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{"created":"2022-01-31T14:23:54.956284+00:00","id":"lit4568","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Cohn, Jonas","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 19: 69-92","fulltext":[{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\nVon\nJouas Cohn.\nFreiburg i. Br.\nDie allgemeinen Bezeichnungen philosophischer Richtungen erregen in dem wissenschaftlich Arbeitenden leicht gemischte Gef\u00fchle. Sie dienen nur allzu oft einer \u00e4u\u00dferlichen Kennzeichnung der Gedankenarbeit, einer Oberfl\u00e4chlichkeit, die mit einem Systeme fertig zu sein meint, wenn sie ihm eine Etikette auf geheftet hat. Im Streite der Parteien sind sie vielfach zu Spottnamen herabgesunken, deren Anwendung in der wissenschaftlichen Polemik dann nahezu etwas Geh\u00e4ssiges bekommt. Trotzdem sind diese Namen unentbehrlich, besonders sobald es sich darum handelt, aus den Bem\u00fchungen der Vergangenheit f\u00fcr den Aufbau einer philosophischen Wissenschaft Nutzen zu ziehen. Denn zu diesem Zwecke ist es n\u00f6thig, aus der F\u00fclle von Anschauungen, die in fast unmerklichen Ueberg\u00e4ngen in einander flie\u00dfen oder, von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend und in ganz verschiedener Sprache redend, kaum vergleichbar erscheinen, die principiellen Unterschiede herauszufinden. Nur so kann man hoffen, zu einer Uebersicht der wirklichen und schlie\u00dflich gar der m\u00f6glichen Antworten auf ein Problem zu gelangen. Soll dieses Ziel erreicht werden, so muss man durchaus versuchen, von einer bestimmten Problemstellung auszugehen. Wohl k\u00f6nnte es danach scheinen, als sei die hier angedeutete Aufgabe eine rein systematische, weil aus der Analyse der Fragestellung die m\u00f6glichen Antworten sich von selbst ergehen m\u00fcssten. Aber das auf sich gestellte Denken des Einzelnen wird schwerlich die ganze F\u00fclle m\u00f6glicher Ausk\u00fcnfte aus sich heraus entwickeln k\u00f6nnen. Hier vielmehr wird es stets nothwendig sein, Umschau in der Geschichte zu halten und zu unter-","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nJonas Cohn.\nsuchen, wie bedeutende Denker, die ihr ganzes Leben der Herausarbeitung einer besonderen Ueberzeugung gewidmet haben, diese zu gestalten wussten. Man wird daher nicht umhin k\u00f6nnen, die Geschichte systematisch zu verwerthen.\nWenn ein Versuch in dieser Richtung sich in der Festschrift f\u00fcr Wilhelm Wundt einen Platz erbittet, so kann er einen besonderen Grund daf\u00fcr anf\u00fchren. Unser verehrter Lehrer hat als historisch orientirter Systematiker immer wieder in seinen Schriften gro\u00dfe Ueber-sichten der philosophischen Richtungen und Probleml\u00f6sungen gegeben. Die Aufgabe dieser Studie kn\u00fcpft an solche Bestrebungen an, ist aber enger. Nicht alle Antworten auf eine der Grundfragen der Philosophie sollen systematisch und historisch vorgef\u00fchrt werden, sondern nur die Spielarten einer der Hauptrichtungen, die sich in der Erkenntnisstheorie bek\u00e4mpfen.\nBisweilen versteht man unter Rationalismus ganz allgemein alle Richtungen, die entschlossen sind, nur dasjenige anzuerkennen, was V sich vor der Pr\u00fcfung durch das Denken behaupten kann. Nimmt man den Begriff so weit, so ist Rationalismus identisch mit wissenschaftlichem Verhalten \u00fcberhaupt. Denn nur wenn man das souver\u00e4ne Recht des Denkens anerkennt, oder nur in soweit man dies thut, verh\u00e4lt man sich wissenschaftlich. Man verschleiert dieses Verh\u00e4ltnis zuweilen dadurch, dass man die nothwendige Anerkennung irrationaler Factoren im Erkennen und in der Wirklichkeit einwendet. Aber es l\u00e4sst sich leicht nachweisen, dass dies ein blo\u00dfer Scheineinwand ist. Denn es ist etwas sehr Verschiedenes, zu sagen, man erkenne nur an, was vern\u00fcnftige Pr\u00fcfung aush\u00e4lt, oder alles zu leugnen, was ' nicht selbst Erzeugnis der Vernunft ist. Die Wissenschaft muss vielleicht das schlechthin Irrationale anerkennen, aber nur, weil es vor dem Denken sein Recht zu erweisen vermag. Rationalismus in diesem Sinne deckt sich also mit Wissenschaft und hat zu Gegnern nur solche Richtungen, die auf gewissen Gebieten oder bestimmten Fragen gegen\u00fcber das wissenschaftliche Pr\u00fcfen grunds\u00e4tzlich ablehnen. Soll daher das Wort \u00bbRationalismus\u00ab zur Bezeichnung einer besonderen philosophischen, d. h. wissenschaftlichen Richtung verwendet werden, so muss es in einer engeren Bedeutung gebraucht werden, so dass andere wissenschaftliche Richtungen ihm gegen\u00fcber denkbar erscheinen. Es muss dann \u00bbratio\u00ab \u00bbVernunft\u00ab etwas bedeuten, das","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n71\nin der Wissenschaft selbst einen Gegensatz haben kann, also eine besondere Form entweder des Erkenntnissverfahrens oder des Er-kenntnissinhalts. Unter diesen beiden M\u00f6glichkeiten f\u00fchrt augenscheinlich die erste auf die principiellere Fragestellung. Allgemeine Aussagen \u00fcber die Natur des Erkannten k\u00f6nnen nicht wohl anders als von der Natur des Erkennens her abgeleitet werden. Man kommt so dazu, unter Rationalismus eine der m\u00f6glichen Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Erkennens zu verstehen. Um die Art dieser Antwort genauer angeben zu k\u00f6nnen, wird es erforderlich sein, vor allem die Fragestellung noch etwas sch\u00e4rfer zu bestimmen. Denn es kann gar nicht zweifelhaft sein, dass ein sehr wesentlicher Theil des philosophischen Gedankenfortschrittes in der klareren Herausarbeitung der Probleme besteht. H\u00f6chstens k\u00f6nnte man einwenden, dass einer Classification philosophischer Richtungen nicht die gekl\u00e4rte, sondern die m\u00f6glichst unbestimmte Form des Problems zu Grunde gelegt werden m\u00fcsse, weil nur diese, nicht jene allen gemeinsam sei. Indessen dieser Einwand verwechselt die Ziele einer systematischen Uebersicht philosophischer Richtungen mit denen einer historischen Darstellung. Der Geschichtsschreiber freilich muss sich \u00fcberall fragen, in welcher Form ein Problem einem bestimmten Denker gegenw\u00e4rtig ] war, damit er nicht zu einer ungeh\u00f6rigen, weil unhistorischen Construction verf\u00fchrt werde. Wem es aber um eine systematische Uebersicht der Richtungen zu thun ist, der muss eine m\u00f6glichst reine und umfassende Form des Problems zu Grunde legen, weil nur aus dieser klare Formen der Antwort folgen k\u00f6nnen; er wird dann versuchen m\u00fcssen, die unreineren Formen als Ann\u00e4herungen oder Tr\u00fcbungen zu verstehen. Daher muss hier bestimmt werden, was die Frage nach dem Wesen des Erkennens eigentlich will. Sie ist doch sicherlich nicht als ein blo\u00dfes Specialproblem gemeint, bei dem die Forschung sich auf das Erkennen richten soll, wie sie sich ebenso gut auf jeden anderen Vorgang oder jedes andere Ding in der Welt richten kann. Denn dann w\u00e4re unbegreiflich, woher gerade diesem Problem seine principielle Bedeutung zuk\u00e4me. Vielmehr will die Frage als Grundproblem angesehen werden, dessen Beantwortung \u00fcber M\u00f6glichkeit\u00ab und Werth aller besonderen Erkenntnisse entscheidet. Mit anderen Worten, es soll der Grund der Geltung oder der Gewissheit des Erkennens festgestellt werden. Es ist leicht zu zeigen, dass dieses","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nJonas Cohn.