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{"created":"2022-01-31T12:31:18.244979+00:00","id":"lit4572","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Hellpach, Willy","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 19: 192-242","fulltext":[{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\nVon\nWilly Hellpach.\nHeidelberg.\nDie Abgrenzung der Nervenheilkunde innerhalb der gesammten Pathologie ist wesentlich durch historische Momente bedingt worden. Konnte sie doch um so weniger als eine nat\u00fcrliche erscheinen, je mehr die Erkenntniss von der Allgegenwart nerv\u00f6ser Einfl\u00fcsse im Organismus sich Bahn brach. Dem Siege der chemischen Anschauungen in der Physiologie vermochte auch die neurologische Forschung sich nicht zu entziehen; die Grenzmauer zwischen animalen und vegetativen Verrichtungen verlor ihre Geltung, und in den Theorien Hering\u2019s bewegte alles organische Geschehen, und nicht zuletzt das nerv\u00f6se, sich im Wechselspiel der dissimilativen und assimilativen Vorg\u00e4nge. An sich war damit das R\u00e4thsel der animalen Th\u00e4tigkeit seiner L\u00f6sung keinen Schritt n\u00e4her gebracht, und Karl Vogt\u2019s an-muthiges Gleichniss, dem das Denken nicht schwerer begreiflich war, als die Hamabsonderung, behielt seine G\u2019rundirrth\u00fcmlichkeit in unvermindertem Umfange. Aber der Begriff der Function, der ja' leider bis auf diesen Tag, wo immer er auftaucht, zu materialistischen Plattheiten verdreht werden muss, war f\u00fcr die Beziehungen zwischen dem nerv\u00f6sen Chemismus und den nerv\u00f6sen Lebens\u00e4u\u00dferungen durch hundertf\u00e4ltige Erfahrung nunmehr als anwendbar sichergestellt. Er ist auch heute und wahrscheinlich auch auf geraume Zeit hinaus die einzige Formel, die der Pathologe unbedenklich seinen Schl\u00fcssen zu Grunde legen darf. Denn mag nun der Streit um die Art des Zusammenhanges zwischen materiellen und psychischen Vorg\u00e4ngen zu Gunsten der Annahme eines echten Parallelismus, einer unmittel-","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"[Psychologie und Nervenheilkunde.\n193\nbaren psychophysischen Wechselwirkung, oder eines erkenntniss-theoretischen Monismus im Sinne Wundt\u2019s entschieden werden \u2014 an der schlichten Thatsache jenes Zusammenhanges ist nicht zu r\u00fctteln, und wenn wir sie in dem Functionsgleichniss zum Ausdruck bringen, so kann keine der umstrittenen philosophischen Meinungen sich beg\u00fcnstigt, keine sich zur\u00fcckgesetzt f\u00fchlen.\nAllerdings braucht diesem negativen Vorzug noch kein positiver, der Unanst\u00f6\u00dfigkeit des Functionsbegriffes noch nicht seine Fruchtbarkeit f\u00fcr das pathologische Forschen zu entsprechen. In der That begegnet seine Anwendung gerade innerhalb des neuropathologischen Gedankenkreises nicht unerhehlichen Schwierigkeiten. Sie m\u00fcssen dem Nervenarzt sich um so st\u00e4rker auf dr\u00e4ngen, je entschiedener seine Wissenschaft neuerdings auf ihrem Entwicklungspfade in den Bereich jenes Schlagschattens ger\u00e4th, den die Psychiatrie auf das medicinische Denken wirft. Nach der Seite der inneren Medicin hin sind ja die Beziehungen der Nervenheilkunde dauernde und durchaus erfreuliche geblieben. Zwar hat es durchaus nicht an Streitfragen gefehlt, welche die Erkrankungen des R\u00fcckenmarks, des Gehirns, auch des peripheren Nervensystems aufwirbelten; aber seihst so verwickelte, so tief ins Psychische hineinreichende St\u00f6rungen, wie die Ataxie, die Aphasie, die Individualisirung apoplektischer L\u00e4hmungen \u2014 um nur drei herauszugreifen \u2014 sind von Klinikern, die das Riesengehiet der gesammten inneren Medicin zu verwerthen hatten, in durchaus musterg\u00fcltiger Analyse der einzelnen Erscheinung, in vielfach geistreicher und doch meist wohl\u00fcberlegter, k\u00fchler Interpretation unserem Ver-st\u00e4ndniss um ein gutes St\u00fcck n\u00e4her ger\u00fcckt worden. Desto schlimmere Verwirrung aber ist auf der anderen Seite eingerissen, wo die Nervenheilkunde der Wissenschaft von den Geistesst\u00f6rungen die Hand reicht. Lange genug hatte die theologische Auffassung des Irreseins die Verbindung der Psychiatrie mit der \u00fcbrigen Medicin verhindert. Als dann dieses Vorurtheil gebrochen war, und man in der Dementia paralytica sogleich ein klassisches Krankheitsbild vor sich hatte, das schwere nerv\u00f6se mit schweren psychischen Symptomen vereinigte, da wurde das wissenschaftliche Zusammenarbeiten beider Disciplinen einfach zur Thatsache, zur Nothwendigkeit. Die endg\u00fcltige Verwischung der Grenzen kn\u00fcpft sich freilich erst an die Namen Charcot und Beard. Mit dem umfassenden Studium der Hysterie, der\nWundt, Philos. Studien. XIX.\t13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nWilly Hellpach.\nEntdeckung der Neurasthenie hebt das Zeitalter der \u00bbNeurosen\u00ab an; damit beginnt zugleich die Psychologie in der Nervenheilkunde eine Rolle zu spielen \u2014 wenn es auch manchmal eine recht seltsame Psychologie zu sein scheint.\nAllerdings ist die Zugeh\u00f6rigkeit der Hysterie, der Neurasthenie und der mit der Hysterie so oft in einem Athem genannten hypnotischen Erscheinungen zum Ressort des Neuropathologen eine sehr bestrittene; vielleicht erh\u00e4lt sie sich \u00fcberhaupt nur aus dem praktischen Grunde, dass der Neuropathologe zugleich Nervenarzt ist. Das Irresein steht bei den Laien immer noch in einem unerfreulichen Geruch, w\u00e4hrend das Sprechzimmer des Nervenarztes f\u00fcr viele Menschen etwas unbestimmbar Anziehendes hat. Auch pflegt der Unkundige die Schwere einer psychischen Erkrankung gew\u00f6hnlich nach der Deutlichkeit der intellectuellen St\u00f6rungen abzusch\u00e4tzen, eine einzige Sinnest\u00e4uschung bedeutet ihm viel mehr, als die tiefste Depression der Gef\u00fchlslage, und w\u00e4hrend man sich das Loos eines Menschen, der \u00bbden Verstand verliert\u00ab, in den schw\u00e4rzesten Farben malt, wird der Gem\u00fcthskranke weniger hoffnungslos beurtheilt: \u00bbVerstimmungen\u00ab rangiren noch hei den \u00bbNerven\u00ab, und an den \u00bbGeist\u00ab denkt man erst hei Hallucinationen und Wahnideen. Daraus erkl\u00e4rt es sich, dass Hysterische und Neurastheniker fast ausschlie\u00dflich vom Nervenarzt in gr\u00f6\u00dferer Anzahl beobachtet werden \u2014 oder von solchen Irren\u00e4rzten, die gleichzeitig nerven\u00e4rztlicher Praxis obliegen \u2014 dass die meisten Ver\u00f6ffentlichungen \u00fcber beide Krankheiten von Nerven\u00e4rzten stammen, und wir auch das weitere Studium dieser \u00bbNeurosen\u00ab vorz\u00fcglich von nerven\u00e4rztlicher Seite zu erwarten haben. Von einer Reihe leichterer psychopathischer Behaftungen, die ja \u00fcberall Aeu\u00dfe-rungen der erblichen Entartung sind, gilt das N\u00e4mliche, und da die Hypnose in diesen Dingen am meisten ihre heilende Kraft bew\u00e4hren soll, w\u00e4hrend die meisten Geisteskranken nach dem Urtheil der erfolgreichsten Hypnotisten sehr schwer einzuschl\u00e4fern sind, so reiht auch sie sich den Erscheinungen an, die grunds\u00e4tzlich bei ihrem vorwiegend psychischen Symptomencomplex den Irrenarzt besch\u00e4ftigen sollten, thats\u00e4chlich jedoch der Nervenheilkunde sich einf\u00fcgen. Da aber psychischen Vorg\u00e4ngen nur auf dem Wege psychologischer Betrachtung und Analyse ein Verst\u00e4ndniss abzugewinnen ist, so gilt die Feststellung, dass der Nervenarzt zum guten Theil auch Psycholog","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n195\nsein m\u00fcsse, in den Augen aller Vertreter der Nervenheilkunde heute wohl als eine Selbstverst\u00e4ndlichkeit.\nIndess, unter einem Psychologen versteht man sehr Verschiedenes. Der Laie verbindet damit den Begriff des Menschenkenners, und viele Nerven\u00e4rzte werden derselben Meinung sein. Es liegt mir fern, die Gabe der Menschenkenntniss im mindesten verkleinern zu wollen. Ist sie doch der praktische Ausdruck jener Veranlagung zur Beobachtung und zum Verstehen psychischer Erlebnisse, die auch unser Jubilar f\u00fcr die Vorbedingung ersprie\u00dflicher Beth\u00e4tigung auf psychologischem Gebiete h\u00e4lt. Aber abgesehen davon, dass jede Anlage zur flachen Routine werden kann, \u00fcber deren Erfolge wir uns nur zu leicht bequemer Selbstt\u00e4uschung hingeben; dass dieser Selbstt\u00e4uschung der Nervenarzt besonders leicht verf\u00e4llt, weil er seine Kranken zumeist weniger lange Zeit fortbeobachten kann, als etwa der Leiter einer Irrenanstalt: abgesehen hiervon, meine ich, liegt nicht so sehr an den wissenschaftlichen Psychologen, liegt viel mehr an den hitzigen Verfechtern des Monopols praktischer Menschenkenntniss die Schuld, wenn die Beziehungen zwischen ihnen und der methodisch forschenden Psychologie in letzter Zeit sich ersichtlich verschlechtert haben. Auf dem in vieler Hinsicht eigenth\u00fcmlichen M\u00fcnchener Psychologencongress hat der Leiter einer der gr\u00f6\u00dften deutschen Universit\u00e4ts-Irrenkliniken, hat Flechsig mit Genugthuung die M\u00f6glichkeit betont, dass durch seine \u2014 anatomischen \u2014 Arbeiten der Vulg\u00e4rpsychologie wieder ein breiteres Wirkungsfeld einger\u00e4umt werden k\u00f6nne, als es gegenw\u00e4rtig zu geschehen pflege. Man denkf dabei unwillk\u00fcrlich an die ber\u00fchmten alten Aerzte, die ihre wesentlichen Diagnosen aus dem Puls sch\u00f6pften. Gewiss haben sie damit oft Bewundernswerthes geleistet; aber sollte uns diese Anerkennung dazu verleiten, uns der modernen Untersuchungsmethoden zu begeben und zur guten, alten Pulsdiagnostik zur\u00fcckzukehren? Flechsig\u2019s Hoffnung ist diesem Ansinnen ungef\u00e4hr gleichwerthig. Wenn die eindringliche und methodisch gef\u00fchrte psychologische Analyse der Menschenkenntniss schadet, deren Urtheile und Ergebnisse nicht best\u00e4tigt, so kann das nur an der Unvollkommenheit der Menschenkenntniss liegen, und wem es um diese ernst ist, der wird kein anderes Gef\u00fchl als das der Dankbarkeit hegen gegen eine Forschung, die es ihm erm\u00f6glicht, seine intuitiven Schl\u00fcsse zu pr\u00fcfen, zu sichern, an Zuverl\u00e4ssigkeit zu vervollkommnen.\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nWilly Hellpach.\nGanz recht, mag man mir einwerfen; aber eine solche Forschung sei eben die sogenannte moderne Psychologie leider nicht. Fl\u00fcchtige Betrachtung wird diesem Einwurf leicht ihr Ohr leihen. Die vulg\u00e4re Psychologie ist von Aristoteles\u2019 bis auf Flechsig\u2019s Zeiten \u00fcber die Etiketten, die sie den geistigen Vorg\u00e4ngen auf geklebt hat, im wesentlichen sich einig geblieben. Vernunft, Verstand, Denken, Erinnerung, Phantasie, Gem\u00fcth, Gef\u00fchl, Trieb, Begehren, Wille \u2014 diese Bezeichnungen leben nach zweitausendj\u00e4hrigem Dasein anscheinend ungebrochen und unersch\u00fctterlich weiter, trotz aller Wandlungen, die das Menschengeschlecht von der Erziehung Alexanders des Gro\u00dfen bis zum M\u00fcnchener Psychologencongress durchgemacht hat; und das allemeueste Lehrbuch der Physiologie, dessen Sch\u00f6pfer v. Bunge nachdr\u00fccklich zu idealistischen, teleologischen und vitalistischen Anschauungen sich bekennt, hat in seiner anerkennens-werthen Ehrenrettung des zu Unrecht verlachten Joseph Gail auch dessen \u00bbGutm\u00fcthigkeitscentrum\u00ab wieder lebendig zu machen versucht: genau an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Dem gegen\u00fcber befindet sich freilich die wissenschaftliche Psychologie in einem Zustande hejammernswerther Uneinigkeit. Feindlich stehen Intellec-tualisten und Voluntaristen einander gegen\u00fcber: jene werden von diesen beschuldigt, das geistige Leben in die Schablone der Association zu zw\u00e4ngen, die vor allem au\u00dfer Stande sei, die Einheit der psychischen Erlebnisse im Ich begreiflich zu machen; und sie geben den Vorwurf zur Antwort, dass der Voluntarismus aus dem Inventar der speculativen Psychologie als eine der dunkelsten Wesenheiten die mystische \u00bbApperception\u00ab \u00fcbernommen habe und damit letzter-dings das Geb\u00e4ude seiner Erkenntniss auf transcendentalem Sande errichte. In der That liegt die Sache derart; immerhin k\u00f6nnte man diese K\u00e4mpfe kaum f\u00fcr beklagenswerth halten, so wenig wie etwa den Gegensatz zwischen kinetischer und energetischer Auffassung in der modernen Physik und Chemie, zwischen selectiver Variation und explosiver Mutation in der Entwicklungslehre, wenn sie nicht zuweilen Formen angenommen h\u00e4tten, die \u00fcber Ma\u00df und Ziel hinausgingen. Kein Voluntarist, und ich bekenne mich ohne Einschr\u00e4nkung zu dieser Gruppe, wird der Associationspsychologie das Verdienst bestreiten, dass sie die Theilnahme an der psychologischen Forschung gerade in medicinischen Kreisen geweckt und gef\u00f6rdert, die Herr-","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n197\nschaft der Vulg\u00e4rpsychologie vielfach gebrochen oder doch ersch\u00fcttert hat. Und wenn Ziehen mit Nachdruck die Legende der unbewussten, unterbewussten, oder \u00e4hnlicher psychischen Vorg\u00e4nge zur\u00fcck weist, so darf er, der popul\u00e4rste Intellectualist unserer Tage, des Beifalls von der voluntaristischen Seite sicher sein. Es steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt, wenn derselbe Ziehen \u00bbmit mehr Beharrlichkeit als Umsicht\u00ab \u2014 wie Wundt es kennzeichnete \u2014immer von neuem das M\u00e4rchen von der Wiedereinf\u00fchrung der speculativen Gr\u00f6\u00dfe \u00bbWille\u00ab durch die Apperceptionspsychologie und ihren Altmeister Wundt vortr\u00e4gt, obzwar die Darlegung der apperceptiven Vorg\u00e4nge im \u00bbGrundriss der Psychologie\u00ab keinem Unbefangenen eine solche Bef\u00fcrchtung nahezulegen geeignet ist. Diese Methode, einen vorhandenen Biss zu erweitern, ist ein St\u00fcck jener Kampfesweise, die neuerdings in wissenschaftlichen Kreisen eine sehr beklagenswerthe Beliebtheit zu gewinnen scheint \u2014 nicht eben zum Vortheile der Forschung. Ich meine, auch hier hat unser Jubilar ein Vorbild gegeben, wie man einerseits pseudowissenschaftliche Bestrebungen r\u00fccksichtslos absch\u00fctteln darf \u2014 ich denke an seinen Brief \u00fcber den Spiritismus \u2014 anderseits aber Differenzen in der Auffassung dieses oder jenes Problems bei der denkbar pr\u00e4gnantesten Formulirung dennoch so behandeln kann, dass die M\u00f6glichkeit einer fruchtbaren Arbeitsconvergenz in vollem Umfange gewahrt bleibt: erinnern wir uns seiner Abhandlungen \u00fcber die psychophysische Oausalit\u00e4t, \u00fcber den Hypnotismus, \u00fcber den naiven und kritischen Bealismus, \u00fcber Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, um nur die umfangreichsten und bedeutsamsten herauszugreifen. M\u00f6gen also Intellectualisten und Voluntaristen in aller Sch\u00e4rfe ihre Fehden austragen, eines sollten sie einander auch in der Kampfeshitze niemals absprechen: die Wissenschaftlichkeit. Denn sie ist der gemeinsame Boden, auf dem sie gegen\u00fcber der vulg\u00e4rpsychologischen Ignoranz sich zusammenfinden.\nFreilich ger\u00e4th der Nervenarzt, der die moderne Psychologie kennen zu lernen sucht, am ehesten in die Gefahr, jenen Gegensatz der beiden Bichtungen zu \u00fcbersch\u00e4tzen. Denn der Niederschlag, den die intellectualistische und die voluntaristische Ansicht in psychiatrischen Ver\u00f6ffentlichungen gefunden haben, vermischt sich hier naturgem\u00e4\u00df mit klinischen Fragen, die aus der besonderen Entwicklung","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nWilly Hellpach.\nder Irrenheilkunde ihren Ursprung herleiten. Dass er dadurch sich modificirt, ist selbstverst\u00e4ndlich; dass diese Yer\u00e4nderung im Sinne einer Versch\u00e4rfung der principiellen psychologischen Gegens\u00e4tze sich \u00e4u\u00dferte, mag man bedauern, aber wer die Lage der Irrenheilkunde und die Art der sie beherrschenden Oontroversen kennt, wird es begreifen. Die Unvers\u00f6hnlichkeit der klinischen Gesammtanschauungen, die den von unsernbeiden hervorragendsten Irren\u00e4rzten, von Kraepelin und von Wernicke geschaffenen Darstellungen der Psychiatrie ihren Stempel aufpr\u00e4gt, kommt schlie\u00dflich auch in allen denjenigen Ausf\u00fchrungen zu Tage, die theoretisch zwar in der wissenschaftlichen Psychologie wurzeln sollten, praktisch und historisch aber hundertf\u00e4ltig von klinischen R\u00fccksichten beeinflusst sind, sodass ihre Divergenz viel st\u00e4rker erscheint, als in den Lehrb\u00fcchern und Organen der intellectualistischen und voluntaristischen Psychologie. Ja es kann dahin kommen, dass der intellectualistische Irrenarzt den mit der Vulg\u00e4rpsychologie sich bescheidenden Oollegen, die seine klinischen Ansichten theilen, schlie\u00dflich n\u00e4her steht, als dem Voluntaristen, und bei jenen gegen\u00fcber diesem Autorit\u00e4t und Nachfolge genie\u00dft.