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{"created":"2022-01-31T14:24:05.938214+00:00","id":"lit4575","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Kirschmann, August","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 19: 310-417","fulltext":[{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\nVon\n\u00c2. Eirschmaun.\nUniversity of Toronto, Canada.\nEinleitung: Uel>er Ausdehnung, Intensit\u00e4t und Messung.\nAls die experimentelle Psychologie, die ihre gegenw\u00e4rtige Bedeutung in erster Linie durch die Th\u00e4tigkeit des Mannes erlangte, zu dessen Ehrung auch die nachstehenden Betrachtungen einen bescheidenen Beitrag liefern sollen, das Licht der Welt erblickte, da wurde auch ihr von einer ung\u00fctigen Fee ein b\u00f6ses Geschenk mit in die Wiege gegeben, n\u00e4mlich das Problem oder das angebliche Problem der Messbarkeit psychischer Gr\u00f6\u00dfen. Und da man gew\u00f6hnt war \u2014 aus Gr\u00fcnden, die einzusehen mir nie gelang -z^e Ausdehnung von dem Bereich des Psychischen auszuschlie\u00dfen und dem letzteren allein das Qualitative und das Intensive zuzuschieben, so stellte man die Frage wie folgt: \u00bbK\u00f6nnen intensive Gr\u00f6\u00dfen gemessen werden?\u00ab Man berief sich auf Kant, dem nat\u00fcrlich die nunmehr brennenden Fragen nach der quantitativen Beziehung zwischen Psychischem und Physischem eben so fremd waren wie den Bittern des Mittelalters das rauch-lose Pulver, der aber irgendwo einmal gesagt hat, dass die Psychologie \u2014 worunter er aber etwas ganz anderes verstand als wir heute \u2014 niemals eine exacte Wissenschaft werden k\u00f6nne. Dabei aber verga\u00df man, dass derselbe Kant an viel hervorragenderer Stelle seines Systems als eine der wichtigsten Grundlagen der Erfahrung, als eine \u2014 in seinem Schema nur lose mit der Kategorie der Qualit\u00e4t in Verbindung gebrachte \u2014 Anticipation jeder Wahrnehmung das Axiom auf stellt: Alle Erscheinung hat eine intensive Gr\u00f6\u00dfe, einen","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n311\nGrad. Was ist aber ein Grad anderes als eine beurtheilbare und messbare Gr\u00f6\u00dfe?\nNun hat aber die Physik seit Alters her mit mehr oder minder gutem Erfolg, wenn auch scheinbar indirect, intensive Gr\u00f6\u00dfen, wie die Schwere, die elektromotorische Kraft, die Spannung, die Lichtst\u00e4rke, die W\u00e4rme, gemessen, und es musste daher die Ableugnung der Messbarkeit intensiver Gr\u00f6\u00dfen auf die rein psychischen Intensit\u00e4ten beschr\u00e4nkt werden. Aber auch hier besteht sie zu unrecht. Wenn man nachweisen kann, dass eine kleine leuchtende Fl\u00e4che, unbeschadet der genauen Erhaltung ihres Contrasteffectes, durch eine gr\u00f6\u00dfere von entsprechend geringerer Intensit\u00e4t ersetzt werden kann, so dass eine feste Reciprocit\u00e4t zwischen Intensit\u00e4t und Ausdehnung stattfindet, so hei\u00dft das doch nichts anderes, als dass die psychische Gr\u00f6\u00dfe der Lichtintensit\u00e4t und des Contrastes gemessen werden. Der Kampf gegen die Messung der Empfindung ist denn auch haupts\u00e4chlich von solchen gef\u00fchrt worden, die sich nicht selbst experimentell mit psychologischen Fragen befassten, und er wird heute nur von vereinzelten Au\u00dfenstehenden fortgesetzt. Die experimentelle Psychologie ist l\u00e4ngst \u00fcber diesen Streit hinweg zur Tagesordnung \u00fcbergegangen. Sie hat Probleme vorgefunden, die die bisherigen Wissenschaften nicht zu l\u00f6sen vermochten, ja, kaum ber\u00fchrt hatten. Sie hat gefunden, dass diese Probleme quantitativer Natur und der exacten messenden Behandlung f\u00e4hig sind, und sie hat sich unbefangen und unbek\u00fcmmert um die Angriffe von Seiten derer, die sich nicht die M\u00fche nehmen Einsicht in die Probleme zu erlangen, an die L\u00f6sung begeben.\nW\u00e4hrend die Psychologie ihre denkw\u00fcrdige Verwandlung aus einer abstracten und formalen philosophischen Disciplin in eine exacte Experimentalwissenschaft durchmacfite, w\u00e4hrend sie den Kampf um die Messbarkeit intensiver Gr\u00f6\u00dfen zu bestehen hatte und bestand, hat sich auch in derjenigen exacten Wissenschaft, die zugleich die K\u00f6nigin und die n\u00fctzlichste Dienerin aller anderen ist, in der Mathematik, ein folgenschwerer Umschwung vollzogen. W\u00e4hrend man schon lange des Besitzes einer rein arithmetischen Wissenschaft, einer reinen Gr\u00f6\u00dfenlehre sich r\u00fchmte, die sich von jeder Abh\u00e4ngigkeit von der r\u00e4umlichen Ausdehnung lossagte, und anderseits die Ausdehnung immer nur eine Unterabtheilung der Gr\u00f6\u00dfe blieb, entstand nun","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nA. Kirschmann.\nin der neueren synthetischen oder projectiven Geometrie eine neue Dis-ciplin, die im Gegensatz zur metrischen Raumlehre ohne Gr\u00f6\u00dfen und ohne Messung fertig zu werden vorgibt und einer neuen Auffassung Bahn bricht, wonach das Charakteristische der Ausdehnung als von dem Gr\u00f6\u00dfenbegriff unabh\u00e4ngig aufzufassen ist. Wach dem Vorg\u00e4nge von Felix Klein u. A. muss'die projectivische Geometrie geradezu als die allgemeine angesehen und der metrischen Raumlehre \u00fcbergeordnet werden.\nWenn nun auf Grund der theoretischen Errungenschaften der modernen Mathematik und der experimentellen der Psychologie die Frage der Messung noch einmal aufgerollt wird, so richtet sie sich nun nicht mehr auf die M\u00f6glichkeit der Messung des Intensiven, sondern sie muss, den Spie\u00df umkehrend, nunmehr lauten: \u00bbMessen wir denn im Grunde genommen je etwas anderes als intensive Gr\u00f6\u00dfen?\u00ab und \u00bbIst Ausdehnung \u00fcberhaupt Gr\u00f6\u00dfe, Quantit\u00e4t?\u00ab Versuchen wir im Nachstehenden diese radicale Umkehrung der Problemstellung zu begr\u00fcnden.\nZun\u00e4chst ist nicht einzusehen, warum die r\u00e4umlichen Eigenschaften der Empfindung weniger psychisch und mehr physisch sein sollen als die Intensit\u00e4t. S^st denn der Raum nicht subjectiv, im Kant\u2019schen Sinne? K\u00f6nnen wir je etwas wissen \u00fcber einen objectiv, d. i. unabh\u00e4ngig von unserem Bewusstsein existirenden Raum? Und ist im Sinne Wundt\u2019s die Intensit\u00e4t nicht, eben so gut wie die Ausdehnung, subjectiv und objectiv zugleich? Ist \u00fcberhaupt das Objective, das Physische, etwas anderes als eine gewisse Combination und mehr oder minder constante Beziehung von Bewusstseinsthatsachen ? Man mag in einem veralteten Lehrbuch der Psychologie den Satz finden: \u00bbUnsere Vorstellungen vom Raume sind selbst nicht r\u00e4umlich\u00ab, bei welchem wir uns heute nichts Vern\u00fcnftiges mehr denken k\u00f6nnen. Wenn aber in einem ganz modernen Buche, wie Stout\u2019s Analytical Psychology, sich \u00e4hnliches vorfindet, so muss das doch sehr Wunder nehmen. Stout sagt: \u00bbMeine Vorstellung von einem Dreieck ist nicht dreieckig\u00ab und er f\u00fcgt zur Erkl\u00e4rung hinzu \u00bbdenn sie ist nicht aus Linien und Winkeln zusammengesetzt.\u00ab Wenn Stout wenigstens gesagt h\u00e4tte: Das Ding an sich, welches das Dreieck (n\u00e4mlich meine Vorstellung) hervorruft, ist vielleicht selbst nicht dreieckig, so lie\u00dfe sich das noch verstehen, denn es hat gr\u00f6\u00dfere Leute gegeben die","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n313\nvon dem Ding an sich sprachen und auf derselben Seite bewiesen, dass man von dem Ding an sich \u00fcberhaupt nicht sprechen k\u00f6nne. Meine Vorstellung vom Dreieck ist doch das einzige Dreieck das ich kenne; und sie ist ganz gewiss dreieckig und aus Winkeln und geraden Linien zusammengesetzt. Es gibt f\u00fcr mich keinen andern Raum als den Raum meines Bewusstseins und ich kann mir auch beim besten Willen und bei gr\u00f6\u00dfter Anstrengung keine Vorstellung von einem andern machen.\nHat somit die r\u00e4umliche Ausdehnung bez\u00fcglich der Objectivit\u00e4t vor der Intensit\u00e4t der Empfindung nichts voraus, so f\u00e4llt der Vergleich hinsichtlich der Anwendung des Begriffs der Gjq\u00dfe noch ung\u00fcnstiger aus. Wenn man gesagt hat, dass die Empfindung als intensive Gr\u00f6\u00dfe der Messung nicht zug\u00e4nglich sei, so hat man dabei meist stillschweigend zwei v\u00f6llig grundlose und unberechtigte Annahmen gemacht; n\u00e4mlich erstens dass \u00bbGr\u00f6\u00dfe\u00ab (und darum auch \u00bbMessen\u00ab) ein letzter nicht weiter zerlegbarer Begriff sei, und zweitens, dass es auch andere als intensive Gr\u00f6\u00dfen gebe. Sehen wir zun\u00e4chst was man unter Gr\u00f6\u00dfe versteht. Man frage sich: K\u00f6nnte es eine Gr\u00f6\u00dfe allein geben? Offenbar nicht, denn nur durch den Vergleich mit etwas anderem wird etwas zur Gr\u00f6\u00dfe. Das Vergleichen selbst ist aber keineswegs ein einfacher Process ; es setzt das Unterscheiden voraus. Unter dem Unterscheiden verstehe ich nicht etwa das Ermitteln oder Bestimmen des Unterschieds, denn das ist ja gerade das Vergleichen, sondern den psychischen Befund: Dieses ist nicht das, es ist ein anderes. Nur was in irgend einer Weise verschieden ist, kann verglichen werden. Wenn zwei Bewusstseinsinhalte gar keine Verschiedenheiten aufwiesen, so w\u00e4ren sie identisch, d. h. sie w\u00e4ren gar nicht zwei Bewusstseinsinhalte, sondern einer und derselbe. Das Unterscheiden bezieht sich entweder auf die Qualit\u00e4t (wie bei gleichzeitig geh\u00f6rten T\u00f6nen oder Ger\u00e4uschen und bei Oomplicationen aus verschiedenen Sinnessph\u00e4ren) oder auf den Raum (wie bei der Unterscheidung simultaner sonst ganz gleicher Eindr\u00fccke) odgr endlich auf Qualit\u00e4t und Raum zugleich (wie bei der Unterscheidung der Farben). Intensit\u00e4ten k\u00f6nnen wir nur vergleichen, wenn sie zugleich r\u00e4umlich oder zeitlich getrennt oder qualitativ verschieden sind. Und dabei muss die zeitliche Trennung oder Unterscheidung zuletzt auch auf den Raum zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Eine rein zeitliche Reihe von","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nA. Kirschmann.\nverschiedenen Intensit\u00e4ten ist nur dadurch m\u00f6glich, dass die reproducirte Vorstellung des vorangegangenen Eindrucks entweder qualitativ von dem gegenw\u00e4rtigen ahweicht oder aber r\u00e4umlich neben ihr zum Vergleich gedacht wird. F\u00fcllte eine einzige Empfindung das ganze Bewusstsein aus, so k\u00f6nnten wir reine Intensit\u00e4ts\u00e4nderungen an ihr nicht wahrnehmen. Das ist die cons\u00e9quente Folge des Relativit\u00e4tsgesetzes, welches f\u00fcr alles, was den Charakter der Gr\u00f6\u00dfe besitzt, sei es qualitativer oder intensiver Natur, gelten muss. Damit ist aber keineswegs der in Beziehung zu anderen stehenden intensiven Gr\u00f6\u00dfe die M\u00f6glichkeit der stetigen Aenderung genommen, wie das Grassmann anzunehmen scheint, wenn er meint, dass \u00bbder Begriff der stetigen Aenderung des Elementes nur hei der Ausdehnungsgr\u00f6\u00dfe hervortreten\u00ab k\u00f6nne1).\nDas Vergleichen bezieht sich auf den Grad der Verschiedenheit2). Das fundamentale Urtheil lautet hier: Dieses ist gr\u00f6\u00dfer, mehr, oder kleiner, weniger als das. Es betrifft also die Intensit\u00e4t oder bei qualitativer Verschiedenheit den Grad der Aehnlichkeit. Nun behaupte ich: W\u00e4hrend sich das Unterscheiden immer auf qualitative oder Raumverschiedenheiten bezieht, ist das Vergleichen, welches die Unterscheidung nothwendig voraussetzt, stets eine Intensit\u00e4tsfrage, auch wenn es sich um extensive Gr\u00f6\u00dfen handelt. Wenn wir eine Strecke oder Entfernung gr\u00f6\u00dfer als eine andere wahrnehmen, so f\u00e4llen wir das betreffende Urtheil auf Grund der Intensit\u00e4t entweder direct bei der Wahrnehmung der zu vergleichenden Raumgr\u00f6\u00dfen betheiligter oder reproducirter Empfindungen specifischer Art (es bleibt sich hier gleich, welchen Namen dieselben tragen, Muskelempfindungen, Innervationsempfindungen, Bewegungsempfindungen u.s.w.). Auch bei den feinsten Pr\u00e4cisionsapparaten, bei welchen, wie man sich auszudr\u00fccken behebt, die Ungenauigkeit der menschlichen Sinnesund Bewegungsorgane eliminirt ist, liegt sowohl bei der Herstellung\n1)\tGrassmann, Die lineare Ausdehnungalehre (Ausgabe von Fr. Engel), S. 28.\n2)\tEs bleibt sieh bei dieser Betrachtung gleich, ob man die \u00bbVerschiedenheit\u00ab in dem gel\u00e4ufigen Sinne oder der ihr von Meinong gegebenen Bedeutung auffasst (Meinong, Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinne, XI, S. 81 ff.). Aber das \u00bbUnterscheiden\u00ab hat in dem hier angewandten Sinne mit dem \u00bbUnterschied\u00ab nichts zu thun. Es l\u00e4sst sich leider f\u00fcr diesen primitivsten psychischen Act nicht leicht ein anderes \"Wort finden.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Baumes.\n315\ndes Instruments wie bei der Ablesung in letzter Instanz eine solche Zuh\u00fclfenahme durch den Gesichts- oder Tastsinn vor. Das hat auch Meinong im Auge, wenn er sagt, dass jede Messung psychisch, nie rein physisch sei und dass gerade der psychische Antheil meist das Exacte ausmache1).\nEs gibt demnach keine rein extensiven Gr\u00f6\u00dfen. Was an der Ausdehnung Gr\u00f6\u00dfe ist, das ist im letzten Grunde doch Intensit\u00e4t. Das Charakteristische der Ausdehnung ist nicht Gr\u00f6\u00dfe. Alle Gr\u00f6\u00dfe setzt Intensit\u00e4t voraus, aber die Ausdehnung ist nicht ein specieller Fall der Gr\u00f6\u00dfe, obgleich sie die Gr\u00f6\u00dfenhetrachtung auch zul\u00e4sst.\nDas Messen oder die Bestimmung von Gr\u00f6\u00dfen ist kein einfacher Process, sondern setzt sich aus dem Unterscheiden und Vergleichen zusammen. Auch die Zahl ist das Product wiederholten Unterscheidens und Vergleichen. Kein Extensives l\u00e4sst sich zwar unterscheiden, aber nicht messen. Es ben\u00f6thigt den Hinzutritt des Intensiven, um Messung m\u00f6glich zu machen. Seihst wenn wir qualitativ Verschiedenes z\u00e4hlen, so kann das nur geschehen, indem wir die Einheiten vergleichend unter einem gemeinsamen, wenn auch noch so weiten Begriff zusammenfassen.\nDa nun das Vergleichen Unterscheiden voraussetzt, das Unterscheiden aber entweder qualitativ oder r\u00e4umlich ist, das Qualitative aber nur in so fern zur Behandlung als Gr\u00f6\u00dfe Anlass gehen kann, als es sich von irgend einem Standpunkte nach Art der Intensit\u00e4t betrachten l\u00e4sst, so setzt die Messung, obgleich sie sich auf die intensive Seite bezieht, doch die Extensit\u00e4t voraus. Die zu vergleichenden Dinge, das zu Messende und das Ma\u00df, m\u00fcssen extensiv getrennt sein, also r\u00e4umlich oder zeitlich. Wir haben aber weiter oben schon bemerkt, dass auch die Zeit, wenn als Ausdehnung betrachtet, auf den Kaum zur\u00fcckgef\u00fchrt werden muss. Wenn wir von der Zeit als Extension sprechen, so m\u00fcssen wir sie unter dem Bilde r\u00e4umlicher Ausdehnung vorstellen, und die Gesetze der Phoronomie besitzen Gewissheit nur, so weit die Zeit als r\u00e4umliche Gr\u00f6\u00dfe sich darstellen l\u00e4sst.\nWir sehen somit, die bisher so stark betonte Scheidung in extensive und intensive Gr\u00f6\u00dfen ist unhaltbar, weil den Thatsachen\n1) Meinong, Zeitschr. f. Psychol, u. Physiol, d. Sinne, XI, S. 230.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nA. Kirschmann.\nnicht entsprechend. Alle Gr\u00f6\u00dfe ist intensiv, und dennoch setzt sie die Ausdehnung, die extensive Trennung als conditio sine qua non voraus. Man kann daher auch nicht einfach mit Grassmann1) sagen, dass die intensive Gr\u00f6\u00dfe durch Erzeugung des Gleichen, die extensive, d. i. die Ausdehnung, durch Erzeugung des Verschiedenen entsteht, denn die Erzeugung des Gleichen setzt schon die Kaumverschiedenheit voraus. Aber bei Grassmann ist eben die Extension doch auch noch \u00bbGr\u00f6\u00dfe\u00ab. Die extensive Gr\u00f6\u00dfe, die fl\u00fcssig gewordene Combination, unterscheidet sich von der intensiven, der fl\u00fcssig gewordenen Zahl, durch das \u00bbAuseinandertreten\u00ab der Elemente2). Dieses Auseinandertreten der Elemente ist das was wir Ausdehnung nennen. Eine reine Gr\u00f6\u00dfenlehre unabh\u00e4ngig von der Ausdehnung (d. i. vom Kaum), wie so viele Analytiker sie zu besitzen w\u00e4hnen, ist demnach nicht m\u00f6glich. Auch die reine Zahl, sei sie quantitatives (Cardinalzahl) oder Ordnungsprincip (Ordinalzahl), sei ihre Keihe als stetige oder als discontinuirliche aufgefasst, enth\u00e4lt stets Ausdehnung und Intensit\u00e4t.