\ndie eigentliche Absicht auch dort ist, wo man scheinbar anders for-mulirt, etwa nach dem Urspr\u00fcnge des Erkennens fragt. Unter dem mehrdeutigen Worte Ursprung *~yersteht man dabei entweder die einfacheren Bestandtheile oder die zeitliche Entstehung des Erkennens. Wenn man aber, wie etwa Locke und seine Nachfolger thun, diese Frage als philosophische Grundfrage voranstellt, so will man aus ihrer Beantwortung Auskunft dar\u00fcber gewinnen, welche Art des Erkennens und in welchen Grenzen sie Geltung beanspruchen darf *). Danach muss aber sogar, wer etwa die Berechtigung dieser Hoffnung zugibt, die Priorit\u00e4t der Geltungsfrage anerkennen. Denn er h\u00e4tte zu beweisen, dass die Antwort auf die Ursprungsfrage zugleich die Geltungsfrage mit entscheidet. Es \u00e4ndert nat\u00fcrlich nichts an dieser Sachlage, dass Locke und seine Nachfolger, sowie auch manche ihrer Gegner, dies ohne Beweis als selbstverst\u00e4ndlich angenommen haben1 2). Auf die Frage nach dem Grunde der Geltung des Erkennens sind zun\u00e4chst zwei einander gegen\u00fcberstehende Antworten m\u00f6glich. Alle Gewissheit stammt aus den sinnlichen Eindr\u00fccken, sagt die eine, sie stammt aus der Th\u00e4tigkeit des Denkens, entgegnet die andere Ansicht. Hier wird Zur\u00fcckf\u00fchrung auf die unmittelbare Erfahrung, dort logische Ableitung aus den obersten Normen des Denkens, den Axiomen, das entscheidende Mittel des\n1)\tLocke, Essay of Human Understanding I, 1, \u00a7 2, stellt es als seine Absicht hin, \u00bbto enquire into the original, certainty and extent of human knowledge\u00ab, und bald darauf meint er, er werde seine Arbeit nicht als verloren ansehen, wenn er Auskunft \u00fcber die Wege geben k\u00f6nnte \u00bbwhereby our understandings come to attain those notions of things we have andean set down any measures of the certainty of our knowledge\u00ab etc. (ich unterstreiche!) vgl. auch \u00a7 7. \u2014 Leibniz war sich sogar \u00fcber die nur secund\u00e4re Bedeutung der Ursprungsfrage v\u00f6llig klar. Um 1695 schreibt er Ph. (= Philos. Schriften, herausg. von C. J. Gerhardt, die ich auch k\u00fcnftig so citire) Y, 16: \u00bbLa question de l\u2019origine de nos id\u00e9es et de nos maximes n\u2019est pas pr\u00e9liminaire en philosophie et il faut avoir fait de grands progr\u00e8s pour la bien r\u00e9soudre.\u00ab Die ungl\u00fcckliche Form seiner Schriften hat es gef\u00fcgt, dass wir den polemischen Commentar zu Locke\u2019s Werk, die \u00bbNouveaux essais\u00ab, als Leibnizens erkenntnisstheoretisches Hauptwerk ansehen m\u00fcssen. Hier wird dann in einer, Leibniz selbst deutlich unsympathischen Weise, die Frage der angeborenen Vorstellungeii in den Vordergrund geschoben.\n2)\tDurch diese Art der Fragestellung unterscheidet sich meine Bestimmung des Rationalismus grunds\u00e4tzlich von der Paulsen\u2019s: \u00bbUeber die principiellen Unterschiede erkenntnisstheoretischer Ansichten. Vierteljahrsschr. f. wissenschaftl. Philosophie I, S. 159.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n73\nBeweises sein. Man nennt die erste dieser Richtungen am besten Sensualismus, weil die Sinnesempfindung dabei immer als eigentliche Erkenntnissquelle angesehen wird. Wegen des tadelnden Nebensinnes von Sinnlichkeit scheinen sich manche Vertreter dieser Richtung lieber farblos als Empiristen zu bezeichnen. Wenn man indessen solche gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Nebenbedeutungen scharf ausschlie\u00dft, werden derartige Empfindlichkeiten hinf\u00e4llig und man kann das bezeichnendere Wort Sensualismus beibehalten. Die entgegenstehende Ansicht wird all-gemein Rationalismus genannt. Neben diesen beiden Gegens\u00e4tzen stehen nun nicht etwa nur charakterlose eklektische Mischformen, die bis zu einem gewissen Grade beide Ansichten neben einander dulden, auch nicht nur jene beachtenswertheren Vermittlungen, die dem Sensualismus und dem Rationalismus besondere Erkenntnissgebiete zuweisen, sondern noch eine dritte, von beiden principiell verschiedene Ansicht. Diese behauptet, dass in jeder Erkenntniss ein rationaler und ein irrationaler Factor Zusammenwirken m\u00fcssen. Da Kant der classischef Vertreter dieser Anschauung ist, so pflegt man sie als Kriticismus' zu bezeichnen; indessen ist dieser Name ung\u00fcnstig. Kritik ist eine Methode, nicht eine Quelle der Gewissheit, Kriticismus ist jede Philosophie, die von der nicht metaphysisch oder genetisch sondern als Beantwortung der \u00bbRechtsfrage\u00ab gemeinten Erkenntnisstheorie ausgeht und die Resultate der erkenntnisstheoretischen Untersuchung zur Norm ihrer weiteren Aufstellungen macht. Es f\u00fchrt zu Mehrdeutigkeiten, eine der m\u00f6glichen Antworten nach dem Wesen des Er-kennens nun auch als die \u00bbkritische\u00ab zu bezeichnen. Vielleicht w\u00e4re die Behauptung, dass beide Erkenntnissquellen stets Zusammenwirken m\u00fcssen, dass aller Werth des Erkennens auf diesem Zusammenwirken beruhe, als Utraquismus zu bezeichnen.\nDen einander entgegenstehenden Ansichten des Rationalismus und Sensualismus pflegt man auch eine methodologische Wendung zu gehen, indem man dem ersten die Deduction, dem zweiten die Induction zuertheilt. Unzweifelhaft liegt ein solcher Zusammenhang nahe; aber unbedingt nothwendig ist er nicht. Plato hat unter Ver- ? mittelung der Lehre von der Wiedererinnerung die sokratische In-J Auction mit seinem Rationalismus vereinigt, von der andern Seite* her hat Hobbes auf sensualistisch abgeleitete Axiome eine deductive, rechnende Methode auf gebaut. Die methodologische Frage ist","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nJonas Cohn.\neben der erkenntnisstheoretischen gegen\u00fcber abgeleitet und weniger grunds\u00e4tzlich.\nMan kann nun also definiren: Rationalismus ist jede Philosophie, die den Grund der Gewissheit alles oder doch des wahrhaft werthvollen Erkennens im reinen Denken sieht. An dieser Definition sind jetzt nur noch die Worte \u00bballes oder doch des wahrhaft werthvollen\u00ab zu erl\u00e4utern. In ihnen dr\u00fcckt sich die Unterscheidung zweier Arten des Rationalismus aus. Kein Rationalist kann leugnen, dass es etwas gibt, was, ohne reines Denken zu sein, den Anspruch auf Geltung als Erkennen erhebt. Dieser Thatsache gegen\u00fcber kann er sich verschieden verhalten. Er kann die Anspr\u00fcche der Empirie als blo\u00dfe Anma\u00dfungen schroff zur\u00fcckweisen odder kann sie als minder werthvolle und unvollkommene Art der Erkenntnis anerkennen. Die erste Abart kann man als strengen, die zweite als laxen Rationalismus bezeichnen. Ein durchgef\u00fchrter laxer Rationalismus wird meist versuchen, sein Zugest\u00e4ndniss dadurch mit seiner Voraussetzung zu vereinigen, dass er den Werth der Empirie irgendwie indirect wieder auf \"reines Denken zur\u00fcckf\u00fchrt.