\nSo nahe es also auch f\u00fcr die Nervenheilkunde zu liegen scheint, in der Nutzbarmachung des psychologischen Wissens f\u00fcr ihre besonderen Zwecke an das gleiche Vorgehen der Psychiatrie anzukn\u00fcpfen, so wenig Befriedigung wird dieser Versuch ihr gew\u00e4hren k\u00f6nnen, da sie sich vor klinische Gegens\u00e4tze gestellt sieht, deren Eigenart die psychologischen Folgerungen verwischt und verf\u00e4lscht, ohne doch dem Neurologen ein wesentliches Interesse zu bieten. Daraus ergibt sich aber die Nothwendigkeit, dass die Nervenheilkunde in der psychologischen Interpretation der Hysterie, der Nervosit\u00e4t und der leichteren psychopathischen Zust\u00e4nde ihre eigenen Wege gehe und darauf verzichte, die Argumente f\u00fcr ihre Discussion aus den psychiatrischen Erfahrungen zu sch\u00f6pfen. Die Wechselbeziehungen zwischen Psychologie und Nervenheilkunde k\u00f6nnen nur unmittelbare sein, wenn ihr Nutzen verb\u00fcrgt werden soll, da sie auf dem Umwege \u00fcber die Psychiatrie in ein Netz ganz andersartiger Fragen sich zu verstricken und zu verlieren drohen.\nDas umfassendste Problem der Neurologie nun, das psychologischer Analyse zug\u00e4nglich ist, ja durch sie allein aufgehellt werden","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\t199\nkann, stellen die sogenannten psychogenen Krankheitserscheinungen dar.\nUeber ihre Ausdehnung gehen die strenge, theoretische Begriffsbestimmung und der nerven\u00e4rztliche Sprachgebrauch nicht unwesentlich auseinander. Im weitesten Sinne ist psychogen jeder k\u00f6rperliche Vorgang, den psychische Erlebnisse hervor-rufen. Man sieht, dass diese Definition die ganze Parallelismusfrage aufrollt; und wenn der Nervenarzt \u00fcber dieses philosophische Hinderniss hinaus will, so ist die Functionsformel das Einzige, woran er seine Hoffnung klammern kann. Wie lange, wird sich ja sp\u00e4ter zeigen ; vorl\u00e4ufig hei\u00dft es, sie acceptiren. Auf unseren besonderen Fall angewandt, w\u00fcrde sie dann etwa besagen, dass es Parallelreihen psychischer und physischer Erscheinungen gibt, in deren Ablauf zun\u00e4chst nur die psychischen erlebt werden, die physischen aber verborgen bleiben, w\u00e4hrend von einem bestimmten Punkte ab dieses Verh\u00e4ltniss sich umkehrt, physische Processe sichtbar werden, die psychischen dagegen einen Inhalt und eine F\u00e4rbung gewinnen k\u00f6nnen \u2014 nicht m\u00fcssen \u2014 die zu dem bisherigen Gfesammtvorgange in keiner unmittelbaren Beziehung mehr zu stehen scheint. Ueberschreite ich z. B. das Geleise einer Stra\u00dfenbahn und sehe unvermuthet einen Wagen in voller Fahrgeschwindigkeit um die Ecke biegen, so erlebe ich zuerst einen ganzen Complex psychischer Vorg\u00e4nge: Den Anblick des Wagens, den Schreck, den Trieb mich zu retten. Hierauf folgen sehr rasch die k\u00f6rperlichen Ereignisse des Erblassens, des Zitterns, des Beiseitespringens; sie dauern, wenn auch abgeschw\u00e4cht, noch eine ganze Weile fort, indem ich blass bleibe, zittere, mein Gang hastig und erregt ist. W\u00e4hrend dessen k\u00f6nnen jene psychischen Erlebnisse m eine froh erregte Stimmung ausklingen, die sich mit Erw\u00e4gungen \u00fcber die Gefahren der Verkehrsmittel verbindet; die Dazwischenkunft eines Bekannten, ein decorirtes Schaufenster k\u00f6nnen aber auch ganz neue Vorstellungen in den Blickpunkt des Bewusstseins r\u00fccken, deren Gef\u00fchlsbetonung jene Erw\u00e4gung durch eine andersartige Stimmung abl\u00f6st. Mag dies, mag jenes der Ausgang sein: keinesfalls beziehe ich das Fortdauern der k\u00f6rperlichen Erscheinungen auf die zugleich damit sich abspielenden geistigen, sondern nur an jener Stelle, wo ich erschrocken bei Seite sprang, scheinen mir Psychisches und Physisches causal verkn\u00fcpft zu sein Es sei g\u00e4nzlich dahingestellt, wie","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nWilly Hellpach.\ndieser Anschein zu Stande kommt; er ist als Thatsache gegeben, ist der Grund f\u00fcr uns, den physischen Vorgang als durch den psychischen herrorgerufen zu betrachten, ihm einen psychogenen Ursprung zuzuschreiben. In diesem Sinne sind also alle \u00e4u\u00dferen Willenshandlungen, alle Ausdrucksbewegungen, alle k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der Gef\u00fchle psychogen.\nDie praktische Nervenheilkunde engt jedoch den Inhalt des vielgebrauchten W\u00f6rtchens wesentlich ein. F\u00fcr sie sind solche Krankheitssymptome, deren physische Ursache nicht festzustellen ist, functioneil, psychogen aber erst dann, wenn sie nachweislich durch psychische Erlebnisse hervorgerufen sind. Indem an Stelle der psychischen Erlebnisse meist noch die Vorstellung tritt, hei\u00dfen psychogene Krankheitserscheinungen dann alle k\u00f6rperlichen Symptome, die durch Vorstellungen verursacht werden. F\u00fcr Moebius deckt sich diese Definition mit derjenigen der hysterischen Vorg\u00e4nge. Er erg\u00e4nzt allerdings die Vorstellung gelegentlich durch die mit ihr verbundene Gem\u00fcthsbewegung, und anderw\u00e4rts wiederum durch das an sie gekn\u00fcpfte Wollen oder Nicht-Wollen. Damit erlangt der Begriff des Psychogenen seine alte Ausdehnung wieder, und in der That hat gerade Moebius immer von Neuem darauf hingewiesen, dass eine absolute Trennung der hysterischen Erscheinungen von den psychogenen Processen des normalen Lebens undurchf\u00fchrbar sei. Trotzdem lassen die von ihm gegebenen Darlegungen \u00fcber das Wesen der Hysterie, sozusagen die classischen innerhalb der deutschen Nervenheilkunde, gerade in der Interpretation des Psychogenen an Sch\u00e4rfe und Unzweideutigkeit zu w\u00fcnschen \u00fcbrig. Und doch angelt in diesen Entscheidungen die endg\u00fcltige Absonderung der Nervosit\u00e4t und der neurasthenischen Psychopathien von der Hysterie, zu der so viele Neurologen sich noch immer nicht haben entschlie\u00dfen k\u00f6nnen.\nMoebius trennt mit der einfachen Klarheit, die wir an ihm bewundern, die motivirenden von den im engeren Sinne urs\u00e4chlich wirkenden Seelenvorg\u00e4ngen1). Diese Eintheilung kommt den Anschauungen der voluntaristischen Psychologie entgegen. Jener Schein einer causalen Verkn\u00fcpfung zwischen Psychischem und Physischem,\n1) Moebius, Neurologische Beitr\u00e4ge, Heft I, S. 1\u201431.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n201\ndem wir vorhin begegneten, jene Illusion der psychomotorischen Activ\u00e2t oder, vulg\u00e4r zu reden, der Willensfreiheit, ist eine Thatsache, die hei jedem Kampf der Motive an den Sieg des einen Motivs, die Entscheidung, sich kn\u00fcpft, und erweist sich als ein eigenth\u00fcmliches Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit, das wir wohl in der Richtung der l\u00f6senden Gef\u00fchle zu suchen haben. In unserem fr\u00fcher angezogenen Beispiel wirkten also der Anblick des Wagens, die Furcht get\u00f6dtet zu werden und die Erw\u00e4gung, dieser Gefahr nur durch rasches Ausweichen entgehen zu k\u00f6nnen, motivirend f\u00fcr das Beiseitespringen. Denn die Erw\u00e4gung ist zweifellos vorhanden, mag sie auch auf einen Augenblick sich zusammendr\u00e4ngen. Ein Kind bleibt vielleicht m\u00fc\u00dfig stehen, weil es die Gefahr nicht kennt, und der Erwachsene wird die Schnelligkeit seines Ausweichens je nach dem heraneilenden Gef\u00e4hrt abmessen : eine Droschke d\u00fcrfte sein Tempo erheblich m\u00e4\u00dfigen, und einem trabenden Reiter w\u00fcrde er vielleicht \u00fcberhaupt nicht Platz machen, indem \u00fcber die anf\u00e4ngliche Vorstellung, \u00fcberritten zu werden, die andere siegt, dass auf dieser Stra\u00dfe das Reiten unstatthaft und der Reiter zum Ausweichen verpflichtet sei. Die Hilflosigkeit des Kleinst\u00e4dters beim Ueberschreiten eines verkehrsreichen Platzes in der Gro\u00dfstadt beruht ja gerade auf der Langsamkeit, mit der diese Entschl\u00fcsse reifen, weil die Erfahrung fehlt, die den Vorstellungen ein bestimmtes Ma\u00df motivirender Kraft verleiht. Diese Kraft liegt, wie wir wissen, in dem Gef\u00fchlswerth, der den einzelnen Vorstellungen innewohnt: die Furcht zu verungl\u00fccken ist zun\u00e4chst \u00fcberw\u00e4ltigend stark gegen\u00fcber dem Wunsche, hin\u00fcber zu gelangen, und der Sorge, durch Z\u00f6gern sich l\u00e4cherlich zu machen; erst die Erfahrung m\u00e4\u00dfigt jene Furcht so weit, dass sie nach und nach mit den beiden anderen Gef\u00fchlserlebnissen in einen echten Widerstreit treten und ein Kampf der Motive sich vollziehen kann. Dieser Kampf dr\u00e4ngt sich zeitlich dann immer enger zusammen, aber er besteht fort, desto deutlicher, je st\u00e4rkere Gef\u00fchlsgegens\u00e4tze die Pers\u00f6nlichkeit beherrschen: der Vorsichtige weicht auch dem Reiter aus, vielleicht sogar einem sehr eilig daherst\u00fcrmenden Fu\u00dfg\u00e4nger, der bei aller Vorsicht mehr trotzig Veranlagte wird in diesen F\u00e4llen seinen Weg unbeirrt weiter gehen, nachdem er sich \u00fcberlegt hat, dass der bedrohende Theil kein Recht habe, ihn zu verdr\u00e4ngen, aber auch er fl\u00fcchtet vor dem elektrischen Wagen oder einem wild gewordenen","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nWilly Hellpack.\nPferde, weil die Vorstellung, dass mit Elektricit\u00e4t und mit Thieren sich nicht rechten l\u00e4sst, zu der Besorgniss \u00fcberrannt zu werden, verst\u00e4rkend und damit entscheidend sich gesellt. In jedem Falle bleibt also, das sollten diese Ausf\u00fchrungen festlegen, das Ausweichen ein Wahlact, bleiben die ihm vorangehenden psychischen Erlebnisse motivirende. Glanz anders steht es um das Zittern und Erblassen. Sie sind k\u00f6rperliche Folgen der auch den Affect der schreckhaften Furcht ausl\u00f6senden Vorstellung des Wagens, aber nicht durch sie motivirt, sondern verursacht. Das hei\u00dft: ihr Eintritt vollzieht sich nicht unter einem Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit, sondern des Erleidens ; wir f\u00fchlen uns an ihrem Zustandekommen unbetheiligt, wir k\u00f6nnen es nicht verhindern, auch wenn ein unerwartetes Haltmachen des Wagens das Ausweichen hemmt. Dem Wahlact wohnt Zweckm\u00e4\u00dfigkeit inne, und selbst wenn die Entscheidung falsch ausf\u00e4llt, wenn etwa der Reiter uns r\u00fccksichtslos \u00fcberrennt, so war sie doch zweckm\u00e4\u00dfig hinsichtlich des ganzen Vorgangs, wie er sich in uns abgespielt hat, mochten auch unsere Erw\u00e4gungen der Wirklichkeit nicht entsprechen und uns so zu einem verkehrten Entschl\u00fcsse dr\u00e4ngen: der Alkohol-delirant, der nach einer hallucinirten Ratte schl\u00e4gt, handelt subjectiv zweckm\u00e4\u00dfig. Jene nicht motivirten, sondern verursachten Erscheinungen aber sind \u00fcberhaupt nicht in diesem Sinne gerichtet, sie erweisen sich f\u00fcr unser Handeln als gleichg\u00fcltig, ja von einer gewissen St\u00e4rke ab als zweckwidrig. Wen der Schreck \u00fcber einen heransausenden Wagen regungslos auf der Stelle festwurzelt, der wird nothwendig verungl\u00fccken; wer bei kleinen Anl\u00e4ssen err\u00f6thet, gibt Geheimnisse h\u00fclfloser preis als der unvorsichtigste Schw\u00e4tzer. Im Sinne von Moebius nun d\u00fcrften wir nur den Theil unseres Beispielvorgangs als psychogen bezeichnen, der au\u00dferhalb der Motivirung liegt ; und hysterisch w\u00e4ren dann alle solche Erscheinungen dieser Gruppe, die au\u00dfergew\u00f6hnlich leicht und heftig eintreten, oder aber die bei Gesunden \u00fcberhaupt nie beobachtet werden. Mit anderen Worten: psychogen sind alle psychisch bedingten, aber nicht motivirten k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge; hysterisch sind alle in ihrer Art oder St\u00e4rke au\u00dfergew\u00f6hnlichen, d. i. krankhaften psychogenen Processe. Es ist klar, dass danach eine Grenze zwischen psychogenen und hysterischen Erscheinungen \u00fcberhaupt nicht zu ziehen, dass, wie Moebius in der That sich ausdr\u00fcckt, \u00bbsozusagen Jeder ein wenig -hysterisch\u00ab ist.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n203\nSoweit wird die Psychologie kaum Veranlassung haben, der Umschreibung des Begriffs \u00bbpsychogen\u00ab irgend welche Einw\u00fcrfe zu machen. Nun gerathen wir aber an zwei Zus\u00e4tze, welche die Sachlage durchaus verdunkeln. Die Erg\u00e4nzung der Vorstellung durch die \u00bbmit ihnen verbundenen Gem\u00fcthsbewegungen\u00ab, die Moebius gelegentlich vollzieht, wandelt sich in Kraepelin\u2019s Darlegung der Hysterie zu \u00bbgef\u00fchlsstarken Vorstellungen, ja oft Gef\u00fchlen, deren Vorstellungsinhalt ein sehr unklarer ist\u00ab1). Kraepelin gelangt von hier aus zu dem Schl\u00fcsse, dass beim Zustandekommen der hysterischen Erscheinungen \u00bbgesteigerte Ausgibigkeit der gem\u00fcthlichen Erregungen und krankhafte Ausbreitung ihrer unwillk\u00fcrlichen Begleiterscheinungen eine wesentliche Rolle spielen\u00ab2). Vielleicht noch schwerwiegender, als diese Consequenz, ist der andere Satz von Moebius: es handle sich nicht um eine Vorstellung, denn diese k\u00f6nne als solche nicht wirken, sondern um eine Vorstellung plus Wollen oder Nicht-Wollen3). Wie weit durch diese beiden Modificationen die klinische Abgrenzung der Hysterie erschwert wird, ist hier nicht zu er\u00f6rtern-Aber auch die Psychologie hat Grund, die ernstesten Bedenken zu erheben, da sie den eben erst festgelegten Begriff des psychogenen Vorganges in einen vieldeutigen Nebel auseinanderflie\u00dfen sieht. Sie wird freilich hei der kritischen Discussion jener Erg\u00e4nzungen auf das Hereinziehen klinischer Factoren nicht ganz verzichten k\u00f6nnen, ihnen freilich nur f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der Gr\u00fcnde und Gegengr\u00fcnde, nicht aber f\u00fcr die Entscheidung ein Gewicht heilegen d\u00fcrfen.\nIn Kraepelin\u2019s Abhandlung der Hysterie treffen wir auf eine Eingangs- und eine Ausgangsdefinition. Diese wurde eben wiederholt; jene bestimmt das Charakteristische an der Hysterie durch \u00bbdie au\u00dferordentliche Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit welcher sich psychische Zust\u00e4nde in mannigfaltigen k\u00f6rperlichen Reactionen wirksam zeigen\u00ab4). Die Differenz zwischen diesen beiden Fassungen springt ins Auge: die sp\u00e4tere geht psychologisch weit \u00fcber die fr\u00fchere hinaus. Allein nicht blo\u00df weit, sondern in folgenschwerster Weise: durch sie wird die Hysterie psychologisch eine andere Krankheit,\n1) Kraepelin, Psychiatrie, 6. Auf!., II, S. 511.\n'\t2) A. a. O., S. 512.\n3) A. a. 0., S. 17.\n4} A. a. 0., S. 492.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nWilly Hellpach.\nals sie vorher erschien. Eingangs erfahren wir die intensive und extensive Steigerung der k\u00f6rperlichen Reaction auf psychische Zust\u00e4nde als das Kriterium der hysterischen Erkrankung; Ausgangs aber ordnet sich dieser Steigerung eine solche der Glem\u00fcthserregungen, also psychischer Processe, zu oder gar \u00fcber. Dass Kraepelin diese Erweiterung mit voller Absicht vollzieht, beweist die gegen Moebius polemisirende Stelle, die den hysterischen Charakter \u2014 Temperament, Gem\u00fcthsanlage \u2014 unter allen Umst\u00e4nden im Bilde der Hysterie neben den Stigmata und Anf\u00e4llen \u2014 sensorischen und motorischen Ver\u00e4nderungen \u2014 fordert1). Denn es bedarf keines Beweises, dass die Stigmata und Anf\u00e4lle den Ausdruck jener Steigerung der k\u00f6rperlichen Reaction, die eigentlichen psychogenen Symptome bedeuten, dass hingegen der hysterische Charakter in der erh\u00f6hten gem\u00fcthlichen Erregbarkeit seine Grundlage findet. Nun spricht sich zwar Kraepelin an keiner Stelle scharf dar\u00fcber aus, ob er sich die psychogenen That-sachen aus der psychischen Alteration geradezu herleitbar denkt : das ist aber nicht anzunehmen, da wir ja die gesteigerte Gef\u00fchlslabilit\u00e4t in anderen klinischen Bildern wiederfinden, ohne dass sie in k\u00f6rperlichen Symptomen von au\u00dfergew\u00f6hnlicher Intensit\u00e4t, Extensit\u00e4t und Qualit\u00e4t wirksam w\u00fcrde. Es handelte sich danach nur um' ein Nebeneinander, aus dem das klinische Bild der Hysterie sich erg\u00e4be, und die abweichende Auffassung der zweiten Definition h\u00e4tte wohl klinische, aber nicht psychologische F\u00e4rbung. Allein in Wirklichkeit ist diese Trennung nicht durchf\u00fchrbar, sondern unweigerlich wirft das klinische Denken auch sein Licht oder seinen Schatten auf die Psychologie. Die psychogenen Vorg\u00e4nge k\u00f6nnen, wenn sie die Reaction des K\u00f6rpers auf Gem\u00fcthsbewegungen bedeuten, doch nur aus den ganz bestimmten Gem\u00fcthsbewegungen der fraglichen hysterischen Person ihren Ursprung nehmen, und die sind wiederum in der Gem\u00fcthsanlage, eben im hysterischen Charakter, latent. In der That spricht denn auch Kraepelin die Vermuthung aus, dass die gesteigerte gem\u00fcthliche Erregbarkeit das Auftreten psychogener Erscheinungen beg\u00fcnstige, deren gr\u00f6\u00dfere H\u00e4ufigkeit beim Rande und beim Weibe darum nicht zu verwundern sei.