\nEs ist eine andere Frage, ob eipe reine Ausdehnungslehre, eine Kaumlehre ohne jegliche Bezugnahme auf Gr\u00f6\u00dfe, m\u00f6glich ist. Da zwar die Gr\u00f6\u00dfe der Ausdehnung als Vorbedingung bedarf, nicht aber umgekehrt, denn das Charakteristische der Ausdehnung (d. i. des Raumes) ist nicht Quantit\u00e4t, sondern Qualit\u00e4t, und zwar eine von allen anderen Qualit\u00e4ten mehr verschiedene, als diese untereinander, n\u00e4mlich die Qualit\u00e4t, die sich nicht anders ausdr\u00fccken l\u00e4sst als: \u00bbdieser Ort im Raum ist nicht jener\u00ab, so darf diese Frage unbedingt bejaht werden. Eine solche Ausdehnungs- oder Kaumlehre ist sehr wohl m\u00f6glich. Sie hat sich jeglichen Gebrauchs der Gr\u00f6\u00dfenhegriffe zu begehen. In einer solchen nichtmetrischen Geometrie darf es zwar Punkte, Linien und Ebenen, d. i. Orte, Richtungen und Richtungssysteme geben, aber keine Distanzen und Winkelgr\u00f6\u00dfen. Es gibt in einer solchen Geometrie weder Gr\u00f6\u00dfe noch Aehnlichkeit von Figuren; denn von der Gestalt, die ja theilweise auf Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen beruht, kann nur noch die Collineation \u00fcbrig bleiben. In der That kommt die sogenannte Geometrie der Lage, die projective Geometrie\n1)\tGrassmann, Ausdehnungslehre I (Engl. Ausgabe), Einleitung, S. 26.\n2)\tEbenda, S. 27.","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n317\ntrotz ihrer zuweilen der metrischen Anschauung entlehnten Ausdrucksweise, einer solchen nicht messenden Ausdehnungslehre sehr nahe.\nWir haben im Vorstehenden gesehen, dass der Raum unserer Anschauung ein zweifaches enth\u00e4lt, ein ihm ureigenes Qualitatives, das sich nicht n\u00e4her bezeichnen l\u00e4sst \u2014 es ist eben das specifisch R\u00e4umliche, die Ausdehnung \u2014 und ein mit H\u00fclfe der Intensit\u00e4t in ihn hineingetragenes, die Gr\u00f6\u00dfe. Die qualitativ-quantitative Doppelnatur, der wir bei der psychologischen Untersuchung des Gesichtsund Tastraumes begegnen, und die ihre klassische Darstellung in Wundt\u2019s Theorie der complexen Localzeichen erhalten hat, m\u00fcssen wir also auch schon dem ohne R\u00fccksicht auf specielle Sinnesgebiete von rein erkenntnisstheoretischen und mathematischen Gesichtspunkten aus untersuchten Raume unserer Anschauung zuschreiben.\nErster Theil.\nUeber die Motive zur Annahme einer vierten und h\u00f6herer Dimensionen.\nWir sind gew\u00f6hnt, dem in unserer Sinnesanschauung gegebenen Raume drei Dimensionen zuzuschreiben, obgleich wir f\u00fcr die Dringlichkeit dieser Aussage zumeist keine andere Begr\u00fcndung als die allgemeine Gebr\u00e4uchlichkeit derselben zu erbringen verm\u00f6chten. Die elementare Mathematik macht in ihren S\u00e4tzen und Deductionen von dem Begriffe der Dimension keinen nennenswerthen Gebrauch, und man kann sich sehr wohl vorstellen, dass Jemand die niedere Mathematik, also neben der Arithmetik die Planimetrie, die ebene und sph\u00e4rische Trigonometrie und die Stereometrie ausgezeichnet beherrsche und anwende, ohne jemals von den drei Dimensionen des Raumes geh\u00f6rt zu haben.\nEs ist daher wohl werth zu untersuchen, ob der Begriff der Dimension und ihre Dreiheit mit Nothwendigkeit auf die oben erw\u00e4hnte qualitative Ureigenschaft des Raumes angewandt werden muss und unzertrennlich von ihr ist, oder aber, ob es sich um eine Eigenschaft handelt, die mit dem auf die Intensit\u00e4t gegr\u00fcndeten Begriff der Gr\u00f6\u00dfe zusammenh\u00e4ngt und mit diesem unvermeidlich eingef\u00fchrt werden muss, oder endlich, ob wir in der Dreidimensionalit\u00e4t lediglich","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nA. Kirschmann.\neine vom Gesichtspunkte des Oeconomieprincips mehr oder minder n\u00fctzlich erscheinende conventionelle^Annahme vor uns haben, die der Begr\u00fcndung in der Natur des Raumes ganz entbehrt.\nDie Dreidimensionalit\u00e4t des Raumes pflegt gew\u00f6hnlich auch von Seiten des Mathematikers als selbstverst\u00e4ndlich betrachtet zu werden und wird daher auch keiner eigentlich kritischen Er\u00f6rterung unterzogen. Der Begriff der Dimension gewinnt ein h\u00f6heres Interesse anscheinend erst da, wo man, \u00fcber die gegebene Raumanschauung hinausgehend, von Systemen und R\u00e4umen von mehr als drei Dimensionen redet. Es d\u00fcrfte sich daher empfehlen, ehe wir an unsere eigentliche Aufgabe, die erkenntnisstheoretische MtischeJhitereuclmng der r\u00e4umlichen Dimensionen herantreten, die Wege und Motive ins Auge zu fassen, die zu jenem Hinausgehen \u00fcber die Dreidimensionalit\u00e4t und zur Annahme von \u00bbh\u00f6heren Dimensionen\u00ab gef\u00fchrt haben, oder dazu f\u00fchren k\u00f6nnten.\nEs gibt vier verschiedene Standpunkte, die zur Construction metageometrischer Theorien Anlass gehen k\u00f6nnen: einen mystischen, einen psychologischen, einen naturwissenschaftlichen und einen mathematischen Standpunkt. Die von dem ersten und letzten dieser Gesichtspunkte Ausgehenden wandeln auf l\u00e4ngst ausgetretenen Pfaden; der psychologische Gesichtspunkt hat f\u00fcr Z\u00f6llner den Ausgangspunkt einer Theorie gebildet, und der naturwissenschaftliche Gesichtspunkt ist, trotzdem ihm im Grunde am meisten Berechtigung zuerkannt werden muss, nur ein m\u00f6glicher gehliehen, da er meines Wissens keinen Vertreter gefunden hat.\nI. Der mystische Gesichtspunkt.\nDer mystische Gesichtspunkt ist im wesentlichen identisch mit demjenigen der Spiritisten und durch die Schriften Z\u00f6llners und die sich daran kn\u00fcpfenden Controversen hinl\u00e4nglich bekannt. Wir d\u00fcrfen uns daher auf einige Bemerkungen beschr\u00e4nken, die that-s\u00e4chlich Unrichtiges in den Grundannahmen betreffen, und verweisen hinsichtlich der allgemeinen Ablehnung auf die Arbeiten von Wundt1), der in ebenso entscheidender wie humorvoller Weise die Absurdit\u00e4t\n1) Essays: Der Spiritismus.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n319\neines solchen Geisterlebens in der vierten Dimension dargethan hat. gs w\u00e4re in der That kein heneidenswerthes Leben nach dem Tode, wenn wir annehmen m\u00fcssten, dass die Seelen unserer liehen Abgeschiedenen gewisserma\u00dfen als Sclaven eines f\u00fcr Geld sich produ-cirenden spiritistischen Mediums auf dessen Befehl an Tische und W\u00e4nde klopfen, Ziehharmonikas spielen, in der fehlerhaften Orthographie des Mediums Geisterhandschriften auf Schiefertafeln schreiben, verwickelte Knoten l\u00f6sen und allerhand andere Kunstst\u00fcckchen ausf\u00fchren m\u00fcssten, die im Variete-Theater ein geschickter Zauberk\u00fcnstler ohne spiritistische Pr\u00e4tensionen meist besser macht. Aber, sagt man, die vierdimensionalen Geister sollen auch Gr\u00f6\u00dferes vollbringen, dessen der lediglich auf Sinnest\u00e4uschungen ausgehende Escamoteur nicht f\u00e4hig ist, sogenannte Materialisationen und Durchdringungen. Wenn wir einen Knoten (einen echten nat\u00fcrlich) in eine Schnur machen und dann die Enden der Schnur versiegeln, so k\u00f6nnen wir den Knoten nicht \u00f6ffnen, ohne die Siegel zu erbrechen. Oder wenn wir nach Anbringung d\u00e9s Knotens die Enden der Schnur zusammenwehen, so muss der nun entstandene Ring seinen Knoten behalten wie ein Helmholtz\u2019scher Wirbel. Nun wird behauptet, die Wesen der vierten Dimension k\u00f6nnten einen solchen dreidimensionalen Knoten, ohne die Siegel zu verletzen oder den Ring aufzuschneiden, durch \u00bbOircumversion\u00ab in der vierten Dimension mit derselben Leichtigkeit \u00f6ffnen, mit der wir mit H\u00fclfe der dritten Dimension eine \u00bbzweidimensionale Schleife\u00ab aufl\u00f6sen, ohne deren befestigte Enden anzutasten. Ein gewisser Herr Slade, der mit den Eigenschaften eines spiritistischen Mediums in hohem Grade diejenigen eines geschickten Taschenspielers verband, soll auch einmal in einer Sitzung vor einer Anzahl von ber\u00fchmten Leipziger Professoren seine Geister dazu vermocht haben, die erw\u00e4hnte vierdimensionale Knotenl\u00f6sung zu bewerkstelligen. Wenn ich mich aber recht erinnere, waren dabei auf Seiten der meisten anwesenden Gelehrten berechtigte Zweifel an der legitimen Herkunft des fraglichen Knotens entstanden.\nMan sagt: So wie etwaigen zweidimensionalen Wesen, die in einer Ebene existirten, die Oeffnung der Schleife ein Wunder bleiben musste, so ist f\u00fcr uns die L\u00f6sung des dreidimensionalen Knotens f\u00fcr immer unverst\u00e4ndlich. Aber diese Analogie ist eine durchaus schiefe und unberechtigte. Wenn wir die Schleife durch Herausnehmen aus der","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nA. Kirschmann.\nEbene in die ge\u00f6ffnete Curve \u00fcberf\u00fchren, so verschwindet sie theil-weise f\u00fcr die Dauer der Procedur aus der Ebene und kann so lange von den angeblichen zweidimensionalen Wesen nicht wahrgenommen werden. F\u00fcr diese imagin\u00e4ren Flachwesen m\u00fcsste ein St\u00fcck der Schleife f\u00fcr eine Zeit lang ganz aus ihrem Raume verschwinden und dann an einer anderen Stelle in ver\u00e4nderter Form wieder auftauchen. Ganz anders bei den vierdimensionalen Materialisationen der Geister. Da verschwinden die betreffenden Knotentheile u. s. w. nicht f\u00fcr eine Zeit lang aus dem dreidimensionalen Raume, um nachher in ver\u00e4ndertem Zustande wieder aufzutauchen, sondern sie m\u00fcssen w\u00e4hrend der Arbeit der Geister durch \u00fceberdecken eines Tuches oder durch Anwendung von Dunkelheit, also ganz nach Taschenspielerart, den Blicken der Zuschauer entzogen werden.\nDiese ganze Argumentation von dem Knoten und der Schleife leidet an einer falschen Pr\u00e4misse. Man sagt: Wir k\u00f6nnen durch Circumversion in der dritten Dimension eine zweidimensionale Schleife \u00f6ffnen und zwei congruente aber symmetrische Dreiecke zur Deckung bringen. Das ist einfach nicht wahr. Wir k\u00f6nnen es nicht. Ist die Schleife als ein Band von unendlich geringer Dicke oder der Dicke 0 gedacht, so hegen an der \u00bbKreuzungs\u00ab-Stelle nicht etwa zwei Fl\u00e4chen wie Riemann\u2019sche Spiralen \u00fcbereinander, sondern ein Theil der Gesammtfl\u00e4che ist beiden Aesten, wenn man \u00fcberhaupt ein Recht hat von solchen zu reden, gemeinsam. Selbst wenn es m\u00f6glich w\u00e4re, Fl\u00e4chen als solche durch den Raum zu bewegen, so m\u00fcsste doch ein Aufheben eines der beiden Aeste mit dem Zerrei\u00dfen der Schleife gleichbedeutend sein; denn man kann doch nicht gleichzeitig einen Theil aus einer Fl\u00e4che herausnehmen und denselben Theil auch darin lassen. Ist die Schleife aber nur eine Linie, so handelt es sich an der Ueberschneidungsstelle um einen gemeinsamen Punkt, f\u00fcr welchen dasselbe gilt wie f\u00fcr das gemeinsame Fl\u00e4chenst\u00fcck der breiten Schleife. Zwar pflegt man in der Mathematik zu sagen, dass bei Ber\u00fchrungen zweiter Ordnung die beiden sich treffenden oder schneidenden Curven nicht einen, sondern drei benachbarte Punkte gemein haben; aber das ist eine dem Princip der Einfachheit dienen sollende ungenaue Ausdrucksweise. Denn \u00bbbenachbarte Punkte\u00ab kann es \u00fcberhaupt nicht geben. Besteht zwischen zwei Punkten eine Entfernung, so sind sie nicht benachbart. Besteht aber keine Entfernung zwischen","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n321\ndenselben, so sind es nicht zwei Punkte, sondern nur einer. Ein Punkt also vertr\u00e4gt keine Nachbarn, und wenn man ihm welche in-sinuirt, und w\u00e4ren es eine ganze Million, so verschlingt er sie alle und wird dadurch doch nicht fetter. Es ist demnach klar, die Bewegungen, die man als Circumversion bezeichnet, k\u00f6nnen nur mit allseitig ausgedehnten k\u00f6rperlichen Dingen, nicht aber mit Linien und Fl\u00e4chen ausgef\u00fchrt werden. Es wird also in der dritten Dimension umgeklappt nur, was schon ohnehin dreidimensional ist. Wir k\u00f6nnen eine Schleife in einer Schnur, einem Bande, einem Stricke \u00f6ffnen, nicht aber eine solche in einer mathematischen Linie. Ja, es gibt \u00fcberhaupt keine solche zweidimensionale Schleife. Wenn wir in der Ebene von Schleifen sprechen, so tragen wir unberechtigter Weise dreidimensionale Associationen hinein in das, was in Wirklichkeit nur eine Zusammenstellung von Linien und geschlossenen Curven ist. Ebenso k\u00f6nnen wir symmetrische congruente Dreiecke nur dann durch Umklappen zur Deckung bringen, wenn dieselben als Grenzfl\u00e4chen an k\u00f6rperlichen Dingen auftreten. Es ist wichtig, sich hier dar\u00fcber klar zu werden, dass man nicht allein solche Bewegungen mit Linien und Fl\u00e4chen nicht ausf\u00fchren kann; man kann sich dieselben auch bei gr\u00f6\u00dftm\u00f6glicher Abstraction nicht einmal denken. Ist es aber schon unm\u00f6glich, zweidimensionale Gebilde in der dritten Dimension umzukehren oder den Process ihrer Umkehrung zu denken, so kann es auch keinen vern\u00fcnftigen Sinn haben, diesen Umkehrungsprocess auf eine vierte und weitere Dimensionen auszudehnen.\nII. Der psychologische Gesichtspunkt.\nAuf psychologischer Grundlage entsteht ein Motiv f\u00fcr die BLyposta-sirung h\u00f6herer Dimensionen aus der sehr verbreiteten Annahme, dass der Baum unserer Wahrnehmungen, der Yertheilung und Anordnung der percipirenden Endorgane des Gesichts- und Tastsinnes entsprechend, direct nur zweidimensional sei, w\u00e4hrend die dritte Dimension das Product eines auf Bewegung und Doppelauge zur\u00fcckzuf\u00fchrenden Schlussj,erfahrens bilde. Bei Z\u00f6llner, der diese Anschauung adoptirt hat, ist der weitere Gedankengang ungef\u00e4hr der folgende: Die dritte Dimension, die Tiefe, ist nur erschlossen, construirt, nicht W u n d t, Philos. Studien. XIX.\t21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nA. Kirschmann.\nwirklich gegeben. Sind wir aber bef\u00e4higt, eine nicht actuell gegebene Dimension \u00fcber die beiden in der thats\u00e4chlichen Erfahrung vorhandenen hinaus, zu construiren, so sollte uns doch eigentlich nichts verhindern k\u00f6nnen, den Process des Schlie\u00dfens und Construirons noch weiter fortzusetzen und zur Annahme einer vierten, f\u00fcnften, u. s. f. Dimension zu schreiten. Dieser Schluss ist ganz plausibel und sogar unanfechtbar, so lange kein Zweifel hinsichtlich der Pr\u00e4missen besteht. Die Pr\u00e4missen bestehen aus Annahmen, welche die ganze empirjstisclie und ein Theil der nativisjjschen Schule mit Bezug auf die Theorie des Baumes vertritt. Mit diesen Annahmen steht und f\u00e4llt also auch der Z\u00f6llner\u2019sche Schluss. Ganz so leicht wie Hermann Schubert1) sich die Sache denkt, ist das Argument Z\u00f6llner\u2019s nicht aus dem Felde zu schlagen. In einem Artikel \u00fcber die vierte Dimension argumentirt Schubert ungef\u00e4hr wie folgt: Alle k\u00f6rperlichen Processe sind dreidimensional, der photochemische Process in der Betina macht davon keine Ausnahme. Das Betinabild hat wie alle Bilder eine wenn auch geringe Dicke und ist daher keineswegs rein fl\u00e4chenhaft. Nur mittelst einer Abstraction geben wir ihm in unserem Bewusstsein eine verschwindend geringe Dicke. Es ist wohl kaum nothwendig, eine auf so grober materialistischer Verwechselung des psychischen Thatbestandes und der k\u00f6rperlichen Parallelvorg\u00e4nge beruhende Darstellung zu widerlegen. Selbst wenn wir die Betinavorg\u00e4nge direct wahrzunehmen verm\u00f6chten (wie es ja theilweise bei den entoptischen Erscheinungen und dem Eigenlicht der Netzhaut der Fall ist) und selbst wenn diese Wahrnehmung sich auch auf die Tiefe der betreffenden Processe erstreckte, so best\u00e4nde zwischen dieser Dreidimensionalit\u00e4t und derjenigen der wahrzunehmenden Objecte der Au\u00dfenwelt noch gar kein Zusammenhang. Die fl\u00e4chenhafte Natur des Sehfeldes anzuzweifeln h\u00e4tten wir damit noch kein Becht.