\nRationalismus ist eine der Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Erkennens. Folgt aber Picht aus dieser Antwort auch etwas f\u00fcr das Wesen des Erkenntnissinhalts? Ohne Zweifel; wenn wahres Erkennen reines Denken ist, so muss das wahrhaft Erkannte dem Denken vollkommen\"d\u00fcrchsichtig, durch und durch rational sein. Das Irrationale kann der Rationalismus niemals als etwas Letztes, immer nur als eine Aufgabe anerkennen. Dagegen ist es nicht noth-wendig, dass eine rationalistische Philosophie, selbst wenn sie Metaphysik ist, auch das Wesen der Welt als ein Denken ansieht. Es kann etwas rational sein, ohne \u00bbratio* zu sein. Eines der vollendetsten K rationalistischen Systeme, das Spinozas, setzt denn auch das Wesen < der Dinge keineswegs allein ins Erkennen. Umgekehrt freilich wird eine Philosophie, die das Wesen der Welt im Denken sieht, noth-wendig rationalistisch sein, denn wenn das Wesen der Welt im Denken besteht, so muss erst recht, das menschliche Erkennen wesentlich Denken sein. Dass es sinnlos w\u00e4re, das Wesen der Welt in eine sensualistisch gefasste Erkenntniss, d. h. in eine Abh\u00e4ngigkeit von \\ etwas, was nicht ihr selbst angeh\u00f6rt, zu setzen, braucht nicht erst er\u00f6rtert zu werden. Diese Richtung behauptet also eine Wesens-","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n75\ngleichheit zwischen Erkennen und Erkanntem. Alle diejenigen Theo-rien, die auf irgend einem Gebiete das Erkennen f\u00fcr den allein wesentlichen Thatbestand halten, bezeichnet man, um sie vom{ Rationalismus zu unterscheiden, als Intellectualismus. Die hier besprochene Ansicht vom Wesen der Welt w\u00e4re danach als allgemeiner oder metaphysischer Intellectualismus zu bezeichnen. Da er ein Logisches zum Wesen des Alls macht, nennt man ihn auch Panlogismus. Von ihm zu unterscheiden sind die Formen des speciellen Intellectualismus. Diese beschr\u00e4nken sich auf Gebiete, auf denen die Behauptung, dass sie wesentlich Intellect seien, ohne metaphysische Theorien m\u00f6glich erscheint. Diese Gebiete geh\u00f6ren dann nothwendig dem menschlichen Geistesleben an. Hier aber k\u00f6nnen zwei ganz verschiedene Fragen auftreten, die beide eine intellectualistische Antwort zulassen: die nach den wesentlichen Bestandtheilen und die nach den herrschenden Werthen im Geistesleben. Im ersten Falle ist Intellectualismus eine psychologische Theorie, die es versucht, alle auf den ersten Blick nicht intellectuellen Gebilde unseres Seelenlebens (Wille, Gef\u00fchl) aus intellectuellen Elementen abzuleiten. Im zweiten Falle handelt es sich darum, die auf den ersten Blick nicht intellectuellen Werthe, die ethischen, \u00e4sthetischen u. s. w., auf die des Er-kennens zur\u00fcckzuf\u00fchren. So steht dem psychologischen Intellectualismus ein Intellectualismus des Werthens gegen\u00fcber, der seinerseits wieder in ethischen, \u00e4sthetischen und religi\u00f6sen Intellectualismus zerlegt werden kann. Beide Arten sind theoretisch von einander unabh\u00e4ngig. Man kann das psychologische und das Werthproblem vollkommen von einander trennen. Aber selbst wenn man das nicht thut, kann man zwar Gef\u00fchl und Willen aus Vorstellungsverh\u00e4ltnissen ableiten, das ethisch oder sonst Werthvolle aber doch nicht in diesen Elementen sondern nur in jenen Complexen erblicken. Umgekehrt kann man die existentiale Selbst\u00e4ndigkeit von Gef\u00fchl und Wille anerkennen, ohne ihnen einen Werth zuzuschreiben. In den vorhandenen Systemen bleiben freilich Werth- und Bestandtheilsfrage oft h\u00f6chst ungen\u00fcgend geschieden und dann geht nat\u00fcrlich eine Form des speciellen Intellectualismus unterschiedslos in die andere \u00fcber. Beide Formen des speciellen Intellectualismus k\u00f6nnen ohne Rationalismus vorhanden sein und sind dies auch h\u00e4ufig. Denn auch wenn man das Erkennen sensualistisch auffasst, ist es m\u00f6glich, das ganze Seelen-","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nJonas Cohn.\nleben nach Analogie des Erkennens zu erkl\u00e4ren oder alle Werthe auf Erkennen zuriickzuf\u00fchren. Historisch findet sich besonders der psychologische Intellectualismus mit Sensualismus verbunden in der einflussreichen englischen Associationspsychologie. Umgekehrt ist es unn\u00f6thig, dass der Rationalismus mit psychologischem oder werthendem Intellectualismus verbunden ist. Eine rationalistische Erkenntniss-theorie k\u00f6nnte an sich auch im Seelenleben ein \u00bbrationale\u00ab anerkennen, das nicht \u00bbratio\u00ab ist. Freilich wird sich das hier schwerer als f\u00fcr die K\u00f6rperwelt durchf\u00fchren lassen und hat daher auch historisch kaum eine bedeutende Verwirklichung gefunden. Noch weniger aber ist der Rationalismus gen\u00f6thigt, alle Werthe aus denen des Erkennens abzuleiten. Der Unterschied von Rationalismus und Intellectualismus tritt besonders deutlich hervor, wenn man betont, dass Rationalismus f sich auf den Gegensatz: Denken, Empfindung, specieller Intellec-i tualismus auf den Gegensatz: Vorstellung, Wille (Gef\u00fchl) bezieht, wobei die Vorstellung ebenso gut sensualistisch wie rationalistisch 1 aufgefasst werden kann.\nDefiniren und gegen andere Begriffe abgrenzen kann man den Rationalismus in einer fast rein theoretischen Untersuchung. Will man aber die principiell verschiedenen Hauptformen dieser Grundansicht vorf\u00fchren, so muss man die historische Entwicklung etwas n\u00e4her zu Rathe ziehen. Denn eine Aufz\u00e4hlung blo\u00dfer M\u00f6glichkeiten w\u00fcrde den Ausk\u00fcnften des Geistes doch niemals genug thun und wiederum vieles besprechen m\u00fcssen, was sich sogleich als werthlose Form erweist, die niemals mit der Wirklichkeit eines durchgebildeten philosophischen Syst\u00e8mes erf\u00fcllt werden konnte. Die erste Unterscheidung l\u00e4sst sich dadurch machen, dass in einzelnen Systemen oder Gedankenreihen der Grundsatz des Rationalismus den Anschauungen zu Grunde liegt, aber nicht als solcher ausgesprochen wird, w\u00e4hrend in anderen sich die Reflexion des Denkers grade diesem Grunds\u00e4tze selbst zuwendet. Man kann diese beiden Formen als bewusste und unbewusste bezeichnen. Aber diese Namen sind nicht sehr gl\u00fccklich, viel treffender w\u00e4ren die Hegel\u2019schen Ausdr\u00fccke \u00bban sich\u00ab und \u00bbf\u00fcr sich seiend\u00ab. Doch ist es wohl hoffnungslos, das Vorurtheil besiegen zu wollen, das diese Terminologie in Folge ihres vielfachen Missbrauches gegen sich wachgerufen hat.\nDie Ans\u00e4tze zum Rationalismus im vorwissenschaftlichen Denken","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n77\nsind unbewusst, unbewusst ist sehr h\u00e4ufig auch die Wirksamkeit rationalistischer Motive in den Einzelwissenschaften. Die philosophische Arbeit wird dann diese Ans\u00e4tze ins Bewusstsein zu erheben haben. Daher findet sich in der Philosophie relativ selten ein vollkommen unbewusster Rationalismus, weit h\u00e4ufiger, bis in die Gegenwart hinein, ein nicht vollkommen bewusster. Besonders interessant ist die erste Erkebung ins Bewusstsein, die der Rationalismus in der griechischen Philosophie erfahren hat. Ein unbewusst rationalistisches Element zeigt sich zugleich mit dem Beginn des Philosophirens in dem Einheitsstreben der ionischen Philosophen. Diese Forderung der Einheit wird von Xenophanes ausdr\u00fccklich und allgemein hervorgehoben. Heraklit, der das vereinheitlichende Gesetz im ewigenWechsel sucht, beginnt dann, wie K\u00fchnemann1) es ausdr\u00fcckt, \u00bbden in der Entwicklung der Philosophie welthistorischen Kampf gegen die Sinne\u00ab und preist das Denken, das allen gemeinsam ist2). Aber weder rein noch vollbewusst scheint sein Rationalismus zu sein. Parmenides geht nach beiden Richtungen hin \u00fcber ihn hinaus. Er fordert nicht nur L\u00e4uterung der Sinneserkenntniss \u2014 worauf es bei Heraklit herausgekommen zu sein scheint \u2014 sondern er verwirft sie ganz und gar. Das reine Denken, das das Eine, Seiende erfasst, ist ihm der) rechte Weg zur Wahrheit. Denken und Sein sind identisch3). Sein ganzes System ist im Grunde Verk\u00fcndigung des Satzes der Identit\u00e4t, des obersten Denkgesetzes. Aber diesem begeisterten Preise des reinen Denkens fehlt noch eins: die ausdr\u00fcckliche und positive Kennzeichnung dieses wahren Erkenntnissmittels.\nDieser Fortschritt war im\u2019 Kampfe gegen die Sinne nicht zu gewinnen, sondern er entstammt der Abwehr eines anderen Gegners,^ der auf das Erkennen \u00fcberhaupt den Angriff wagte, n\u00e4mlich der\u00e7 sophistischen Skepsis. Hier wurde geleugnet, dass es Erkennen \u00fcberhaupt gibt; e? wurde damit alles der Willk\u00fcr des Meinens, dem Belieben des Einzelnen, dem leeren Gerede \u00fcberliefert4). Wollte man\n1)\tGrundlehren der Philosophie. Berlin 1899. S. 39.