 ich gesehen. Die sehr eindrucksvollen Redefiguren der Anaphora und Epiphora sind in einer Sprache von freier Wortstellung viel \u00f6fter und leichter anwendbar, als wenn die W\u00f6rter an bestimmte Stellen des Satzes ein f\u00fcr allemal gebunden sind. In den Sprachen der ersten Art gelingen ferner alle Uebersetzungen besser, zumal aus solchen, die eine eigenth\u00fcmliche, in der Uebersetzung nachzuahmende Wortstellung haben. So kann das Griechische den hebr\u00e4ischen Stil gut nachahmen, indem es die hebr\u00e4ische Wortstellung nachahmt. Das Johannes-Evangelium stellt im Kap. 18, 12\u201427 vierzehn Mal das\n1) Vgl. F. N. Finck, Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung. Marburg 1899. S. 64: \u00bbDass die auf germanischem Gebiete erkennbaren Verschiedenheiten in der Wortstellung \u00e4u\u00dferst geringf\u00fcgige sind, l\u00e4sst sich allerdings nicht leugnen.\u00ab","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nPaul Barth.\nPr\u00e4dicat voran1) und kennzeichnet dadurch seinen Stil als hebrai-sirend. Das Deutsche kann dies ebenfalls thun und so, wo es darauf ankommt, das hebr\u00e4ische Gepr\u00e4ge der Rede nachahmen. Zumal f\u00fcr die Uehersetzung von Gedichten ist das Deutsche geeigneter als jede andere Sprache, da in der Poesie seine Wortstellung noch freier ist als in der Prosa.\nMan wird geneigt sein, auch f\u00fcr diese Ausnahmeerscheinung, die freiere Wortstellung der rein germanischen Sprachen, einen Grund zu suchen. Mit Recht ist Wundt den \u00bbtraditionellen Annahmen \u00fcber Rasseneigenschaften\u00ab abhold2). Denn sie erkl\u00e4ren nichts, sondern constatiren nur. Rasseneigenschaften sind nur ein Collectivbegriff, der jedenfalls nicht anders als durch den Nachweis des Yorherrschens gewisser psychologischer Processe oder Tendenzen Inhalt empfangen kann, wenn er nicht ein leeres Wort, ein Verzicht auf weitere psychologische Erkl\u00e4rung, eine Zuflucht der ignava ratio werden soll. Wo aber ein solcher Nachweis aus der Sprache gef\u00fchrt ist und die gefundenen Tendenzen mit den auf andern Lehensgehieten als herrschend aufgezeigten identisch und im Laufe der Geschichte stabil geblieben sind, da m\u00f6chte es doch richtig sein, geistige Rasseneigenschaften anzunehmen, so wie man physische Rassenmerkmale annimmt, die sich in der geschichtlichen Zeit nicht ge\u00e4ndert haben. Freilich sind seihst die Rassencharaktere gewiss nicht schlechthin letzte Thatsachen, nicht unab\u00e4nderlich feste Gr\u00f6\u00dfen, sondern auch ihrerseits durch bestimmte Processe verursacht, die jedoch so weit zur\u00fcckliegen, dass sie f\u00fcr den gegenw\u00e4rtigen Stand des Wissens nicht zu ergr\u00fcnden sind, die sich auch \u00fcber so gro\u00dfe Zeitr\u00e4ume erstreckt haben, dass geschichtliche Zeitma\u00dfe ihr fest gewordenes Ergebniss nur sehr wenig ab\u00e4ndern k\u00f6nnen, dieses daher, eben die Rassendifferenz, als relativ best\u00e4ndig zu betrachten ist.\nIn diesem Sinne also, nicht als an einem Fetisch, der alle Schwierigkeiten auf leichte Weise erkl\u00e4ren soll, sondern als an Merkmalen der geistigen Disposition, die sich auch sonst offenbaren, m\u00f6chte ich an den Rasseneigenschaften und an ihrer Erkennbarkeit durch die Sprache, von der ich anderswo gesprochen habe3), festhalten.\n1) Vgl. J\u00fclicher, Einleitung in das Neue Testament. Freiburg i.B. u. Leip-\nzig 1894. S. 243.\t2) V\u00f6lkerpsychologie I, 2, S. 366.\n3) Vgl. meine Philosophie d. Geschichte als Sociologie, I. Leipzig 1897. S. 250.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychologie der gebundenen u. der freien Wortstellung.\t47\nIch glaube, Herder hat Recht, wenn er sagt1): \u00bbEine philosophische Vergleichung der Sprachen w\u00e4re der sch\u00f6nste Versuch \u00fcber die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens.\u00ab Eine allgemeine Physiognomik der V\u00f6lker aus ihren Sprachen, wie sie Bacon, Leibniz, Sulzer und andere gew\u00fcnscht haben und die auch Herder w\u00fcnscht2), scheint mir m\u00f6glich. Freilich aber darf man nicht aus einer Einzelheit, die irgend welchen Zuf\u00e4lligkeiten des psychologischen Mechanismus ihr Dasein verdankt, gro\u00dfe specifische Geistesanlagen folgern, wie F. N. Finck3) gethan hat, indem er aus der Voranstellung des attributiven Adjectivs auf ein bed\u00e4chtiges Wesen schlie\u00dft und die Voranstellung des Verbums vor das Subject, \u00bbein dem ruhigen Urtheilen widerstrebendes Herausplatzen\u00ab, nur bei solchen V\u00f6lkern erkl\u00e4rbar finden will, \u00bbdie ihrem Handeln nicht allzuviel Erw\u00e4gung vorausgehen lassen\u00ab, \u00bbf\u00fcr die ein Vorwalten der Gef\u00fchle anzunehmen ist\u00ab. Ich habe mich oben bem\u00fcht nachzuweisen, wie man diese Voranstellung auf die auch bei einem sehr erw\u00e4genden Menschen wirksamen Gesetze der Apperception und der Association zur\u00fcckf\u00fchren kann.\nNur dasjenige, was sich in wichtigen, weithin wirkenden Principien des Sprachlebens offenhart, was sich zugleich auf andern Lebensgebieten wiederholt, das scheint mir klar genug hervorzutreten, um es, falls wirklich einer Rasse oder einem Volke eigenth\u00fcmlich, als Ausfluss bestimmter geschichtlich beharrender Rassen- oder Volkseigenschaften zu betrachten und so auch diesem letzten an sich sehr unbestimmten Begriffe concreteren Inhalt zu geben. Wenn die orientalischen Sprachen alle, auch das an Flexionen so \u00fcberreiche Sanskrit zur festen Wortstellung neigen, die meisten sogar zu v\u00f6lliger Starrheit derselben gewisserma\u00dfen eingefroren sind, wenn wir ferner hei den Orientalen auch im socialen Lehen ein starres Festhalten an \u00fcberlieferten Formen finden, so dass Hegel von einigen von ihnen meinte, sie lebten nur im Raume, nicht in der Zeit, so ist man doch wohl berechtigt, allen asiatischen Rassen und V\u00f6lkern eine \u00fcberm\u00e4\u00dfige Unterw\u00fcrfigkeit unter die Ueberlieferung, eine \u00fcberm\u00e4\u00dfige Schw\u00e4che des Individuums gegen das Allgemeine als Rassencharakter zuzuschreiben. Wenn wir hingegen inmitten der allgemeinen Schabloni-\n1)\tIdeen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 9. Buch, II.\n2)\tA. a. O.\t3) A. a. O., S. 66, 73.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48 P- Barth, Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung.\nsirung der Wortstellung der andern europ\u00e4ischen Sprachen in den rein germanischen Idiomen, im Deutschen sowohl wie in den neunordischen Sprachen eine noch sehr weitgehende, besonders in der Poesie fast unbeschr\u00e4nkte Freiheit antreffen, wenn wir die Germanen auch sonst, besonders im Mittelalter, in starker Individualit\u00e4t jedem schablonisirenden Zwange, wie dem des Staates widerstrebend finden, so sind wir wohl berechtigt, die starke Individualit\u00e4t als einen Grundzug des germanischen Volkscharakters anzusehen, der auch in der Sprache zu Tage tritt, indem jeder der Schablonisirung des Ausdrucks seiner Gedanken widerstehen will, wie der Schablonisirung seiner Gedanken selbst. \u00bbJeder, sei er auch welcher er wolle, hat so ein eigenes F\u00fcrsich, das er sich nicht gern m\u00f6chte nehmen lassen\u00ab sagt Goethe1) von den Deutschen.\nUnd wie im Thautropfen sich die Sonne sowohl als der Mond spiegeln kann, so vermag in der Wortstellung zweier kurzen S\u00e4tze der weltgeschichtliche Gegensatz zweier Hassen oder zweier Oulturen zum Ausdruck zu kommen.\n1) Spr\u00fcche in Prosa.","page":48}],"identifier":"lit4565","issued":"1902","language":"de","pages":"22-48","startpages":"22","title":"Zur Psychologie der gebundenen und der freien Wortstellung","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:12:25.387354+00:00"}