\nWir haben also die Frage zu untersuchen, ob die Annahme, dass das direct Gegebene zweidimensional sei, zutrifft oder nicht. F\u00fcr die reinen^Empiristen, nach welchen die ganze Baumanschauung etwas Gewordenes, nicht urspr\u00fcnglich Gegebenes ist, hat die Frage nicht dieselbe Wichtigkeit wie f\u00fcr die Nativisten. Dennoch aber beansprucht\n1) The Monist, vol. III, p. 433 ff.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n323\nauch f\u00fcr sie das gewordene El\u00e4chgnhafte einen h\u00f6heren Grad von Unmittelbarkeit, oder besser einen geringeren Grad von Mittelbarkeit als die gewordene Tigfe. Wundt\u2019s genetische Theorie passt weder in die Schablone des Empirismus noch in die des Nativismus, da auch seine Raum th\u00e9orie von dem Grundgedanken seiner Theorie des psychischen Geschehens durchdrungen ist; dem Gedanken n\u00e4mlich, dass f\u00fcr das psychische Geschehen das Gesetz der Erhaltung der Energie, der Satz von der Aequivalenz von Ursache und Wirkung, nicht gilt. Das psychische Gewordene enth\u00e4lt mehr als das Product der Zusammenwirkung seiner Ursachen. Wie bei allen gro\u00dfen Neuerungen, so passt auch hier das bisherige Schema der Classification nicht mehr. Auf denjenigen Theil des Gewordenen, der sich nicht aus den Bedingungen seines Werdens ableiten l\u00e4sst, lassen sich die gewohnten Begriffe wie \u00bba priori\u00ab, \u00bb a posteriori\u00ab, \u00bbangeboren\u00ab und \u00bbaus der Erfahrung stammend\u00ab nicht mehr anwenden.\nVon den Natijjsten kommen hier nur diejenigen in Betracht, die nicht drei, sondern nur z^ei Dimensionen als ursprjjnglich gegeben erachten, w\u00e4hrend sie die dritte empirjgtisch erkl\u00e4ren. Hierher geh\u00f6ren Max Kauffmann und Ebbinghaus, der in seiner Psychologie einem solchen partiellen Nativismus angelegentlich das Wort redet.\nBei dieser Gelegenheit muss ich bemerken, dass mir die Gegen-/ \u00dcberstellung von nativistischen und empiristischen Theorien im Grunde genommen nicht recht verst\u00e4ndlich erscheint. ErsJJjch sind die Begriffe \u00bbangeboren\u00ab und \u00bbin der Erfahrung erworben\u00ab doch sehr com-plicirter Natur, und es ist daher nicht ohne weiteres sicher gestellt, dass sie selbst ohne Zuh\u00fclfenahme der fertigen r\u00e4umlichen Anschauung \u00fcberhaupt eine Bedeutung haben; jedenfalls m\u00fcssten sie darauf hin erst gr\u00fcndlich untersucht werden. Zweitens aber schlie\u00dfen sich diese Begriffe gar nicht gegenseitig aus; ganz abgesehen davon, dass die nativistische und empiristische Schule sich gegenseitig weitgehende Concessionen machen. Das Angeborene ist doch auch geworden und ' erworben, wenn das individuelle Bewusstsein \u00fcberhaupt einen Anfang hat; und das durch die Erfahrung Erworbene muss doch potentiell auch angeboren sein, um \u00fcberhaupt erfahren werden zu k\u00f6nnen. Ist beispielsweise die Earhenqualit\u00e4t Roth angeboren oder erworben? Sie ist beides; denn wenn sie potentiell nicht angeboren ist (wie heim Rothgr\u00fcn-Blinden), dann kann keine Erfahrung sie erzeugen; und","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nA. Kirschmann.\nanderseits ist sie erst vorhanden, wenn sie wirklich erlebt wird. Was Raum und Zeit zu universalen Formen der Anschauung macht, ist nicht dass sie vor und au\u00dfer aller Erfahrung \u2014 denn diese Begriffe sind ja seihst nur zeitliche und r\u00e4umliche Bestimmungen in der Erfahrung \u2014 sondern, wie Wundt gezeigt hat, stets und \u00fcberall mit der Erfahrung gegeben sind.\nEin folgenschwerer .Irrthum wird von vielen Vertretern der nati-vistischen und empiristischen Ansicht begangen, indem sie den Raum unserer Wahrnehmung ganz oder zum Theil aus der r\u00e4umlichen Anordnung der empfindenden Elemente der Retina und der Haut ahleiten, die doch schon den ganzen Raum voraussetzt. Entweder nehmen sie einen objectiven Raum als gegeben an und wollen dann nur die Zuordnung zwischen r\u00e4umlichen Objecten und r\u00e4umlicher Wahrnehmung erkl\u00e4ren, wozu es denn doch eigentlich keiner er-kenntnisstheoretischen und metaphysischen Theorien, sondern lediglich der Geometrie und der psychologischen Optik bedarf. Oder aber sie berufen sich auf Kant\u2019s Lehre von der Subjectivit\u00e4t des Raumes und bewegen sich mit ihrer Erkl\u00e4rung im Zirkel.\nWenn man ohne R\u00fccksicht auf die schiefe Unterscheidung des Nativismus und Empirismus das Raumproblem untersucht, so st\u00f6\u00dft man zuletzt auf drei Grundprohleme :\n1.\tDas metaphysisch-erkenntnisstheoretische Problem, welches die subjective oder objective, die relative oder absolute Natur des Raumes betrifft. Die erste^,Frage lautet hier: Ist der Raum subjectiv oder k\u00f6nnen wir etwas von einem objectiven Raume wissen ?\n2.\tDas erkenntnisstheoretisch-psychologische Problem der elementaren oder complexen Natur des Raumes, dessen Hauptfrage lautet: Ist der gegebene Raum einfach und daher nicht definirbar und nicht erkl\u00e4rbar, oder l\u00e4sst er sich aus anderen, nicht r\u00e4umlichen Bewusstseinselementen ableiten?\n3.\tDas psychologisch-physiologische Problem der Ordnung unserer r\u00e4umlichen Wahrnehmung: Es lautet in seiner allgemeinste!).. Jform: Welches sind die Thatsachen und Gesetze, die der eindeutigen und widerspruchslosen Zuordnung der r\u00e4umlichen Wahrnehmungen zu einander und zu den \u00fcbrigen Bewusstseinsinhalten zu Grunde liegen?","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Baumes.\n325\n[Jeher das erste Problem k\u00f6nnen wir hier ganz fl\u00fcchtig hinweggehen. Es muss, soweit es die Wissenschaft angeht, seit Kant als gel\u00f6st betrachtet werden.\u00bb Der Raum ist eine Bewusstseinsthatsache und von einem anderen Raume wissen wir nichts; obgleich wir in dieser Beziehung glauben d\u00fcrfen was wir wollen, wenn es keinen Widerspruch enth\u00e4lt. Die Dinge der Au\u00dfenwelt, auch wenn wir sie ganz unabh\u00e4ngig von uns zu denken suchen, sind doch, so weit wir mit Gewissheit Aussagen \u00fcber sie machen k\u00f6nnen, nichts als Verkn\u00fcpfungen von Bewusstseinsthatsachen. Von einem absolut Objectiven, also ohne jegliche Beziehung zum Bewusstsein Bestehenden, k\u00f6nnen wir nichts wissen ; ja wir k\u00f6nnen es nicht einmal in unserer Phantasie ber\u00fchren; denn sobald wir es k\u00f6nnten, n\u00e4hme das Objective ja Theil am Bewusstsein. Es hat daher auch gar keinen Werth, das Wort objectiv in einem anderen Sinne als dem der Wundt\u2019schen Lehre vom Vorstellungsobject zu nehmen, wo unter dem Objectiven, im Gegensatz zu dem anschaulich Subjectiven, das Product einer begrifflichen Abstraction und Construction zu verstehen ist. Von diesem Standpunkte aus ist der Raum unserer Anschauung zugleich sub-jectiv und objectiv.\nMit Bezug auf das zweite Problem glaube ich allerdings, dass alle Versuche den Raum aus etwas Elementarerem, Unr\u00e4umlichem, herzuleiten, als verfehlt angesehen werden m\u00fcssen. Man kann diese Versuche in dreij^ruppen einreihen. Zu der ersten Gruppe geh\u00f6ren alle die Theorien, die den Raum auf die \u00bbEinheit oder Untheilbarkeit der Seele\u00ab, oder eine \u00e4hnliche allgemeine Eigenschaft des Bewusstseins zur\u00fcckzuf\u00fchren suchen. Solche aus den Tagen der rationalen Psychologie \u00fcberkommene Ansichten besitzen jedoch heute keinen h\u00f6heren Werth als etwa der Versuch, die Qualit\u00e4t Gr\u00fcn aus dem Begriffe der Farbe abzuleiten, und bed\u00fcrfen kaum einer kritischen Widerlegung.\nIn die zweite Gruppe fallen die Bestrebungen, das Specifische der Raumausdehnung auf \u00bbReihen\u00ab, \u00bbBewegung\u00ab, \u00bbdie Zeit\u00ab zur\u00fcckzuf\u00fchren. Diese Annahmen m\u00fcssen sich nothwendig im Zirkel bewegen, denn alle diese Begriffe, einerlei ob man dabei \u00fcberhaupt nicht an Ausdehnung denkt, oder ob sie einen allgemeinen Fall der Ausdehnung repr\u00e4sentiren sollen, setzen den Raum voraus. Bei Reihen erscheint das zwar auf den ersten Blick am wenigsten plausibel.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nA. Kirschmann.\nMan sagt, es gebe rein zeitliche Reihen. Das muss aber bestritten werden. Denn die Zeit kann nur insofern als ausgedehnt betrachtet werden, als sie nach Analogie des Raumes aufgefasst wird. Es ist nicht richtig, dass die Zeit sich uns als eindimensionales Gebilde pr\u00e4sentirt oder dass wir sie als \u00bbeindimensionales Erstrecken\u00ab erleben1). Die Vergangenheit, so weit sie Gegenstand des Wissens, ist gegenw\u00e4rtig als Bewusstseinszustand, als ein Theil des Jetzt, das gar keine Zeit ist2). Gegeben ist immer nur das Jetzt. So weit die raumpercipirenden Sinne in Frage kommen, besteht dieses Jetzt zu einem Theil aus Vorstellungen mit fester widerspruchsloser r\u00e4umlicher Localisation, die wir gew\u00f6hnlich \u00bbwirkliche\u00ab Eindr\u00fccke, Wahrnehmungen zu nennen pflegen, und anderseits aus Vorstellungen, die zwar ebenso wohl wirklich und unmittelbar gegeben sind, die aber, obgleich r\u00e4umliche Eigenschaften aufweisend, die Eigenschaft der widerspruchslosen Localisation im Raume nicht besitzen, und die au\u00dferdem, obschon das nicht als wesentliches Merkmal gelten kann, oft an Intensit\u00e4t hinter den ersteren zur\u00fcckstehen. Diese letzteren pflegt man gew\u00f6hnlich mit dem Namen Erinnerungsbilder oder reproducirte Vorstellungen zu belegen. Die Vergangenheit und Zukunft sind nur, so weit sie Theile der Gegenwart sind, Wahrnehmung, Wissen, Gewissheit, im Uebrig.en aber Sache des Glaubens.\nAber selbst wenn die Zeit ohne Analogie mit dem Raume ein Ausgedehntes w\u00e4re, so g\u00e4be es dennoch keine rein zeitlichen Reihen. Der Wechsel der Glieder einer Reihe kann sich bei Ausschluss von Raumverschiedenheiten nur so vollziehen, dass da, wo erst a war, nachher b sich befindet. Eine successive Reihe von Gesichtseindr\u00fccken ^muss also mindestens irgendwo im Raume localisirt werden, und die Eindr\u00fccke m\u00fcssen r\u00e4umliche Gr\u00f6\u00dfe haben. Auch die \u00fcbrigen Sinnesempfindungen, selbst die Gemeinempfindungen, werden stets, wenn auch schwach und undeutlich r\u00e4umlich \u2014 entweder innerhalb oder au\u00dferhalb des eigenen K\u00f6rpers \u2014 localisirt. - Und wenn auch einmal ein Geh\u00f6rseindruck nicht in bestimmte Richtung verlegt werden kann, so wird er doch au\u00dferhalb oder innerhalb des K\u00f6rpers in den umgebenden Raum versetzt.\nDie Zeit ist demnach nicht geeignet als allgemeinere Voraussetzung\n1)\tEbbinghaus, Psychologie 1, S. 428.\n2)\tVgl. auch Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, II, S. 12.","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n327\nzu dienen, aus der der Raum als weniger elementare Erscheinung abzuleiten w\u00e4re. Im Gegentheil, sobald man die Zeit, das Princip oder Schema der Ver\u00e4nderung im Raume, selbst als etwas Ausgedehntes z\u00fc betrachten w\u00fcnscht, so ist dies nur m\u00f6glich, wenn sie nach Analogie des Raumes aufgefasst wird.\nIn die dritte Gruppe geh\u00f6ren die Ansichten, die den Raum auf rein intensive oder qualitative Verschiedenheiten zur\u00fcckf\u00fchren wollen. Hierher geh\u00f6ren die Localzeichen-Theorien, soweit sie \u00fcberhaupt nicht nur die Ordnung im Raume, sondern auch den Raum selbst erkl\u00e4ren wollen. Auch diese Theorien sind, soweit sie zur Intensit\u00e4t ihre Zuflucht nehmen, als ganz, soweit sie auf die Qualit\u00e4t zur\u00fcckgehen, aber mindestens als zum Theil verfehlt anzusehen. Wir haben weiter oben schon gesehen, dass rein intensive Unterschiede nur unter gleichzeitiger Annahme extensiver Trennung m\u00f6glich sind. Damit ist die Reduction des R\u00e4umlichen auf rein Intensives ausgeschlossen. Beruht aber das r\u00e4umliche Nebeneinander auf qualitativen Verschiedenheiten, so ist nicht einzusehen, warum diese qualitativen Verschiedenheiten nicht, wie andere Qualit\u00e4ts-Unterschiede, wahrgenommen werden als das, was sie sind. Ist es endlich die Verschmelzung dieser qualitativen mit intensiven Elementen, die das R\u00e4umliche der Empfindung zur Folge hat oder ausmacht, so bleibt es unerkl\u00e4rlich, warum nicht manchmal auch andere qualitativ-intensive Verschmelzungen, wie z. B. im Gebiete des Geh\u00f6rsinnes, als r\u00e4umlich ausgebreitet erscheinen. Es m\u00fcsste also zu der qualitativen Verschiedenheit, zu der qualitativintensiven Verschmelzung noch eine Extra-Eigenschaft hinzutreten, die sie von anderen Quaht\u00e4ts-Verschiedenheiten oder von anderen Verschmelzungen qualitativ-intensiver Art specifisch verschieden machte. Will man das aber einmal zugeben, dann darf man auch gleich hinzuf\u00fcgen, dass diese specifische Extra-Eigenschaft gerade das eigentlich R\u00e4umliche ausmache. Und dann ist die ganze Zur\u00fcckf\u00fchrung auf Qualit\u00e4t oder Verschmelzung vergeblich gewesen. Jede Art von \u00bblocaler F\u00e4rbung\u00ab, man m\u00f6ge dieselbe definiren, wie man will, setzt den Raum doch schon voraus. Die Wundt\u2019sehe Localzeichentheorie, die, wie wir sehen werden, zur L\u00f6sung des dritten Problems Ausgezeichnetes leistet, bedarf daher einer gewissen Modification, um sie auch, von dem hier vertretenen erkenntnisstheoretischen Gesichtspunkte aus betrachtet, hinsichtlich des zweiten Problems unantastbar","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nA. Kirschmann.\nzu machen. Man muss zu diesem Zwecke die Bestimmung fallen lassen, dass die specifischen qualitativen Verschiedenheiten, die die locale F\u00e4rbung ausmachen, urspr\u00fcnglich unr\u00e4umlicher Natur seien. Man muss im Gegentheil annehmen, dass diese Qualit\u00e4tsunterschiede von allen anderen Qualit\u00e4ts-Verschiedenheiten toto genere verschieden sind. Mit anderen Worten, man muss annehmen, dass die Verschiedenheit zwischen allen anderen Qualit\u00e4ten einerseits und diesen die Raumvorstellung bedingenden Qualit\u00e4ten anderseits eine Verschiedenheit h\u00f6herer Ordnung bilde. Dann aber hindert uns auch nichts, zuzugeben, dass diese ganz specifischen Qualit\u00e4ten und Qualit\u00e4tsunterschiede eben gerade das Charakteristische des R\u00e4umlichen, der Ausdehnung, sind. Diese urspr\u00fcnglichen Raumqualit\u00e4ten haben allerdings nichts von Gr\u00f6\u00dfe, Entfernung etc. an sich; aber sie sind es gerade, die das Urtheil \u00bbdieses Ding ist nicht jenes Ding\u00ab, auch wenn sich die beiden Dinge sonst aufs Haar gleichen, m\u00f6glich macht. So geht auch hier, wie Natorp1) sich ausdr\u00fcckt, die Qualit\u00e4t der Quantit\u00e4t voran.\nMit anderen Worten: Als das Charakteristische der Ausdehnung darf nicht die Gr\u00f6\u00dfe, die auf der Intensit\u00e4t beruht, angesehen werden, sondern etwas Qualitatives, das sich nicht anders (und auch dann nur unvollkommen) ausdr\u00fccken l\u00e4sst, als durch S\u00e4tze wie: Dieses ist nicht das, dieser Ort ist nicht jener Ort, diese Richtung ist nicht jene u. s. w. Der Qualit\u00e4tsbereich, der von allen anderen Qualit\u00e4ten, also den Sinnes- und Gef\u00fchls- Qualit\u00e4ten, in h\u00f6herem Ma\u00dfe und auf andere Weise verschieden ist, als diese untereinander, das ist eben der Raum. Er ist schlechterdings einfach und direct gegeben und kann daher niemals definirt (d. h. beschrieben) oder erkl\u00e4rt (d. h. auf Einfacheres zur\u00fcckgef\u00fchrt) werden. Es m\u00fcssen daher auch alle Versuche, den Raum aus Nichtr\u00e4umlichem abzuleiten, entweder den Stempel der Willk\u00fcr und des Zirkelschlusses sichtbar auf der Stirn tragen oder aber zu unl\u00f6sbaren Widerspr\u00fcchen f\u00fchren.\nWas das dritte Problem, die eindeutige und widerspruchslose Ordnung der r\u00e4umlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen, anbelangt, so ist unzweifelhaft, wie schon oben angedeutet, die Wundt-sche Theorie als die ungezwungenste und nat\u00fcrlichste zu betrachten.\n1) Natorp, Zu den logischen Grundlagen der neueren Mathematik, III. Arch. f. syst. Philos., VIE, S. 373.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n329\nDie Theorie der complexen Localzeichen1) leistet das denkbar M\u00f6gliche und l\u00e4sst auch hinsichtlich der verwickelteren Fragen des Gesichtssinnes, \u25a0 der hinocularen und monocularen2) Tiefenwahrnehmung kaum etwas zu w\u00fcnschen \u00fcbrig.