\n2)\tHeraklitos von Ephesos. Griechisch und deutsch von H. Diels. Berlin 1901. Fragm. Nr. 112, 113. \u2014 dazu, um den Werth des Gemeinsamen bei H. zu w\u00fcrdigen, Fragm. Nr. 89.\n3)\tParmenides Lehrgedicht, griechisch und deutsch von H. Diels. Fragm. I, Vers 33\u201438, Fragm. Y, Fragm. VIII, Vers 34\u201437.\n4)\tDiese negative Charakteristik der Sophisten ersch\u00f6pft nat\u00fcrlich ihre Ver-","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nJonas Cohn.\ndem entrinnen, so gen\u00fcgte es nicht mehr, sich von der Sinneserkenntniss abzuwenden und eine wahre Quelle der Weisheit in sich zu f\u00fchlen und andeutend zu preisen, vielmehr musste man sich deutlich machen, wo die letzte unbestreitbare Quelle aller Gewissheit liegt. So er-^ hoben erst Sokrates und Plato den Rationalismus zum vollen Bewusstsein. Die Grunds\u00e4tze des Denkens garantiren sich selbst, sie sind unbestreitbar, sie sind anderseits nichts von au\u00dfen dem Geiste Aufgedrungenes, sondern das wahre Wesen des Geistes selbst, der in ihnen seine Macht und seinen Stolz hat. Dieses Gef\u00fchl der W\u00fcrde fdes Denkens ist das Pathos des Rationalismus, das aus Plato\u2019s Dialogen uns ergreifend entgegent\u00f6nt. Wie seine Vorstufen, so ist auch dieser vollbewusste Rationalismus realistisch, d. h. er sieht im Erkennen die Abbildung einer au\u00dferhalb des Erkennens vorhandenen Wirklichkeit. Der Grundsatz des Rationalismus, dass das reine Denken wahre Erkenntniss gibt, formt sich hier also dahin um, dass das klar Erkannte wirklich ist. Diese Form bezeichnet man als Grundsatz des Ontologismus. Mehr oder minder bewusster Ontologismus ist aller Rationalismus von Plato bis zu Leibniz. Sehr verschieden f stellen sich diese Systeme zum metaphysischen Intellectualismus. 'Plato h\u00e4ngt diesem nicht eigentlich an, aber eine Tendenz dahin liegt in seinem System und wird nur von entgegenstehenden Denkmotiven an voller Durchsetzung verhindert. Da es sich hier nicht um eine historische Untersuchung handelt, sondern die Geschichte nur der auf die Hauptformen gerichteten ph\u00e4nomenologischen Untersuchung dient, so m\u00fcssen die von diesem Gesichtspunkte aus untergeordneten Verschiedenheiten der Systeme au\u00dfer Betracht bleiben. Bedeutsam dagegen ist auch f\u00fcr uns eine Vergleichung des antiken Ontologismus mit dem modernen, der von Descartes ausgeht. Auch dieser neuere Rationalismus kommt zum Selbstbewusstsein durch die Ueberwindung des Zweifels. Aber dieser Zweifel steht dem Philosophen nicht als \u00e4u\u00dferer Gegner, als sophistischer Mitunterredner gegen\u00fcber, er sitzt in ihm selbst und qu\u00e4lt ihn als Bewusstsein der Ungewissheit. Descartes kann diesen Feind nur \u00fcberwinden, indem er ihm einmal Macht \u00fcber alles gibt, was er anzugreifen vermag, und so in\ndienste um die Erkenntnistheorie nicht, sie ist platonisirend und daher einseitig \u2014 aber auf den Rationalismus hat eben gerade diese einseitige Auffassung der Sophistik gewirkt.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n79\nder Zur\u00fcckziehung auf die unangreifbare Festung der Selbstgewissheit des Denkens Kraft gewinnt. Unbildlich ausgesprochen: der Zweifel erh\u00e4lt Bedeutung als Methode der Gewinnung des Wissens. Dieser neue Rationalismus ist psychologischer und zum Theil auch werthender Intellectualismus, aber nicht metaphysischer. Dies ist eine Folge der Verbindung, in die er mit der mathematischen Physik tritt. Hier war ein Herrschaftsgebiet des Geistes entstanden, das dem Denken einen ganz neuen Siegeszug er\u00f6ffnete. Wenn man, wie Descartes that, den K\u00f6rper selbst auf Ausdehnung reducirte und die Geometrie f\u00fcr eine rein rationale Wissenschaft hielt, so musste die K\u00f6rperwelt etwas vollkommen Rationales werden. Da aber in jedem bewussten Rationalismus doch auch die Selbst\u00e4ndigkeit des Denkens zum st\u00e4rksten Ausdruck kommt, so entstand ein Dualismus, den dann Spinoza in der Einheit seiner Substanz und dem Parallelismus ihrer Attribute zu \u00fcberwinden suchte. F\u00fcr diesen neuen Ontologismus musste daher der Nachweis, dass der physikalische K\u00f6rper nicht auf Ausdehnung reducirbar ist, h\u00f6chst bedeutsam werden. Diese Einsicht vertritt Leibniz. Die Wichtigkeit seiner dynamischen K\u00f6rperauffassung | f\u00fcr seine gesammte Philosophie wird oft und mit Recht hervorgehoben. Weniger deutlich pflegt in den Darstellungen zu werden, dass dies doch nur eine specielle Auspr\u00e4gung eines viel allgemeineren Verh\u00e4ltnisses ist. Denn Leibniz ist, um es kurz zu sagen, derjenige Ontologist, der alle Schwierigkeiten dieser Richtung erkennt, in sein System verarbeitet und doch Ontologist bleibt. Darum ist seine Philosophie die reichste und complicirteste, die auf dem Boden des Ontologismus erwachsen konnte. Sie hat f\u00fcr die Ph\u00e4nomenologie und f\u00fcr die Kritik des Rationalismus ein Interesse, wie es in gleichem Ma\u00dfe nur noch Hegel\u2019s System erweckt. Anderseits ordnet sich die Mannigfaltigkeit von Leibnizens Gedanken unter diesem Gesichtspunkte zu einem architektonischen Ganzen1).\n1) Dass die Betrachtung eines Systems unter nur einem ph\u00e4nomenologischen Gesichtspunkte nothwendig einseitig ist, ist selbstverst\u00e4ndlich. Ich hebe es nur hervor, um zu erkennen zu geben, dass ich mir dieser Einseitigkeit bewusst bin. In der Metaphysik \u2014 und das bedeutet bei L. eben doch im Centrum der Philosophie __ bleibt Leibniz Ontologist, w\u00e4hrend bei seiner Behandlung*special-\nwissenschaftlicher Probleme die Gegenmotive, die er dann metaphysisch ^ifl\u00f6st, \u00f6fters allein zum Ausdruck kommen. Wie sich das Bild unter Voranstelluf\u00eeg der mathematisch-physikalischen Gedankenreihen gestaltet, dazu vgl. jetzt. Ernst","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nJonas Cohn.\nLeibniz erkennt die Bedeutung einer irrationalen Quelle des Erkennens nicht etwa nur im einzelnen an \u2014 das that auch mancher Rationalist vor ihm \u2014, sondern er hebt sie auch grunds\u00e4tzlich hervor. Er f\u00fchrt besondere Principien der Thatsachenerkenntniss ein '). Dass die Sinneswahrnehmung der wesentliche Vermittler der besonderen Wahrheiten ist, hebt er ausdr\u00fccklich hervor. Aber er l\u00f6st dieses Zugest\u00e4ndniss an den Sensualismus dadurch rationalistisch auf, dass | er die Sinneswahrnehmungen als undeutliche Formen der Verstandeserkenntnisse erkl\u00e4rt. Diese so einflussreiche Lehre hat zwei Wurzeln: einerseits die F\u00fclle der Thatsachen, die auch gegenw\u00e4rtig immer wieder zur Annahme eines Unbewussten im Seelenleben f\u00fchren, anderseits die physikalische Zur\u00fcckf\u00fchrung der Sinnesqualit\u00e4ten auf Bewegungen eines qualit\u00e4tlosen Stoffes* 1 2). Man kann sagen, dass Leibniz das Zustandekommen der Qualit\u00e4ten aus den unbewusst bleibenden Wahrnehmungen der Bewegungen nach Analogie der Entstehung eines unbestimmten Gesammteindruckes aus einer F\u00fclle mitschwingender Erinnerungen denkt. Der Erkenntnisswerth der Sinneswahrnehmung beruht darauf, dass sie, allerdings nicht f\u00fcr den Menschen, sich als verdunkelte Zusammenziehung reiner Verstandeserkenntniss erweist.