\nDie kritische Betrachtung dieser Ansicht muss zuv\u00f6rderst die\n1) A. a. 0., S. 612.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n205\nFrage aufwerfen, woran wir die St\u00e4rke eines Affectes beim Neben-menschen zu erkennen verm\u00f6gen. Wir antworten: einzig an dem Umfange der psychogenen Erscheinungen, die dabei sichtbar werden. Denn das andere Merkmal, an das man vielleicht noch denken k\u00f6nnte, die Beschaffenheit der Endstimmung, in die der Affect ausklingt, ist durchaus unzuverl\u00e4ssig. Es l\u00e4sst nicht einmal auf die Dauer des Affects einen sicheren R\u00fcckschluss zu: viele Menschen kehren nach einem heftigen G-ef\u00fchlsausbruch, auch wenn er sich eine betr\u00e4chtliche Weile hinzieht, schlie\u00dflich doch in raschem Tempo in die normale Stimmung zur\u00fcck, bei anderen bleibt nach geringf\u00fcgigen und sehr kurz dauernden Affecten noch lange Zeit eine ver\u00e4nderte Gef\u00fchlslage bestehen; und innerhalb jeder der beiden Gruppen k\u00f6nnen sogar wieder die lustvollen und die unlustigen Affecte verschieden im einen oder anderen Sinne wirken. Die psychogenen Vorg\u00e4nge bleiben also der einzig m\u00f6gliche Gradmesser f\u00fcr die Intensit\u00e4t einer Gem\u00fcths-bewegung. Freilich pflegt der Durchschnittsmensch zum Glauben an eine gesteigerte Gef\u00fchlserregbarkeit nur sehr schwer bestimmbar zu sein: au\u00dfergew\u00f6hnlich starke psychogene Reactionen erwecken immer sein Misstrauen, seinen Verdacht, dass Kom\u00f6die gespielt werde, und sind nie davor sicher, als Zeichen der Ueberspanntheit gedeutet zu werden. Zwar besteht zwischen beiden Urtheilen \u2014 kom\u00f6dienhaft und \u00fcberspannt \u2014 ein kleiner Unterschied, indem der Ueberspannte f\u00fcr etwas ehrlicher und mehr f\u00fcr bedauemswerth gilt, als der Kom\u00f6diant; aber sehr streng wird diese N\u00fcancirung im praktischen Leben nicht gerade durchgef\u00fchrt. Bei aller missverst\u00e4ndlichen Sch\u00e4tzung, die der einzelne Fall sehr oft dadurch erf\u00e4hrt, steckt in diesem Misstrauen des Laien gegen starke Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferungen doch eine richtige Einsicht: dass n\u00e4mlich, so sehr wir bei der Werthung von Affectst\u00e4rken auf die Beobachtung der psychogenen Vorg\u00e4nge angewiesen sind, eine durchg\u00e4ngige Proportionalit\u00e4t zwischen Gem\u00fcthserregung und Ausdruckserscheinung doch nicht besteht, und dass vornehmlich solche psychogenen Symptome, die im Verh\u00e4ltniss zu dem Erlebniss au\u00dfergew\u00f6hnlich stark sind, nicht ohne Weiteres als ein Ausdruck wirklich lebhafterer Gem\u00fcths-erregtheit gedeutet werden d\u00fcrfen, dass sie vielmehr auf das Bestehen einer abnorm leichten Ausl\u00f6sbarkeit k\u00f6rperlicher Reactionen durch psychische Vorg\u00e4nge, als hysterisch im Sinne der ersten","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nWilly Hellpach.\nDefinition Kraepelin\u2019s und der von Moebius, den Verdacht lenken m\u00fcssen.\nDas gilt aber am allermeisten von den Erscheinungen der Hysterie, soweit sie uns bekannt sind. Es ist doch kein Zufall, dass es so uns\u00e4gliche M\u00fche gekostet hat, das Vorurtheil des Simulationsargwohns gegen\u00fcber den Hysterischen zu beseitigen. Soweit \u00fcberhaupt die praktische Psychologie, die Beurtheilung des Nebenmenschen nach Analogieschl\u00fcssen aus den Ergebnissen der Selbstbeobachtung etwas Nichtiges zu Tage f\u00f6rdern kann, gelangt sie immer wieder zu dem Ergebniss, dass die innere Bewegung der Hysterischen im Vergleich zu den sie begleitenden Ausdruckserscheinungen ganz unverh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig gering sei. Mit Recht hebt Moebius hervor, dass die Hysterischen \u00fcber die Entstehung ihrer Stigmata vielfach sich nicht die mindeste Rechenschaft zu geben verm\u00f6gen. Jeder in normalen Stimmungslagen lebende Mensch wei\u00df aber \u00fcber den jeweiligen Ursprung eines psychogenen Vorganges Bescheid, wenn er auch nicht Herr \u00fcber den Vorgang selber ist; und von jedem an gesteigerter G-em\u00fcthserregbarkeit Leidenden gilt das N\u00e4mliche. \u00dcberall jedoch, wo die Gem\u00fcthsbewegungen sehr gering sind, verglichen mit den sie zum Ausdruck bringenden k\u00f6rperlichen Processen, \u00e4ndert sich die Sachlage, f\u00e4llt das Bewusstsein vom Zusammenh\u00e4nge zwischen Ausdruck und Affect weg. Ich erinnere nur an das pathologische Er-r\u00f6then mancher Menschen. Vor allem aber scheint mir der Schluss ex juvantibus, der in der Medicin nicht selten ein wenig \u00fcbereilt wird, hiervon schlagender Beweiskraft zu sein: die psychische Behandlung der Hysterie, die Art ihrer Erfolge und Misserfolge, weist ganz unverkennbar darauf hin, wie wenig den psychogenen That-sachen die psychischen proportional sind. Gerade darum ist ja das rechte Anfassen des Hysterischen eine so schwierige, so unsichere und so oft missgl\u00fcckende Kunst, weil der Complex der psychogenen Erscheinungen ein bis zur Unkenntlichkeit gehendes Zerrbild des Gem\u00fcthszustandes liefert. Wie oft machen sich wirklich heftige Erregungen in den gew\u00f6hnlichen Ausdrucksmitteln Luft, ohne etwas Au\u00dfergew\u00f6hnliches zu hinterlassen, w\u00e4hrend mitten in einer ganz ruhigen Periode urpl\u00f6tzlich ein Stigma sich einstellt! Wie \u00fcberdauert dieses nicht selten die verschiedensten Stimmungslagen, um dann in einem Augenblicke zu schwinden, wo der Arzt es am wenig-","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n207\nsten erwartet hatte! Wir kommen also zu dem Ergebniss, dass ein in der Kraepelin\u2019schen Definition g\u00e4nzlich fehlendes Moment das Wesentliche an der Hysterie sei: die v\u00f6llige Verr\u00fcckung der psychogenen Erscheinungen gegen\u00fcber den Grem\u00fcths-bewegungen. Dass auch diese letzteren ver\u00e4ndert sind, dass der Geisteszustand der Hysterischen keine aus ihrer allgemeinen Entartung zuf\u00e4llig erwachsende Complication bedeutet, in dieser klinischen Ansicht ist Kraepelin zweifellos im Hechte gegen\u00fcber Moebius, der hierin die von der franz\u00f6sischen Psychiatrie, vorz\u00fcglich von Magnan entwickelten Lehrmeinungen \u00fcber das Entartungsirresein ein wenig unbesehen \u00fcbernommen hat. Kraepelin\u2019s Definition irrt aber psychologisch, wenn sie eine Proportionalit\u00e4t zwischen der gesteigerten gem\u00fcthlichen Erregbarkeit und den gesteigerten psychogenen Vorg\u00e4ngen festzulegen beabsichtigt; sie irrt, wenn das nicht der Fall ist, doch noch psychologisch in der Annahme einer einfachen Steigerung des Affectlebens, denn unsere Erfahrungen berechtigen uns sicher nur, von einer eigenth\u00fcmlichen Ver\u00e4nderung zu sprechen, die zeitweilig in Steigerungen, zeitweilig im Stimmungswechsel, sehr oft aber geradezu in Herabsetzungen der normalen gem\u00fcthlichen Erregbarkeit zu bestehen scheint; sie ist endlich psychologisch unzureichend, indem sie das Verh\u00e4ltniss der psychogenen Thatsachen zu den psychischen \u2014 falls keine Proportionalit\u00e4t gemeint ist \u2014 g\u00e4nzlich dahingestellt sein l\u00e4sst, w\u00e4hrend die eine, wenngleich negative Einsicht feststeht, dass in jenem Verh\u00e4ltniss eine ausgesprochene Verschiebung, eine wunderliche Disproportionalit\u00e4t herrscht, sofern starke Affecte ohne entsprechenden Ausdruck bleiben, geringe von den heftigsten psychogenen Erlebnissen begleitet sein k\u00f6nnen.\nMit dieser psychologischen L\u00fccke, die in der Definition Kraepelin\u2019s klafft, haben sich die meisten andern Theoretiker der Hysterie in mehr oder minder gl\u00fccklichen Untersuchungen besch\u00e4ftigt. Der gleichzeitige Affect kann nicht die Ursache der k\u00f6rperlichen Erscheinungen sein, wenigstens nicht immer \u2014 das ist hei allen die einleitende Festlegung; welcher psychische Vorgang aber ist es denn nun? \u2014 das wiederholt sich als die der L\u00f6sung bed\u00fcrftige Frage. Leider ist bei ihrer Behandlung sehr viel mehr mit blo\u00dfen Worten operirt worden, als es gut war. Charcot, Janet, Onanoff, Moebius haben in verschiedenen Varianten die \u00bbunbewussten\u00ab","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nWilly Hellpach.\nVorg\u00e4nge herangezogen und zu Theorien der Hysterie fortgebildet. Besonders reizte hierzu wohl die Beobachtung, dass zahlreiche Hysterische von ihren Stigmaten, etwa der Hemian\u00e4sthesie, gar nichts wissen; dass sie mit dem empfindungslosen Arm arbeiten, ja hei geschlossenem Auge die Form betasteter Gegenst\u00e4nde sehr gut zu erkennen verm\u00f6gen. Aus diesen \u00fcberraschenden Erscheinungen zog man den Schluss, dass bewusste Seelenvorg\u00e4nge auch durch solche Beize ver\u00e4ndert oder geweckt werden k\u00f6nnten, die selber nicht ins Bewusstsein gelangen; Janet construite ein zweites Bewusstsein aus den unbewussten Erlebnissen, und schrieb die Hysterie danach einer \u00bbVerdoppelung des Bewusstseins\u00ab zu; Moebius sagt von den die psychogenen Vorg\u00e4nge verursachenden Vorstellungen, sie wirkten \u00bbjenseits des Bewusstseins\u00ab. Man sieht, hier f\u00fchren die Begriffe des Bewussten und Unbewussten einen anmuthigen Tanz auf. Kraepelin nennt diese Hypothesen \u00bbh\u00fcbsche Gleichnisse, um die klinischen Thatsachen unserm Verst\u00e4ndnisse n\u00e4her zu bringen\u00ab. Darin spricht sich eine zu niedrige und unmittelbar daneben eine viel zn hohe Bewerbung jener Lehren aus. Ihre Vertreter wollten sicherlich nicht blo\u00df Gleichnisse, sondern Deutungen geben; aber die Beschaffenheit dieser Deutungen entfernt, meine ich, das, was da gedeutet werden soll, von unserm Verst\u00e4ndnisse so weit wie nur m\u00f6glich. In den psychischen Zusammenh\u00e4ngen gibt es keine unbewussten Vorg\u00e4nge; die Annahme eines unbewussten Erlebnisses ist ebenso arge Mystik, wie der Vergleich des Denkens mit der Harnabsonderung. Die Psychologie begibt sich jeder M\u00f6glichkeit, ernst genommen zu werden, wenn sie vom Unbewussten redet. Wenn ein so fanatischer Associationspsycholog wie Ziehen das Unbewusste energisch ablehnt, so sollte man \u00fcberzeugt sein, dass dieses Inventarst\u00fcck weder n\u00fctzlich noch nothwendig ist; denn die Associationspsychologie hat von der Annahme unbewusster psychischer Erscheinungen noch am ehesten einen Vortheil, da es ja im gesunden Leben schon und noch mehr im Bereiche der Hysterie Vorstellungen gibt, deren Auftauchen durch den vorangegangenen Vorstellungsablauf schlechterdings nicht zu erkl\u00e4ren ist. Die von Wundt ausgebaute Associationslehre aber, welche die associative Verkn\u00fcpfung auf assimilative Processe zur\u00fcckf\u00fchrt, nicht die Vorstellungen aneinanderklebt, sondern ihre Elementar-bestandtheile, die Empfindungen, wechselseitig verbindet, bedarf des","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n209\nSpukes unbewusster Vorg\u00e4nge an keiner Stelle. Es ist doch sein-bezeichnend, dass n\u00fcchtern denkende klinische Forscher, die der psychologischen Debatte so fern stehen, wie v. Leyden und Goldscheider, in ihrer musterg\u00fcltigen L\u00f6sung der Ataxiefrage ebenfalls zur Heranziehung der Empfindungen gedr\u00e4ngt worden sind. Wir erleben es ja jeden Tag, dass bei der Ausf\u00fchrung einer verwickelten Bewegung eine Unsumme von Empfindungen Zusammenwirken, von denen wir im Beginn der Ein\u00fcbung jede einzeln appercipiren m\u00fcssen, w\u00e4hrend wir sp\u00e4ter dahin gelangen, die n\u00e4mliche Bewegung gewandt auszuf\u00fchren, w\u00e4hrend ganz andere Dinge im Blickpunkt unseres Bewusstseins stehen. Es handelt sich also um die Apperception; ihrer bedarf es nicht, um gewohnte Handlungen auszuf\u00fchren, einge\u00fcbte Vorstellungscomplexe zu bilden, ja wir wissen, dass die Schnelligkeit und Sicherheit der erlernten Beth\u00e4tigungen geradezu erheblich leidet, wenn wir auf die einzelnen Phasen \u00bbachten\u00ab, d. h. die einstr\u00f6menden Empfindungen zu appercipiren uns bem\u00fchen. Trotzdem sind die Empfindungen auch in der \u00bbmechanisirten\u00ab Handlung vorhanden, nur folgen sie einander sehr rasch und machen nicht den Umweg durch die Apperception, sie leben minder klar und minder deutlich im Bewusstsein, aber sie bleiben bewusst. Wie es bei der Hysterie steht, wissen wir nicht und werden es vermuthlich nie erfahren. Denn die einzige Art, \u00fcber solche Verh\u00e4ltnisse Rechenschaft zu geben, ist die Selbstbeobachtung, und wir werden noch darzuthun haben, dass auf sie bei den Hysterischen so gut wie gar nicht gez\u00e4hlt werden kann. Wenn ich eine Hysterische nach der \u00fcblichen Methode pr\u00fcfe, ob sie an\u00e4sthetisch sei, und ein positives Ergebniss erhalte, so beweist das noch nichts daf\u00fcr, dass die angewandten Reize wirklich nicht empfunden worden sind. Die so h\u00e4ufige Schmerzherabsetzung, daneben aber die neuerdings vielfach ger\u00fchmten Erfolge der schmerzhaften Therapie bei Hysterischen zusammen mit der Stereognosie trotz An\u00e4sthesie machen es immer wahrscheinlicher, dass es sich um ein Nicht-Appercipiren der Empfindungen handelt, dass also auch die hysterischen Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen, entsprechend den motorischen Stig-maten und Anf\u00e4llen, reine Willensst\u00f6rungen darstellen, eben im inne jener von Wundt begr\u00fcndeten Auffassung der Apperception als eines in psychische Ver\u00e4nderungen ausgehenden Willensaktes. amit w\u00e4re f\u00fcr alle der Hysterie eigenth\u00fcmlichen psychogenen\nWnndt, Philos. Studien. XIX.","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nWilly Hellpach.\nErscheinungen zun\u00e4chst einmal eine gemeinsame Grundlage gegeben. Ich wei\u00df nicht, oh sie einer eindringlichen Kritik standzuhalten vermag ; das Negative aber ist mir sicher, dass wir uns niemals auf die unbewussten Eactoren einlassen d\u00fcrfen, dass es besser ist, die Hysterie gar nicht, als mit mystischen H\u00fclfsmitteln zu deuten. \u00bbJenseits des Bewusstseins\u00ab h\u00f6rt jede Psychologie auf; dort f\u00e4ngt entweder die Physiologie oder die Metaphysik an, und welche von beiden f\u00fcr das Yerst\u00e4ndniss psychischer Zusammenh\u00e4nge weniger zu leisten vermag, soll hier nicht untersucht werden.\nUm so weniger ist es mir auch begreiflich, dass Kraepelin den franz\u00f6sischen Theorien eine gewisse Anerkennung ausspricht, um gleich darauf mit starker Ironie gegen die Hypothese von Breuer und Freud zu polemisiren, nach der die Hysterie in den Nachwirkungen geschlechtlicher Erlebnisse aus der fr\u00fchen Kindheit ihre wesentliche Ursache haben soll. Lassen wir es dahingestellt, wie weit es sich klinisch dabei um leere Phantastereien handelt. Psychologisch ist allerdings die Art, wie die Autoren ihre Belege sich verschaffen, absolut unbrauchbar. Das Ausfragen im Zustande der Hypnose ist durch die denkw\u00fcrdige, von den Hypnotismusenthusiasten darum wohl auch meistens nicht erw\u00e4hnte Abhandlung unseres Jubilars als eine Methode gekennzeichnet worden, die mit dem Verfahren der wissenschaftlichen Forschung nichts zu thun hat. Aber rein theoretisch betrachtet, steht die Breuer-Freud\u2019sche Hypothese viel mehr auf dem Boden der Denkm\u00f6glichkeit, als Janet\u2019s Bewusstseinsspaltung oder Moebius\u2019 von \u00bbjenseits des Bewusstseins\u00ab wirkende Vorstellungen. Wir wissen, dass den Erlebnissen der Kindheit eine \u00fcberaus feste Gef\u00fchlsf\u00e4rbung innewohnt, die sich im sp\u00e4teren Lehen oft ganz unvermuthet \u00fcber unser Inneres breitet, ohne dass die sie tragenden Vorstellungen zu klarer Erinnerung gelangten, dass aber mit deren Eintritt jene Stimmung abklingt. Zu solcher Fortwirkung sind wiederum die ersten geschlechtlichen Ereignisse am allermeisten geeignet. Es ist eine starke Untersch\u00e4tzung der Pubert\u00e4t, wenn Kraepelin von \u00bbl\u00e4ngst vergessenen sexuellen Erfahrungen\u00ab spricht, durch die unsere Seele nach jener Theorie ihr Gleichgewicht verlieren soll. Ich habe wenigstens immer beobachtet, dass die Mehrzahl der Menschen ihr sp\u00e4teres Liebesieben recht leicht \u00fcberwinden, dass die fr\u00fchesten, der Geschlechtsreife oft lange vorauseilenden geschlecht-","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n211\nliehen Erlebnisse aber bis ins kleinste Detail hinein mit einer staunenswerten Z\u00e4higkeit haften bleiben. Wenn Freiherr v. Schrenck-Notzing von dieser Erfahrung ausgehen durfte, als er die Lehre v Krafft-Ebing\u2019s \u00fcbers Angeborensein der homosexuellen Neigung widerlegte, so kann ich nicht einsehen, weshalb bei der Hysterie nicht \u00e4hnliche Einfl\u00fcsse m\u00f6glich sein sollten, v. Schrenck-Notzing\u2019s Auffassung der Homosexualit\u00e4t ist heute fast allgemein anerkannt, und Kraepelin z\u00e4hlt zu ihren entschiedensten Vertretern. Er nimmt freilich auch hier die Grundlage der Entartung an, und seine Bek\u00e4mpfung Breuer-Freud\u2019s bezieht sich ebenso fast ausschlie\u00dflich auf diesen Punkt: die Unm\u00f6glichkeit, dass eine gesunde Psyche durch jene Factoren dauernd irregeleitet und gesch\u00e4digt werde. Diese Unm\u00f6glichkeit scheint mir doch aber noch gar nicht so unbedingt erwiesen zu sein. Wir sehen gesunde und nicht im mindesten entartete Menschen durch starke Gem\u00fcthsersch\u00fctterungen in die schwerste Nervosit\u00e4t verfallen, und es h\u00e4ngt ganz von der folgenden Lebensgestaltung ab, ob die Erkrankung heilt oder chronisch wird. Gerade die drei Typen der acuten Nervosit\u00e4t, die Examens-, Man\u00f6ver- und Premi\u00f6rennervosit\u00e4t bei Studirenden, Offizieren und K\u00fcnstlern sehen wir nicht selten dauernde Sch\u00e4digungen der Widerstandsf\u00e4higkeit hinterlassen. F\u00fcr die ung\u00fcnstige Einwirkung der fr\u00fchesten geschlechtlichen Erlebnisse l\u00e4sst sich aber kaum ein fruchtbarerer N\u00e4hrboden denken, als die unmittelbar sich anschlie\u00dfende Pubert\u00e4t und die bei uns \u00fcbliche Geheimnissthuerei in sexuellen Fragen. Ohne also die klinische Auffassung der Hysterie seitens der beiden Wiener Forscher vertheidigen zu wollen, m\u00f6chte ich psychologisch diese Lehre f\u00fcr mindestens ebenso denkm\u00f6glich halten, wie die Unbewusstheits- und Spaltungsphantasien der franz\u00f6sischen Neurologen. Gerade die von Breuer und Freud empfohlene Behandlung, so undurchf\u00fchrbar sie mir klinisch erscheint, kn\u00fcpft an die allbekannte, auch von Wundt anl\u00e4sslich der Erinnerungsvorg\u00e4nge geschilderte Thatsache an, dass unliebsame und in ihrem Fortwirken ganz unberechenbare Stimmungen schwinden, sowie es gelingt, die sie tragende Vorstellungsgruppe zu appercipiren. Ich stehe nicht an, es als einen gro\u00dfen Fortschritt zu betrachten, dass Breuer und Freud nicht mit unbewussten Einfl\u00fcssen im groben Sinne der franz\u00f6sischen Interpreten, sondern mit inhaltsdunklen Gef\u00fchlswirkungen arbeiten, die Kraepelin wenige Zeilen\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nWilly Hellpach.