\nAlle Einordnung unserer Wahrnehmungen in den Raum findet statt auf Grund des Zusammenwirkens der urspr\u00fcnglich gegebenen Ausdehnungsqualit\u00e4ten mit verschiedenen Systemen intensiver Elemente. Auf Grund der ersteren unterscheiden wir von vornherein Orte, Richtungen; mit H\u00fclfe der letzteren beurtheilen, sch\u00e4tzen oder messen wir Gr\u00f6\u00dfen und Entfernungen. Die r\u00e4umliche Unterscheidung ist, wenn ich mich der bisher gebr\u00e4uchlichen Bezeichnungen bedienen soll, angeboren, a priori; die auf der Vergleichung von Intensit\u00e4ten beruhende Einordnung nach Gr\u00f6\u00dfe, Entfernung u. s. w. ist a posterori, in der Erfahrung erworben. Wir haben weiter oben schon gesehen, dass die Ausdr\u00fccke \u00bbangeboren\u00ab und \u00bberworben\u00ab erkenntnisstheoretisch unstatthaft sind. Dasselbe muss trotz seiner Gebr\u00e4uchlichkeit von dem Begriffspaare a priori und a posteriori gesagt werden. Sollen diese Begriffe nicht rein zeitlich genommen werden, so m\u00fcssen sie unter Bezugnahme auf die Unabh\u00e4ngigkeit und Abh\u00e4ngigkeit von der Erfahrung definirt werden. Die \u00bbErfahrung\u00ab aber ist neben der \u00bbRealit\u00e4t\u00ab der unberechtigtste, vageste und tr\u00fcgerischste Begriff, den die Philosophie aufzuweisen hat, und selbst Kant hat ihn, ohne es zu merken, in verschiedenen Bedeutungen verwandt. Beide Begriffe, \u00bbRealit\u00e4t\u00ab (Wirklichkeit) und \u00bbErfahrung\u00ab m\u00fcssen entweder in einer, jeder Begr\u00fcndung unf\u00e4higen, ganz willk\u00fcrlichen Weise definirt werden, oder aber sie lassen sich auf alles anwenden, den Widerspruch (der nach meiner Ansicht immer das Product der L\u00fcge ist3)) ausgenommen. Wollen wir also diese ebenso fragw\u00fcrdigen wie landl\u00e4ufigen Gebrauchsst\u00fccke philosophischer Argumentation umgehen, so lie\u00dfe sich das Gesagte folgenderma\u00dfen fassen: Die Ausdehnung, d. i. das Charakteristische, Qualitative der Raumanschauung ist schlechthin urspr\u00fcnglich, einfach und unzerlegbar. Die Einordnung der Erlebnisse in den Raum geschieht unter der Zusammenwirkung von Ausdehnung und Gr\u00f6\u00dfe;\n1)\tWundt, Physiolog. Psychologie, 4. Auf!., II, S. 232ff.; Logik I, S. 512ff.\n2)\tVgl. meine Abhandlung \u00fcber die Parallaxe des indirecten Sehens. Philos. Stud., IX, S. 447\u2014495.\n3)\tC. E. Rasius, Rechte und Pflichten der Kritik 1898, S. 117ff.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nA. Kirschmann.\nsie ist complex und der Differenzirung und Entwickelung f\u00e4hig. (Damit ist nat\u00fcrlich nichts gegen die Apodicticit\u00e4t der die Gr\u00f6\u00dfen Verh\u00e4ltnisse betreffenden mathematischen Theoreme ausgesagt.)\nDie von den Vertretern der Herbart\u2019schen Schule in negativem, von Lotze, Wundt und Ebbinghaus aber im positiven Sinne beantwortete Frage, ob das in bewegungsloser Umgebung in absoluter Ruhe befindliche Auge r\u00e4umlich sehen w\u00fcrde, muss daher im Sinne-der letzteren Ansicht entschieden werden. Ein solches Auge h\u00e4tte zwar keinerlei Veranlassung, Beurtheilungen \u00fcber Gr\u00f6\u00dfe und Entfernung anzustellen. Der r\u00e4umlichen Unterscheidung aber w\u00e4re es r von vornherein ebenso f\u00e4hig wie der Unterscheidung von Hell und Dunkel, Roth und Blau. Es k\u00f6nnte von Anfang an wahrnehmen: Dieser Punkt ist nicht jener Punkt; diese Richtung ist eine andere als jene; dieser Punkt oder diese Richtung liegt zwischen jenen Punkten oder Richtungen. Das sind denn auch in der That die letzten Grundthatsachen, von denen die neuesten Behandlungen der Grundlagen der Raumlehre ausgehen1).\nDie angeregte Frage wird gew\u00f6hnlich nur mit R\u00fccksicht auf die fl\u00e4chejnhafte Ausdehnung des Gesichts- und Tastfeldes aufgeworfen. Wie steht es nun damit bei Hinzuziehung der dritten Dimension? Diese Frage aber f\u00fchrt uns zu unserem speciellen Probleme zur\u00fcck, zu der Behauptung Z\u00f6llner\u2019s, dass die Art und Weise, wie wir zur dritten Dimension gelangen, auch die Annahme einer vierten recht-fertige oder gar fordere.\nDie fl\u00e4chenhafte Natur des Gesichtsraumes ist von Max Kauf f-mann2) und neuerdings von Ebbinghaus3) betont worden, welcher - dabei die zweidimensionale Raumanschauung als etwas Urspr\u00fcngliches und Elementares annimmt. Er denkt sich die urspr\u00fcngliche Fl\u00e4chenwahrnehmung analog derjenigen, die wir haben, wenn wir in eine durchsichtige Fl\u00fcssigkeit, in die Finsterniss eines Zimmers, in einen dicken Nebel, gegen den Himmel oder in die Gluth einer gro\u00dfen Flamme blicken4). Aber wenn nicht sichtbare Verschiedenheiten,\n1)\tDavid Hilbert, Grundlagen der Geometrie. Festschrift zur Enth\u00fcllung des Gau\u00df-Weber-Denkmals in G\u00f6ttingen. 1899.\n2)\tImmanente Philosophie. S. 10 ff.\n3)\tPsychologie, I, S. 440.\n4)\tEbenda, S. 428.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n331\nkleine Helligkeits- oder Qualit\u00e4tsunterschiede, im Falle des dunklen Schachtes oder Zimmers z. B. durch die am Rande sich allm\u00e4hlich verlierende Helligkeit der W\u00e4nde hervorgerufen, auf eine Tiefe hin-weisen, so sind diese Eindr\u00fccke doch von anderen zweidimensionalen nicht verschieden. Die Gluth wird als helle orangegelbe Fl\u00e4che, der Nebel als graue und der Schacht als schwarzer Fleck gesehen. Der ann\u00e4hernd lichtlose Schacht ist wohl viel \u00bbschw\u00e4rzer\u00ab als ein gemalter, der ja doch besten Falles nur dunkelgrau ist und noch die Schatten auf sich erkennen l\u00e4sst *), aber er erscheint, wenn man das, was man thats\u00e4chlich wahrnimmt, nicht f\u00e4lschlich durch das, was man zu wissen glaubt, corrigirt, rein fl\u00e4chenhaft. Ich habe mich davon einmal durch ein Scherzexperiment \u00fcberzeugt, das ich bei Gelegenheit einer jener Festlichkeiten, wie wir sie jeden Winter einmal in der Universit\u00e4t zu Toronto ahzuhalten pflegen, anstellte. Da sich unter den G\u00e4sten auch eine Anzahl K\u00fcnstler befanden, so hatte ich eine Reihe von Helligkeitsstufen der farblosen Empfindungsreihe ausgestellt; sie bestand mit zwei Ausnahmen aus Pigmentpapieren, vom besten Wei\u00df beginnend. Das drittletzte Glied war ein gutes schwarzes Papier, das vorletzte schwarzer Sammt, und das letzte war eine Oeffnung in einen ganz dunklen Raum. Diese Oeffnung unterschied sich ebenso gut von dem schwarzen Sammt, wie der letztere von dem schwarzen Papier. In einer dar\u00fcber angebrachten Inschrift war auf die Wiedergabe dieser .Intensit\u00e4tsreihe in ihren richtigen Helligkeitsverh\u00e4ltnissen mittelst Wasserfarben auf Papier oder Oelfarben auf Leinwand eine Belohnung von 100000 Dollars ausgesetzt. Bei weitem der gr\u00f6\u00dfte Theil der Beschauer verstand das Problem \u00fcberhaupt nicht. Sie hielten die Oeffnung f\u00fcr ein gutes schwarzes Pigment, was sich m der Malerei ebenso gut wiedergeben lassen m\u00fcsse wie die anderen. Viele aber, die die dunkle Oeffnung f\u00fcr \u00bbbesseren\u00ab Sammt oder dergl. hielten, zogen die Hand erschreckt zur\u00fcck, wenn sie hei dem Versuche, die vermeintliche schwarze Fl\u00e4che zu ber\u00fchren, keinen Widerstand trafen. Niemand aber sah ohne weitere Untersuchung durch den Tastsinn, dass es sich um eine Oeffnung in einen leeren Raum handelte.\n1) Vgl. meine Arbeit \u00fcber die \u00e4sthetische Bedeutung des Helligkeits- und Parbencontrastes. Philos. Stud. VH, S. 362 ff.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nA. Kirschmann.\nWenn wir in eine durchsichtige Fl\u00fcssigkeit oder einen Nebel blicken, so sehen wir entweder die Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten, die Abweichungen von der Homogenit\u00e4t (beim Nebel in der ganzen Masse, beim durchsichtigen Medium vielleicht nur an der diesseitigen und jenseitigen Grenzfl\u00e4che) oder wir sehen eine homogene Fl\u00e4che. Hering hat darin ganz recht, dass in solchen F\u00e4llen meist gen\u00fcgende Andeutungen bestimmter Tiefen nicht g\u00e4nz\u00fcch fehlen. Aber seihst wenn sie fehlen, so sehen wir hier wie hei jeder anderen Fl\u00e4che, nicht etwa eine Fl\u00e4che in \u00bbgar keiner\u00ab Entfernung, sondern eine solche in \u00bbunbestimmter\u00ab Entfernung.\nMan lege sich doch einmal die Frage in dieser Form vor : Kann man \u00fcberhaupt eine Fl\u00e4che wahrnehmen, ohne sie in irgend eine, wenn auch ganz unbestimmte, Entfernung zu verlegen? Gesetzt der urspr\u00fcnglich gegebene Raum des Gesichtssinnes sei eine Fl\u00e4che. Es m\u00fcsste nat\u00fcrlich eine Ebene sein, denn eine gekr\u00fcmmte oder anderswie unebene Fl\u00e4che setzt von vornherein die Tiefendimension voraus; eventuell lie\u00dfe sich auch eine unendliche Kugelfi\u00e4che noch acceptiren. Dann m\u00fcssten sich alle Dinge der Wahrnehmung, auch der eigene K\u00f6rper in dieser Fl\u00e4che befinden. Obgleich man nun nicht sagen kann, dass wir das Ich im Raume localisiren, so gehen wir doch dem jeweiligen Beobachtungsstandpunkt einen ganz bestimmten Platz im Raum. Bei monocularem Sehen verlegen wir ihn in einen Punkt der Augenaxe und beim binocularen in einen hinter der Mitte der die Mittelpunkte der Augen verbindenden Geraden. W\u00e4re uns der Gesichtsraum nun urspr\u00fcnglich als Fl\u00e4che in \u00bbgar keiner\u00ab Entfernung gegeben, so m\u00fcsste auch unser Beobachtungsstandpunkt nothwendiger Weise in dieser Fl\u00e4che liegen. Denn w\u00e4re er au\u00dferhalb, so w\u00e4re uns ja von vornherein au\u00dfer der Fl\u00e4che noch anderes R\u00e4umliche gegeben. Es ist aber leicht einzusehen, dass wir von einem Beohachtungsstandpunkte in der Fl\u00e4che \u00fcberhaupt keine Fl\u00e4chen mehr wahrnehmen k\u00f6nnten, sondern nur noch Fl\u00e4chengrenzen, Linien. Wir m\u00fcssten dann schlie\u00dfen, dass uns nicht einmal Fl\u00e4chen, zweidimensionale Gebilde, wirklich gegeben w\u00e4ren, sondern nur eindimensionale, Linien. Dann w\u00e4re also schon die zweite Dimension erschlossen, construirt; und es ist klar, dass wir selbst hierbei nicht stehen bleiben k\u00f6nnten ; es m\u00fcsste vielmehr auch der letzten Dimension des Raumes noch an den Kragen gehen, so dass \u00fcberhaupt keine","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n333\nmehr \u00fcbrig bliebe und das wirklich Gegebene, der Raum, wie bei Cartesius die Seele, auf einen mathematischen Punkt zusammenschrumpfte.\nAuch bei der Wahrnehmung einer Fl\u00e4che gilt die Wundt\u2019sche Lehre vom Vorstellungsobject, wonach die Zerlegung von Subject und Object ein Product nachtr\u00e4glicher Abstraction ist. In dem Augenblicke, wo ich eine Fl\u00e4che wahrnehme, bin ich die wahrgenommene Fl\u00e4che. Aber ich bin nicht nur die wahrgenommene Fl\u00e4che, sondern auch au\u00dferdem noch vieles andere. Wenn nun das Andere, das ich gleichzeitig erlebe oder bin, sich nicht auch in jener Fl\u00e4che befindet, so habe ich doch sofort mehr als einen zweidimensionalen Raum. Man sagt, der Mensch habe in seiner ersten Kindheit noch keine Tiefenvorstellung, denn das Kind greife nach dem Mond wie nach dem Apfel. Das beweist aber doch nur, dass noch keine messende Einordnung in der Tiefenrichtung stattfindet, nicht aber, dass diese letztere \u00fcberhaupt, nicht vorhanden ist.\nEs ist vollst\u00e4ndig richtig, dass unsere Licht- und Farbenempfindungen fl\u00e4chenhafter Natur sind. Aber die Wahrnehmung einer j Fl\u00e4che ist nur im allseitig ausgedehnten Raume m\u00f6glich. Jede ge-f sehene Fl\u00e4che ist nur die (auf der von uns abgewendeten Seite befindliche) Grenze eines wahrgenommenen allseitig ausgedehnten Raumtheiles. Selbst unsere Erinnerungsbilder sind davon nicht ausgenommen. Trotzdem sie keine definitive Localisirung im Gesichtsfelde haben, so besitzen sie doch sowohl Ausdehnung wie Gr\u00f6\u00dfe und werden stets in, wenn auch oft unbestimmte Entfernungen verlegt. Die dritte Dimension, wenn wir uns vorl\u00e4ufig dieser gebr\u00e4uchlichen /\"Ausdrucksweise bedienen, ist daher nicht erschlossen, construirt, sondern sie ist in jeder Fl\u00e4chenvorstellung unmittelbar vorhanden, auch wenn sie nicht der Gegenstand der Aufmerksamkeit und messenden Beurtheilung ist. Jede r\u00e4umliche Wahrnehmung setzt \u00bbdie dritte Dimension\u00ab, d. i. allseitige Ausdehnung voraus.\nWir haben im Vorstehenden gezeigt, dass die Voraussetzung Z\u00f6llner\u2019s, dass die dritte Dimension bereits das Product eines Schlussverfahrens sei, unhaltbar ist. Damit wird denn auch sein Schluss auf die Berechtigung der Annahme einer vierten Dimension hinf\u00e4llig.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nA. Kirschmann.\nIII. Der naturwissenschaftliche Gesichtspunkt.\nIn einem linearen Systeme kann jedes Gebilde unter Annahme des Princips der Relativit\u00e4t der Gr\u00f6\u00dfe und der freien Beweglichkeit innerhalb des Systems in jedes andere Gebilde \u00fcbergef\u00fchrt werden. Aber nur so lange als man die Bewegung nur als Mittel der Transformation benutzt. Sobald man aber die Bewegung auch zur inneren Eigenschaft der Gebilde selbst macht, theilt sich jede Strecke in zwei antagonistische Richtungen, die sich gegenseitig aufheben, und die man willk\u00fcrlich als rechte und linke oder positive und negative bezeichnen kann. Man kann eine rechte oder positive Strecke durch kein Verschieben innerhalb des Systems in eine linke oder negative verwandeln.\nIn der Ebene sind alle linearen Strecken und Bewegungsrichtungen in einander \u00fcberf\u00fchrbar. Ueberdies werden die Richtungsunterschiede (Winkel) durch die Anwendung des Princips der Relativit\u00e4t der Gr\u00f6\u00dfe nicht g\u00eb\u00e2ndert. Dagegen gilt f\u00fcr Winkelbewegungen im zweidimensionalen System dasselbe, was f\u00fcr lineare Bewegungen im eindimensionalen gilt. Jeder Winkel kann in zwei verschiedenen Circularrichtungen durchlaufen werden, von rechts nach links und umgekehrt. Diese entgegengesetzten Circularbewegungen sind nun durch Verschieben in der Ebene nicht in einander \u00fcberzuf\u00fchren.\nIn einem linearen System gibt es keine Aehnlichkeit oder Un\u00e4hnlichkeit von Gebilden, wohl aber Congruenz, d. i. Gleichheit in allen St\u00fccken, ausgenommen dem Orte des Raumes. In einem zweidimensionalen oder ebenen Systeme hei\u00dfen Gebilde \u00e4hnlich, wenn alle homologen Winkelbeziehungen gleich sind, congruent, wenn sowohl alle Winkel wie alle linearen Gr\u00f6\u00dfen bez\u00fcglich gleich sind. Die Aehnlichkeit und Congruenz aber ist entweder eine directe oder eine symmetrische. Direct congruente Gebilde k\u00f6nnen durch einfaches Verschieben in der Ebene, direct \u00e4hnliche durch Verschiebung und Anwendung des Princips der Relativit\u00e4t der Gr\u00f6\u00dfen \u2014 d. i. also durch entsprechende Vergr\u00f6\u00dferung oder Verkleinerung aller linearen Ma\u00dfe \u2014 in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden. Symmetrisch \u00e4hnliche und s- symmetrisch congruente Gebilde k\u00f6nnen ohne aus der Ebene herauszugehen nicht in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden.\nJm Raume sind alle linearen Gebilde und Bewegungen und ferner","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n335\nCircularbewegungen der Ebene in einander \u00fcberf\u00fchrbar. Ebenso k\u00f6nnen alle \u00e4hnlichen und congruenten Figuren der Ebene (die \u00e4hnlichen nat\u00fcrlich nur unter Aenderung des Ma\u00dfstabes), einerlei ob direct oder symmetrisch \u00e4hnlich oder congruent, in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden. Es gibt aber auch im Vollk\u00f6rperlichen neben der directen eine symmetrische Congruenz und Aehnlichkeit. Zwei K\u00f6rper k\u00f6nnen in allen ihren Theilen, in allen geraden oder krummen Fl\u00e4chen, Kanten und Ecken der Gestalt und dem Ma\u00df nach genau \u00fcbereinstimmen und dennoch eine r\u00e4umliche Ungleichheit \u00fcbrig lassen, die sich nicht definiren l\u00e4sst und die man nicht anders als willk\u00fcrlich durch Ausdr\u00fccke wie rechts und links, positiv und negativ u. s. w., bezeichnen kann. Schon Kant hat in seinen Darlegungen \u00fcber die Raumanschauung die erkenntnisstheoretische Wichtigkeit dieser Thatsache erkannt. Es m\u00fcssen \u00fcbrigens nicht nothwendiger Weise \u00bbK\u00f6rper\u00ab, d. h. allseitig abgeschlossene Raumgebilde sein; auch bei gekr\u00fcmmten oder gebrochenen Fl\u00e4chen gibt es solche symmetrische Congruenz. Wenn man beispielsweise ein unregelm\u00e4\u00dfiges sph\u00e4risches Dreieck auf die Fl\u00e4che' irgend eines durch die Kugel gelegten gr\u00f6\u00dften Kreises projicirt und die Projectionslothe verl\u00e4ngert, bis sie die Kugeloberfl\u00e4che auf der anderen Seite treffen, so ist das dort markirte Dreieck symmetrisch congruent mit dem urspr\u00fcnglichen. So verhalten sich auch die rechte und linke H\u00e4lfte des menschlichen K\u00f6rpers, ein rechter und ein linker Schuh oder Handschuh, rechtsdrehende und linksdrehende Schraubengewinde, unsymmetrische Gegenst\u00e4nde und ihre Bilder im ebenen Spiegel u. s. w. Solche symmetrisch congruente Gestalten k\u00f6nnen nun durch keine Verschiebung im Raume in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden, das hei\u00dft, es gibt kein Mittel, das eine von zwei solchen congruenten Gebilden so an den von dem anderen verlassenen Ort zu bringen, dass es dessen Stelle ausf\u00fcllt. Man mag eine rechtsdrehende Schraube drehen und wenden wie man will, man kann keine linksdrehende daraus machen. Nun ist dies ja auch gar nicht n\u00f6thig und die Welt verliert nicht viel daran, dass man nicht rechte Handschuhe und rechte Schrauben aus linken machen kann. Es gibt ja so viele Dinge, die wir einfach hinnehmen m\u00fcssen, ohne sie unserem Willen beugen zu k\u00f6nnen. Wenn man nun die Theorie aufstellt, dass man mit H\u00fclfe einer vierten Dimension auch die Ueber-f\u00fchrung symmetrisch congruenter K\u00f6rper vollziehen k\u00f6nnte, so hat","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"33g\tA. Kirschmann.\ndiese Theorie vorerst nicht mehr Werth als die Versicherung, dass man mit dem Stein der Weisen Kupfer in Gold verwandeln k\u00f6nne. Ueberdies sind ja Gegenst\u00e4nde wie rechte und linke Handschuhe, rechtsdrehende und linksdrehende Schrauben nur ann\u00e4hernd congruent. Auch kann man schlie\u00dflich eine rechte Schraube ein-schmelzen und eine linke daraus gie\u00dfen. Also die blo\u00dfe geometrische M\u00f6glichkeit der K\u00f6rper von symmetrischer Congruenz und selbst das Vorkommen wirklicher Gegenst\u00e4nde von solchen Formen sollte an und f\u00fcr sich noch keine Veranlassung zur Annahme einer vierten Dimension bilden. Ganz anders aber, wenn wir uns einer That-sache gegen\u00fcber befinden, die uns vor die Alternative stellt, entweder eine derartige Annahme machen oder zugestehen zu m\u00fcssen, dass die unser Erkennen der Natur und ihrer Gesetze ausmachende wissenschaftliche Verkn\u00fcpfung der Thatsachen, die doch dem Ideal der Widerspruchslosigkeit zustreben soll, eine un\u00fcberbr\u00fcckbare L\u00fccke aufweist. Vor einer solchen Thatsache aber stehen wir, wenn wir in der Natur K\u00f6rper vorfinden, die nicht blo\u00df in ihrer \u00e4u\u00dferen Gestalt jene symmetrisch congruenten, nicht in einander \u00fcberf\u00fchrbaren Formen aufweisen, sondern die auch innerlich in ihrer molecularen Structur, wie sich dies haupts\u00e4chlich durch ihr optisches und chenjisclies Verhalten offenbart, dieselbe grundlegende Verschiedenheit zeigen. Solche K\u00f6rper liegen vor in den enantiomorphen Krystallen.\nDie Enantiomorphie ist nichts anderes als die weiter oben er\u00f6rterte Un\u00fcberf\u00fchrbarkeit symmetrisch congruenter r\u00e4umlicher Gestalten. Bei Substanzen, die in einem Krystallsystem von mehr oder minder gro\u00dfer Symmetrie krystallisiren, kommt es vor, dass von allen m\u00f6glichen Fl\u00e4chen einer Form nur die H\u00e4lfte oder ein Viertel ausgebildet sind. Man spricht daher-von Hemiedrie und Tetartoedrie. Wenn von einem Paare hemiedrischer oder tetartoedrischer Krystalle jedes einzelne keine Symmetrieebene mehr besitzt, obgleich es dem anderen symmetrisch congruent ist, dann sind die beiden Krystalle enantiomorph. In solchem Falle spricht man von enantiomorpher Hemiedrie und Tetartoedrie.\nIm regul\u00e4ren System liefert z. B. die plagiedrische Hemiedrie und die aus der Combination von plagiedrischer und dodekaedrischer Hemiedrie hervorgehende Tetartoedrie enantiomorphe Gebilde. Im hexagonalen System ist die trapezoedrische Tetartoedrie, in welcher Quarz, Zinn-","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n337\nober und einige unterschwefligsaure Alkalien und alkalische Erdmetalle krystallisiren, enantiomorph. Im tetragonalen System liefert die trapezoedrische und im rhombischen die sphenoidische Hemiedrie enantiomorphe Gestalten. Als Beispiele f\u00fcr die trapezoedrische Hemiedrie in tetragonalem System sei das schwefelsaure Strychnin und das schwefelsaure Aethylendiamin erm\u00e4hnt, und als solches f\u00fcr die sphenoidische Hemiedrie des rhombischen Systems der Zinkvitriol und die meisten weinsteinsauren Salze1).\nDer enantiomorphe Charakter eines Krysta\u00efls ist h\u00e4ufig nicht aus seiner \u00e4u\u00dferen Gestalt zu erkennen und zwar nicht blo\u00df deshalb, weil er etwa nur in Bruchst\u00fccken oder schlecht ausgebildeten Individuen vorliegt, sondern weil die holoedrische Form \u00e4u\u00dferlich mehr oder minder vollkommen erhalten ist. Das eben erw\u00e4hnte schwefelsaure Aethylendiamin z. B. zeigt ganz holoedrisch erscheinende Formen, trotzdem sich die Krystalle bei optischer Untersuchung scharf in rechte und linke scheiden. Bei den Krystallen des Berg-krystalls, Amethystes und Bauchquarzes gibt sich der tetartoedrisch enantiomorphe Charakter oft nur durch leichte Andeutung der Fl\u00e4chen des trigonalen Trapezoeders oder der trigonalen Pyramide zu erkennen ; zuweilen aber fehlt auch jedes \u00e4u\u00dfere Anzeichen.\nBei isotropen und optisch einaxigen Krystallen verr\u00e4th sich die Enantiomorphie bei optischer Untersuchung durch die Circularpolarisation (Kotations-Polarisation). Auch bei optisch zweiaxigen Mineralien, wo der Nachweis der Circularpolarisation ausgeschlossen ist, documentirt sich der enantiomorphe Charakter h\u00e4ufig dadurch, dass die Substanzen in L\u00f6sungen die Polarisationsebene drehen. W\u00e4hrend Bohrzucker, Campher und Weins\u00e4ure nur in L\u00f6sungen, Kiesels\u00e4ure (Quarz) nur in krystallisirtem Zustande die Eigenschaft der Circularpolarisation erkennen lassen, zeigen andere Substanzen, wie z. B. das schwefelsaure Strychnin das Drehungsverm\u00f6gen sowohl im festen wie im gel\u00f6sten Zustande. Terpentin\u00f6l (das aus Pinus abies und Pinus picea gewonnene ist linksdrehend, das aus anderen Pinus-Arten [Pinus silvestris, Pinus austriaca und Pinus strobus] erhaltene ist rechtsdrehend) besitzt das Drehungsverm\u00f6gen, wie Biot zuerst nachwies, sogar in allen drei Aggregatzust\u00e4nden.\n1) Vgl. (troth. Physikalische Krystallographie, sowie Liebisch, Geometrische Krystallographie. 1888, und Liebisch, Physikalische Krystallographie, 1891.\nWundt, Philos. Studien. XIX.\t22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nA. Barschmann.\nEin rechtsdrehender Krystall bleibt unter allen Umst\u00e4nden rechtsdrehend, man mag einen Schliff, von welcher Richtung man will anwenden, und in einer drehenden Fl\u00fcssigkeit l\u00e4sst sich, ohne Anwendung chemischer Ver\u00e4nderung, das Drehungsverm\u00f6gen weder auf-heben noch umkehren. Es ist bekannt, dass durch Anwendung von Druck- und Temperatur\u00e4nderung nicht nur die Gestalt (Kantenwinkel), die Elasticit\u00e4t und die elektrischen Eigenschaften der Krystalle, sondern auch ihre optische Beschaffenheit ge\u00e4ndert wird. Die Richtung des Drehungsverm\u00f6gens wird durch diese Agentien nicht ge\u00e4ndert. Durch Druck k\u00f6nnen amorphe und einfach brechende krystallinische Substanzen doppelbrechend werden. Oomprimirter Quarz ver\u00e4ndert durch den Druck den Grad seiner Doppelbrechung und wird sogar optisch zweiaxig; aber seine Circularpolarisation \u00e4ndert er nicht. Durch starke Temperaturerh\u00f6hung wird zwar, wie dies ja bei der gleichzeitigen Gestalts- und Elasticit\u00e4ts\u00e4nderung kaum anders zu erwarten ist, das Drehungsverm\u00f6gen in geringf\u00fcgigem Grade verst\u00e4rkt oder vermindert. Aber die Richtung desselben wird nicht umgekehrt, und aufgehoben wird das Drehungsverm\u00f6gen h\u00f6chstens, wenn der K\u00f6rper in einen anderen Aggregatzustand \u00fcbergeht.\nDie beiden Modificationen derselben Substanz, die rechtsdrehende und die linksdrehende, auch wenn sie aus derselben gemeinsamen, kein Drehungsverm\u00f6gen besitzenden L\u00f6sung herauskrystallisirten, zeigen in ihrem chemischen Verhalten oft erhebliche Abweichungen; und die Mischung beider ist zuweilen im Stande, andere Verbindungen einzugehen als jede von ihnen einzeln, obgleich die quantitative Analyse auch nicht den geringsten Unterschied nachzuweisen vermag. W\u00e4re die Verschiedenheit der enantiomorphen Krystalle nur eine rein \u00e4u\u00dferliche, die Gestalt betreffende, so w\u00e4re der Erscheinung keine besondere Wichtigkeit beizumessen. Die Thatsache der Circularpolarisation und die Abweichung im chemischen Verhalten aber zeigt, dass bei diesen Substanzen der ganze innere Bau f\u00fcr das rechte und linke Individuum, f\u00fcr die lechtsdrehende und linksdrehende L\u00f6sung, von Grund aus verschieden sein muss. Man nimmt allgemein an, dass auch in festen und fl\u00fcssigen K\u00f6rpern die kleinsten Theilchen in fortw\u00e4hrender oscilla-torischer Bewegung irgend einer Art begriffen sind. Bei enantiomorphen Substanzen muss nun diese Molecularbewegung in rechts-und linksdrehenden Individuen ebenso verschieden sein wie ihre \u00e4u\u00dfere","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n339\nGestalt. Ob es wirklich die chemischen Molek\u00fcle und Atome oder die nach den neueren Theorien anzunehmenden viel kleineren Theilchen der Molek\u00fcle und Atome sind, die die Bewegungen ausf\u00fchren, das bleibt sich schlie\u00dflich gleich. Die Bewegungen in der rechtsdrehenden Substanz sind symmetrisch congruent, enantiomorph, zu denen der linksdrehenden und beide k\u00f6nnen nicht in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden.\nDas Vorkommen dieser enantiomorphen Elementarbewegungen ist keineswegs von beschr\u00e4nkter Verbreitung. Der Quarz ist sicher eins der verbreitetsten gesteinbildenden Mineralien, wenn nicht gar das h\u00e4ufigste, und ist mit verschwindenden Ausnahmen immer hexa-gonal-tetartoedrisch-enantiomorph. In der organischen Natur zeigen viele Verbindungen das Drehungsverm\u00f6gen, so z. B. fast alle \u00e4therischen Oele, deren es eine so gro\u00dfe Mannigfaltigkeit gibt. Von einigen drehenden Substanzen haben wir nur eine der beiden Variet\u00e4ten, wie beim Citronen\u00f6l, beim Rohr- und Traubenzucker, die stets rechtsdrehend, und beim Nicotin, Chinin und Amygdalin, die immer linksdrehend sind. Vielleicht geht die Bedeutung der Enantiomorphie weit \u00fcber das jetzt Bekannte hinaus; sie mag vielfach existiren, wo uns die Mittel fehlen, sie nachzuweisen. Wir haben uns aus \u00e4sthetischen und didactischen Gr\u00fcnden gew\u00f6hnt, \u00fcberall die geometrisch einfachsten, die regul\u00e4rsten und symmetrischsten Krystalle voranzusetzen. Aber sie sind in der Natur nicht nothwendig das Prim\u00e4re, das Einfachste. Gewisse Erscheinungen sprechen in der That f\u00fcr die Annahme, dass als das Elementarste in der Krystallwelt die asymmetrischen Formen aufzufassen sind. (Eine im Trachyt, Diabas und Andesit, ganz selten auch in porphyrischem Gestein vorkommende Quarzart, der Tridymit, ist nur bei einer Temperatur von \u00fcber 300 Grad wirklich hexagonal, sonst triklin.) Von dem monoklinen System aufw\u00e4rts haben wir \u00fcberhaupt mit der M\u00f6glichkeit zu rechnen, dass die Holoeder auch da, wo wir \u00fcberhaupt nichts davon bemerken und nachweisen k\u00f6nnen, Combinationen von minder symmetrischen Formen und schlie\u00dflich von sich gegenseitig neutralisirenden enantiomorphen Antagonisten sind. Wir st\u00e4nden dann vor einer Welt von Gegens\u00e4tzen nicht des Lichtes und der Finsterniss, der Attraction und Repulsion, des Positiven und Negativen, sondern des Rechts und Links. Wie dem auch sei, so viel ist gewiss: Es gibt in der Natur K\u00f6rper, Substanzen, die bei aller sonstigen Uebereinstimmung\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nA. Kirschmann.\ndoch die grundlegende Verschiedenheit aufweisen, dass die in ihnen vor sich gehenden Bewegungen der Elementartheilchen jenen nicht defmirbaren Charakter des Rechten und Linken besitzen, und somit die Bewegungen der einen Art nicht in die der anderen Art \u00fcbergef\u00fchrt werden k\u00f6nnen.\nAus der Annahme dieser Thatsache ergehen sich aber f\u00fcr unsere gegenw\u00e4rtige naturwissenschaftliche Weltanschauung recht bedenkliche Consecpienzen. Nach dem Gesetz der Erhaltung der Quantit\u00e4t der Bewegung sind alle Vorg\u00e4nge in der Natur (wobei nat\u00fcrlich von Bewusstseins-Vorg\u00e4ngen abgesehen werden muss) Bewegungen im Raum. Nun soll aber jede Bewegung die Wirkung von vorausgehenden und die Ursache von folgenden Bewegungen sein. Wir haben es also nirgends mit der freien Entstehung oder der unabh\u00e4ngigen Existenz von Bewegungen, sondern \u00fcberall mit der Transformation von Bewegung zu thun. Wenn f\u00fcr unsere Wahrnehmung Bewegungen aufh\u00f6ren, so ist das nur scheinbar; in Wirklichkeit werden sie in uns direct unerkennbare Molecularhewegungen umgesetzt. Diese Umformungen m\u00fcssen eine endlose Kette causal verbundener Bewegungsvorg\u00e4nge darstellen. Jeder Naturvorgang muss ein Glied dieser Kette sein. Jede unabh\u00e4ngige Bewegung, die also nicht urs\u00e4chlich mit den vorangehenden und folgenden verkettet w\u00e4re, m\u00fcsste als ein Wunder, als eine Durchbrechung des Gesetzes betrachtet werden.\nNun aber erhebt sich die Frage: K\u00f6nnen enantiomorphe Bewegungen in urs\u00e4chlichem Zusammenhang stehen? Bez\u00fcglich der Raumerf\u00fcllung sind zwei F\u00e4lle m\u00f6glich: entweder f\u00fcllt das sich Bewegende den Raum v\u00f6llig aus, oder es thut dies nicht. Nun ist aber r leicht ersichtlich, dass in einem materiellen Continuum enantiomorphe Bewegungen \u00fcberhaupt nicht m\u00f6glich sind. Nehmen wir beispielsweise an, dass ein Theil des allen Raum erf\u00fcllenden \u00bbStoffes\u00ab in einer nicht in einer Ebene vor sich gehenden rechtsdrehenden Spiralbewegung begriffen sei, so ist klar, dass nur solche Theile, die in einer Drehung im selben Sinne, also in einer in die erstere \u00fcberfiihr-baren Bewegung begriffen sind, in den durch die erstere Bewegung geschaffenen leeren Raum ausf\u00fcllend nachr\u00fccken k\u00f6nnen. Findet . daher irgendwo im Continuum eine Spiralbewegung in zu der erstgenannten enantiomorphem Sinne statt, so muss irgendwo eine L\u00fccke, ein leerer Raum entstehen, und damit w\u00e4re das Continuum durch-","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n341\nbrochen. Soll das Bewegte den Raum vollst\u00e4ndig ausf\u00fcllen, so sind demnach enantiomorphe Bewegungen \u00fcberhaupt nicht m\u00f6glich, ohne ein Loch in das Continuum zu rei\u00dfen.