\nNun tritt aber zu dem so aufgehobenen Einwande gegen jeden \u00dfationalismus \u00fcberhaupt die Opposition gegen die k\u00f6rperwissenschaftliche Voraussetzung der rationalistischen Metaphysik der Cartesianer hinzu. Die Bewegungsgesetze des K\u00f6rpers sind nicht abzuleiten, wenn man K\u00f6rper mit Ausdehnung gleichsetzt. Dadurch kommt in\nCassirer, \u00bbLeibniz\u2019 System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen\u00ab. Marburg 1902. Dies Buch erschien erst, als die obige Darstellung niedergeschrieben war.\n1)\tZ. B.: Ph. IY, 357.\n2)\tcf. neben der Hauptstelle im Vorwort der \u00bbNouv. Ess.\u00ab Ph. V, 46\u201449 f\u00fcr den Zusammenhang der \u00bbpetites perceptions\u00ab mit den secund\u00e4ren Qualit\u00e4ten, die so vor dem Vorwurf der \"Willk\u00fcrlichkeit gerettet werden, Ph. V, 109 {Nouv. Ess. H, 2,1), Ph. V, 118 (Nouv. Ess. II, 8,13), Ph. II, 314 u. s. w. Unter den psychologischen Thatbest\u00e4nden scheint der \u00e4sthetische Geschmack noch eine besondere Rolle gespielt zu haben. H. v. Stein, Entstehung der neueren Aesthetik (Stuttgart 1886), S. 102, weist auf den Begriff der \u00bbd\u00e9licatesse de go\u00fbt\u00ab hin. Ein Beweis daf\u00fcr, dass L. diesen Begriff bei seinem ersten Pariser Aufenthalt aufgenommen hat, findet sich in einem in Guhrauer\u2019s Biographie I, 114 mitgetheilten Briefe an Habbeus. Auch 1686 wird die \u00e4sthetische Beurtheilung als Beispiel der \u00bbid\u00e9e claire mais confuse\u00ab gebraucht Ph. IV, 449.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n81\ndie, wie es schien, nach dem Bilde der Geometrie v\u00f6llig rationalisirte ( / Physik ein irrationales Element: die dem K\u00f6rper innewohnende Kraft. Leibniz f\u00fchrt auch dies irrationale Element durch seine Metaphysik auf eine Rationalit\u00e4t zur\u00fcck, indem er in Ankn\u00fcpfung an seine Psycho-logie die Kraft und damit das wahre Wesen des K\u00f6rpers als eine Form des Geistes fasst, die auf einer Stufe sehr undeutlicher Er-kenntniss stehen geblieben ist. \u00bbCorpus est mens momentanea\u00ab. Zugleich gewinnt er dadurch ein neues Mittel zur Verdeutlichung seiner rationalistischen Auffassung des Geistes. Wie eine Differentialformel es erlaubt, durch Einsetzung bestimmter Werthe den ganzen Verlauf einer Curve oder Bewegung aus dem allgemeinen Gesetz, das in jedem Punkt oder Augenblick gleich erkennbar ist, zu berechnen, so l\u00e4sst sich auch der Geist gewisserma\u00dfen als eine Differentialformel auffassen, deren vollst\u00e4ndige Kenntniss die Kenntniss aller seiner k\u00fcnftigen und vergangenen Vorstellungen m\u00f6glich macht. Man sieht, \u25a0 dass Leibnizens Philosophie nicht beim psychologischen Intellectua-lismus stehen bleiben konnte, sondern zum metaphysischen fortschreiten musste.\nDer Rationalismus war dadurch als Ontologismus bestimmt worden, dass er sich mit der realistischen Auffassung des Erkennens als einer Abbildung verband. Auch die Schwierigkeiten der Abbil- ' dungstheorie kennt Leibniz, und zwar nicht erst als Ergebniss eigenen Denkens, sondern schon als Erbe der cartesianischen Schule, insbesondere des Malebranche. Freilich ist damit zugleich eine Schw\u00e4che des Systems ber\u00fchrt. Diese Schwierigkeiten werden n\u00e4mlich nicht mit H\u00fclfe der principiell entscheidenden erkenntnisstheoreti-schen Fragestellung bewusst, sondern als ein Theil des metaphysischen Problems der Wechselwirkung. Aber diese Schw\u00e4che ist ebenfalls kein Zufall. Die hier hervortretende Zur\u00fcckdr\u00e4ngung der Erkennt-nisstheorie macht es \u00fcberhaupt allein m\u00f6glich, dass Leibniz Onto-logist bleibt. So wird denn hier die Abspiegelungstheorie zun\u00e4chst verworfen : Die Monade hat keine Fenster, dann aber mit H\u00fclfe der pr\u00e4stabilirten Harmonie wieder zur\u00fcckgef\u00fchrt: Durch diese Harmonie ist jede Monade ein Spiegel des Universums. Es braucht hier nur angedeutet zu werden, dass diese Theorie mit H\u00fclfe der vorher dargestellten Denkmittel, der undeutlichen Vorstellungen und der Differentialformel, durchgef\u00fchrt wird.\nWundt, Philos. Studien. XIX.\n6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"82\nJonas Cohn.\nDieselben Denkmittel und die besondere Stellung des Menschengeistes im Reiche der Monaden dienen auch dazu, die Schwierigkeiten zu \u00fcberwinden, die das Unendlichkeitsproblem jeder Metaphysik in den Weg legt. Denn auch diese Schwierigkeiten hat Leibniz vollkommen durchschaut und anerkannt1).\n. Es war nachgewiesen worden, dass Leibnizens Rationalismus zum i metaphysischen Intellectualisants f\u00fchren musste. Von hier aus k\u00f6nnte ein Einwurf gegen die ganze hier versuchte Construction dieses Systems gemacht werden. In Leibnizens Metaphysik scheint doch ein voluntaristisches Element zu stecken. Gott w\u00e4hlt diese Welt als die beste aus der unendlichen Zahl der m\u00f6glichen Welten. Diese Wahl ist der Ursprung der thats\u00e4chlichen Wahrheiten. Dadurch scheint das Irrationale schlie\u00dflich doch ein Eigenrecht zu erhalten. Aber es steht damit wie mit den vorher besprochenen Punkten, wiewohl die rationalistische Aufl\u00f6sung hier in Folge der theologisch voi-sichtigen Ausdrucksweise weniger hervortritt. Zun\u00e4chst ist Gottes Freiheit nur scheinbar, als vollkommenes Wesen ist er vollkommen gut und als vollkommene G\u00fcte kann er nur durch das Beste bestimmt ^ erden. Das Finden dieses Besten ist aber lediglich Resultat eines I intellectuellen Processes. Ordnung und Einfachheit, sowie Menge des Coexistirenden sind die Bestimmungen, die \u00fcberall wiederkehren, wo Leibniz daran geht, den Begriff der Vollkommenheit n\u00e4her zu bestimmen; es handelt sich also um rein intellectuelle Werthe, denn die an Aesthetisches gemahnende Formulirung kn\u00fcpft doch eben auch lediglich an die intellectuelle Seite des \u00e4sthetischen Werthes an. Charakteristisch f\u00fcr Leibniz ist, dass er so oft betont, es komme keineswegs allein auf das Wohl der selbstbewussten Monaden an. Sogar die Gerechtigkeit im Reiche der bewusst wollenden Wesen wird nur als Theil der allgemeinen Ordnung betrachtet und kann daher im einzelnen Falle allgemeineren R\u00fccksichten geopfert werden. Man sieht, die Vollkommenheit der besten Welt ist eine rein intellec-' tuelle Bestimmung. Entsprechend wird auch das Uebel als eine blo\u00dfe Negation erkl\u00e4rt, so dass seine geringstm\u00f6gliche Summe im Grunde aus der gr\u00f6\u00dftm\u00f6glichen Menge des Coexistirenden, also aus einem\n1) Vgl. die Darstellung in meiner \u00bbGeschichte des Unendlichkeitsproblems\u00ab. Leipzig 1896.","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n83\ntranscendenten Rechenexempel folgt. So l\u00f6st sich auch das volun-taristische Element in Leibnizens Metaphysik vollkommen intellec- / tualistisch auf1).\nWenn man diesen gro\u00dfartigen Versuch, den Ontologismus mit voller Ber\u00fccksichtigung aller Gegengr\u00fcnde aufrecht zu erhalten, \u00fcberschaut, so wird bei aller Bewunderung doch das Gef\u00fchl der K\u00fcnstlichkeit dieses Baues sofort auftreten. Die widerstreitenden Elemente sind in ein nur labiles Gleichgewicht gebracht, das keine Ersch\u00fctterung ertragen kann. Die unsystematische, oft durch fremde Einw\u00fcrfe angeregte Form von Leibnizens Schriften tr\u00e4gt noch mehr dazu bei, auf diese Beschaffenheit hinzuweisen, ja sie verf\u00fchrt manchen Leser, den gro\u00dfen Stil des Ganzen zu verkennen, und den planm\u00e4\u00dfig k\u00fcnstlichen Bau f\u00fcr ein blo\u00dfes Gewirr an einander gereihter Noth-hiitten zu halten. Von der andern Seite her kann man in Leibniz auch wieder leicht zuviel hineinlegen, wenn man vergisst, dass alle die scharfsinnigen Gegengr\u00fcnde gegen den Ontologismus nur dazu da sind, widerlegt zu werden. Aber freilich mit dem Sturze dieses Systems ist das Schicksal des Ontologismus besiegelt. Alle Versuche, ihn wieder auf leben zu lassen, sind f\u00fcr den Fortschritt des Gedankens bedeutungslose R\u00fcckst\u00e4ndigkeiten. Es war deshalb geboten, etwas n\u00e4her auf dieses System einzugehen, zumal der hier durchgef\u00fchrte Gesichtspunkt, wie ich glaube, Licht in die Darstellung desselben bringen kann.