\nsp\u00e4ter selbst als h\u00e4ufige Ursache hysterischer Erscheinungen anf\u00fchrt Ueber den Zusammenhang dieser Gef\u00fchlserinnerungen, wenn ich sie so nennen darf, mit den psychogenen Vorg\u00e4ngen spricht sich allerdings diese Theorie so wenig aus, wie eine der andern.\nMoebius hat sp\u00e4terhin1) seine jenseits des Bewusstseins wirkende Vorstellung durch Wollen oder Nichtwollen erg\u00e4nzt und bezeichnet das so erhaltene Ganze als ein >seelisches Radical\u00ab. Ob es gerade vortheilhaft ist, psychologische Gleichnisse der Chemie zu entnehmen, sei dahingestellt. Ueber den kr\u00e4ftigen Voluntarismus, der in jener Erg\u00e4nzung sich ausspricht, mag auch der in Wundt\u2019s Grundansichten Geschulte sich freuen; die unbewussten Wirkungen werden aber um nichts verst\u00e4ndlicher. Im Gegentheil rei\u00dft hinsichtlich dieser Frage gerade nunmehr eine psychologische Verwirrung ein, die mit der gro\u00dfartigen Klarheit der \u00fcbrigen Ausf\u00fchrungen recht unerfreulich contrastirt. Moebius spricht von einem der h\u00e4ufigsten psychogenen Krankheitsprocesse, der hysterischen Abasie, der Unf\u00e4higkeit zum Gehen. Bei diesem Nichtk\u00f6nnen sei, so legt er dar, jenes seelische Radical \u2014 Vorstellung plus Nichtwollen \u2014 des Nichtk\u00f6nnens Ursache. Wenige Seiten vorher h\u00f6rten wir, dass der Hysterische von der seelischen Entstehung seiner Beschwerden nichts wisse; er merke, dass seine Beine gel\u00e4hmt seien, und wisse nicht, woher das komme; er stehe dieser psychogenen L\u00e4hmung genau so gegen\u00fcber, wie einer organischen; der Zusammenhang zwischen dem Radical und der psychogenen Folgeerscheinung bleibe der inneren Erfahrung jederzeit unzug\u00e4nglich. Woher aber wissen wir diesen Zusammenhang, mit welchem Rechte nennen wir die L\u00e4hmung psychogen? > Durch Vernunftschl\u00fcsse erkennen wir den durch das Unbewusste f\u00fchrenden Weg. Das Erschlossene bew\u00e4hrt sich durch die hypnotischen Versuche. Auch hier verh\u00fcllt die Amnesie dem Subject den Ursprung der suggerirten Ver\u00e4nderung. Die eingegebene Vorstellung wird nicht zu einem Bestandtheile des wachen Bewusstseins, dient nicht, etwa wie eine Zwangsvorstellung, dem Willen als Motiv, sondern sie wirkt als Ursache jenseits des Bewusstseins\u00ab2).\nIn diesen sieben Zeilen capitulirt allerdings die Psychologie vollkommen vor einer Mischung von Metaphysik und vulg\u00e4ren Ausdr\u00fccken.\n1) A. a. O., S. 17.\n2) A. a. 0., S. 12.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n213\nWenn wir f\u00fcr die psychogenen Erscheinungen wie f\u00fcr die posthypnotischen Handlungen keinen andern Weg erschlie\u00dfen k\u00f6nnen, als den durchs Unbewusste, so lassen wir wohl besser alle Psychologie fahren und beugen uns vor der Gewalt des Wunders. Gehen wir uns aber einmal Rechenschaft dar\u00fcber, was es wohl sein mag, das den klarsten psychologischen Kopf der modernen Nervenheilkunde hier in so uns\u00e4gliche Verwirrung und Verdunkelung bringt, so finden wir sehr bald die Wurzel dieses Uebels in der Eesthaltung des alten Vorstellungshegriffes. Stark genugjhat gerade Moebius den Missbrauch ironisirt, den die Associationspsychologie mit der \u00bbBewegungsvorstellung* treibt, um den Willen aus unserm psychischen Erleben zu beseitigen. Aber schon dort, gelegentlich der Besprechung von Anschauungen Ziehen\u2019s und Cramer\u2019s, wagte Moebius nicht den n\u00e4chstliegenden Schritt, n\u00e4mlich eine gr\u00fcndliche Analyse des Vorstellungsbegriffes, sondern schob die Bewegungsvorstellungen ins \u2014 Unbewusste hinunter. Und dieses Unbewusste ist \u00fcberall seine Schw\u00e4che gebliehen. Er scheute sich nicht, die Ablehnung unbewusster psychischer Vorg\u00e4nge als einen f\u00fcr die \u00bbnaturwissenschaftliche Betrachtung\u00ab ganz berechtigten und besonders bequemen Standpunkt zu erkl\u00e4ren, der uns aber n\u00f6thige, auf alle Fragen nicht einzugehen, zu deren L\u00f6sung die Annahme unbewusster Processe unentbehrlich sei; er nannte jenen Standpunkt eine \u00bbBeschr\u00e4nkung auf die Oberfl\u00e4che\u00ab und warf ihm vor, dass durch ihn der ganzen Lehre eine gewisse D\u00fcrre zu eigen werde1).\nDie Nervenheilkunde ist an Vertretern, die psychologisch zu denken verm\u00f6gen, nicht eben reich, und es kann nur schmerzlich empfunden werden, wenn derjenige Neurolog, den Anh\u00e4nger und Gegner als den vielleicht geistvollsten unserer Tage verehren oder befehden, an entscheidenden Stellen, in den der psychologischen Analyse geradezu bed\u00fcrftigen Fragen sich derart von der Metaphysik das Concept verderben l\u00e4sst. Wollten wir uns darauf einlassen, alles das Falsche und Widersinnige zu discutiren, was in jenem kurzen Urtheil \u00fcber die Ablehnung unbewusster Seelenvorg\u00e4nge enthalten ist, so g\u00e4lte es, die ganze Vergangenheit der wissenschaftlichen Psychologie aufzu-1 ollen. Dazu ist hier nicht der Ort. Nur das eine sei gesagt:\n1) Neurolog. Beitr\u00e4ge, Heft 1, S. 151 u. 158.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nWilly Hellpach.\ndem naturwissenschaftlichen Psychologen \u2014 wie Ziehen \u2014 w\u00e4re es gerade das denkbar Bequemste, die unbegreiflichen Zusammenh\u00e4nge ins Unbewusste zu verlegen, denn dann w\u00e4re er ein f\u00fcr allemal fertig, da im Unbewussten weder die Naturwissenschaft noch die Psychologie, sondern einzig die speculative Philosophie ein Daseinsrecht hat. Die Psychologie der Selbstbeobachtung aber, vor allem der experimentell controllirten, ist eine Lehre von den psychischen Thatsachen, und gibt sich in dem Augenblicke selber auf, in dem sie, angesichts einer Schwierigkeit, sich auf die Seele oder auf das Unbewusste zur\u00fcckzieht; diese Flucht steht etwa auf dem Niveau jener alten Chemie vor Lavoisier, die das R\u00e4thsel der Oxydation mit dem Wunder des Phlogiston l\u00f6ste. Wenn Ziehen mit vielen seiner psychologischen Darlegungen in die Enge ger\u00e4th, so liegt das ganz und gar nicht an seiner sehr vern\u00fcnftigen Verwerfung des Unbewussten, sondern an der Verwendung des alten Vorstellungsbegriffes, \u00fcber den die ganze Associationspsychologie nicht hinauskommt. Die Nothwendig-keit, uns jenseits des Bewusstseins zu begeben und dort mit einer noch so ausgezeichneten Vernunft Wege f\u00fcr eine Vorstellung zu erschlie\u00dfen, um die psychogenen Erscheinungen deuten zu k\u00f6nnen, h\u00f6rt aber ganz von selber auf, sowie wir jene Vorstellung sammt allen ihren associativen Beziehungen zum alten Eisen werfen, und die Erinnerungsvorg\u00e4nge auf der durch Wundt geschaffenen Grundlage der assimilativen Verbindung von Empfindungen auch f\u00fcr diese den Nervenarzt besch\u00e4ftigenden Fragen fruchtbar zu machen versuchen.\nDann kann ja von einem Fortwirken der einzelnen Vorstellung keine Rede mehr sein. Sofern dieses auf den Vorgang der Erinnerung bezogen wird, besteht es einzig darin, dass einige der jene Vorstellung aufbauenden Empfindungen im Bewusstsein bleiben, hier andersartige Vorstellungen bilden helfen, unter gewissen Umst\u00e4nden aber mit einer Zahl von Empfindungen, die irgend einem neu gegebenen Eindruck angeh\u00f6ren, zu einer neuen Vorstellung sich verbinden, die jener urspr\u00fcnglichen in einzelnen Eigenschaften \u00e4hnelt, ihr Erinnerungsbild darstellt. War nun die erste Vorstellung mit einer psychogenen Erscheinung verkn\u00fcpft, mit Weinen z. B., so kann es sehr leicht dahin kommen, dass ihr Erinnerungsbild dieselbe Wirkung hervorruft, indem die an den ehemaligen Vorstellungsinhalt","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n215\ngekn\u00fcpfte Stimmung von neuem auftaucht. Zwar ist der Gesammt-inhalt eines Erinnerungsbildes wesentlich ver\u00e4ndert gegen\u00fcber dem der urspr\u00fcnglichen Vorstellung; es ist aber zu bedenken, dass die Gef\u00fchle minder differenzirt sind, als die Empfindungen, und dass aus diesem Grunde zuweilen schon wenige Elementarhestandtheile, die in dem ersten Eindruck enthalten waren, hinreichen, um die ihm anhaftende Stimmung wieder zu erwecken, w\u00e4hrend es zur Gestaltung eines Erinnerungsbildes gar nicht zu kommen braucht. Hierhin geh\u00f6ren jene gar nicht seltenen elegischen Stimmungen, von denen Leute, die viel Tr\u00fcbes erlebt haben, auch in sonnigeren Umst\u00e4nden ganz pl\u00f6tzlich befallen werden, ohne dabei an ein bestimmtes von den traurigen Ereignissen der Vergangenheit sich zu erinnern. Es kommt ja fast t\u00e4glich vor, dass eine eigenartige Gef\u00fchlslage einer Erinnerung vorausgeht und offenbar durch Empfindungen eines Eindrucks geweckt worden ist, die nun erst nachtr\u00e4glich mit andern im Bewusstsein anwesenden Empfindungen zum Erinnerungshilde sich verbinden. Das Gef\u00fchl geht also dann der Erinnerung voran, und wenn es sich um Personen handelt, deren Gef\u00fchlserregungen sehr leicht in einem psychogenen Vorg\u00e4nge sich \u00e4u\u00dfern, so kann dieser seihst eintreten, ehe das Gef\u00fchl zu seiner vollen Intensit\u00e4t anschwillt, und lange Zeit ehe es zur Entstehung eines Erinnerungsbildes kommt. Ja, da jede Ausdrucksbewegung r\u00fcckwirkend den psychischen Zustand zu ver\u00e4ndern pflegt, da w\u00e4hrend ihrer Dauer Bahnungen und Hemmungen unerwarteter Art auftreten, so bleibt die Bildung der Erinnerung oft aus; es ist geweint, gelacht, err\u00f6thet worden, ohne dass das Subject wei\u00df, wor\u00fcber. Solche Vorkommnisse sind hei psychopathisch veranlagten Menschen gar nicht selten, und wenn es \u00fcberhaupt eine M\u00f6glichkeit gibt, die wesentlichen Eigenarten der Hysterie, vor allem die Unberechenharkeit ihrer psychogenen Symptome zu deuten, so scheint sie mir in dieser Sichtung zu liegen. Wir h\u00e4tten uns dann zu denken, dass irgend eine Vorstellung durch einzelne der sie zusammensetzenden Empfindungen im Begriffe steht, eine Erinnerung zu erzeugen, mit deren Urbild seinerzeit ein psychogener Vorgang verkn\u00fcpft war. Noch ehe aber dieses Erinnerungsbild fertig ist, d. h. noch ehe die neugeschaffene Vorstellung uns in den Zustand des Erinnerungsgef\u00fchls versetzt, tritt die einst vorherrschend gewesene Stimmung, durch die den Erinnerungsvorgang einleitenden","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nWilly Hellpach.\nEmpfindungen geweckt, ein, und noch ehe sie wiederum bis zu ihrer H\u00f6he anschwillt, l\u00f6st sie schon den psychogenen Vorgang aus, der dann so stark ist, dass seine R\u00fcckwirkung auf die Psyche sowohl die Steigerung der Stimmung zu ihrer Intensit\u00e4t, wie auch das Zustandekommen der Erinnerung vereitelt. Es w\u00e4re danach zu verstehen, warum der Hysterische \u00fcber die seinem psychogenen Erlebniss zu Grunde liegenden Vorstellungen nichts wei\u00df, und warum die Intensit\u00e4t jenes Erlebnisses der augenblicklichen Gef\u00fchlslage gar nicht proportional zu sein braucht: es w\u00e4re, kurz gesagt, das zu verstehen, was an der Hysterie psychologisch wesentlich und psychologisch erkl\u00e4rbar ist. Und mehr k\u00f6nnte man von einer psychologischen Theorie der psychogenen Vorg\u00e4nge in der Hysterie wohl nicht gut verlangen.\nDenn ganz ersichtlich hat die Intensit\u00e4t und Extensit\u00e4t der psychogenen Erscheinungen selber nicht von psychologischer, sondern von physiologischer Seite ihre Deutung zu erwarten, zumal soweit diese Erscheinungen motorischer, vasomotorischer und secretorischer Art sind. Niemand wird verlangen, dass die Psychologie erkl\u00e4ren solle, warum der gesunde Mensch vor Schreck zittert, vor Scham err\u00f6thet und vor Angst schwitzt, und die Hysterie bietet in ihren centrifugalen psychogenen Vorg\u00e4ngen ja nur Steigerungen dieser normalen. Wo es sich aber um qualitativ abweichende Erscheinungen handelt, da sind es sensorische Ver\u00e4nderungen, vor allem im Bereiche der Hautsinne, die wir als Eigenth\u00fcmlichkeit der Hysterie kennen. Ich meine, diese \u00fcberraschende Vertheilung: dass die centrifugalen St\u00f6rungen der Hysterischen lediglich intensive und extensive Steigerungen normaler psychogener Vorg\u00e4nge bedeuten, die centripetalen hingegen zum Theil nur in dieser Weise auslegbar, zum andern Theil bei Gesunden niemals beobachtet, also qualitativ verschieden sind -\u2014 diese Vertheilung h\u00e4tte l\u00e4ngst dazu f\u00fchren sollen, die sensorischen Ver\u00e4nderungen grunds\u00e4tzlich von den motorischen zu trennen, anstatt sie immer wieder in den gro\u00dfen \u00bbpsychogenen\u00ab Brei mit einzur\u00fchren. Denn nur so ist es m\u00f6glich, ein psychologisches Verst\u00e4ndniss f\u00fcr sie zu gewinnen \u2014 oder auch dessen Unm\u00f6glichkeit zu finden, sie der Physiologie zuzuweisen; daran aber h\u00e4ngt wiederum nicht so sehr die Psychologie der Hysterie, als die psychologische Abgrenzung zwischen hysterischen und neurasthenischen Krankheits-","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n217\nSymptomen, UQd die psychologische Umgrenzung des vielgeplagten und bedenklichen Schlagwortes \u00bbSuggestion\u00ab.\nWie wenig hier\u00fcber die Sachlage noch gekl\u00e4rt ist, beweist die letzte zusammenfassende Darstellung des Hypnotismus, die der Feder eines der angesehensten deutschen Nerven\u00e4rzte entstammt L\u00f6wen-feld f\u00fchrt dort eingangs eine genauere Analyse des Begriffs der Suggestion aus und gelangt zu einer annehmbaren, wenn auch meines Erachtens unvollst\u00e4ndigen Definition1). Im Schlusscapitel seines Buches aber spricht er von der Rolle der Suggestion im t\u00e4glichen Leben und z\u00e4hlt als Beispiele daf\u00fcr haupts\u00e4chlich Ereignisse auf, die alles andere, nur keinen suggestiven Charakter tragen2). L\u00f6wenfeld will selber die Eigenart einer Suggestion an ihrer \u00bbau\u00dfergew\u00f6hnlichen Wirkung\u00ab erkannt wissen. Au\u00dfergew\u00f6hnlich kann aber eine Handlung, ein Benehmen auf Grund von zweierlei Kriterien genannt werden. Entweder es ist logisch unbegreiflich, oder es ist gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfig unbegreiflich. Ans erstere denkt man gew\u00f6hnlich nur, wenn man von Suggestionen redet. Wenn wir aber Jemanden Dinge treiben sehen, die absolut zwecklos, vielleicht zweckwidrig sind, so setzen wir zuv\u00f6rderst eine abnorme Stimmung voraus, die ihn \u00fcber alle Zweckerw\u00e4gungen sich hinwegsetzen, diese wohl gar nicht erst zur Geltung kommen l\u00e4sst. Wollen wir die eine solche Stimmung erzeugende Vorstellung als eine suggestive bezeichnen, so \u00fcberschwemmt diese Definition alle D\u00e4mme, innerhalb deren eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung sich nun einmal zu halten hat, wenn sie uns \u00fcberhaupt etwas leisten soll. Wir wissen, dass unser Thun und Lassen niemals ein rein intellectuelles sein kann, dass der Begriff des Zweckm\u00e4\u00dfigen gerade aus der Gef\u00fchlsund Willensseite unseres Ich herausgewachsen ist, und dass mehr oder minder starke Gef\u00fchlserregungen unser Handeln durchgehends bestimmen. Es w\u00e4re also gar nicht m\u00f6glich zu sagen, von welcher Nuance unseres Benehmens ab wir uns Suggestionen im Spiele denken sollten. Wenn jedoch einer etwas thut, was unzweckm\u00e4\u00dfig und au\u00dferdem aus seiner begleitenden Stimmung in keiner Weise zu er-\u00e4ren ist, dann kann man die Vorstellung, oder besser das psychische rlebniss, das ihn zu solchem Thun treibt, eine Suggestion nennen. c bin der Meinung, dass einzig und allein mit dieser Umgrenzung\n1) Loewenfeld, Der Hypnotismus, S. 38.