\nAber auch bei nicht v\u00f6llig ausgef\u00fclltem Raum, bei Annahme irgend einer atomistisch-kinetischen oder dynamischen Theorie f\u00fchrt die Enantiomorphie zu Widerspr\u00fcchen, sobald man sich nicht darauf beschr\u00e4nkt, die Thatsache jener Bewegungen anzuerkennen, sondern sie auch in den allgemeinen causalen Zusammenhang einreihen -will Auch hei der Annahme einer den Raum nicht erf\u00fcllenden Materie verlangt das Gesetz der Aequivalenz, dass zwischen Ursache und Wirkung Gleichartigkeit besteht. Das hei\u00dft, der Causalnexus erstreckt sich nur auf die Quantit\u00e4ten solcher Eigenschaften von Ursache und Wirkung, die etwas Gemeinsames, Commensurabeles haben. Was qualitativ verschieden ist, kann in keine Causalverbindung eintreten. Darum steht ja alles Psychische au\u00dferhalb der mechanischen Causalreihe, und darum k\u00f6nnen wir die Sinnesqualit\u00e4ten nicht aus den Eigenschaften der physischen Reize erschlie\u00dfen oder berechnen. Auch Bewegungen, welche im Oausalzusammenhang stehen, m\u00fcssen qualitativ gleichartig und daher direct oder indirect in einander \u00fcberf\u00fchrbar sein. Eine einzige gro\u00dfe Ortsver\u00e4nderung kann die Ursache einer gro\u00dfen Summe von kleinen mit den Sinnen vielleicht nicht mehr wahrzunehmenden Molecularbewegungen sein, und umgekehrt, aber es muss zwischen diesen und jenen qualitative Gleichartigkeit herrschen. Tritt in der Wifkung eine neue mit der Ursache incommensurable oder unvergleichbare Erscheinung auf, so ist die Ursache eben unf\u00e4hig, diesen neuen Effect zu erkl\u00e4ren. Zwischen Bewegungen irgend welcher Art, so lange sie unter Anwendung des Princips der Relativit\u00e4t der Gr\u00f6\u00dfe durch Auftheil\u00fcng und Verschiebung in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, besteht ein solches Verh\u00e4ltniss der Unvergleichbarkeit nicht. Sobald aber die Bewegungen enantiomorph sind, liegt bei aller Gleichheit der Gr\u00f6\u00dfen- und Raum-Verh\u00e4ltnisse eine solche endg\u00fcltige und nicht zu \u00fcberbr\u00fcckende Ungleichheit vor; denn das Rechts und Links ist ein rein qualitativer, urspr\u00fcnglicher und unzerlegbarer Unterschied, der sich weder beschreiben noch definiren l\u00e4sst. Es folgt demnach, dass zwischen enantio-\u2014 morphen Bewegungen eine einfache causale Verkn\u00fcpfung nicht bestehen kann. Eine Bewegung kann nicht die Ursache einer zu","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nA. Kirschmann.\nihr enantiomorphen Bewegung sein. Sie mag Mitbedingung und ihr quantitativ \u00e4quivalent sein; aber sie kann nicht die Ursache jener ver\u00e4nderten Raumqualit\u00e4t sein.\nEs ist ebenso unm\u00f6glich anzunehmen, dass zwei enantiomorphe Bewegungen derselben Ursache entspr\u00e4ngen. Man k\u00f6nnte sagen: Die beiden F\u00e4lle, die rechte und die linke Modification haben gleiche Chancen, und es ist der reine Zufall, ob der eine oder der andere Fall eintritt. Damit aber h\u00e4tten wir zwei in der modernen Mechanik r unzul\u00e4ssige Begriffe eingef\u00fchrt, n\u00e4mlich den des Zufalls und den der Ursache, die verschiedene Wirkungen hervorhringen kann. Wollen wir dies vermeiden, so m\u00fcssen wir neben der Hauptprsache noch f\u00fcr jede der beiden Modificationen eine Specialbedingung annehmen, und diese Specialursachen m\u00fcssen dann nach dem oben Er\u00f6rterten seihst enantiomorph sein. Und dann haben wir das Problem nur ein Stockwerk h\u00f6her hinaufgetragen. Wir sehen also: Enantiomorphe Bewegungen k\u00f6nnen, soweit es ihre nicht in einander \u00fcberf\u00fchrbaren Eigenschaften anhelangt, weder in dem Verh\u00e4ltniss von Ursache und Wirkung zu einander stehen, noch lassen sie sich aus einer gemeinsamen Ursache herleiten.\nMit dieser Erkenntniss aber ist der Grund, auf welchem unsere moderne Naturanschauung aufgebaut ist, n\u00e4mlich das Gesetz von dem einheitlichen Zusammenhang aller Naturvorg\u00e4nge (uniformity of nature) stark ersch\u00fcttert. Fehlt zwischen enantiomorphen Vorg\u00e4ngen der causale Zusammenhang, so haben wir nicht l\u00e4nger eine einheitliche und eindeutige Verkn\u00fcpfung aller Bewegungsthatsachen, sondern die enantiomorphen Erscheinungen stehen sich, trotz ihrer sonstigen Gleichheit, wie zwei Welten gegen\u00fcber, die sich durchkreuzen, aber von einander unabh\u00e4ngig sind. Da die rechtsdrehenden Bewegungen nicht von linksdrehenden verursacht sein k\u00f6nnen, und umgekehrt, so m\u00fcssen wir entweder annehmen, dass beide von Uranfang an neben einander bestehen, o^pr aber dass die Verschiedenheit das Resultat eines auf der Basis der Naturcausalit\u00e4t nicht zu erkl\u00e4renden, jeweiligen Eingriffs unbekannter Gewalten ist. Im erstgren Falle k\u00f6nnte man sich die Materie aus zwei antagonistischen Systemen Helmholtz-scher oder Lord Kelvin\u2019scher Wirbelatome zusammengesetzt denken, das eine aus rechten, das andere aus linken bestehend. In Substanzen ohne Drehungsverm\u00f6gen sind sie im Gleichgewicht. In den drehen-","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n343\nden Substanzen ist die eine Art ausschlie\u00dflich vorhanden oder vorherrschend. Zieht man die zweite Version vor, so l\u00e4sst man den Causalzusammenhang durch mystische Gewalten durchbrechen, und es \u00e4ndert gar nichts an der Sachlage, wenn man diese Gewalten gleich den enantiomorpher Bewegungen f\u00e4higen Atomen zuschreibt und diese so zu einer Art D\u00e4monen macht. Das ist nicht mehr absurd als die neueste Modification der Wirbeltheorie, wonach die Wirbelatome die F\u00e4higkeit besitzen, um sich herum eine materielle Atmosph\u00e4re zu \u00bbschaffen\u00ab oder eine solche zu \u00bbvernichten\u00ab (die Theorie der \u00bbSources and Sinks\u00ab). Nur meine ich, w\u00e4re es in diesem Falle viel einfacher und ungezwungener, die Sch\u00f6pferkraft in einer Hand zu lassen und an den guten alten \u00bblieben Gott\u00ab zu appelliren, anstatt Myriaden von D\u00e4m\u00f6nchen oder mikroskopischen G\u00f6tterchen anzunehmen1).\nEs bleibt noch ein Einy and zu entkr\u00e4ften. Man k\u00f6nnte sagen: Die Enantiomorphie braucht eben so wenig causal-mechanisch erkl\u00e4rt zu werden wie die Qualit\u00e4t Roth oder das Gef\u00fchl der Unlust oder irgend eine andere psychische Thatsache. Dies ist aber ein Irrthum. Die psychischen Qualit\u00e4ten stehen ganz au\u00dferhalb der mechanischen Causalreihe; sie sind vom mechanischen Standpunkte aus eine reine Gratisbeigabe der physischen Processe. Ob ich die Wellenl\u00e4nge 560 pp als Roth, als Gelb oder als farblos wahrnehme, das \u00e4ndert an den Betrachtungen der physikalischen Optik absolut nichts. Die /'Enantiomorphie dagegen steht selbst mitten in der Reihe des mechanischen Geschehens. Sie ist eine Bewegungsthatsache. Die Un-\u00fcberf\u00fchrbarkeit der enantiomorphen Bewegungen ist nicht weniger physisch und nicht mehr psychisch als die Bewegung \u00fcberhaupt.\nEs gibt aber noch einen bequemen Ausyeg aus allen diesen Schwierigkeiten, ein Mittel, die einheitliche Causalit\u00e4t der Natur zu retten. Man braucht ja nur anzunehmen, dass die Natur in \u00bbWirklichkeit\u00ab vier- oder mehrdimensional sei, dass uns in unserer Beschr\u00e4nktheit aber nur drei Dimensionen \u00bbgegeben\u00ab seien, und dass es in der vierdimensionalen Welt noch viele Dinge und Verh\u00e4ltnisse\n1) Ich bin in der That \u00fcberzeugt, dass sich in jedem Naturvorgang (auch ganz abgesehen von der Enantiomorphie) ein Element nachweisen l\u00e4sst, das nicht causal bedingt und abh\u00e4ngig ist, sondern das sich nur aus dem Walten einer au\u00dferhalb aller Causalit\u00e4t stehenden \u00bbFreiheit\u00ab erkl\u00e4ren l\u00e4sst.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nA. Kirschmann.\ngebe, von denen sich unsere dreidimensionale Schulweisheit nichts tr\u00e4umen l\u00e4sst. Die enantiomorphen Gestalten und Bewegungen sind dann zwar in unserer beschr\u00e4nkten dreidimensionalen Erscheinungswelt, \u00fcber die wir nicht hinaus k\u00f6nnen, nicht in einander \u00fcberf\u00fchrhar, wohl aber sind sie es in der uns verschlossenen vierdimensionalen \u00bbWirklichkeit\u00ab. In der vierten Dimension brauchen wir eine asymmetrische r\u00e4umliche Figur oder Bewegung nur herumzuwenden, umzuklappen, wie wir in der dritten eine ebene asymmetrische Figur oder Bewegung herumdrehen, und man hat die entgegengesetzte, zu ihr enantiomorphe.\nLotze1) war der Ansicht, dass die fingirten, nur einer fl\u00e4chenhaften (sei es eine Ebene oder sph\u00e4rische Fl\u00e4che) Raumanschauung f\u00e4higen Wesen dennoch aus den ihnen in ihrem Raume begegnenden Widerspr\u00fcchen auf eine weitere Dimension schlie\u00dfen m\u00fcssten, w\u00e4hrend f\u00fcr uns jede Veranlassung zu einem \u00e4hnlichen Schl\u00fcsse fehle, da f\u00fcr uns keine solchen Widerspr\u00fcche und anderswie unerkl\u00e4rlichen Erscheinungen existiren. Diesen Ein wand w\u00fcrde Lotze angesichts der enantiomorphischen Erscheinungen nicht aufrecht erhalten k\u00f6nnen.\nIn der That, wenn die Theorie der vierten Dimension auf irgend einem Gebiete eine Existenzberechtigung haben und Beachtung verdienen sollte, so w\u00e4re es bei diesem naturwissenschaftlichen Problem der Enantiomorphie. Hier stehen wir in der That vor der Alternative, entweder zum Wunder oder zur vierten^Jlimension unsere Zuflucht nehmen zu m\u00fcssen, sofern wir nicht den Grundgedanken der heutigen Naturwissenschaft, die einheitliche causale Ordnung preisgehen wollen. Und dennoch, glaube ich, ist, vom strengsten wissenschaftlichen Standpunkte betrachtet, die Annahme des Wunderbaren, Unerkl\u00e4rten und Unerkl\u00e4rlichen derjenigen einer vierten Dimension noch vorzuziehen. Die Gr\u00fcnde hierf\u00fcr werden sich aus dem weiteren Verlaufe unserer Betrachtungen von selbst ergeben.\nIV. Der mathematische Gesichtspunkt.\nDas k\u00fchne Geb\u00e4ude der Metageometrie besitzt trotz seines verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringen Alters eine so vielseitige, verwickelte Construction, dass es schwer wird, sich ein Gesammtbild, eine Ge-\n1) Metaphysik, S. 255.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n345\nsammtvorstellung davon zu verschaffen. Es fehlt die einheitliche Architektur. Es haben so viele und nach so verschiedenen Pl\u00e4nen daran gebaut, und f\u00fcr den Au\u00dfenstehenden erscheint das Ganze zun\u00e4chst wie ein rasch emporgeschossener Ausstellungspalast, in welchem es zwar zahlreiche B\u00e4ume f\u00fcr solide Landesprodukte, aber daneben auch Abtheilungen f\u00fcr Seilt\u00e4nzer und Zauberk\u00fcnstler gibt und welchem vor allem eins fehlt, das f\u00fcr jedes auf die Dauer berechnete Geb\u00e4ude wesentlich ist, n\u00e4mlich ein festes und sicheres Fundament. Mancher Mathematiker von Fach wird mir, als einem solchen Au\u00dfenstehenden, erwidern: \u00bbDas Fundament ist vorhanden und gesichert, aber es ist nur eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringe Anzahl von Einsichtigen da, die es verstehen und pr\u00fcfen k\u00f6nnen. Es geh\u00f6rt ein besonderes Yerst\u00e4ndniss dazu, wie f\u00fcr die Mathematik \u00fcberhaupt, so f\u00fcr diese Seite derselben. Dieses Yerst\u00e4ndniss, welches man nur erwirbt, wenn man sich lange genug mit der Sache besch\u00e4ftigt hat, besitzen diejenigen nicht, die die Metageometrie bek\u00e4mpfen.\u00ab Wenn man darauf einwendet, dass auch Leute, die selbst eingeweiht waren \u00bbin alle Weisheit der Aegypter\u00ab und deren Forschungen man als Ecksteine der neuen Theorien benutzt, \u2014 beispielsweise kein geringerer als Cayley \u2014 die Pan- und Metageometrie verdammt haben, dann erh\u00e4lt man einfach zur Antwort, dass diese Forscher sich unstreitig geirrt haben.\nHier nun erheben sich zwei bedeutsame Fragen, n\u00e4mlich: \u00bbHat die Mathematik eine besondere Grundlage, ein von dem der \u00fcbrigen Wissenschaften getrenntes Fundament?\u00ab und \u00bbWie kommt es, dass die Mathematik, die doch die allgemeinsten und zweifellosesten Gesetze des Denkens, Seins und Geschehens, deren praktisch-universale G\u00fcltigkeit auch der extremste Empirist nicht zu leugnen wagt, zum Gegenstand hat, nach der Ansicht vieler Fachleute unserer Tage eine ganz besondere geistige Veranlagung bei dem sich ihrem Studium Widmenden voraussetzt?\u00ab\nDie ersteJFrage d\u00fcrfte entschieden zu verneinen sein. Es sind im Grunde genommen dieselben in der Erfahrung gegebenen That-sachen und Nothwendigkeiten, die die Grundlage, den Ausgangspunkt aller Wissenschaften, ausmachen. Nicht der Gegenstand, sondern der Standpunkt der Betrachtungsweise bedingt ihre Verschiedenheit. Soweit sie auch auseinandergehen m\u00f6gen; wo es sich um die letzten,","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nA. Kirschmann.\ndas hei\u00dft einfachsten und unzerlegbaren Elemente handelt, von denen alle Erkenntniss ausgeht, da kommen sie alle zusammen. Die Untersuchung der Fundamente darf daher auch nicht das Privileg einer Einzelwissenschaft bilden; sie ist eine nothwendige Vorarbeit aller, und man darf Niemandem sagen, er habe kein Recht, die Fundamente zu pr\u00fcfen, wenn er nicht zuvor den ganzen Oberbau studirt habe. Im Gegentheil, die Pr\u00fcfung der Fundamente sollte sich jeder angelegen sein lassen, der seine Erkenntniss nicht in letzter Instanz auf die Autorit\u00e4t Anderer basirt sehen will. Es gibt leider gar zu Viele, besonders in der Mathematik und Philosophie, die sich mit Vorliebe in den oberen Stockwerken, in verschn\u00f6rkelten Th\u00fcrmchen und kunstreichen Erkern aufhalten, theils schaffend und ausbessernd, theils zum Vergn\u00fcgen, und die gar nicht daran denken, die Fundamente einer kritischen Untersuchung zu unterziehen.\nUeberdies ist die Abgrenzung der Einzelwissenschaften eine sehr unsichere und willk\u00fcrliche. Sie soll dem \u00f6conomischen Princip der qualitativen Arbeitsteilung und nicht dem Bestreben dienen, uniiber-steigliche Z\u00e4une zum Zwecke der Verhinderung der Uebergriffe aus einem Gebiete in das andere zu errichten. Leider ist heute bereits diese k\u00fcnstliche Trennung schon zu einem solchen Grade gediehen, dass man in manchen Disciplinen gar kein Verst\u00e4ndnis mehr hat f\u00fcr die Berechtigung der Probleme anderer Disciplinen. Die Grund-/\u25a0 probl\u00e8me der Mathematik sind eben so wohl Grundprobleme der Psychologie, der Logik und Erkenntnistheorie und der Physik, und je mehr man sich eben diesen Fundamentalproblemen n\u00e4hert, um so mehr wird die strenge Scheidung der Disciplinen, wenn anders sie sich nicht lediglich auf die Form, die Ausdrucksweise beziehen soll, eine Sache der Convention und des pers\u00f6nlichen Beliebens. Man darf nicht vergessen, ein Satz ist nur dann richtig und unantastbar, wenn er immer und \u00fcberall gilt, einerlei welchen Namen das Gebiet f\u00fchrt, in welchem man ihn gerade anwenden will.\nHinsichtlich der zweiten Frage, die die allgemein anerkannte Unpopularit\u00e4t der Mathematik angeht, meine ich, muss man, sofern man nicht eine eigenth\u00fcmliche allgemeine Degeneration der Menschheit annehmen will, verm\u00f6ge deren es ihr, trotz zunehmender Denkkraft und Beobachtungsgabe, immer schwieriger werde, die Gesetze des eigenen Denkens und Anschauens zu erfassen, den Schluss ziehen,","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n347\ndass an der Erscheinung nicht sowohl der Gegenstand der Mathematik als die in unseren Tagen \u00fcbliche Methode und Darstellungsweise dieser Wissenschaft die Schuld trage.\nEs ist nicht so sehr der Mangel an Verstand, an Denkverm\u00f6gen, der es dem gebildeten Durchschnittsmenschen unserer Tage so schwer werden l\u00e4sst, in die Mysterien der h\u00f6heren Mathematik einzudringen, als vielmehr der Mangel an Bereitwilligkeit oder auch F\u00e4higkeit, sich einer inad\u00e4quaten Ausdrucksweise, einem willk\u00fcrlichen, verschrobenen Symbolsystem anzupassen und zu unterwerfen; nicht der Mangel an Abstractionsgabe \u00fcberhaupt, sondern die mangelnde F\u00e4higkeit s o zu abstrahiren, wie ein Anderer, der seine Ideen in willk\u00fcrlichen Symbolen und mit m\u00f6glichst wenig Oommentar vortr\u00e4gt oder niederschreibt, es sich gerade denkt. Es gibt \u00fcberhaupt keinen Gedanken, der zu hoch oder zu tief w\u00e4re, als dass ihn der Mensch mit normaler Denkkraft zu fassen verm\u00f6chte. Wird eine Idee nicht erfasst, so liegt das meist an der inad\u00e4quaten Darstellungsweise, an ungerechtfertigten Anforderungen, die man an das Ged\u00e4chtniss stellt, besonders das, was man als Simultan-Ged\u00e4chtniss bezeichnen k\u00f6nnte, d. i. die F\u00e4higkeit eine Menge mehr oder minder willk\u00fcrlicher Symbole und Bestimmungen gleichzeitig zu verwenden ohne die Bedeutung derselben zu verwirren. Die heutige Mathematik ist in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe, als man gew\u00f6hnlich denkt, Ged\u00e4chtnisssache und in viel geringerem Ma\u00dfe Verstandessache.