\nDie M\u00f6glichkeit, aus reinen Identit\u00e4ten fruchtbare neue Folgerungen zu gewinnen, an der auch Leibniz nicht gezweifelt hatte, war durch die Sensualisten mehr und mehr in Frage gestellt worden. Aber diese Bestreitung war nicht principiell genug, so lange als Gegeninstanz die Mathematik und insbesondere die Geometrie stehen blieb, deren Analogie den Ontologisten zum Leitstern diente. Darum ist der von Kant in seiner Inauguraldissertation wesentlich auf dem Boden des Rationalismus gef\u00fchrte Beweis, dass alle mathematischen S\u00e4tze ihre Fruchtbarkeit nicht dem blo\u00dfen Denken, sondern zugleich den hinzutretenden reinen Formen der Sinnlichkeit verdanken, von\n1) Dies ist aus der Theodicee, dem scheinbar am meisten voluntaristischen Werke L.\u2019s, heraus zu belegen. Vgl. besonders Nr. 208, Ph. VI, 241, die ganz rationalistische Bestimmung der gew\u00e4hlten Regeln, dann die Definition des Uebels als Negation Nr. 29, Ph. VI, 119 u. s. w.\nG*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nJonas Cohn.\nso fundamentaler Bedeutung. Da zugleich die Zur\u00fcckf\u00fchrung der Sinnlichkeit auf undeutliche Erkenntniss beseitigt wird, ist die Katastrophe des Ontologismus eingetreten. Koch bleibt die Erkenntniss der intelligiblen Welt als eine M\u00f6glichkeit stehen; aber diese M\u00f6glichkeit, zu deren Verwirklichung sich schon hier kein Weg zeigt, wird in der Kritik der reinen Vernunft vollkommen beseitigt durch den Nachweis, dass ohne einen hinzukommenden Factor die Kategorien des Verstandes keine Erkenntniss gehen k\u00f6nnen. Da zugleich die Abbildungstheorie widerlegt wird, ist der Ontologismus besiegt, m\u00f6gen sich auch noch so viele Beste der durch die Arbeit eines Lehens \u00fcberwundenen Jugendanschauungen in einzelnen Ausspr\u00fcchen Kant\u2019s erhalten haben. Aber der Bationalismus ist mit dieser seiner einen Form noch nicht beseitigt. Eine neue Form desselben findet sogar gerade bei Kant einen wichtigen Ankn\u00fcpfungspunkt. Die Abh\u00e4ngigkeit alles Erkannten von den Formen des Erkennens kann leicht zu dem Bestreben erweitert werden, nun den Erkenntniss-inhalt aus diesen Formen ableiten zu wollen. Der fundamentale Unterschied dieses nachkantischen Rationalismus vom Ontologismus liegt zun\u00e4chst darin, dass er seine Anspr\u00fcche nicht mehr auf irgend eine Form der Abspiegelungstheorie gr\u00fcnden kann. Da aber auch dieser Rationalismus das wahre Wesen der Welt erkennen, also metaphysisch sein will, so muss er eine andere Begr\u00fcndung dieser Metaphysik suchen. Er findet sie in der Ueberzeugung, dass das reine Denken unmittelbar identisch mit dem wahrhaft Wirklichen ist. In dem Ausgehen von der Selbstgewissheit des Denkens und in der metaphysischen Wendung, die er dieser Selbstgewissheit sogleich giebt, stimmt er mit Plato und Descartes \u00fcberein; aber er f\u00e4llt nicht, wie diese, in eine Abspiegelungstheorie zur\u00fcck. Aller Ontologismus hatte trotz entgegengesetzter Ans\u00e4tze schlie\u00dflich immer die Wahrheit wie eine vom Denken au\u00dferhalb seiner selbst zu fassende Sache gedacht sei, war also realistisch gewesen oder geworden. Erst die Nachfolger Kant\u2019s verbinden den Rationalismus mit consequentem Idealismus. Man kann daher ihre Stellungnahme als idealistischen, metaphysischen Rationalismus bezeichnen. Vollendet durchgef\u00fchrt ist diese Philosophie im System Hegel\u2019s. Auf ihn bezieht sich daher diese Darstellung wesentlich, da es ihr nicht auf den historischen Nachweis der Zusammenh\u00e4nge, sondern auf die systematische","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen., des Rationalismus.\n85\nCharakteristik der Hauptformen ankommt. Soll das Denken den wahren Inhalt in sich selbst haben, so muss die Lehre vom Denken nicht nur formale, sondern auch materiale Grundwissenschaft sein: \u2022 Logik und Metaphysik fallen zusammen. Nun war aber durch Kant\u2019s Analyse des mathematischen Erkennens der alten, auf dem Satze des Widerspruchs beruhenden, formalen Logik auch der letzte Schein materialer Fruchtbarkeit entzogen. \u00bbDie gesunde Vernunft hat ihre Ehrerbietung vor der Schule, die im Besitze solcher Gesetze der Wahrheit und in der sie noch immer so fortgef\u00fchrt werden, so sehr verloren, dass sie dieselbe darob verlacht, und einen Menschen, der nach solchen Gesetzen wahrhaft zu sprechen wei\u00df: Die Pflanze ist eine \u2014 Pflanze, die Wissenschaft ist \u2014 die Wissenschaft, und so fort ins Unendliche, f\u00fcr unertr\u00e4glich h\u00e4lt\u00ab1). Auch die syl-logistischen Kegeln haben zwar eine wesentliche Bedeutung, betreffen aber \u00fcberhaupt nur eine Kichtigkeit der Erkenntnisse, nicht die Wahrheit. Es muss also eine ganz neue Logik gefunden werden, wenn sie der ihr hier gestellten Aufgabe gen\u00fcgen soll. Diese neue Logik wird gewonnen durch eine v\u00f6llig ver\u00e4nderte Auffassung der Negation. \u00bbDas Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen, und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bem\u00fchen ist, \u2014 ist die Erkenntniss des logischen Satzes, dass das Negative ebenso sehr positiv ist, oder dass das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstracte Nichts auf l\u00f6st, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhaltes, oder dass eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich aufl\u00f6st, somit bestimmte Negation ist; dass also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resul-tii\u2019t\u00ab2). Diese positive Bedeutung macht die Negation geeignet, Moment in der Selbstbewegung des Geistes zu werden, und diese Selbstbewegung ist ja zugleich das wahre Denken und das wahre Sein. Dass Hegel\u2019s Rationalismus metaphysischer Intellectualismus sein muss, folgt hieraus ohne weiteres. Ja, es gibt kaum ein an- \\ deres System, das diese Richtung so unvermischt vertritt, und man I hat daher den Namen Panlogismus dieser Weltanschauung besonders\n1)\tHegel, Logik. Vorrede zur 2. Aufl. Werke III, 20.\n2)\tHegel, Logik. Einleitung. Werke, HI, 41.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nJonas Cohn.\nzugeeignet. Zugleich erh\u00e4lt hier der Intellectualismus des Werthens eine besondere Bedeutung: die praktisch gesetzgebende menschliche Vernunft wird zugleich bevorzugtes Object und methodisches Vorbild des Philosophions. Sie r\u00fcckt gleichsam in die Stelle ein, die im 17. Jahrhundert die mathematische Naturwissenschaft eingenommen hatte. Die dialektische Logik kann zugleich dem historischen Gange der cultursetzenden Vernunft gerecht werden und erh\u00e4lt von ihm ihren Inhalt. Intellectualismus und Rationalismus fallen hier vollst\u00e4ndig zusammen.