\t2) A. a. O., S. 486.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nWilly Hellpach.\nder Begriff der Suggestion \u00fcberhaupt einen Werth f\u00fcr die Discussion krankhafter Erscheinungen haben kann. Auch Hirschlaff hat f\u00fcr eine solche Einengung plaidirt, ihr allerdings eine von L\u00f6wenfeld mit Unrecht als zu eng bezeichnete, in Wahrheit ganz verfehlte Fassung gegeben: nach ihr soll es sich um eine Suggestion handeln, wenn eine in ihrem Inhalte der Wirklichkeit nicht entsprechende Vorstellung von einem Menschen realisirt wird. Darauf kommt es indessen gar nicht an. Nicht die Unwirklichkeit, sondern die, wie ich es nennen m\u00f6chte, complette Zwecklosigkeit einer Handlung deutet darauf hin, dass sie suggerirt sei. Tanzen ist sicherlich eine logisch zwecklose Sache; aber es ist der Ausdruck einer gehobenen Stimmung, und insofern gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfig zweckvoll. Dieser partiellen Zwecklosigkeit unz\u00e4hliger Handlungen in jedes gesunden Menschen Dasein steht die complette Zwecklosigkeit der suggerirten Handlung gegen\u00fcber. Diese ist also gar keine Handlung im psychologischen Sinne, sie ist ein passives Erlebniss, \u00fcber dessen Eintritt der Sugge-rirte selber gar keine Kechenschaft zu geben wei\u00df \u2014 ein psychogener Vorgang. In dieser Schlussfolgerung, welche die hysterischen Erscheinungen mit den durch hypnotische oder einfache Eingehung entstandenen psychologisch v\u00f6llig gleichstellt, stimme ich Moebius unbedingt zu, so schroff ich freilich zur Deutung der psychogenen Thatsachen beider Gruppen den Weg durchs Unbewusste einzuschlagen ahlehne; ich bekenne mich auch ebenso unbedingt zu der praktischen Consequenz, die v. Str\u00fcmpell f\u00fcr den Nervenarzt aus jener Gleichstellung zieht: dass einen Hysterischen mit hypnotischer Eingebung behandeln weiter nichts hei\u00dft, als ihn noch hysterischer machen.\nWird man sich \u00fcber das Charakteristische der Suggestion in dieser Weise klar, so ist eine psychologische Vermengung von hysterischen und neurasthenischen Erscheinungen ganz unm\u00f6glich. L\u00f6wenfeld gebraucht noch das tolle Wort: \u00bb Hy st ero-N eurasthenie \u00ab. Und doch sollte man meinen, dass jene classische Differentialabhandlung von Moebius, aus der nur der Unhewusstheitssatz hier zur\u00fcckgewiesen werden musste, ein f\u00fcr allemal den Unterschied zwischen den k\u00f6rperlichen, namentlich den motorischen Vorg\u00e4ngen bei Hysterischen und denjenigen hei Hypochondern klargelegt h\u00e4tte. Jene Studie kn\u00fcpft an zwei Erscheinungen an, die dem Unkundigen \u2014 auch viele Aerzte z\u00e4hlen dahin \u2014 als v\u00f6llig gleiche ins Auge stechen k\u00f6nnen, zumal","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n219\nwenn er h\u00f6rt, dass beide Male \u00bbnerv\u00f6se\u00ab Personen in Frage kommen: die hysterische Astasie-Abasie und die neurasthenische Agoraphobie. Beide Male ist der Kernpunkt die Beobachtung, dass der Kranke angesichts einer von ihm geforderten Gehleistung zusammenbricht; beide Male ergibt die Untersuchung des liegenden Kranken, dass die rohe Kraft und die sonstigen willk\u00fcrlichen Bewegungen der Beine ungest\u00f6rt sind. Aber nun kommt der Unterschied: der abatische Kranke knickt, auf die F\u00fc\u00dfe gestellt und zum Gehen auf gefordert, genau so h\u00fclflos zusammen, wie Jemand, der an einer transversalen Querschnittsaffection des R\u00fcckenmarks (Myelitis transversa) leidet; heim agoraphobischen Kranken dagegen schieben sich zwischen den Gehversuch und das Zusammenbrechen eine Reihe von h\u00f6chst charakteristischen psychischen und psychogenen Vorg\u00e4ngen ein: eine heftige Angst bef\u00e4llt ihn, er wird blass, er zittert, es flimmert ihm vor den Augen, eine un\u00fcberwindliche Schw\u00e4che \u00fchermannt ihn, er versp\u00fcrt Herzklopfen, der Schwei\u00df bricht hervor, er sinkt kraftlos nieder. Wir bemerken also hier eine doppelte Differenz gegen\u00fcber dem Abatischen: der letzte, abschlie\u00dfende Act, das Niederfallen, wird durch eine ganze Kette allm\u00e4hlich zu immer gr\u00f6\u00dferer Heftigkeit sich steigernder psychogener Vorg\u00e4nge motorischer, vasomotorischer und secretorischer Art vorbereitet; v\u00f6llig proportional dazu w\u00e4chst die Gef\u00fchlserregung und sie erreicht mit dem k\u00f6rperlichen Zusammenbrechen ihren H\u00f6hepunkt, ja man darf vielleicht sagen, dass nach den \u00fcbereinstimmenden Schilderungen aller Agora-phohen das Niedersinken als ein verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig sehr schwacher Ausdruck ihrer ungeheuren angstvollen Erregung angesehen werden m\u00fcsste, wenn nicht das halb ohnm\u00e4chtige Zusammenbrechen eben der denkbar st\u00e4rkste Ausdruck innerer Erregung w\u00e4re: denn vor Gem\u00fcths-ersch\u00fctterung sterben kann keiner, dessen Gef\u00e4\u00dfsystem noch einigerma\u00dfen ungesch\u00e4digt ist.\nDer hier geschilderte psychogene Vorgang geht in keiner Phase, auch auf seiner H\u00f6he nicht, \u00fcber das hinaus, was unter geeigneten Umst\u00e4nden hei jedem Gesunden unterm Einfl\u00fcsse au\u00dfergew\u00f6hnlicher Gem\u00fcthsbewegungen sich einstellt. Ein Durchschnittsmensch, den man n\u00f6thigte, ein Thurmseil zu \u00fcberschreiten, w\u00fcrde wahrscheinlich die n\u00e4mliche Abfolge von k\u00f6rperlichen Symptomen seiner inneren Erregung zeigen. Die Thatsache, dass die Vorstellung einer erforder-","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nWilly Hellpach.\nlichen Leistung derart heftige Affecte ausl\u00f6st, ist also rein psychologisch durchaus nicht ungew\u00f6hnlich, und krankhaft erscheint heim Agoraphohen nur die Harmlosigkeit der Vorstellung, die solche Erregungen mit sich f\u00fchrt; das gilt nicht blo\u00df von der Agoraphobie, sondern von der ganzen unersch\u00f6pflichen Gruppe der anderen Zwangsvorstellungen in gleicher Weise. Darum ist aber auch eine Zwangsvorstellung niemals eine Suggestion. L\u00f6wenfeld rechnet ganz f\u00e4lschlicher Weise die Zwangsvorstellungen zu den \u00bbAutosuggestionen\u00ab, und um die Verwirrung der Begriffe voll zu machen, erkl\u00e4rt er die Entstehung von Zwangsvorstellungen mit dem Auftauchen von Vorstellungen unterm Drucke starker Gem\u00fcths-erregung; ja er \u00fcbersetzt, damit der Humor nicht fehle, zu allem Ueberfluss diesen Strudel auch noch ins \u2014 Physiologische. Das Eigent\u00fcmliche jeder Suggestion, folglich auch der Autosuggestion ist es aber, dass sie nicht durch Vermittelung eines ihr proportionalen Affectes, und nicht durch die Erweckung logischer Erw\u00e4gungen, sondern anscheinend ohne beides psychogene Erscheinungen hervorruft. Wie eine an sich harmlose Vorstellung freilich dazu gelangt, Zwangscharakter anzunehmen, das zu beantworten ist nicht Sache der Psychologie, sondern der Physiologie. Im ganzen Ablaufe einer Zwangshandlung oder eines Zwangserlehnisses ist psychologisch nichts Au\u00dfergew\u00f6hnliches; und wenn Ereud\u2019s Entdeckung, dass eine Vorstellung durch Verkn\u00fcpfung mit einem disponiblen Affecte zwangsartig werde, von L\u00f6wenfeld besonders erw\u00e4hnt wird, so muss man doch entgegnen, dass dieses Ereigniss \u2014 die Verkn\u00fcpfung einer Vorstellung mit einem disponiblen Affecte \u2014 hei Gesunden tagt\u00e4glich sich wiederholt, ohne auch nur eine einzige Zwangsvorstellung zu erzeugen. Das Pathologische der Zwangsvorstellungen kann psychologisch auf keine Weise erkl\u00e4rt werden. Eine Zeit, der die physiologische Ursache der neurasthenischen Entartung wie der Ersch\u00f6pfungsnervosit\u00e4t bekannt sein wird, mag auch dar\u00fcber einmal ins Klare kommen, warum auf der Basis dieser beiden Erkrankungen vorz\u00fcglich Zwangsvorstellungen sich bilden; heute wissen wir davon noch nichts.\nVon der Legion der hypochondrischen Ideen, die ja ebenfalls der neurasthenischen Entartung und der heilbaren Ersch\u00f6pfungsnervosit\u00e4t eignen, gilt das N\u00e4mliche. Wir haben hei ihnen, psycho-","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n221\nlogisch genommen, die gleiche Kette von Vorg\u00e4ngen, wie hei der Agoraphobie, nur dass der Abschluss nicht eine motorische Schw\u00e4che, sondern eine Sensation ist. Der ersten Vorstellung \u2014 dem Anblick eines Schwinds\u00fcchtigen, der Lect\u00fcre eines Aufsatzes \u00fcber Tabes \u2014 folgt eine Keihe von Gem\u00fcthserregungen, Bangen, Furcht, Sorge vor der betreffenden Krankheit; von den tausend Empfindungen, die jeden Augenblick in unser Bewusstsein str\u00f6men, ohne zur Apperception zu gelangen, werden nunmehr die von der Brust, vom B\u00fccken kommenden seitens jener Vorstellung assimilirt, mit den erw\u00e4hnten Affecten verkn\u00fcpft und wachsen damit allm\u00e4hlich zu immer bedeutenderer St\u00e4rke, zu immer h\u00e4ufigerer \"Wiederkehr an, bis der bedauernswerthe Kranke sie \u00fcberhaupt nicht mehr los wird. Auch hier geht die Intensit\u00e4t und Dauer der Empfindungen den sie zur Apperception bringenden Gem\u00fcthsbewegungen durchaus proportional; und die psychische Behandlung der hypochondrischen Ideen muss daher gegen diese Stimmungsgrundlage sich richten, die unbegr\u00fcndeten Bef\u00fcrchtungen zerstreuen. Das ist nat\u00fcrlich blo\u00df ein psychologischer Erfolg, kein klinischer; denn die Basis der unheilvollen Stimmung\" ist eben die Erkrankung, von der jene Ideen nur ein besonders h\u00e4ufiges Symptom darstellen.\nGanz anders steht es um die hysterischen Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen. Wenn ich im Walde beim Spazierengehen auf meinem Stiefel eine Ameise laufen sehe, und im selben Augenblicke an irgend einer oder gar an verschiedenen K\u00f6rperstellen ein lebhaftes Jucken versp\u00fcre, so schiebt sich zwischen den Anblick der Ameise und das Jucken nicht eine Kette von Gem\u00fcthsbewegungen, etwa die Furcht, schon vorher Ameisen aufgelesen zu haben und von ihnen demn\u00e4chst gebissen zu werden, sondern die Par\u00e4sthesie bricht mitten in die gleichg\u00fcltigste oder noch so anders geartete Stimmung hinein. Im allgemeinen ist die Zahl und die St\u00e4rke dieser psychogenen Sensibilit\u00e4tsver\u00e4nderungen ungleich geringer, als die der motorischen, vasomotorischen und secre-torischen Erscheinungen. Daf\u00fcr \u00e4hneln sie freilich den hysterischen Symptomen auch viel mehr, sofern sich eben affective Ursachen bei ihnen nur in sehr bescheidenem Umfange nachweisen lassen. Uebrigens treten sie ja im hysterischen Krankheitsbilde durchaus hinter ihrem Gegentheil, der Sensationsherabsetzung, zur\u00fcck. Auch f\u00fcr diese bietet aber das Leben des Gesunden Vorbilder in reichlicher Zahl. In","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nWilly Hellpach.\nheftigen Affecten, bei h\u00f6chstgespannter activer Apperception \u2014 beim Nachgr\u00fcbeln \u2014 sind wir f\u00fcr vielerlei Sinneseindr\u00fccke unzug\u00e4nglich. Es kann sogar Vorkommen, dass wir sie abwehren, ohne uns ihrer nachher zu entsinnen. Ich selber kenne einen Fall, wo ein Sportsman, den die Beobachtung einer Steeple-Chase in athemloser Spannung hielt, von einer Wespe in die Wange gestochen ward, heftig nach dem Insect schlug, wenige Minuten sp\u00e4ter aber, als das Rennen entschieden war und die Wunde stark zu schmerzen anfing, sich nicht erinnern konnte, gestochen worden zu sein. Dieser Vorgang erscheint mir au\u00dferordentlich geeignet, uns die hysterische Empfindungsst\u00f6rung zu verdeutlichen, indem wir uns die einzelnen Phasen ganz nahe zusammenger\u00fcckt denken. Auch der Hysterische empfindet mit seiner an\u00e4sthetischen Hand, das beweisen die complicirten Verrichtungen, die er mit ihr leistet, und deren Innervationen nur nach den einstr\u00f6menden Empfindungen abgestuft werden k\u00f6nnen. Aber der Versuch, eine Empfindung zur Apperception zu bringen, l\u00e4sst sie als erloschen erscheinen. Dieser Versuch kann vom Arzte ausgehen, dann besteht er in der Frage: empfinden Sie dies? Er kann aber auch von der Empfindung selber ausgehen, indem sie sich mit einer Schmerzempfindung paart. Jede Schmerzempfindung hat die Tendenz, in st\u00e4rkerem Ma\u00dfe als alle anderen Empfindungen von uns apper-cipirt zu werden. Der schmerzhaft wirkende Reiz ist, wenn ein Bild gestattet sein soll, gewisserma\u00dfen ein Frager, der sich erkundigt: empfindest du das? Diese Vorstellung w\u00fcrde uns also zu dem Ergehniss f\u00fchren, dass die an\u00e4sthetischen Hysteriker so lange empfinden, als f\u00fcr die Empfindung nicht die Apperception in Anspruch genommen wird.\nPsychologisch liegt in dieser R\u00fcckwirkung der Apperception auf die Empfindung nichts Unbegreifliches. Es kommt, um das zu verstehen, durchaus auf die richtige Auffassung des Apperceptions-vorganges an. Stellen wir uns unter der Apperception weiter nichts vor, als das Anschwellen der Empfindungsst\u00e4rke, so ist es allerdings undenkbar, der Apperception die F\u00e4higkeit zuzutrauen, dass sie eine Empfindung zur Abschw\u00e4chung oder gar zum Erl\u00f6schen bringen k\u00f6nne. Das Wesentliche beim Appercipiren liegt aber in der Deutlichkeit des Appercipirten, in seiner \u2014 wie Wundt es definirt \u2014 Abgrenzung gegen die anderen psychischen Inhalte. Deren Gesammtheit ist es","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n223\nalso, die den Apperceptionsvorgang zu Stande kommen l\u00e4sst: das ganze Blickfeld des Bewusstseins betheiligt sich an der Wahl des jeweiligen Blickpunktes. Der Verzicht auf diese Betheiligung stellt die passive Apperception dar, in der die jeweils durch ihre St\u00e4rke oder ihre associativen Bedingungen am meisten sich vordr\u00e4ngenden Erscheinungen auch widerstandslos die gr\u00f6\u00dfte Deutlichkeit gewinnen ; die active Apperception ist demgegen\u00fcber jener aus der ganzen Entwicklung unserer Psyche resultirende Zustand, in welchem unter einem mehr oder minder lebhaften Gef\u00fchl der Th\u00e4tigkeit bestimmten psychischen Inhalten gegen\u00fcber anderen, nach St\u00e4rke und Verkn\u00fcpfung vielleicht g\u00fcnstiger gestellten, dennoch die gr\u00f6\u00dfere Deutlichkeit verliehen wird. Dabei finden nicht selten Ver\u00e4nderungen der Empfindungsst\u00e4rke statt: von mir selber kann ich mittheilen, dass schwache Geruchsempfindungen, sowie ich ihnen meine Aufmerksamkeit zuwende, f\u00fcr mich nahezu erl\u00f6schen, und viele Menschen verm\u00f6gen einen Schmerz nur dadurch sich ertr\u00e4glich zu machen, dass sie mit allerh\u00f6chster Anspannung ihr Bewusstsein auf ihn concentriren. Anderseits erw\u00e4hnten wir schon, dass stark affectiv wirkende Vorstellungen selbst intensive Empfindungen zum Erl\u00f6schen bringen k\u00f6nnen: man denke nur an das auch von Moebius erw\u00e4hnte Verschwinden des Zahnwehs kurz vor dem Ansetzen der Extractionszange. Wir haben also die Wahl zwischen zwei Factoren, wenn wir uns die Hyp\u00e4sthesie der Hysterischen begreiflich machen wollen. Einmal k\u00f6nnte jene Eigenart der stark gespannten Aufmerksamkeit, die von ihr ins Auge gefassten Empfindungen zu schw\u00e4chen, bei der hysterischen Entartung krankhaft gesteigert sein. Anderseits k\u00f6nnten aber auch inhaltsverschiedene psychische Erlebnisse f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit einer bestimmten Gruppe von sensiblen Erregungen den Weg zur Apperception versperren.\nDie Beobachtungen \u00fcber die Entstehung der hysterischen Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen legen mir die Vermuthung nahe, dass beide M\u00f6glichkeiten in Betracht gezogen werden m\u00fcssen, beide im Leben auch derselben hysterischen Person miteinander wechseln. Wir sehen An\u00e4sthesien eintreten nach Erlebnissen aufregender Natur; hierher z\u00e4hlen auch die centripetalen St\u00f6rungen im Bilde der Unfallsneurose. Wenn nach einem Brandungl\u00fcck einer der Betroffenen eine An\u00e4sthesie des rechten Armes hat, so steht diese Erkrankung inhaltlich mit dem","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nWilly Hellpach.