\nWorin aber besteht nun die ger\u00fcgte inad\u00e4quate Ausdrucksweise in der Mathematik? Da ist zun\u00e4chst der von den Mathematikern anscheinend f\u00fcr selbstverst\u00e4ndlich angesehene Gebrauch, alles in die Form von Gleichungen zu pressen, obgleich wir in der Welt der gegebenen Wirklichkeit nirgends Identit\u00e4ten, vollkommenen Gleichheiten begegnen. Die in wirklichen und m\u00f6glichen Erlebnissen anzutreffenden Beziehungen, denen die zur mathematischen Betrachtung erforderte Nothwendigkeit innewohnt, sind die partielle Uebereinstimmung (z. B. nach Gr\u00f6\u00dfe, Gestalt, Collineation, Lage u. s. w.) und die Abh\u00e4ngigkeit. Dr\u00fccken wir alle diese Beziehungen in Form von Gleichungen aus, so m\u00fcssen diese letzteren entweder oft Unwahrheiten enthalten, oder wir m\u00fcssen \u00dcbereinkommen, aus den Gleichungen herauszulesen, was gar nicht darin steht. In dieser Hinsicht befindet sich die Mathematik noch gar zu sehr auf dem einseitigen Standpunkte der Identit\u00e4ts- und Subsumtions-Logik.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nA. Kirschmann.\nDa ist des weiteren die Annahme von Begriffen, die, weil mit inneren Widerspr\u00fcchen behaftet, anfangs nur als sp\u00e4ter wieder zu eliminirende H\u00fclfgijegriffe eingef\u00fchrt werden, die sich aber durch den h\u00e4ufigen Gebrauch so einb\u00fcrgem, dass sie zuletzt f\u00fcr mathematische Entit\u00e4ten gelten. Hierher geh\u00f6ren die weiter oben schon erw\u00e4hnten \u00bbbenachbarten Punkte\u00ab, das \u00bb Linienelement\u00ab, das keine Ausdehnung haben, aber doch eine Richtung repr\u00e4sentiren soll, das Kr\u00fcmmungsma\u00df von mehr als zweidimensionalen Raumgebilden u. a. m. Solche H\u00fclfsbegriffe erweisen sich oft als sehr n\u00fctzlich, so lange man bei ihrer Verwendung eingedenk bleibt, dass sie zwar abgek\u00fcrzte, aber unrichtige Ausdr\u00fccke; f\u00fcr sehr complicirte Verh\u00e4ltnisse sind, deren jeweilige getreue Darstellung einen gro\u00dfen Aufwand von Zeit und M\u00fche erfordern w\u00fcrde. Sie d\u00fcrfen daher auch nicht schon als Elemente in den Voraussetzungen figuriren, von welchen man ausgeht. Und ebenso m\u00fcssen sie aus den Endresultaten, wenn anders denselben eine Bedeutung zukommen soll, wieder verschwunden sein. In einei Regeldetri-Aufgabe m\u00f6gen wir wohl ganz correcter Weise rechnen: Der Vorrath Heu, der 1 Woche ausreicht f\u00fcr 7 Pferde, reicht 5 Wochen f\u00fcr | Pferde u. s. w. Aber wir d\u00fcrfen keine Rechnung mit einem Satze beginnen oder schlie\u00dfen, der diese l Pferde enth\u00e4lt. Das ist es auch, was Whitehead meint, wenn er das Symbol (\t1)J\nf\u00fcr absolut sinnlos erkl\u00e4rt, wenn man es als Zahl ansehe1).\nAuch die negativen^Zahlen geh\u00f6ren hierher, sobald man bei ihrer Verwendung vergisst, dass sie nur eine relative Bedeutung haben. Es gibt nichts Negatives in der Welt der Wirklichkeit. Wo wir die Begriffe Positiv und Negativ auf Paare contr\u00e4rer Qualit\u00e4ten anwenden, wie hei der Elektricit\u00e4t, der Enantiomorphie, der Photographie u. s. w., da ist diese Anwendung eine rein conventionelle und willk\u00fcrliche. Die Begriffe k\u00f6nnten eben so gut umgekehrt gebraucht oder durch andere wie rechts und links, Nord und S\u00fcd oder dergl. ersetzt werden. Auch wo sie auf Quantitatives angewandt werden, wie etwa auf Richtungen im Raume, oder bei der Messung der Temperatur, k\u00f6nnten sie nicht allein eben so gut vertauscht werden, sondern es ist hier stets auch der Nullpunkt, der Trennungspunkt der als Antagonisten gesetzten Gr\u00f6\u00dfen vollst\u00e4ndig willk\u00fcrlich und conventioneil. Die Null\n1) Whitehead, Treatise on Universal Algebra, p. 11.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Baumes.\n349\nist das Zeichen nicht f\u00fcr die Negation aller Eigenschaften, aller Gr\u00f6\u00dfen, sondern nur f\u00fcr das jeweilige Nichtvorhandensein gewisser, unter gleichzeitigem Vorhandensein anderer Gr\u00f6\u00dfen und Qualit\u00e4ten. Das absolute Nichts ist ein viel transcendenterer \u00bbBegriff* als das Unendliche. Man hat sich aber gew\u00f6hnt, f\u00fcr diesen qualitativ variabeln und quantitativ (als willk\u00fcrlich gesetzter Anfangspunkt f\u00fcr die * Z\u00e4hlung) nur relative Bedeutung besitzenden Ausdruck stets dasselbe Zeichen zu setzen, wodurch man dann verleitet wird, die Null als Zahl, als Gr\u00f6\u00dfe zu betrachten und mit ihr wie mit anderen Zahlen arithmetische Operationen auszuf\u00fchren.\nWir haben gesehen, dass die Unterscheidung des Positiven und Negativen entweder eine willk\u00fcrliche Bezeichnung qualitativer Gegens\u00e4tze ist oder aber aus der eben so willk\u00fcrlichen Setzung eines Anfangspunktes f\u00fcr die Z\u00e4hlung und Gr\u00f6\u00dfenmessung hervorgeht. Es gibt keine wirklichen oder denkbaren Systeme von Quantit\u00e4ten, in welchen negative Gr\u00f6\u00dfen ohne willk\u00fcrliche Festlegung des Nullpunktes einen Sinn haben. Das ahstracte Symbol \u2014 a bedeutet zun\u00e4chst nicht eine Gr\u00f6\u00dfe, sondern, wie jeder mit einem Vorzeichen behaftete Ausdruck, eine Aufgabe, und zwar eine solche, die nicht nothwendiger Weise immer l\u00f6sbar sein muss. Da man in jeder quantitativen Reihe, unbeschadet der gegenseitigen Verh\u00e4ltnisse der Glieder unter einander, den Nullpunkt beliebig verschieben kann, so kann das, was von einem Gesichtspunkte aus positiv ist, von einem andern als negativ betrachtet werden. Der Unterschied zwischen + 1 und \u2014 1 ist daher nur ein Richtungsunterschied. Dies wirft ein eigenartiges Licht auf die sogenannten imagin\u00e4ren1) oder complexen Gr\u00f6\u00dfen, die, wie die negativen Zahlen, recht n\u00fctzliche H\u00fclfsbegriffe abgehen, so lange man sie im Laufe der Rechnung wieder zu eliminiren wei\u00df. V 1 ist in erster Linie eine Aufgabe, und nicht mehr und nicht minder imagin\u00e4r als V + 1.\nDas Operiren mit ungen\u00fcgend bestimmten und Pseudohegriffen hat in letzter Instanz seinen Grund in der geringen Bereitwilligkeit\n1) Diese Bezeichnung ist eine ebenso ungl\u00fcckliche, wie die der nicht in endlicher Form darstellbaren Zahlen als irrationale. An den letzteren ist durchaus nichts vernunftwidriges zu entdecken, und die ersteren scheinen ihren Namen lucus a non lucendo \u2014 bekommen zu haben, weil man sich bei ihnen absolut nichts mehr vorstellen kann.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nA. Kirsehmann.\nder heutigen Mathematik, eine wirklicherf(Analyse der Begriffe auszuf\u00fchren. Was man in der Mathematik Analyse nennt, ist, soweit es sich auf den Baum bezieht, nur ein Zur\u00fcckf\u00fchren bis auf ein gewisses, der arithmetischen Behandlung bequemes Stadium, wie bei den rechtwinkligen und Polar-Coordinaten, nicht aber ein Zur\u00fcckf\u00fchren auf absolut einfache, nicht weiter zerlegbare Elemente. So ist der Punkt nur vom Standpunkte der Gr\u00f6\u00dfenbetrachtung einfach und unzerlegbar, nicht aber von demjenigen der Ausdehnung (d. i. des Baumes).\nMan streitet sich darum, ob die als Axiome ausgegebenen S\u00e4tze apriorischer oder empirischer Natur sind \u2014 und dabei sind \u00bbapriorisch\u00ab und \u00bbempirisch\u00ab seihst ziemlich fragw\u00fcrdige Begriffe \u2014 anstatt, wie es z. B. die Chemie mit so gro\u00dfem Erfolge gethan und wie es die Psychologie zu thun begonnen, zu ermitteln, ob sie etwas absolut Einfaches oder ein Zerlegbares ausdr\u00fccken. Ist aber ein mathematischer Satz oder Gedanke als absolut einfach befunden worden, so kann er nicht bewiesen werden, und wenn von zwei Menschen der eine ihn f\u00fcr nothwendig, der andere aber f\u00fcr falsch erkl\u00e4rt, so spricht einer von ihnen, falls wir annehmen, dass das Denken beider commensurabel ist, die \u2014 Unwahrheit (die subjective, denn eine andere gibt es nicht).\nDie Anw\u00e4lte der nicht-euklidischen Geometrie sind meist geneigt den Gegnern vorzuwerfen, dass sie zu sehr an den einmal gew\u00e4hlten technischen Ausdr\u00fccken Ansto\u00df nehmen, und dass die Abneigung gegen die neue Lehre zum gro\u00dfen Theil auf mathematischer Unkenntnis8 \u2014 das hat man sogar die Stirn gehabt, dem scharfsinnigen Lotze vorzuhalten1), \u2014 haupts\u00e4chlich auf Unverst\u00e4ndniss f\u00fcr die wahre Bedeutung der f\u00fcr die nicht-euklidische Geometrie eingef\u00fchrten Bezeichnungen beruhe, \u00e4hnlich etwa wie es dem Laien mit der langathmigen Terminologie der modernen organischen Chemie ergeht. Hier aber liegt die Sache ganz anders. Auch die einen Zeilen langen Namen erheischende complicirte Kohlenstoffverbindung kann eindeutig als explicite Function von Badicalen und Elementen definirt werden, und die chemische Terminologie ist trotz ihrer f\u00fcr den Uneingeweihten abschreckenden Form ganz consequent. Nicht so diejenige der\n1) Russel, Foundations of Geometry, p. 98.","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n351\nMetageometrie. Da werden fortw\u00e4hrend Begriffe gebraucht, die der euklidischen Geometrie entnommen sind. Es werden ihnen dann Eigenschaften beigelegt, die sie beim euklidischen Gebrauch ohne Widerspruch nicht haben k\u00f6nnen. Man sagt dann, in der nichteuklidischen Geometrie seien die Widerspr\u00fcche nicht vorhanden. Das sagt man, und wenn es bewiesen werden soll, dann wartet man wieder mit schlecht passenden Analogien und zugestandenerma\u00dfen unrichtigen Illustrationen aus der euklidischen Raumlehre auf.\nDa ist endlich die einseitige analytische Behandlungsweise. Man k\u00f6nnte fast von einer analytischen Manie reden. Die geschriebene Formel gilt alles, die Anschauung, auch da, wo es sich um r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse handelt, gar nichts. Figuren sind nahezu verp\u00f6nt, besonders wenn sie etwas complicirterer Art sind und die klare Raumbeobachtung des exacten Zeichners voraussetzen. Man kann fertige Mathematiker, mit der fac. doc. in der Tasche, treffen, die Kegelschnitte \u00bbdurchaus studirt\u00ab haben und die analytischen Formeln dar\u00fcber nur so aus dem Aermel sch\u00fctteln k\u00f6nnen, die aber die Bemerkung, dass alle Parabeln einander \u00e4hnlich seien (es handelt sich hier nat\u00fcrlich nur um Curven zweiten Grades) mit Hohnl\u00e4cheln aufnehmen, die Richtigkeit derselben energisch bestreiten, einen geometrischen Beweis, dem sie Schritt f\u00fcr Schritt zuzustimmen gen\u00f6thigt sind, einen Trugschluss nennen und sich erst beruhigen, nachdem ein Professor zur Entscheidung z\u00f6gernd sein Wort zu ihren Ungunsten in die Wagschale geworfen hat. Da kann man sich doch des Gedankens nicht erwehren, dass solche Mathematiker trotz alles Formelwissens die wichtigsten Eigenschaften der Kegelschnitte nicht erfasst haben. Man hat sich an die cartesianische Methodq so sehr gew\u00f6hnt, dass man sie als etwas ganz Selbstverst\u00e4ndliches und Nat\u00fcrliches betrachtet, so wie der Ungebildete das decadische Zahlensystem, das sich der Mensch an seinen f\u00fcnf Fingern abgesehen hat, obgleich ein duodecadisches ungleich praktischer w\u00e4re, f\u00fcr das einzige in der Natur der Sache begr\u00fcndete h\u00e4lt.\nDie analytische Geometrie ist ein rein quantitatives Verfahren, dessen S\u00e4tze sich ebenso gut auf die eindimensionale sog. reine Gr\u00f6\u00dfenlehre beziehen k\u00f6nnten. Die Beziehung zum Raum wird nur dadurch hergestellt, dass man die zwei oder drei Variahein auf je eme constante Grundrichtung beschr\u00e4nkt, wobei man aber, um nicht f\u00fcr","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nA. Kirschmann.\njede Bestimmung acht Punkte statt eines zu erhalten, die willk\u00fcrlich gew\u00e4hlten Grundrichtungen (Coordinatenaxen) auch noch willk\u00fcrlich in je einen positiven und negativen Ast theilen muss, denen im Raume nichts entspricht.\nObgleich sich bei der analytischen Geometrie, deren Bedeutung und ungeheurer Nutzen f\u00fcr den Fortschritt der mathematischen Wissenschaften gewiss nicht geleugnet werden soll, die Beziehung zur Anschauung jederzeit herstellen l\u00e4sst, so wird die thats\u00e4chliche Aufrechterhaltung dieser Beziehung im Verlauf der Deduction doch durch den folgenden Umstand sehr erschwert. Bei der wirklich geometrischen Behandlung von Raumgebilden k\u00f6nnen wir leicht und \u00fcbersichtlich zwei Momente auseinander halten, die sich in Bezug auf das Gesetz der Relativit\u00e4t ganz verschieden verhalten. Bei jedem Raumgebilde lassen sich die \u00e4u\u00dferen und inneren Raumbeziehungen unterscheiden und getrennt beurtheilen. Die \u00e4u\u00dferen Beziehungen d. i. die absolute Gr\u00f6\u00dfe, Lage etc., sind von andern Raumgebilden abh\u00e4ngig, man \u00e4ndert sie, wenn man das Princip der Relativit\u00e4t auf das in Frage stehende Raumgebilde allein anwendet. Die inneren Beziehungen, d. i. die Gestalt (Oollineation und Winkelverh\u00e4ltnisse) werden durch die Anwendung des Relativit\u00e4tsprincipes gar nicht ber\u00fchrt. Diese in der anschaulichen Geometrie so leicht auseinander zu haltenden Beurtheilungsweisen, von welchen die eine gerade das , betrifft, was in der andern ganz irrelevant ist, n\u00e4mlich die absoluten Gr\u00f6\u00dfen, sind in der analytischen Geometrie gar nicht oder nur sehr undeutlich geschieden. Nur auf beschwerlichen Umwegen kann man aus den Gleichungen zweier Curven erkennen, ob die letzteren \u00e4hnlich sind oder nicht.\nAlle diese Uebelst\u00e4nde in der heutigen mathematischen Methode stehen in engstem Zusammenh\u00e4nge mit den fast allgemein angenommenen Grundvoraussetzungen, dass es eine reine, von der r\u00e4umlichen Ausdehnung absolut unabh\u00e4ngige Gr\u00f6\u00dfenlehre gebe, die sich als das Prim\u00e4re, Urspr\u00fcngliche, allen speciellen mathematischen Betrachtungsweisen \u00fcherordne, und dass die Geometrie des gegebenen Raumes sich als ein besonderer Fall einer allgemeineren Mannigfaltigkeitslehre ansehen lasse. Diese Annahmen liegen aber auch den Speculationen zu Grunde, die zu der Theorie der h\u00f6heren Dimensionen gef\u00fchrt haben.","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n353\nIn ihrer ersten Entwicklungsstufe, die sich an die Namen Gau\u00df, Lobatschewsky und Bolyai kn\u00fcpft, ist die Metageometrie nicht um ihrer selbst willen behandelt worden. Es handelte sich vielmehr um die Frage nach der apriorischen Richtigkeit eines von Euklid als Axiom behandelten Satzes: des Gesetzes von den Parallelen. Wenn der Satz von den Parallelen unabh\u00e4ngig ist von den \u00fcbrigen Axiomen und nicht denselben axiomatischen Charakter hat wie jene, aber eine wesentliche Voraussetzung der euklidischen Geometrie bildet, so sind hinfort zwei Geometrien m\u00f6glich, eine wehere, umfassendere, in der das Parallelengesetz nicht gilt, und eine enggye, die euklidische, die einen durch eine specielle Voraussetzung eingeschr\u00e4nkten Fall der ersteren bildet. Wenn man bei diesem Gedankengang nicht den groben Fehler begeht, zu verlangen, dass eine Reihe von Schlussfolgerungen, weil man sie Geometrie getauft hat, nothwendiger Weise R\u00e4umliches repr\u00e4sentiren m\u00fcsse, so liegen hinsichtlich des Verh\u00e4ltnisses der genannten Geometrien zum Raume folgende M\u00f6glichkeiten vor:\n1)\tDer Satz von den Parallelen ist f\u00fcr den Raum axiomatisch und apriorisch nothwendig; dann ist die euklidische Geometrie die Lehre vom Raume, und die nicht-euklidische, die sich auf irgend etwas anderes beziehen mag, hat mit dem Raume nichts zu thun.\n2)\tDer Satz von den Parallelen ist nicht axiomatisch oder nothwendig, aber auch nicht als unrichtig erwiesen. Das hei\u00dft, er mag von gewissen Gesichtspunkten aus als thats\u00e4chlich erscheinen. (Nicht zu \u00fcbersehen ist, dass, wenn ein Satz von allen m\u00f6glichen Gesichtspunkten betrachtet als thats\u00e4chlich erscheint, er eben nothwendig ist). In diesem Falle m\u00f6gen beide, die euklidische wie die nicht-euklidische Geometrie auf den Raum anwendbar sein, sofern sich dabei keine unl\u00f6sbaren Widerspr\u00fcche her ausstellen. Sie beziehen sich aber beide dann auf den gegebenen Raum.\n3)\tDer Satz von den Parallelen ist erweislich falsch. In diesem Falle ist die euklidische Geometrie unrichtig und die nicht-euklidische, in der man ohne Parallelengesetz auskommt, ist die Raumlehre, d. i. Geometrie des gegebenen Raumes.