\nDas Hegel\u2019sche System hat sich durch seine Ausf\u00fchrung selbst widerlegt. Ganz unverkennbar nimmt es immer wieder Inhalte auf, die es nicht aus der dialektischen Bewegung seines Denkens erzeugt. Dass auch diese Form des Denkens dem Denkinhalt gleichg\u00fcltig gegen\u00fcber steht, zeigte sich in der Zersetzung der Hegel\u2019schen Schule dadurch, dass das Schema des Meisters von den verschiedenen J\u00fcngern mit entgegengesetztem Inhalt erf\u00fcllt wurde. Dabei war auch unschwer nachzuweisen, dass dieses dialektische Denken selbst keineswegs, wie es beansprucht, reines Denken ist. Mit diesem Zusammenbruche des Hegel\u2019schen Systems ist bisher wenigstens die Geschichte des metaphysischen Rationalismus zu Ende, und es ist auch kaum abzusehen, mit welchen Mitteln eine wesentlich neue Form desselben geschaffen werden sollte, da sich seine Durchf\u00fchrung mit H\u00fclfe des gew\u00f6hnlichen logischen Denkens als ebenso unm\u00f6glich erwiesen hatte, wie seine Constituirung durch ein dialektisches Denken. Indessen bleibt bei diesem Sturze eine Frage bestehen. Unzweifelhaft haben doch sowohl die alten wie die neuen rationalistischen Systeme gro\u00dfe positive Leistungen aufzuweisen. Man darf daran erinnern, was der Ontologismus f\u00fcr die Physik bedeutete, wie die kleinen Vorstellungen Leibnizens die Psychologie bereicherten, welche Bedeutung der nachkantische, metaphysische Idealismus f\u00fcr Geschichte und Normwissenschaften hat. Noch wesentlicher vielleicht aber ist; dass fast alle gro\u00dfen Fortschritte in der philosophischen Problemstellung von I der Begr\u00fcndung und Widerlegung der gro\u00dfen rationalistischen Systeme von Parmenides und Heraklit bis auf Hegel herstammt. Die Geschichte des Rationalismus gleicht einigerma\u00dfen der der Kreuzz\u00fcge. Eine gro\u00dfe Idee bewegt zu unerh\u00f6rten Anstrengungen; das gelobte Land wird nicht dauernd erobert, aber von jedem Zuge","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n87\nwerden die reichsten Keime neuer Entwicklungen zur\u00fcckgebracht. Sollte sich darin nicht eine wesentliche Bedeutung des Rationalismus aussprechen? Sollte es nicht gen\u00fcgen, dass man den undurchf\u00fchrbaren metaphysischen Anspruch aufgibt, um den wahren methodologischen Kern rein zu erhalten? So etwa k\u00f6nnte eine mehr ad hominem denn ad rem gerichtete Begr\u00fcndung der letzten Form des Rationalismus operiren, der ich mich nun noch zuzuwenden habe.\nIm Gegensatz zu allem metaphysischen Rationalismus ist diese neue Form nur methodologisch. Sie teilt nat\u00fcrlich mit dem idealistisch metaphysischen Rationalismus die Gegnerschaft gegen die Abspiegelungstheorie, gibt aber zugleich auch den Anspruch auf, in der Selbstbewegung des Denkens die wahre Wirklichkeit unmittelbar zu besitzen. Durch diese allgemeinen Bestimmungen ist der methodologische Rationalismus mehr negativ begrenzt, seine positive Kennzeichnung ist eine Aufgabe anderer Art, als die Charakteristik der vorher geschilderten Formen. Denn er liegt nicht, wie diese, schon in Gestalt eines gro\u00dfen, durchgebildeten Systems vor, sondern tritt meist als blo\u00dfe Voraussetzung auf, die kaum deutlich zum Bewusstsein erhoben wird. Es erscheint seltsam, dass man in der Gegenwart wieder einer halb unbewussten Form des Rationalismus gr\u00f6\u00dfere Beachtung schenken muss \u2014 aber die Verwunderung dar\u00fcber vermindert sich, wenn man wahrnimmt, dass nicht nur der Rationalismus als Ganzes erst \u00bban sich\u00ab ist, ehe er \u00bbf\u00fcr sich\u00ab wird, sondern dass jede seiner Hauptformen wenigstens theilweise einen \u00e4hnlichen Entwicklungsgang von neuem durchlebt, wenn auch die anf\u00e4ngliche Unbewusstheit keine totale mehr ist. Da sich der methodologische Rationalismus meist erst im Stadium der Latenz oder doch nur der allm\u00e4hlichen Emporarbeitung zum Bewusstsein befindet, wird es vortheilhaft sein, hier von der Ber\u00fccksichtigung einzelner Philosophen und Werke ganz abzusehen. Man kann stets schwer bestimmen, wie weit die betreffenden Autoren die Consequenz, die sich in Richtung dieser Ansicht aus einzelnen ihrer Ausf\u00fchrungen ziehen l\u00e4sst, wirklich anerkennen w\u00fcrden1).\n1) Auch von der Er\u00f6rterung der sehr schwierigen Frage, inwieweit Kant methodologischer Rationalist, inwieweit er Utraquist war, soll hier abgesehen werden. Ans\u00e4tze zu beiden Richtungen finden sich unzweifelhaft bei ihm.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"Jonas Oohn.\nDa der methodologische Rationalismus keine fertige rationale Welt annimmt, so muss ihm das Erkennen zum Erzeugen einer Rationalit\u00e4t werden. Diese Rationalisirung setzt ein Irrationales als Anfangsglied voraus. Da nun zugegeben werden muss, dass die Rationalisirung verschiedenen Wissenschafteu in verschiedenem Ma\u00dfe gelungen ist, so kann der methodologische Rationalismus einen gewissen vorl\u00e4ufigen Antheil des Irrationalen anerkennen, d. h. er kann laxer Rationalismus sein, ohne inconsequent zu werden. Von jeder Form des Utraquismus unterscheidet er sich dabei doch dadurch, dass der Werth jeder Wissenschaft durch ihre Rationalit\u00e4t gemessen wird. Im letzten Sinne bleibt also das Irrationale immer nur Aufgabe, wird nie als Endgiltiges anerkannt. Die rationalistische Wissenschaft, die so als Grundlage des methodologischen Rationalismus erscheint, orientirt sich den Hauptformen des neueren metaphysischen Rationalismus entsprechend entweder an der Mechanik oder an der praktisch gesetzgebenden Vernunft oder an beiden zugleich. Diese zwei Arten oder Zweige gilt es noch etwas n\u00e4her zu betrachten.\nDie mathematische Physik rationalisirt die K\u00f6rperwelt durch Ausscheidung alles Qualitativen. Nur quantitative Bestimmungen, durch Gesetze verbunden, die seihst in Form von Gleichungen auftreten, bleiben \u00fcbrig. So wird ein Ansatz denkbar, der eine Berechnung aller vergangenen und zuk\u00fcnftigen Welt-Zust\u00e4nde erlaubt. Wenn man nun den Anspruch aufgibt, dass diese Welt des Quantitativen das wahrhaft Wirkliche ausdr\u00fccke, so kann man sie doch als das eigentliche Ziel aller Erkenntnissarbeit ansehen. Die (konstanten, mit denen, als mit Daten, jede solche Construction arbeiten muss, werden als etwas Vorl\u00e4ufiges oder Untergeordnetes betrachtet. Die Causal-gleichungen gehen dem alten Hauptsatz alles nicht dialektischen Rationalismus, dem Satze der Identit\u00e4t, seine W\u00fcrde zur\u00fcck. Darum h\u00e4ngt auch die Frage, oh Causalit\u00e4t sich auf Identit\u00e4t zur\u00fcckf\u00fchren lasse, sehr eng mit dem Streit um den methodologischen Rationalismus zusammen. Als Hauptanzeichen f\u00fcr das Vorhandensein dieser Richtung, auch wo ihr Grundsatz nicht ausgesprochen ist, kann man das Argumentiren mit der sogenannten Laplace\u2019schen Weltformel ansehen. Aber es w\u00e4re doch auch n\u00e4herer Erw\u00e4gung werth, ob nicht der Wunsch, Biologie auf Physik und Chemie, Chemie auf Physik,","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n89\nPhysik auf Mechanik zur\u00fcckzuf\u00fchren, im Grunde aus dieser Art von Rationalismus hervorgeht. Ganze Gruppen naturphilosophischer Streitigkeiten, die um die Schlagworte der Energetik und des Neo-Vitalismus gef\u00fchrt werden, k\u00f6nnten vielleicht hier ihren tiefsten erkenntnisstheoretischen Ausdruck erhalten. Es braucht kaum gesagt zu werden, dass durch die Bezeichnung einer Behauptung als methodologisch-rationalistisch diese weder bewiesen noch widerlegt ist, sondern nur der Weg gewiesen ist, auf dem der Streit um sie zur Entscheidung gebracht werden kann1).