\nErlebniss in gar keinem Zusammenh\u00e4nge ; wir k\u00f6nnen sie nur auf die durch das Ungl\u00fcck hervorgerufene heftige Gem\u00fcthsersch\u00fctterung beziehen. Bezeichnend f\u00fcr die Hysterie ist allerdings dabei wieder, wie verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringf\u00fcgige Affecte den n\u00e4mlichen Erfolg haben k\u00f6nnen. Hier erleidet also f\u00fcr l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Dauer die ge-sammte Bewusstseinslage durch eine Gem\u00fcthsbewegung eine derartige Ver\u00e4nderung, dass die von einer bestimmten Stelle des K\u00f6rpers her einstr\u00f6menden Empfindungen nicht zur Apperception gelangen k\u00f6nnen. Moebius sagt: \u00bbDie Kranken f\u00fchlen (d. h. empfinden), aber sie wissen es nicht\u00ab. Er denkt nat\u00fcrlich dabei an das im Unbewussten sich abspielende F\u00fchlen, und in seinem Sinne ist der Satz darum metaphysisch; wenn wir aber das Nicht-Wissen mit dem Nicht-Appercipiren gleichsetzen, so k\u00f6nnen wir die Ausdrucksweise immerhin beibehalten. Aber einer seltsamen Inconsequenz hat Moebius sich doch schuldig gemacht. Er gesteht in jenem Satze ausdr\u00fccklich zu, dass es sich bei der hysterischen An\u00e4sthesie um eine psychische St\u00f6rung handele, durch die \u2014 nach seiner Auffassung \u2014 das Bewusstwerden bestimmter Empfindungen verhindert wird. Dennoch h\u00e4lt er die hysterischen Geistesst\u00f6rungen f\u00fcr blo\u00dfe Oomplicationen, die aus der allgemeinen Entartung zu erkl\u00e4ren seien. Nun ich finde, die M\u00f6glichkeit, dass durch einen Affect die Apperception ganzer Empfindungsgruppen f\u00fcr lange Zeit abgeschnitten wird, deutet auf eine so tiefgreifende geistige Alteration hin, dass wir uns \u00fcber D\u00e4mmerzust\u00e4nde und Delirien nicht wundern d\u00fcrfen. Die Sensibilit\u00e4tssperrung \u2014 wenn ich es so nennen darf \u2014 geh\u00f6rt gerade nach dem obigen Bekenntniss von Moebius zu den psychischen, und nicht zu den psychogenen Vorg\u00e4ngen, sie ist die psychische Wirkung einer psychischen Ursache; ihre H\u00e4ufigkeit liefert den psychologischen Beweis daf\u00fcr, dass die Hysterie nicht blo\u00df die Proportionalit\u00e4t k\u00f6rperlicher zu psychischen Vorg\u00e4ngen st\u00f6rt, ohne letztere an sich zu ver\u00e4ndern, sondern unter allen Umst\u00e4nden die Psyche selber aus dem Gleichgewicht bringt. Unter allen Umst\u00e4nden! muss man betonen; denn die Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen sind, wo alle anderen Zeichen noch fehlen, die ersten classischen Verr\u00e4ther der hysterischen Entartung.\nAber der Moebius\u2019sche Satz gilt doch, wie ich glaube, \u00fcberhaupt nur f\u00fcr diese eine M\u00f6glichkeit hysterischer An\u00e4sthesie. Im anderen","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n225\nFalle handelt es sich um die Entstehung von Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen durch Suggestion. Wenn eine Person sieht, wie Jemand sich an den Ellenbogen st\u00f6\u00dft, und es wird von diesem Augenblicke ab ihr rechter Arm an\u00e4sthetisch, so wirkt hier die Vorstellung von der Sch\u00e4digung einer K\u00f6rperstelle in analoger Weise, wie vorher eine beliebige Ge-m\u00fcthserregung. Jedenfalls ist das Endergebniss das n\u00e4mliche. Es fragt sich, ob auch der dahin f\u00fchrende Weg in beiden F\u00e4llen der gleiche bleibt.\nDie Untersuchung der hier sich abspielenden psychischen Ereignisse wird au\u00dferordentlich erschwert durch die Mannigfaltigkeit cen-tripetaler Alterationen, die der Vorstellung, an einer K\u00f6rperstelle gesch\u00e4digt zu sein, folgen kann. Sind es doch nicht blo\u00df An\u00e4sthesien, sondern ebenso Hyper\u00e4sthesien und Par\u00e4sthesien, die uns als Endwirkung begegnen; und es mag auf den ersten Blick als ungerechtfertigt erscheinen, diese drei M\u00f6glichkeiten als psychologisch verschiedenartig zu behandeln, der An\u00e4sthesie eine besondere Stellung anzuweisen. Dennoch ist das nicht nur der Kl\u00e4rung dienlich, sondern durch die ganze Sachlage gefordert. Erinnern wir uns des Beispiels von der Ameise, so f\u00e4llt uns ein, dass die par\u00e4sthetischen \u2014 und das Gleiche gilt von den hyper\u00e4sthetischen \u2014 Ver\u00e4nderungen schon bei Gesunden Vorkommen, und dass sie in der Hysterie eben nur intensiv oder extensiv abnorm gesteigert sind. Ihre Deutung ist danach eine physiologische Aufgabe; psychologisch verh\u00e4lt sich auch der Hysterische diesen St\u00f6rungen gegen\u00fcber \u00e4hnlich dem Gesunden: er empfindet etwas, und er wei\u00df auch oft genug, warum. Oft freilich nicht, und dem Gesunden ergeht es ebenso, dass er pl\u00f6tzlich eine abnorme Sensation hat, ohne sich sofort Bechenschaft geben zu k\u00f6nnen, welche Vorstellung sie wachrief. Halten wir fest, dass nicht blo\u00df die psychogenen Beactionen, sondern auch die psychischen auf psychische Erlebnisse in der Hysterie leichter eintreten, so werden wir nichts Erstaunliches daran finden, dass die Hysterischen \u00f6fter als die Gesunden \u00fcber den Ursprung ihrer Par\u00e4sthesien oder Hyper\u00e4sthesien sich keine Bechenschaft zu gehen verm\u00f6gen. Ungleich bedeutsamer muss uns das An- und Abschwellen dieser Empfindungen je nach ihrer apperceptiven Verarbeitung erscheinen. Und doch hegt auch hier nur eine Steigerung dessen vor, was wir innerhalb der Gesundheitsbreite beobachten k\u00f6nnen. Ich kenne einen Arzt, der,\nWundt, Phil os. Studien. XiX.\t15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nWilly Hellpach.\nseit er zum ersten Male als Student einer Unterschenkelamputation beiwohnte, auf jedes in \u00e4hnlicher Art s\u00e4gende Ger\u00e4usch hin, vollends aber bei allen folgenden \u00e4hnlichen Operationen, ein ausgesprochenes g\u00fcrtelf\u00f6rmiges Vertaubungsgef\u00fchl an seinem eigenen rechten Unterschenkel versp\u00fcrte. Ein einziges Mal ist diese Par\u00e4sthesie ausgeblieben: als er im Examen selber an der Leiche eine Amputation ausf\u00fchren musste und v\u00f6llig durch die gespannte Sorge, einen Fehler in der Technik zu begehen, in Anspruch genommen war. Die hysterische Steigerung dieser Erscheinungen, von denen jeder Gesunde irgend eine gelegentlich an sich selbst erlebt, besteht lediglich darin, dass viel h\u00f6here Empfindungsintensit\u00e4ten durch viel geringf\u00fcgigere Ablenkungen der Aufmerksamkeit ausgel\u00f6scht werden.\nMan hat diese par\u00e4sthetischen und hyper\u00e4sthetischen Vorg\u00e4nge vielfach als die hypochondrischen Beschwerden im Bilde der Hysterie bezeichnet und damit die Verschwommenheit zwischen Hysterie und Nervosit\u00e4t nicht wenig verschlimmert. Ueberhaupt ist die Wahl der Namen eine psychologisch oft recht wenig gl\u00fcckliche gewesen. Am besten f\u00e4hrt man sicherlich, wenn man auch hier von psychogenen Erscheinungen spricht und den Begriff des Psychogenen damit auf alle Thatsachen ausdehnt, die \u2014 seien es physische oder psychische \u25a0\u2014\u25a0 durch Vorstellungen hervorgerufen werden, deren Gef\u00fchlswerth der St\u00e4rke des Ergebnisses nicht proportional zu sein braucht. Wir werden weiterhin noch zu er\u00f6rtern haben, welchen Nutzen diese Umgrenzung gerade f\u00fcr das Verst\u00e4ndniss der zum Bilde der Nervosit\u00e4t und der neurasthenischen Entartung geh\u00f6renden hypochondrischen Beschwerden bietet.\nVon den Hyper\u00e4sthesien und Par\u00e4sthesien ist nun die hysterische An\u00e4sthesie darum etwas so ganz Verschiedenes, weil sie beim normalen Menschen niemals vorkommt, soweit die Vorstellung einer Sch\u00e4digung umschriebener Fl\u00e4chen dabei urs\u00e4chlich wirkt. Starke Affecte, starke Concentration der Aufmerksamkeit k\u00f6nnen, wie wir sahen, den Gesunden zeitweilig an\u00e4sthetisch im hysterischen Sinne \u2014 \u00bber f\u00fchlt, aber er wei\u00df es nicht\u00ab \u2022\u2014 machen, niemals aber wird bei ihm eine K\u00f6rperstelle, die er sich gesch\u00e4digt denkt, empfindungslos. Darin liegt schon ein Grund, die Entstehung hysterischer An\u00e4sthesie durch Affecte von der durch inhaltsverwandte Vorstellungen zu trennen: jene erstere Form stellt sich uns wieder als eine","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n227\nvornehmlich extensive Steigerung normaler psychogener Thatsachen dar, diese zweite aber ist von allem, was die G-esundheitsbreite aufweist, g\u00e4nzlich verschieden. Wenigstens f\u00fcr die oberfl\u00e4chliche Betrachtung. Gedenken wir aber jener fr\u00fcheren Feststellung, dass die active Apperception, in ihrer ganzen St\u00e4rke wirkend, auf Empfindungen abschw\u00e4chenden Einfluss zu \u00fcben vermag, so gewinnen wir ein wesentlich anderes Bild. Wir k\u00f6nnen, um uns das verst\u00e4ndlich zu machen, \u25a0was in solchen F\u00e4llen psychologisch vor sich geht, etwa sagen: Wir empfinden desto schw\u00e4cher, je deutlicher wir empfinden wollen; f\u00fcr die hysterische Steigerung aber in die von Moebius gew\u00e4hlte Form gebracht, w\u00fcrde es lauten m\u00fcssen: Die Hysterischen f\u00fchlen, solange sie nicht f\u00fchlen zu wollen gen\u00f6thigt werden. Gerade die von Duchenne beschriebene Stereagnosie hysterisch An\u00e4sthetischer beim Schluss der Augen, die ber\u00fchmte \u00bbperte de la conscience musculaire\u00ab, scheint mir zu beweisen, dass nur im Sinne dieser Formel die psychologische Deutung der aus Vorstellungen erwachsenden Empfindungslosigkeit gesucht werden kann.\nScheinbar bereitet ja die stereagnostische An\u00e4sthesie der psychologischen Analyse dieser ganzen Erscheinungsgruppe gro\u00dfe Schwierigkeiten. Wenn n\u00e4mlich in dem Augenblicke, wo der Hysterische die Augen schlie\u00dft, ihm alles das entschwindet, was wir in der Pathologie unter stereognostischen F\u00e4higkeiten zusammenfassen \u2014 die r\u00e4umliche Tastwahrnehmung, die Vorstellung von der Lage und dem Bewegtwerden der Glieder \u2014 so flie\u00dft die hysterische Stereagnosie, scheint es, zusammen mit der ataktischen: in beiden F\u00e4llen ist an das Sehen die Controlle der Lage und Bewegung gebunden, und mit der Ausschaltung des Sehens tritt v\u00f6llige Stereagnosie ein. Dann brauchen wir den Satz von Moebius \u00bbSie f\u00fchlen, aber sie wissen es nicht\u00ab \u00fcberhaupt nicht mehr; denn ersichtlich f\u00fchlen die Kranken auch gar nicht, sie sind wirklich an\u00e4sthetisch, die sensiblen Erregungen sind nicht blo\u00df aus der Apperception ausgeschaltet, sie sind \u00fcberhaupt nicht da, auch im Moebius\u2019schen \u00bbUnbewussten\u00ab existiren sie nicht. Und doch tr\u00fcgt dieser Anschein. Denn alles, was unter die perte de la conscience musculaire f\u00e4llt, zeigt sich nur, solange der Untersucher sich mit dem Kranken besch\u00e4ftigt. Im Uebrigen sind diese Hysterischen genau so aller auf verwickelten Coordinationen beruhenden Bewegungen, aller Orientirung im Dunklen f\u00e4hig, wie die\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nWilly Hellpach.\nandern, bei denen auch die Pr\u00fcfung keine irgendwie geartete Stere-agnosie nachzuweisen vermag. Daraus geht hervor, dass die Du-chenne\u2019sche Stereagnosie erst eintritt, wenn die Apperception sich den stereognostischen Aufgaben zuwendet, dass die anscheinend cen-tripetale St\u00f6rung eine apperceptive, eine im Machtbereich des Wollens sich vollziehende Ver\u00e4nderung bedeutet, dass die unsere r\u00e4umlichen Tastvorstellungen constituirenden Empfindungen in dem Augenblicke erl\u00f6schen, wo sie appercipirt werden sollen: die Kranken f\u00fchlen, solange sie nicht f\u00fchlen wollen.\nEs scheint mir nicht ausgeschlossen zu sein, dass auf diesen Umstand eine psychologische Oomponente der kataleptischen Erscheinungen sich gr\u00fcndet. Ich bin weit entfernt davon, Phantasien nachzujagen, und gebe ohne weiteres zu, dass die Katalepsie, das Verharren der Glieder in den erzwungensten Stellungen, noch zu wenig untersucht ist, um in ihren Ursachen aufgekl\u00e4rt zu werden. Die kataleptischen Leistungen sind ja erstaunliche und gehen weit \u00fcber das hinaus, was wir am normalen Organismus selbst bei h\u00f6chster Kr\u00e4fteanspannung erleben. Dieses Ma\u00df, vereint mit der mehr oder minder deutlich ausgepr\u00e4gten w\u00e4chsernen Biegsamkeit der kataleptischen Glieder, legt es au\u00dferordentlich nahe, an physiologische Alterationen zu denken, die unbeeinflusst von den psychischen Erlebnissen wirken. Anderseits machen aber die aus der Hypnose gesch\u00f6pften Erfahrungen es wahrscheinlich, dass die Katalepsie, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, eine psychisch bedingte, eine Willensst\u00f6rung sei. Wir finden ja bei den Hypnotisirten, bei Hysterischen, bei Katatonischen kata-leptische Erscheinungen, denen eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig enge Grenze gesteckt zu sein scheint: der erhobene Arm f\u00e4ngt nach einiger Zeit an zu zittern und sinkt herab. Hier wird also die kataleptische Leistung durch die eintretende Erm\u00fcdung beendet. In diesen F\u00e4llen m\u00f6chte ich annehmen, dass das au\u00dfergew\u00f6hnliche Ma\u00df dieser Leistung erm\u00f6glicht wird durch eine hochgradige Herabsetzung der M\u00fcdigkeitsempfindungen in den beanspruchten Muskelgruppen eben mittels jener apperceptiven Ausl\u00f6schung der centripetalen Erregungen, die wir f\u00fcr die Deutung der Duchenne\u2019chen Stereagnosie in Betracht zogen. Da die Katalepsie in diesen F\u00e4llen ein Theil des als Befehlsauto-matie bezeichneten Zustandes, also einer ganz zweifellosen Willensalteration ist, so w\u00fcrde zu der voluntaristischen Auffassung von der","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n229\nApperception als einem Willensvorgange die soeben versuchte Interpretation der kataleptischen Symptome ohne weiteres stimmen. Dass es sich nicht psychologisch, sondern lediglich physiologisch erkl\u00e4ren l\u00e4sst, wenn katatonische Kranke stundenlang mit halb erhobenem Kopfe im Bett liegen, in einer Stellung also, die beim Gesunden schon nach wenigen Minuten zur v\u00f6lligen Erm\u00fcdung der Nackenmuskeln f\u00fchrt, braucht wohl nicht erst n\u00e4her er\u00f6rtert zu werden. Es scheint sich ja neuerdings immer st\u00e4rker die Ansicht durchzusetzen, dass die Katalepsie ein Sammelname f\u00fcr eine Anzahl von Erscheinungen ist, die auf ganz verschiedenen Vorg\u00e4ngen beruhen und bei eindringlicher Beobachtung wohl auch in ihrem so \u00e4hnlichen \u00e4u\u00dferen Bilde recht wesentliche Unterschiede erkennen lassen.\nMit der hier versuchten Deutung der An\u00e4sthesie verschwindet auch das Geheimnissvolle, das gerade dieser hysterischen Erscheinung immer anhaftete. L\u00e4hmungen und Kr\u00e4mpfe, Hyper\u00e4sthesien und Par\u00e4sthesien sind lauter Dinge, die der Gesunde sich mindestens vorzustellen vermag, und die den Verdacht der Verstellung niemals ganz b\u00fcndig ausschlie\u00dfen. An\u00e4sthesien aber kann keiner simuliren, zumal in der bei der Hysterie gerade so h\u00e4ufigen analgetischen Form ; und wieviel r\u00e4thselhafter musste der Sachverhalt werden, wenn man sich \u00fcberlegte, dass gerade die Beizung einer K\u00f6rperstelle oder der Anblick einer solchen Beizung, die Vorstellung davon, die Erinnerung daran, diese selbe Stelle an\u00e4sthetisch werden lie\u00df! Dass einer in solchen F\u00e4llen Par\u00e4sthesien hat, kann der Gesunde sich noch ausmalen \u2014 die An\u00e4sthesie niemals. Denn mit der Vorstellung, dass eben diese Stelle gesch\u00e4digt werde, kann man wohl L\u00e4hmung, Krampf, Schmerz, Vertaubung verbinden, aber doch nicht Schmerzlosigkeit, Empfindungsmangel. Ueber diese Unm\u00f6glichkeit kommen wir jetzt leicht hinweg. Es ist gar nicht die Vorstellung einer Sch\u00e4digung, die An\u00e4sthesie hervorruft. Es ist einfach die Vorstellung jenes Bezirkes schlechthin, sein Einr\u00fccken in den Blickpunkt des Bewusstseins, das die von ihm ausgehenden centripetalen Erregungen schw\u00e4cht oder ausl\u00f6scht, desto vollst\u00e4ndiger, je mehr die Aufmerksamkeit auf diese Erregungen gelenkt wird. Damit wird aber auch die Dauer der hysterischen An\u00e4sthesie begreiflich. Stellt sie doch das allerz\u00e4heste Symptom dar, das Anf\u00e4lle, L\u00e4hmungen, Schmerzen \u00fcberlebt und oft jahrelang in der gleichen Verbreitung bestehen bleibt. Es handelt","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nWilly Hellpach.\nsich dabei eben um gar keine Permanenz, sondern nur um eine au\u00dfergew\u00f6hnliche Leichtigkeit, mit der bestimmte Empfindungen unter die Schwelle des Bewusstseins sinken, wenn sie appercipirt werden sollen.\nDiese psychologische Auffassung wird durch die mit ihr anscheinend recht schwer zu vereinbarenden Regelm\u00e4\u00dfigkeiten in der Ausdehnung mancher An\u00e4sthesien geradezu gest\u00fctzt. Die G\u00fcrtel-, Strumpf-, Aermelform, die halbseitige An\u00e4sthesie werden nur verst\u00e4ndlich, wenn wir das psychologische Band bedenken, das jene umschriebenen Bezirke einander \u00e4hnlich macht. Es ist eine Aehnlichkeit der qualitativen F\u00e4rbung, die uns zwei K\u00f6rperstellen als linksseitig, oder als symmetrisch localisiren l\u00e4sst. In einer Reihe von F\u00e4llen scheinen danach alle durch jene Aehnlichkeit ausgezeichneten Empfindungen der eigenartigen apperceptiven Ausl\u00f6schung unterworfen zu sein; wir k\u00f6nnen den Satz auch so aussprechen, dass in der Hysterie die apperceptive Ausl\u00f6schung von Empfindungen mit einer gewissen Vorliebe als die Function eines Localzeichens oder einer Localzeichengruppe auftrete, und dass diese Tendenz symptomatisch in der H\u00e4ufigkeit der umschriebenen, der symmetrischen, der halbseitigen An\u00e4sthesien ihren Ausdruck finde. Die Pathologie der Hysterie wird nat\u00fcrlich bestrebt sein, die physiologischen Substrate der apperceptiven Ausl\u00f6schung wie ihres Gehundenseins an Localzeichengruppen zu ermitteln. Denn das ist keine psychologische Aufgabe mehr; unser inneres Erleben bietet keine L\u00f6sung f\u00fcr die Frage, woher die qualitativen Differenzen und Aehn-lichkeiten stammen, die wir als Localzeichen benennen, sondern diese Qualit\u00e4ten sind die letzten Thatsachen, die wir in uns selber vorfinden. Halten wir uns an den modernen Standpunkt, dass mindestens diesen elementarsten psychischen Vorg\u00e4ngen, sofern sie verschieden voneinander sind, auch verschiedene Substrate zugeh\u00f6ren, stellen wir uns also auf den Boden des Princips von der Localisation der Functionen, innerhalb jener Denkm\u00f6glichkeitsbreite freilich, die sich von seiner Auffassung durch Wundt his zu seiner Auslegung durch Hering erstreckt, und unter Ablehnung aller \u00fcber die psychischen Elementarprocesse hinausgreifenden Localisationspliantasien \u2014 so werden wir der Physiologie des kranken Nervensystems die M\u00fche zuweisen m\u00fcssen, uns dar\u00fcber aufzukl\u00e4ren, welche Alterationen","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n231\nder Empfindungssubstrate die nach Localzeichen umschriebene apperceptive Ausl\u00f6schung von Empfindungen bei der Hysterie bedingen. Da unsere Kenntniss von der Localisation der Hautsinnesempfindungen heute noch viel entschiedener als zur Zeit des Munk\u2019schen F\u00fchl-sph\u00e4renglaubens gleich Null ist, so werden wir in absehbarer Zeit allerdings noch keine L\u00f6sung dieses Problems zu erwarten haben. Immerhin scheint das dem Localisationsprincip correspondirende Princip der functionellen Stellvertretung, das Broatbent und v. Ma-nakow bereits in recht gl\u00fccklicher Weise einer Deutung der apo-plektischen Sch\u00e4digungen und Heilungen zu Grunde gelegt haben, wenigstens f\u00fcr die symmetrischen An\u00e4sthesien den Weg anzudeuten, den die physiologische Forschung hier zu gehen hat. M\u00f6glicherweise ist es dem Studium der hysterischen An\u00e4sthesie noch heschieden, unser Wissen von den nerv\u00f6sen Substraten der Hautempfindung \u00fcber den Nullpunkt hinauszubringen, auf dem es trotz aller experimentellen Studien und klinischen Beobachtungen bis heute immer noch verharrt.\nGreifen wir nun auf jene F\u00e4lle von An\u00e4sthesie nochmals zur\u00fcck, f\u00fcr die wir dem Moebius\u2019schen Satze \u2014 sie f\u00fchlen, aber sie wissen es nicht \u2014 eine bedingte Geltung zugestanden, so wird uns jetzt deutlich, dass sie nur hinsichtlich ihrer Entstehung, nicht aber in ihrem ganzen Charakter psychologisch verschieden sind. Denn eben die \u00bbbedingte\u00ab Geltung bezog sich ja auf den Ersatz des Moebius-schen Gegensatzes von Bewusstem und Unbewusstem durch den Unterschied von Appercipirtem und Nicht-Appercipirtem. Das Wesen aller hysterischen An\u00e4sthesien besteht nach der hier dargelegten Auffassung darin, dass die Kranken permanent empfinden, solange sie nicht durch irgend etwas veranlasst werden, die Empfindungen zu appercipiren. Der Unterschied in der Ursache dieser Alteration hegt f\u00fcr beide Entstehungsformen freilich deutlich zu Tage. Erfolgt die apperceptive Ausl\u00f6schung im Anschluss an eine beliebige gem\u00fcthliche Erregung, so ist ihr Umfang offenbar mehr zuf\u00e4lliger Natur. Schlie\u00dft sie sich aber der Vorstellung eines umschriebenen Hautbezirks an, so hegt ihrem Auftreten ein festerer Zusammenhang zu Grunde, den die Physiologie zu ermitteln haben wird. Es w\u00e4re eine interessante Aufgabe der Klinik, zu beobachten, ob etwa zwischen den mehr stabilen und den transferablen An\u00e4sthesieen insofern ein Unterschied","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nWilly Hellpach.\nbesteht, als diese auf Rechnung starker Affecte zu setzen, jene der affectschwachen, einfachen Vorstellung des betroffenen K\u00f6rpertheiles zuzuschreiben w\u00e4ren. Freilich ist die Schwierigkeit nicht zu untersch\u00e4tzen, die einer sicheren Trennung wirklich starker Affecte und gleichg\u00fcltiger Vorstellungen bei Hysterischen im Wege steht.\nWenn hinsichtlich der motorischen St\u00f6rungen Moebius den klassischen Nachweis f\u00fcr die innere Unvergleichbarkeit \u00e4u\u00dferlich \u00e4hnlicher Erscheinungen bei der Hysterie und der Nervosit\u00e4t gef\u00fchrt hat, so scheint mir in demselben Grade die \u2014 wie immer auch entstehende \u2014 apperceptive Ausl\u00f6schung von Empfindungen die absolute Verschiedenheit beider Geisteskrankheiten festzulegen. Denn etwas Aehnliches gibt es in der Nervosit\u00e4t nirgends; und \u00fcberall, wo wir im Bilde der traumatischen Neurose An\u00e4sthesien finden, d\u00fcrfen wir ohne weiteres von Erscheinungen reden, welche den hysterischen entsprechen. Ich will nicht sagen, von traumatischer Hysterie : denn diese Frage ist eine klinische, und die Psychologie kann kein Urtheil dar\u00fcber abgeben, ob einzelne Symptome der klassischen Hysterie so eng mit deren ganzem Wesen verwoben sind, dass sie nicht auch anderswo sich vorfinden k\u00f6nnten. Gerade hieran kn\u00fcpfen sich ja zwei bedeutsame Meinungs\u00e4u\u00dferungen von nerven\u00e4rztlicher Seite. Einmal hat v. Str\u00fcmpell sich dahin ausgesprochen, jemanden hyp-notisiren hei\u00dfe nichts anderes, als ihn vor\u00fcbergehend hysterisch machen. Ich halte diesen Satz, der zuerst von der Pariser gegen die Nancyer neurologische Schule gepr\u00e4gt worden ist, f\u00fcr schief; zweifellos lehrt n\u00e4mlich die Erfahrung, dass die Erscheinungen der Hysterie weit \u00fcber die der Hypnose hinausgehen und auch in ihrer ganzen Art sehr wesentlich von ihnen abweichen. Gewiss spielen Suggestionen bei Hysterischen eine unverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gro\u00dfe Rolle, aber von der Promptheit, mit der die Verbalsuggestion beim Hypno-tisirten wirkt, ist bei ihnen oft nur sehr wenig zu sp\u00fcren: sonst k\u00f6nnte die psychische Behandlung der Hysterie wahrlich auf einer ganz andern Stufe der Erfolgssicherheit stehen. Trotzdem bleibt der andere Satz v. Str\u00fcmpell\u2019s: einen Hysterischen hypnotisiren, hei\u00dfe ihn noch hysterischer machen \u2014 in voller Geltung; denn so wenig die Suggestibilit\u00e4t das Bild der Hysterie ausf\u00fcllt, oder auch nur beherrscht, so ist sie doch ein sehr wesentliches Merkmal darin, und da die Hypnose eine zielbewusste Verst\u00e4rkung und Einwurzelung der","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n233\nguggestibilit\u00e4t bedeutet, so wirkt sie, bei Hysterischen angewandt, in der That im Sinne einer Gro\u00dfz\u00fcchtung eines hysterischen Sympt\u00f4mes.\nDann aber \u2014 und hier ist wieder die Psychologie berufen mit-zusprechen \u2014 hat Moebius geschrieben, ein Hysterischer k\u00f6nne sehr wohl nerv\u00f6s werden, gerade weil beide Krankheiten so ganz verschiedener Art seien. Die Physiologie wird m\u00f6glicherweise Bedenken erheben; sehen wir aber davon ab, so fragt es sich, ob psychologisch hysterische und nerv\u00f6se Vorg\u00e4nge nebeneinander herlaufen k\u00f6nnen.\nDas Charakteristische und im Wechsel der Bilder immer Gleiche der Nervosit\u00e4t ist eine Verschiebung der psychischen Reactionen in der Richtung auf eine Steigerung der Unlust-, Erregungs-, und Spannungsgef\u00fchle hin. Es ist leicht einzusehen, dass dadurch mancherlei Erscheinungen zu Tage treten, die bei oberfl\u00e4chlicher Betrachtung mit den hysterischen gro\u00dfe Aehnlichkeit haben ; ein rascher Wechsel der Interessen und Bet\u00e4tigungen, eine gewisse Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit, eine Neigung zu hypochondrischen Beschwerden. Aber bei aller Ann\u00e4herung bleibt die psychologische Grundlage dieser complexen Symptome eine unvergleichbar verschiedene. Alles, was der Nerv\u00f6se empfindet, ist auch normalerweise vorhanden; nur indem dort die geringste Intensit\u00e4t der Empfindungen schon hinreicht, um die st\u00e4rksten Unlustgef\u00fchle, Erregungen oder Spannungen hervorzurufen, dr\u00e4ngen sich vermittelst eben dieser Wirkung die zahlreichsten aller in unserem Bewusstsein, wenn auch nur selten in dessen Blickpunkt anwesenden Empfindungen, die vom eigenen K\u00f6rper, nunmehr zur Apperception und beherrschen sehr bald das ganze psychische Erleben. Auf diese Weise entsteht die nerv\u00f6se Schlaffheit und die nerv\u00f6se Hypochondrie, indem hier die tausenderlei kleinsten Haut- und Organempfindungen, die der Gesunde gar nicht beachtet, dort die leichtesten M\u00fcdigkeitsgef\u00fchle im Muskel ms Ungeheure vergr\u00f6\u00dfert werden. Das gilt auch ganz besonders f\u00fcr die Entstehung der nerv\u00f6sen und neurasthenischen Phobien: durch jene der Nervosit\u00e4t und der neurasthenischen Entartung eigenth\u00fcmliche Gef\u00fchlssteigerung wird die leichte Unsicherheit des Gesunden beim Ueberschreiten gro\u00dfer Pl\u00e4tze, sein geringes Beengungsgef\u00fchl in kleinen, \u00fcberf\u00fcllten R\u00e4umen, sein Schwindel auf hohen Th\u00fcrmen f\u00fcr den Nerv\u00f6sen zur Agoraphobie, zurClaustro- und Plethophobie, zur H\u00f6henangst.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nWilly Hellpach.\nAlle diese Erlebnisse sind aber mit den Hysterischen nur sehr schwer in einem Nebeneinander zu denken. Wenn wir als die psychologischen Hauptz\u00fcge der Hysterie die intensive, extensive und qualitative Vermehrung der psychogenen physischen Vorg\u00e4nge, ihre Disproportionalit\u00e4t zu den gleichzeitigen Gem\u00fcthsbewegungen, und die an Localzeichengruppen gebundene apperceptive Erl\u00f6schbarkeit von Empfindungen feststellten, so sieht man ohne weiteres, dass mit keinem einzigen dieser Bestandtheile des hysterischen Krankheitsbildes die nerv\u00f6se Gef\u00fchlssteigerung recht vertr\u00e4glich ist. Allenfalls mit der Steigerung der psychogenen physischen Processe; die aber ist gerade nur ein Kennzeichen der schwereren Hysterie, und wenn in deren Bilde ab und zu wirklich etwas sich einstellen sollte, was auf eine Verst\u00e4rkung der Unlust-, Erregungs- und Spannungsgef\u00fchle hindeutete, so w\u00e4re es wohl ganz verfehlt, nun neben der bestehenden Hysterie eine Nervosit\u00e4t anzunehmen; vielmehr ist kein Grund, weshalb das Gleiche nicht auch aus der hysterischen Entartung gelegentlich entspringen sollte. Soweit aber psychogene Vorg\u00e4nge bei Nerv\u00f6sen gesteigert erscheinen, geschieht dies durchaus proportional den sie bedingenden Affecten, und das gerade trifft auf die hysterischen Kranken niemals zu. Die Proportionalit\u00e4t zwischen Gem\u00fcthsbewegung und physischer Wirkung beim Nerv\u00f6sen, die krasse Disproportionalit\u00e4t zwischen beiden beim Hysterischen sind miteinander schlechthin unvereinbar. Nicht minder aber gilt dies f\u00fcr die dritte hysterische Erscheinungsgruppe. Der Versuch, eine Empfindung zu.-appercipiren, wird sie beim Nerv\u00f6sen nie zum Erl\u00f6schen bringen, sondern infolge der seinem Leiden zu Grunde liegenden Gef\u00fchlsver\u00e4nderung bis zu unertr\u00e4glicher St\u00e4rke steigern; gerade daher stammt ja die stete Verschlimmerung der nerv\u00f6sen Hypochondrie in dem Ma\u00dfe, wie die Kranken Gelegenheit finden, den als Ausgangspunkt dienenden Empfindungen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Hier schwillt die Intensit\u00e4t der Empfindung proportional zur gem\u00fcthlichen Erregung an, so weit, dass schlie\u00dflich die active Apperception vor den sich dauernd aufdr\u00e4ngenden Hypochondrien capituliren muss, w\u00e4hrend wir um-nmkehrt, in der Hysterie die st\u00e4rksten Par\u00e4sthesien bei der unbedeutendsten Ablenkung verschwinden sehen, eben weil keine proportionale Gem\u00fcthsverfassung sie tr\u00e4gt. Diese vergleichenden Ueber-legungen scheinen mir die M\u00f6glichkeit eines Nebeneinander von","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n235\nHysterie und Nervosit\u00e4t in sehr nebelhafte Ferne zu r\u00fccken. Die Hysterie ist eine Anlage, eine Degenerationsform, deren Aeu\u00dferungen mit Unterbrechungen aufzutreten pflegen; aber ganz verschwinden sie auch in den freieren Zwischenakten doch nie, und die Sch\u00e4digungen, die zur Nervosit\u00e4t f\u00fchren, w\u00fcrden sie ganz sicher lebendig erhalten; die Nervosit\u00e4t ist eine gleichm\u00e4\u00dfig an- und absteigende Erkrankung, die so sehr das ganze psychische Lehen umf\u00e4ngt, dass neben ihr f\u00fcr geradezu gegens\u00e4tzliche Seelenvorg\u00e4nge, wie die hysterischen, kein Raum mehr bleibt. Wenn also nicht schon die klinische, so muss meines Erachtens unter allen Umst\u00e4nden die psychologischeErw\u00e4gungdenNerven-arzt zur unbedingten Ablehnung jener Annahme von Moebius f\u00fchren.\nDiese Entscheidung wirkt aber auch zur\u00fcck auf die Anschauung \u00fcber das vielumstrittene Wesen der traumatischen Neurose. Moebius meint, wenn deren Bild scheinbar so wenig in die Hysterie hineinpasse, und dennoch hysterische Z\u00fcge darin nicht zu verkennen seien, so werde damit die Nothwendigkeit einer Erweiterung des Begriffs der Hysterie nahegelegt. Das ist doch ein seltsamer Trugschluss, und es ist bei aller Bewunderung Charcot\u2019s, in der wir Moebius gewiss nicht nachstehen wollen, nicht einzusehen, weshalb wir nun unbedingt an der franz\u00f6sischen Auffassung der traumatischen Neurose als einer echten Hysterie festhalten sollen, nachdem die Erfahrung gelehrt hat, dass sehr oft das Bild erheblich von dem der Hysterie abweicht. Psychologisch stellt sich scheinbar die traumatische Neurose meistens als eine sehr merkw\u00fcrdige Mischung hysterischer und nerv\u00f6ser Z\u00fcge dar. Allein die nerv\u00f6sen Bestandteile der traumatischen Neurose halten, n\u00e4her betrachtet, den Hauptkriterien der Nervosit\u00e4t, der Steigerung von Unlust-, Spannungs- und Erregungsgef\u00fchlen und der Erhaltung einer v\u00f6lligen Proportionalit\u00e4t zwischen Gem\u00fctsbewegungen und ihren physischen \u00c4u\u00dferungen, in keiner Weise stand. Wesenshestimmend f\u00fcr diese Krankheit ist vielmehr die Entwicklung intensiv, extensiv und qualitativ abnormer psychogener \u2014 physischer und psychischer \u2014 Erscheinungen auf der Grundlage einer psychischen Depression, die von vornherein das Gem\u00fcth des Kranken gefangen nimmt \u2014 im geraden Gegensatz zu der Nervosit\u00e4t, deren Anfangsstadien ganz und gar nicht eine dauernde tr\u00fcbe Verstimmung, sondern eine Einzelver\u00e4nderung der Gef\u00fchlst\u00f6ne auszeichnet, weshalb hier die reizbare Unruhe, dort die welke, gedr\u00fcckte Schlaffheit das Bild","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nWilly Hellpaoh.\neinleitet. Mit dieser depressiven Gem\u00fcthslage sind aber die hysterischen Symptome der Steigerung psychogener Vorg\u00e4nge und der appercep-tiven Empfindungsausl\u00f6schbarkeit psychologisch sehr wohl vereinbar. Weiter kann man heute in der Auslegung der traumatischen Neurose kaum gehen; allein nicht blo\u00df klinisch, sondern vor allem auch psychologisch m\u00fcsste es als eine Kl\u00e4rung begr\u00fc\u00dft werden, wenn man an Stelle des bisherigen Sammelnamens den Vorschlag Kraepelin\u2019s allgemein acceptirte und der Bezeichnung \u00bbSchreckneurose\u00ab sich bediente; oder, da das Moehius\u2019sche \u00bbCeterum censeo, nomen neuroseos esse delendum\u00ab seine gute Berechtigung hat, so w\u00fcrde das Wort \u00bbSchreckpsychose\u00ab die vorerst geeignetste Benennung darstellen. Wir k\u00f6nnten unsere Auffassung dann dahin formuliren, dass zweifellos eine gro\u00dfe Zahl Hysterischer und Neurasthenischer unter den Unfallskranken sich befinden, dass aber neben ihnen eine Gruppe von Menschen \u00fcbrig bleibt, bei denen die schreckhafte Erregung h\u00f6chster Intensit\u00e4t eine ganz eigenartige Psychose entstehen l\u00e4sst, die auf depressiver Grundlage nicht eine Hysterie, sondern einzelne, auch der Hysterie zukommende Z\u00fcge aufweist, in ihrem psychologischen Gesammtbilde aber weder der Hysterie noch der Nervosit\u00e4t verglichen werden kann.