\nNeben dieser naturwissenschaftlichen Gedankenrichtung zeigt sich im methodologischen Rationalismus eine werthende. Sie kennzeichnet sich durch das Bem\u00fchen, die nicht logischen Werthe, die ethischen, \u00e4sthetischen und religi\u00f6sen rein rationalistisch, aus der Gesetzgebung der Vernunft abzuleiten. Wenn man den Ausdruck \u00bbreine praktische Vernunft\u00ab \u2014 gleichviel ob im Sinne seines Urhebers \u2014; pr\u00e4gnant gebraucht, so kann er als Kennwort dieser Gedankenrichtung dienen. Gesetzgebung durch reine Vernunft \u2014 das ist nach dieser Ansicht der wahre Inhalt alles praktisch-menschlichen Handelns. Da f\u00fcr diesen Rationalismus Erkenntnissmittel und Erkenntnissinhalt beim Werthen wiederum zusammenfallen, so muss er einen werthenden Intellectualismus erzeugen. Das Irrationale in unserm Handeln und F\u00fchlen ist ihm nur Material, Ausgangspunkt, h\u00f6chstens Vorbereitung \u2014 es muss in jedem Falle \u00fcberwunden werden. Die Discussion dieser Grundfrage auf ethischem u. s. w. Gebiete ist \u00fcber Geb\u00fchr durch andere Probleme zur\u00fcckgedr\u00e4ngt worden. Aber wer den logischen Kern ergreifen kann und nicht einmal nach dieser Richtung hin aufmerksam geworden ist, der h\u00f6rt Verwandtschaft oder Feindschaft zu diesem methodologischen Rationalismus oftmals als Grundton aus den verworrenen theoretischen und selbst praktischen Streitigkeiten dieser Gebiete heraus. Als ein Kriterium, das auf methodologischen ,\u2022 Rationalismus hinweist, kann man \u00fcberall die besondere Werthsch\u00e4tzung : des begrifflich Allgemeinen bezeichnen. Der Allgemeinbegriff ist den\n1) Eine interessante Anwendung hat dieser naturwissenschaftlich orientirte methodologische Rationalismus durch M\u00fcnsterberg auf die Begr\u00fcndung der Psychologie gefunden. Vgl. meinen Aufsatz: \u00bbDer psychische Zusammenhang bei M\u00fcnsterberg\u00ab. Vierteljahrschr. f. wissensch. Phil. u. Sociol., XXVI, 1.","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nJonas Cohn.\nempirischen Exemplaren gegen\u00fcber unzweifelhaft ein von der Vernunft erzeugtes Gebilde. Vielfach wird aber \u2014 in meist unbewusstem Anschluss an Plato \u2014 diese formale Rationalit\u00e4t des Begriffes zu einer inhaltlichen umgedeutet, obwohl doch der Inhalt fast aller Begriffe irrationale Elemente enth\u00e4lt. Diese Verschiebung des Rationalen, dieser Schein, als sei der Begriff als solcher etwas Rationales, wird durch eine Doppeldeutigkeit der Terminologie verst\u00e4rkt, die besonders bei Kant hervortritt. \u00bbBegriff\u00ab wird hier einerseits in der gew\u00f6hnlichen allgemeinen Bedeutung, andererseits aber auch pr\u00e4gnant f\u00fcr die den Begriff erzeugende Vernunft!unction, die Kategorie, gebraucht. In den ber\u00fchmten Formeln \u00bbAnschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen leer\u00ab steht \u00bbBegriff\u00ab z. B. durchaus in diesem pr\u00e4gnanten Sinne. So meint man denn im \u00bbBegriff\u00ab sogleich ein vollendet Rationales zu erfassen. Gerade wo diese Gedanken nicht klar analysirt werden, spielen sie bei der Wirkung des Allgemeinen mit. In der Aesthetik entsteht so eine besondere Sch\u00e4tzung der Darstellung des Typisch-Durchschnittlichen \u2014 wobei sich freilich ein Nebenbegriff des idealen Typus fast stets einmischt. Frei von der Doppeldeutigkeit des Wortes \u00bbBegriff\u00ab bleibt der Versuch, das Aesthetische von den Principien der Formung der Anschauungen her (Einheit, Klarheit, Deutlichkeit u. s. w.) rational zu fassen. Auf ethischem Gebiete ist es die Absicht des methodologischen Rationalismus, den Inhalt der sittlichen Gebote aus dem Formalprincip der praktischen Vernunft herzuleiten. Charakteristisch ist es, wie er sich dabei zu den von der Geschichte gegebenen sittlichen Gestalten stellt. Man kann das besonders gut an dem Beispiel der Nation darlegen. Es sind hier zwei M\u00f6glichkeiten vorhanden: entweder die Rationalit\u00e4t wird als Zuf\u00e4lligkeit sittlich entwerthet \u2014 h\u00f6chstens als unvollkommene, zu \u00fcberwindende Vorstufe anerkannt, oder man sucht eine bestimmte Nation dadurch zu retten, dass man ihr einen in abstracten Begriffen fassbaren Sonderwerth beilegt. Man braucht dabei nicht etwa so weit zu gehen, dass man nur eine Nation als \u00bbdie\u00ab sittlich berechtigte anerkennt, sondern man kann einige sich abstract erg\u00e4nzende Unterschiede abzuleiten suchen.\nMan k\u00f6nnte in Versuchung kommen, das Problem des methodologischen Rationalismus in Antinomien zu formuliren. Auf natur-","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Die Hauptformen des Rationalismus.\n91\nwissenschaftlichem Gebiete z. B. st\u00fcnde dann der Thesis: \u00bbAlle Naturwissenschaft ist fortschreitende Rationalisirung, ihr Ziel ist Aufl\u00f6sung aller blo\u00dfen Thats\u00e4chlichkeit in Rationalit\u00e4t\u00ab die Antithesis gegen\u00fcber: \u00bbIn allen S\u00e4tzen der Naturwissenschaft liegt ein irrationaler Factor, dessen genaue Feststellung wesentliche Aufgabe der Wissenschaft ist und der nie auf Rationalit\u00e4t zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann.\u00ab Indessen ist leicht zu sehen, dass mit einer solchen Gegen\u00fcberstellung noch nicht viel gewonnen w\u00e4re. Zun\u00e4chst liegen n\u00e4mlich hier noch zwei Fragen vor, die ineinander verstrickt sind: Muss in jeder Er-kenntniss ein Irrationales liegen? und: Hat das Irrationale Erkenntniss-werth? Mit der Bejahung der ersten Frage w\u00e4re noch ein methodologischer Rationalismus vereinbar \u2014 nur m\u00fcsste er zugestehen, dass sein Ziel unerreichbar ist. Erst die Bejahung der zweiten Frage schlie\u00dft jeden Rationalismus aus. Ferner wird sich die Antwort verschieden gestalten, je nachdem, oh man Naturwissenschaft ihrer Methode nach f\u00fcr die allein vorbildliche Wissenschaft h\u00e4lt oder nicht, und ohs man im zweiten Falle alles Irrationale der Beimengung einer anderer Art wissenschaftlicher Zielsetzung zuschieben zu k\u00f6nnen meint, oder ob man auch die nicht naturwissenschaftliche Erkenntniss etwa ethischteleologisch rationalisiren zu k\u00f6nnen glaubt. Hier sieht sich die Discussion dann sogleich ins Einzelne und Weite getrieben. Andererseits bemerkt man, wie der naturwissenschaftliche Zwang des Rationalismus Stellung zu nehmen hat zu einer allgemein-wissenschaftlichen Erweiterung seiner Thesis, und wie diese Erweiterung sogleich auf den werthenden Rationalismus hinf\u00fchrt. Hier scheint also umgekehrt eine noch allgemeinere Fragestellung gefordert zu werden, welche die beiden bisher behandelten F\u00e4lle des methodologischen Rationalismus zu blo\u00dfen Beispielen herabw\u00fcrdigt. Die stolze, th\u00e4tige Selbst\u00e4ndigkeitr der Vernunft, die allein Werth zu haben und zu verleihen scheint,? und die Unm\u00f6glichkeit, aus blo\u00dfer Vernunft irgend etwas Inhaltvolles i abzuleiten, stehen einander gegen\u00fcber \u2014 so k\u00f6nnte man etwas popul\u00e4r! und gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfig sagen. Es kann die Aufgabe dieser ph\u00e4nomenologischen Untersuchung nicht sein, einen strengeren Ausdruck des Gegensatzes an die Stelle dieser unbestimmten Fassung zu setzen. Noch weniger ist es hier m\u00f6glich, die Auswege, Spielarten und Mischformen der entgegenstehenden Ansichten zu \u00fcberblicken. Es sollte nur gezeigt werden, dass der Rationalismus keine todte Gr\u00f6\u00dfe ist, dass","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nJonas Cohn, Die Hauptformen des Rationalismus.\nvielmehr ein neuer Streit um eine neue Erscheinungsform desselben nothwendig bevorsteht, ja im einzelnen \u00fcberall begonnen hat. Der Ertrag dieses Kampfes f\u00fcr den Fortschritt der Wissenschaft wird aber zum gro\u00dfen Theile davon abh\u00e4ngen, ob die Gegens\u00e4tze klar und rein sich auspr\u00e4gen k\u00f6nnen. Wenn dazu hier einige Anregung geboten w\u00fcrde, so h\u00e4tte diese kleine Studie ihren wesentlichsten Zweck erreicht.","page":92}],"identifier":"lit4568","issued":"1902","language":"de","pages":"69-92","startpages":"69","title":"Die Hauptformen des Rationalismus","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:23:54.956289+00:00"}