\nZu dieser Auffassung f\u00fchrt vor allem auch die psychologische Analyse der Heilmittel, die uns gegen Hysterie, Nervosit\u00e4t und Schreckpsychose zu Gebote stehen; vielleicht kann man auf keinem Gebiete der Medicin soviel \u00bbex juvantibus\u00ab lernen, als hier gerade. Der unvergleichbare Gegensatz zwischen dem psychologischen Bilde der Hysterie und der Nervosit\u00e4t erscheint in sch\u00e4rfster Beleuchtung durch die psychotherapeutischen M\u00fchen, Erfolge und Misserfolge. Zwar hat die schon fr\u00fcher gestreifte Definition, die Hirschlaff f\u00fcr die Suggestion aufstellte, diesen Autor dazu veranlasst, die Grenzen zwischen der antihysterischen und der antinerv\u00f6sen Behandlung zu verwischen, indem er die heilenden Gegensuggestionen als nicht suggestiv ansieht, sondern als Vorstellungen, die mittelst der durch sie erzeugten Gem\u00fcthsbewegung oder \u00fcberzeugend wirken. Nicht minder falsch aber ist L\u00f6wenfeld\u2019s dagegen erhobener Einwand, dass eine Gegensuggestion sehr wohl motivistischen Charakter tragen k\u00f6nne. Ein Motiv im normalpsychologischen Sinne ist keine Suggestion, sondern suggestiv ist eine Vorstellung nur, wenn sie durch die","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n237\nDisprfip\u00f6fti\u00f6nalit\u00e4t zwischen dem ihr anhaftenden Gef\u00fchlswerth oder ihrer logisch \u00fcberzeugenden Kraft und ihrer Wirkung gekennzeichnet wird. Tr\u00f6stungen, Ueberredungen, Rathschl\u00e4ge sind demnach nie Suggestionen, und wenn sie zuf\u00e4llig bei Hysterischen gelegentlich wirken, so ist es lediglich ihr Inhalt, nicht aber ihre motivirende Kraft, die das veranlasst. Der Erfolgswerth einer echten Suggestion entzieht sich v\u00f6llig unserer psychologischen Absch\u00e4tzung, weil wir jene assimilative Kraft, die wir als die Basis der suggestiv erzeugten psychogenen Erscheinungen festlegten, im einzelnen Falle gar nicht kennen \u2014 denn sie kennen w\u00fcrde nichts Geringeres hei\u00dfen, als die gesammte Vergangenheit und Gegenwart eines noch dazu pathologisch ver\u00e4nderten Bewusstseins \u00fcberschauen. Wirksame motivirende Vorstellungen setzen immer die erhaltene Proportionalit\u00e4t zwischen Affecten und ihren Folgeerscheinungen voraus, wie sie der Nervosit\u00e4t eigen ist. Darum ist die einzige psychologisch verst\u00e4ndliche Psychotherapie dem Nerv\u00f6sen gegen\u00fcber die Tr\u00f6stung, die Ermuthigung, die Belebung des Selbstvertrauens. Die Hysterie dagegen spottet eigentlich jeder Regel, ihre Wandlungen h\u00e4ngen an Verkn\u00fcpfungen, die unserem Blicke entzogen sind.\nWenigstens so lange wir uns darauf beschr\u00e4nken, ihnen mit den Erkenntnissen der allgemeinen Psychologie nachzusp\u00fcren. Wir werden dann dahin gelangen, im pathologischen Bilde \u00fcberall jene psychologischen Z\u00fcge wiederzuerkennen, die wir als der Hysterie wesentlich bezeichneten ; wie nun aber im einzelnen Individuum die psychischen Zusammenh\u00e4nge und Abfolgen sich gestalten, das wird uns noth-wendig verborgen bleiben, da es \u00fcber das Erkenntnissfeld der generellen psychologischen Forschung hinausgeht. Und doch ist es unzweifelhaft, dass gerade darauf das brennende Interesse des Nervenarztes sich richtet. Wir kommen hier wieder auf jene Frage: Psychologie oder praktische Menschenkenntniss ? zur\u00fcck, die wir eingangs formulirten. Gewiss wird schon das, was die generelle Psychologie f\u00fcr die Entschleierung der hysterischen und nerv\u00f6sen Alteration zu leisten vermag, in manchen Punkten die Ergebnisse des praktischen Blickes nicht unwesentlich corrigiren; in weiterem Umfange aber f\u00e4llt eine solche Aufgabe doch der Erforschung der Pers\u00f6nlichkeit, der Charakterologie oder, wie L. William Stern es vortrefflich genannt bat, der \u00bbDifferentialpsychologie\u00ab zu.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nWilly Hellpach.\nEs kann keinem Zweifel unterliegen, dass differentialpsychologische Untersuchungen nicht minder auf das Experiment gest\u00fctzt sein m\u00fcssen, als alle jene generellen Forschungen, aus denen die unseren vorangegangenen Darlegungen zu Grunde gelegten Ergebnisse entsprossen sind. Weder die \u00fcberst\u00fcrzten N\u00fctzlichkeitsbem\u00fchungen der amerikanischen, noch die geistreichen Analogie- und Etikettenschwelgereien der franz\u00f6sischen Psychologen bringen uns in der wirklichen Erkenntnis des Pers\u00f6nlichen vorw\u00e4rts. Die Frage des psychologischen Versuchs in derMedicin ist ja heute keine neue mehr, seitdem Kraepelin f\u00fcr die Psychiatrie sie energisch bejaht hat. Und doch scheint sie mir noch wesentlich der Kl\u00e4rung zu bed\u00fcrfen, gerade soweit das Gebiet der nerven\u00e4rztlichen Interessen von ihr ber\u00fchrt wird. Halten wir zuv\u00f6rderst fest, dass trotz alles eifrigen Widerspruchs von hyp-notistischer Seite die Darlegungen unseres Jubilars \u00fcber die Unm\u00f6glichkeit einer Verwerthung von Hypnose und Suggestion zu psychologischen Schl\u00fcssen einen programmatischen Charakter tragen, der auch f\u00fcr die Hysterie im vollen Umfange aufrecht' erhalten werden muss. Da uns nur zwei Wege zu Gebote stehen, um das innere Leben eines Mitmenschen zu entschleiern: seine eigenen Angaben, und die Beobachtung seiner Ausdrucksbewegungen und Handlungen \u2014 so leuchtet es ein, wie dunkel uns die Hysterie immer bleiben wird, eine wie gro\u00dfe Kolle bei der Deutung ihrer Erscheinungen Schl\u00fcsse und Vermuthungen jederzeit spielen werden. Die Klarlegung einer Krankheit, die in einer krassen Disproportionalit\u00e4t zwischen Gem\u00fcthsbewegungen und ihren Aeu\u00dferungen gipfelt, bei der die Apperception aus ihrer normalen Leistung, die Empfindungen und Vorstellungen klar und deutlich ins Bewusstsein zu stellen, geradezu ins Gegentheil umschl\u00e4gt, kann schlie\u00dflich \u00fcberhaupt nie Aufgabe der Psychologie sein, die sich auf eine mit Aufmerksamkeit ge\u00fcbte Selbstbeobachtung st\u00fctzt, und dort, wo sie physische Vorg\u00e4nge zum K\u00fcckschluss auf psychische verwerthet, von der Voraussetzung einer Proportionalit\u00e4t beider ausgehen muss. Ich stimme darum vollkommen mit Wundt \u00fcberein, der die Theorie der Suggestion und Hypnose eine Aufgabe der Physiologie nennt, und m\u00f6chte diesen Satz f\u00fcr die Hysterie ganz besonders zuspitzen. Was wir psychologisch von der Hysterie zu erkennen verm\u00f6gen, das wird dort sein Maximum erreichen, wo der Hysterische am wenigsten davon ahnt, dass er","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\t239\nbeobachtet wird; die bewusste Vernachl\u00e4ssigung, die in der Behandlung der Hysterie eine Rolle spielt, mag uns auch als explorative Methode die verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig am besten gesicherten Aufschl\u00fcsse geben. Wer allerdings, wie Freud, die Ergr\u00fcndung der im hysterischen Bewusstsein gegebenen Verkn\u00fcpfungen damit einleitet, dass er den Hysterischen zuv\u00f6rderst noch ein wenig hysterischer macht, d. h. ihn hyp-notisirt, der wird h\u00f6chstens die Befriedigung erleben, alle seine vorher zurecht geschnittenen Hypothesen durch geeignete Fragestellung in vollem Umfange best\u00e4tigt zu finden. Man kann geradezu sagen: je systematischer, je im gew\u00f6hnlichen Sinne exacter die psychologische Untersuchung der Hysterie ge\u00fcbt wird, desto unzuverl\u00e4ssiger ist sie, und es gibt daf\u00fcr kaum ein sch\u00f6neres Beispiel, als jene Methode der in diesen exacten Explorationen am meisten fortgeschrittenen franz\u00f6sischen Nerven\u00e4rzte, der es nicht blo\u00df gelang, die hysterische Gesichtsfeldeinschr\u00e4nkung sehr genau, sondern \u2014 durch hinreichend h\u00e4ufiges, gut geleitetes Verfahren \u2014 auch die Reihenfolge der Isochromen ihrer pathologischen Einschr\u00e4nkung nach festzustellen.\nKn\u00fcpft sich also unsere Hoffnung, dereinst auch \u00fcber das Wesen der Hysterie befriedigende Aufschl\u00fcsse zu erlangen, nicht an die psychologische Erforschung der hysterischen Seelenzust\u00e4nde, sondern an die Kenntniss der sie tragenden physiologischen Substrate, so ist im Gegentheil die Nervosit\u00e4t die Erkrankung par excellence, die einer psychologischen Methodik sich darbietet. Alles, was wir am Nerv\u00f6sen kennen: die v\u00f6llig intacte Proportionalit\u00e4t zwischen den psychischen und physischen Processen, die gesteigerte Klarheit und Deutlichkeit der zur Apperception gelangenden Vorstellungen, das Bestreben, alles m\u00f6glichst genau und eindringlich zu schildern \u2014 stempelt diese Kranken geradezu zum Object der experimentalpsychologischen Untersuchung. Und es ist nur die Frage, ob der Stand der allgemeinen Psychologie heute schon ein solcher ist, um das Wesentliche der nerv\u00f6sen Vorg\u00e4nge aufdecken zu k\u00f6nnen. Wir werden das am besten ehrlich verneinen, gleichzeitig aber uns erinnern, dass die Erforschung der Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge gerade unter dem Einfl\u00fcsse der von Wundt vertretenen psychologischen Anschauungen neuerdings in ein erfreuliches Fortschrittstempo tritt, dass die Aufhellung dieser Probleme auch von Binswanger als die Grundlage des Verst\u00e4ndnisses der nerv\u00f6sen und neurasthenischen Erscheinungen","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nWilly Hellpach.\ngefordert wurde, dass man allgemein die g\u00e4nzliche Unfruchtbarkeit der Associationsschablone zu erkennen scheint \u2014 lauter Momente, die uns zu der Hoffnung berechtigen, eine nicht zu ferne Befruchtung der Nervosit\u00e4tsforschung durch die experimentelle Methodik zu erleben. Wird doch diese Forschungsweise gerade auch die Bereicherung unserer differentialpsychologischen Kenntnisse weit mehr mit sich bringen, als sie etwa eine solche voraussetzt. Denn wenn es mir wahrscheinlich ist, dass in den Vorg\u00e4ngen des Gef\u00fchlscon-trastes die letzten Ursachen der Nervosit\u00e4t zu suchen sind, so haben wir durch deren experimentelle Entr\u00e4thselung nichts Geringeres gewonnen, als den Weg zum Verst\u00e4ndniss des bedeutsamsten differentialpsychologischen Factors \u00fcberhaupt: der gem\u00fcthlichen Widerstandsf\u00e4higkeit; und da die Nervosit\u00e4t als die leichteste Geistesst\u00f6rung, die einen gesunden Organismus befallen kann, der nat\u00fcrliche Schl\u00fcssel zum eindringlicheren Verst\u00e4ndniss der psychischen Erkrankungen schlechthin ist, so kn\u00fcpfen sich an die auf ihre Erforschung gerichteten Wechselbeziehungen zwischen Psychologie und Nervenheilkunde Hoffnungen, die hier in lichten Farben auszumalen wir uns versagen m\u00fcssen, die aber weniger als viele andere unserer Tage der Gefahr, get\u00e4uscht zu werden, ausgesetzt sind.\nMoebius hat nicht blo\u00df einmal mit Nachdruck betont, die Psychiatrie und die Nervenheilkunde m\u00fcssten auf klinischem Boden fu\u00dfen, und es sei so wenig wie die Anatomie, so wenig auch die \u00bbgerade herrschende Schulpsychologie\u00ab gerathen in sie hineinzutragen. Hinsichtlich der Anatomie hat seine Ehrenrettung Gall\u2019s den Leipziger Gelehrten leider dazu gef\u00fchrt, seine eigene Forderung umzusto\u00dfen. Was aber die herrschende Schulpsychologie angeht, so mag der Vorwurf, sie in die neurologische Betrachtung hineinzuziehen, den In-tellectualisten gemacht werden \u2014 von jener Seite, die in unserem Jubilar ihren Altmeister feiert, ist bisher mir noch kein solches Unternehmen bekannt; und es sind nicht die Psychologen, sondern die Aerzte selber gewesen, die in j\u00fcngster Zeit mehr und mehr zu voluntaristischen Anschauungen und voluntaristischen Interpretationen sich gedr\u00e4ngt sahen. Die experimentalpsychologische Methodik aber geh\u00f6rt keiner Schulpsychologie an, sondern ist die moderne psychologische Arbeitsweise schlechthin. Wenn aber Intellectualisten und Voluntaristen auf dem Boden der im Bereich nerven\u00e4rztlicher","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Psychologie und Nervenheilkunde.\n241\nInteressen belegenen Psychosen ihre Kr\u00e4fte messen, so wird das dem neurologischen Fortschritt so wenig schaden, wie etwa der Gegensatz zwischen kinetischer und energetischer Naturerkl\u00e4rung der Physik den Hals gebrochen hat. Ich finde es viel bedenklicher, wenn Moebius an den richtigen Satz, die Betrachtung der Hysterie f\u00fchre schlie\u00dflich zu dem Problem des psychophysischen Zusammenhanges, eine Er\u00f6rterung kn\u00fcpft, die ein eigenth\u00fcmliches Gemisch Schopenhauerscher und Fechner\u2019scher Metaphysik als die rettende Antwort auf die brennende Frage preist. Auch unseres Jubilars Weltanschauung angelt in einem metaphysischen Willensbegriff; aber er hat immer und erst neuerdings wieder scharf betont, dass dieser metaphysische Wille seiner Philosophie mit der voluntaristischen Grundlage seiner Psychologie an sich nichts zu thun habe, und damit jedem die Freiheit gelassen, diese zu acceptiren und \u00fcber jenen anderer Meinung zu sein. Mich haben* die Erw\u00e4gungen \u00fcber die Natur der Hysterie gerade im Gegensatz zu Moebius dahin gef\u00fchrt, f\u00fcr den psychophysischen Zusammenhang eine aller metaphysischen Speculation, ja aller philosophischen Debatte nach M\u00f6glichkeit entzogene Formel zu suchen, und sie schien mir in der Function gegeben, die es der Nervenheilkunde m\u00f6glich macht, von physiologischen Forschungen dereinst eine Aufhellung vieler auf psychologischem Wege unl\u00f6sbarer Fragen \u00fcber die psychischen Alterationen der Hysterischen zu erhoffen.\nDie Nervenheilkunde hat viel mit der Anatomie und auch mit dem Localisationsstreite zu schaffen. Gerade hierin aber ist die Stellungnahme der Psychologie von gegnerischer Seite immer miss-' verstanden worden. Wenn man dort meint, es gebreche der Psychologie an der Kraft oder Neigung, sich mit beiden F\u00fc\u00dfen auf den Boden der materiellen Welt zu stellen, so ist das eine Anschuldigung, die niemanden weniger trifft, als unsern Jubilar. Wer die Localisation der Functionen und ein Centrum der Apperception, soweit diese auf die Empfindungen ver\u00e4ndernd wirkt, fordert, ist \u00fcber jene Verd\u00e4chtigung ein f\u00fcr allemal erhaben. Was die Psychologie am Loca-lisationsstreite tadeln muss, was sie veranlasste, sich von ihm ganz abzukehren, ist lediglich die Ausfechtung dieser K\u00e4mpfe mit den l\u00e4ngst verrosteten Waffen, die dem Arsenal der Vulg\u00e4rpsychologie entnommen sind. Und die \u2014 wenn alle anderen Hoffnungen fehl-\nWundt, Philos. Studien. XIX\t.\tte","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nWilly Hellpach.\nschlagen sollten \u2014 sichere und bleibende Wirkung psychologischer Einfl\u00fcsse in der Nervenheilkunde kann nicht die Einnistung einer Schulpsychologie in fremdem Gebiete, sondern die Befreiung eben dieses Gebietes von der traurigen Vorherrschaft der Vulg\u00e4rpsychologie sein; und wir wollten die n\u00e4mliche Freude haben, wenn die Intellectualisten diese Arbeit besorgten. Leider haben sie bisher keine Anstalten dazu getroffen, sondern durch die Mitbenutzung moderni-sirter vulg\u00e4rpsychologischer Phrasen \u2014 man denke nur an die \u00bbErinnerungszellen\u00ab \u2014 der Befestigung jener Vorherrschaft unter pseudowissenschaftlichen Trugformen eher noch Vorschub geleistet. Nicht als Anspruch auf die Richtigkeit und irgendwelchen dauernden Werth der auf diesen Bl\u00e4ttern dargelegten Versuche einer psychologischen Deutung von Problemen der Nervenheilkunde, sondern als Uebei-zeugung davon, dass die durch W u n d t uns vermittelten psychologischen Erkenntnisse heute allein im Stande sind, der Vulg\u00e4rpsychologie in allen ihren Verh\u00fcllungen den Boden innerhalb der Nervenheilkunde abzugraben, m\u00f6chte ich es aufgefasst wissen, wenn ich diese Ausf\u00fchrungen mit der Gewissheit schlie\u00dfe, dass alle vorderhand m\u00f6gliche psychologische Denk- und Forschungsweise des Nervenarztes sich fruchtbar erweisen wird, sofern sie in dem Lebenswerke unseres Jubilars ihre Einwurzelung und Orientirung sucht.","page":242}],"identifier":"lit4572","issued":"1902","language":"de","pages":"192-242","startpages":"192","title":"Psychologie und Nervenheilkunde","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:31:18.244984+00:00"}