\nIn keinem der aufgef\u00fchrten drei F\u00e4lle liegt eine Nothwendig-keit oder auch nur die geringste Veranlassung vor, \u00bbneben\u00ab oder \u00bbhinter\u00ab dem gegebenen noch einen anderen \u00bbnicht gegebenen\nWundt, Philos. Studien. XIX.\t23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nA. Kirschmann.\nRaum\u00ab anzunehmen. Was speciell den dritten Fall anbelangt, so hat Helmholtz die Denkbarkeit nicht-euklidischer R\u00e4ume durch die Behauptung darzuthun gesucht, dass vielleicht unser Raum gar nicht einmal wirklich euklidisch sei, sondern nur eine gro\u00dfe Ann\u00e4herung an den euklidischen zeige. Die Fortpflanzungsrichtungen der fernwirkenden Kr\u00e4fte beispielsweise seien vielleicht gar nicht so gerade, wie wir anzunehmen gewohnt sind.\nEr geht so weit, daran zu erinnern, dass die Menschheit so lange auf der vermeintlich ebenen Erde gewohnt habe, ehe sie ihre sph\u00e4rische Gestalt erkannte, und dass sie sich gegen diese Erkenntniss ebenso hartn\u00e4ckig str\u00e4ubte wie die Gegner der nicht-euklidischen Geometrie gegen die Vorstellbarkeit eines sph\u00e4rischen und pseudosph\u00e4rischen Raumes. Diese Analogie ist eine h\u00f6chst mangelhafte, denn die Kugelgestalt der Erde kann jederzeit und gerade mit H\u00fclfe der euklidischen Geometrie anschaulich dargethan, ja direct wahrgenommen werden, w\u00e4hrend es Helmholtz nie gelungen ist, irgend Jemandem eine Anschauung von den nicht-euklidischen R\u00e4umen beizubringen.\nDer scharfsinnigen Widerlegung, die Lotze dieser Helmholtz-schen Beweisf\u00fchrung angedeihen lie\u00df, ist kaum etwas hinzuzuf\u00fcgen Es ist eigenth\u00fcmlich, dass gerade der strenge Empirist Helmholtz so vorgehen konnte, ohne zu merken, dass er consequenter Weise entweder seine nicht-euklidischen R\u00e4ume oder seinen Empirismus h\u00e4tte aufgeben m\u00fcssen. Denn nehme man einmal an, Hel mholtz habe Recht, der Raum der Wirklichkeit sei nicht gerade, sondern mehr oder minder krumm. Dann sind zwei F\u00e4lle m\u00f6glich: entweder merken wir diese Kr\u00fcmmung oder wir merken sie nicht. Im Falle dass sich die Kr\u00fcmmung weder direct noch indirect (etwa vermittelst feiner Messinstrumente) wahrnehmen und nach-weisen lie\u00dfe, best\u00e4nde aber zwischen unserem geraden Raume und dem Helmholtz\u2019sehen krummen gar kein Unterschied. Es h\u00e4tte dann \u00fcberhaupt keinen Sinn von geraden und krummen R\u00e4umen zu reden. Es w\u00e4ren ja doch nur verschiedene Ausdr\u00fccke f\u00fcr dasselbe Ding. Bemerkten wir aber die Kr\u00fcmmung, so k\u00f6nnte dies doch nur durch den Vergleich mit dem nichtgekr\u00fcmmten geraden Raume geschehen. In diesem Falle w\u00fcrden wir also den empirischen, gekr\u00fcmmten Raum an einem nichtempirischen, euklidischen Raume","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n355\nmessen, womit die Priorit\u00e4t und Apriorit\u00e4t des letzteren zugegeben w\u00e4re. Der gerade euklidische Raum und seine Ausmessung bleibt also in jedem Palle die \u00bbma\u00df\u00abgebende Norm, oder wie J. Schultz sich treffend ausdr\u00fccktl): In allem Wirrwarr der Helmholtz\u2019scben Hexenk\u00fcche bleibt nur eins stehen: Unsere Geometrie.\nNach Legendre l\u00e4sst sich beweisen, dass die Winkelsumme im Dreieck kleiner sein kann als zwei Rechte. Wenn man dies einmal zugibt, dann folgt zugleich, dass die Winkelsumme mit der Gr\u00f6\u00dfe des Dreiecks abnimmt. Wie gef\u00e4hrlich diese Annahme dadurch f\u00fcr die Folgerichtigkeit aller Geometrie werden muss, dass sie die M\u00f6glichkeit einer unendlichen Menge von verschiedenen aber gleichzeitig richtigen Systemen proclamirt, hat schon Taurinus2) eingesehen. Wenn mehrere Geraden durch zwei Punkte m\u00f6glich sind, dann haben wir uns von vornherein des wichtigsten Bestimmungsprincipes aller Raumlehre, des Principes der Richtung ent\u00e4u\u00dfert. Aber auch das Princip der Aehnlichkeit geht verloren. Man denke sich ein beliebiges Dreieck durch Verl\u00e4ngerung zweier Seiten auf zehnfache Gr\u00f6\u00dfe gebracht. In diesem gro\u00dfen Dreieck soll nun nach jener Annahme die Winkelsumme kleiner sein als in dem urspr\u00fcnglichen. Nun denke man sich das urspr\u00fcngliche Dreieck durch ein ideales, keine Verzerrungen verursachendes Vergr\u00f6\u00dferungsglas gesehen. Die Vergr\u00f6\u00dferung sei eine solche, dass die Eckpunkte des so vergr\u00f6\u00dferten mit denen des durch Verl\u00e4ngerung der Seiten construirten Dreieckes zusammenfallen. Werden nun die Seiten der beiden Dreiecke sich auch decken? Ob sie sich decken oder nicht, in jedem hall entsteht ein Widerspruch. Decken sich die Seiten, dann ist das vermittelst der Linse vergr\u00f6\u00dferte Dreieck mit dem andern identisch. Seine Winkelsumme muss dann auch kleiner sein als die des urspr\u00fcnglichen Dreiecks. Dann aber w\u00e4re die Vergr\u00f6\u00dferung der Linse keine ideale gewesen, wie angenommen; denn die Aenderung der Winkelgr\u00f6\u00dfen ist doch eine Verzerrung. Decken sie sich nicht, dann haben wir zwei verschiedene, in den Eckpunkten coincidirende Figuren, von denen jede beansprucht, das vergr\u00f6\u00dferte Dreieck zu sein. Ein Dreieck ist dann durch die Lage seiner Ecken nicht bestimmt.\nNun wird man einwenden, meine \u00bbideale\u00ab Vergr\u00f6\u00dferung sei eben\n1)\tPsychologie der Axiome, S. 187.\n2)\tVgl. St\u00f6ckel u. Engel, Die Theorie der Parallellinien, S. 261 f.\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nA. Kirschmann.\nganz im Sinne der euklidischen Geometrie gedacht und daher, wenn diese sich als unrichtig erweist, eben nicht ideal, sondern in Wirklichkeit eine Verzerrung. Die einzig richtige \u00bbreine\u00ab Vergr\u00f6\u00dferung sei eine von der nicht-euklidischen Geometrie geforderte, wobei die Winkelsumme sich \u00e4ndere. Ganz recht; dann denke man sich das urspr\u00fcngliche Dreieck mittelst einer, vom Standpunkte der nichteuklidischen Geometrie als durchaus unideal zu betrachtenden Linse vergr\u00f6\u00dfert, deren \u00bbVerzerrung\u00ab aber gerade darin besteht, dass die Winkel erhalten bleiben. Dann erhebt sich die Frage : Was ist denn nun die aus der winkeltreuen Vergr\u00f6\u00dferung hervorgegangene Figur? Ist sie auch ein geradliniges Dreieck? Dann h\u00e4tten wir wieder den Widerspruch der sich in den Eckpunkten, nicht aber hinsichtlich der Seiten deckenden Dreiecke. Ist sie kein Dreieck, was ist sie dann? Jedenfalls ist die Geometrie verpflichtet, sich mit dieser neuen Figur ebenso eingehend zu befassen wie mit dem im nicht-euklidischen Sinne vergr\u00f6\u00dferten Dreieck.\nNun wird man vielleicht sagen: Die Figur, die durch das entstanden ist, was nach der euklidischen Geometrie ideale, nach der nicht-euklidischen aber verzerrende Vergr\u00f6\u00dferung bedeutet, ist \u00fcberhaupt nicht mehr geradlinig. Mit andern Worten: Jede winkeltreue Vergr\u00f6\u00dferung einer geradlinigen Figur l\u00e4sst die Geraden zu krummen Linien werden. Damit aber ist der Begriff der Aehnlichkeit aus der nicht-euklidischen Geometrie vollst\u00e4ndig verbannt, denn wenn man bei jeder Vergr\u00f6\u00dferung oder Verkleinerung entweder die Winkeltreue oder die Richtungstreue (Geradlinigkeit) aufgeben muss, dann kann es keine der Gestalt nach \u00e4hnlichen Figuren gehen. Wenn man dann ein und dasselbe Dreieck in verschiedene Entfernungen proji-cirt oder aus verschiedenen Entfernungen betrachtet, so darf es sich nicht \u00e4hnlich bleiben. Bleibt es geradlinig, so \u00e4ndern sich die Winkel. Sind die Projectionen winkeltreu, so werden die Seiten krumm. Nun ist aber das, was wir Raum\u00e4hnlichkeit, Aehnlichkeit der Gestalt nennen, weiter nichts als ein specieller Fall der allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenrelativit\u00e4t. Die nicht-euklidische Geometrie muss daher, wie, wenn ich mich nicht irre, Lobatschewsky schon erkannte, stets mit absoluten Gr\u00f6\u00dfen operiren. Absolute Gr\u00f6\u00dfen sind aber nicht allein niemals in der Erfahrung gegeben, sondern sie sind nicht einmal denkbar. Die Relativit\u00e4t aber, mit der sich die nicht-euklidische Geometrie in","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n357\nunl\u00f6sbaren Widerspruch setzt, ist eine in jeder Erfahrung und in jedem nothwendigen Gesetz mitgegebene Thatsache.\nWenn nun auch Legendre1) beweisen konnte, dass die Winkel im Dreieck zwar nicht gr\u00f6\u00dfer, wohl aber kleiner als n sein k\u00f6nnen, sind denn die Begriffe n oder 180\u00b0 dann auch noch dasselbe, was sie vorher waren? M\u00fcsste nicht erst bewiesen werden, dass diese Begriffe ganz unabh\u00e4ngig von dem Dreieckssatz, dem Parallelengesetz und dem damit zusammenh\u00e4ngenden Axiom von der Geraden sind? Wenn man wirklich durch einen Punkt au\u00dferhalb einer Geraden zwei Parallelen zu der Geraden ziehen kann, die die Gerade in \u00bbunendlich fernen\u00ab Punkten schneiden \u2014 wobei man, wie es scheint, annehmen soll, dass die zwischen beiden Parallelen durch den Punkt gelegten Geraden, die die Linie \u00fcberhaupt nicht schneiden, nicht parallel zu jener seien und dass zwischen \u00bbgar nicht schneiden\u00ab und \u00bbin der Unendlichkeit schneiden\u00ab ein wesentlicher Unterschied besteht, \u2014 dann muss die Gerade doch auch eine Tangente an einem Kreise und der Punkt der Mittelpunkt des Kreises sein k\u00f6nnen. Es lassen sich also zu jeder Tangente am Kreise mehrere parallele Durchmesser ziehen. Damit ist aber nicht blo\u00df der gew\u00f6hnliche Begriff der Parallelen sondern auch der des Lothes, derjenige des rechten Winkels und demnach der Zahl n durchaus ge\u00e4ndert. Wenn man also sagt, die Summe der Winkel im Dreieck k\u00f6nne auch kleiner sein als 5T, so bedeutet dieses n nicht mehr dasselbe wie in dem gel\u00e4ufigen Satze, wonach die Summe der Dreieckswinkel = n ist.\nMan hat behauptet, Gau\u00df sei, als er die Winkelsumme des Dreiecks Brocken \u2014 Inselsherg \u2014 hoher Hagen durch genaue Messung ermittelte, in \u00e4hnlicher Weise kritisch gegen die Geometrie verfahren, wie Kant in seiner Kritik gegen die Vernunft verfuhr2). Es sei denkbar, dass bei weiterer Forschung sich herausstelle, dass das Gesetz von der Winkelsumme f\u00fcr sehr gro\u00dfe Dreiecke nicht gilt. Nun kennt aber die Geometrie Euklid\u2019s eine solche Verleugnung der Thatsache der Relativit\u00e4t gar nicht. Es gibt keine schlechthin gro\u00dfen und kleinen Dreiecke, und wer einer Figur, deren Winkelsumme mehr oder weniger betr\u00e4gt als 2 E, den Charakter des gerad-\n1) Friedrich Engel, Theorie der Parallellinien, S. 212.\n\u2022\t2) Fritz Medicus, Kant\u2019s transcendentale Aesthetik und die nicht-euklidi-\nsche Geometrie, S. 35 f.","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nA. Kirschmann.\nlinigen Dreiecks abspricht, ist ohne weiteres in seinem Rechte; denn wer will mich hindern das geradlinige Dreieck so zu definiren, dass es das Gesetz von der Winkelsumme einschlie\u00dft. Die Seiten eines Dreiecks, welches diese Bedingung nicht erf\u00fcllt, und darum auch die \u00bbGeraden\u00ab oder \u00bbk\u00fcrzesten Linien\u00ab der negativ oder positiv gekr\u00fcmmten R\u00e4ume, sind eben krumm. Auf jener unberechtigten Vernachl\u00e4ssigung des Relativit\u00e4tsgesetzes beruht es dann weiter auch, dass man bei den von Sacheri, Legendre u. A. behandelten Problemen immer von kleinen Abweichungen von 2 R spricht. Was ist denn \u00bbklein\u00ab? Es ist gar nicht einzusehen, warum diese Abweichungen, wenn \u00fcberhaupt die ganze Sache einen vern\u00fcnftigen Boden hat, nicht auch von erheblicher Gr\u00f6\u00dfe sein sollten.\nEs ist auch zu ber\u00fccksichtigen, was weiter oben \u00fcber die Einfachheit der Axiome gesagt ist. Gerade darin, dass man nicht in hinreichendem Ma\u00dfe bestrebt war, auf letzte unzerlegbare Raum- und nicht nur Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse zur\u00fcckzugehen, liegt der Grund des ganzen scholastisch-dialectischen Streites \u00fcber das Parallelengesetz.\nDer Begriff des Parallelismus ist nicht einfach und unanalysirbar. Er enth\u00e4lt neben einem projectivischen, d. h. die reine Ausdehnung angehenden, einen metrischen Bestandtheil. In den gel\u00e4ufigen Definitionen der Parallelen wird dies durch die Einf\u00fchrung von Begriffen verschleiert, die entweder selber weit mehr der Definition bed\u00fcrfen als der der Parallelen (Abstand), oder aber mit dem Parallelismus nur einen indirecten Zusammenhang haben (Ebene). Euklid definirt die Parallelen als Geraden in einer Ebene, die sich nicht schneiden. Nun ist diese Definition aber viel zu eng ; denn die Ebene kann nur in so fern in Betracht kommen, als von einer Anzahl paralleler Linien im Raume nur je zwei in einer Ebene liegen m\u00fcssen. Definirt man die Parallelen als Geraden, die \u00fcberall gleichen Abstand haben, so begeht man einen noch viel \u00e4rgeren logischen Fehler. Denn, was ist der Abstand oder die Entfernung zweier Linien ? Man kann zwar von dem Abstand oder der Distanz zweier Punkte reden; das ist in der That ein elementarer metrischer Begriff. Dem \u00bbAbstand zweier Linien\u00ab dagegen l\u00e4sst sich, wie man bei genauerer Ueberlegung leicht einsieht, ein Sinn nur dann beilegen, wenn die Linien parallel sind. Die Begriffe \u00bbEbene\u00ab und \u00bbAbstand\u00ab m\u00fcssen daher aus der Definition der Parallelen unbedingt verschwinden. Dahingegen l\u00e4sst sich","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n359\nder verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig einfache Begriff des Loties, welcher sowohl zur projectiven wie zur metrischen Betrachtungsweise Beziehungen hat, sehr wohl zur Begriffsbestimmung des Parallelismus verwenden.\nWenn man von irgend einem Punkte einer Curve oder Geraden ein Loth auf eine andere Curve oder Gerade im Baume f\u00e4llt, und es findet sich, dass dieses Loth nun auch auf der ersten Curve ode\u00e7 Geraden senkrecht steht, so ist das Loth ein gemeinschaftliches Loth der beiden Linien. Oder: Wenn man in irgend einem Punkte einer geraden oder krummen Linie ein Loth errichtet, und dieses Loth auch zu einer anderen geraden oder krummen Linie im Baume normal ist, so ist es ein den beiden Linien gemeinschaftliches Loth. F\u00fcr gerade Linien im Baume liegen nun bez\u00fcglich der gemeinschaftlichen Lothe folgende drei M\u00f6glichkeiten vor:\n1)\tWenn zwischen zwei Geraden kein gemeinschaftliches Loth m\u00f6glich ist, dann schneiden sich die Geraden irgendwo im Baume.\n2)\tWenn zwischen zwei Geraden ein gemeinschaftliches Loth m\u00f6glich ist, dann schneiden sich die Geraden nicht.\n3)\tWenn zwischen zwei Geraden mehr als ein gemeinschaftliches Loth m\u00f6glich ist, dann sind die Geraden parallel. (Wenn mehr als ein gemeinschaftliches Loth m\u00f6glich ist, dann sind unendlich viele m\u00f6glich).\nDemnach ergibt sich als Definition des Parallelismus: Beliebig viele gerade Linien im Baume hei\u00dfen parallel, wenn jede derselben mit jeder andern durch mehr als ein gemeinschaftliches Loth verbunden werden kann. Der projectivischej\u00dfestandtheil dieser Definition besagt, dass sich die Geraden nicht schneiden, oder, was dasselbe ist, dass zwischen je zweien von ihnen ein gemeinsames Loth m\u00f6glich ist. Das erg\u00e4nzende und f\u00fcr den Parallelismus ausschlaggebende metrische^JCriterium besteht in der Mehrheit der m\u00f6glichen gemeinschaftlichen Lothe1).\n1) Das Loth ist in den obigen Definitionen nur gew\u00e4hlt, weil es eine gewisse K\u00fcrze des Ausdrucks gestattet. W\u00e4hlt man eine Fassung, die auch f\u00fcr andere sich unter gleichen Winkeln schneidende Transversalen gilt, so wird die Definition ungleich complicirter. Die Bedeutung des Lothes beruht hier nicht auf seiner metrisch ausgezeichneten Stellung (Winkel von 90\u00b0), sondern auf seiner rein r\u00e4umlichen (projectivischen) Eigenschaft als Symmetrie-Scheide zwischen zwei metrisch congruenten und doch verschiedenen Theilen des Raumes. So spielt auch beim Parallelismus in letzter Instanz die prim\u00e4re Unterscheidung von Rechts und Links eine Rolle.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nA. Kirschmann.\nAuch Hilbert1} gibt die Beziehung zur Ebene nicht auf bei seinem \u00bbAxiom der Parallelen\u00ab, welches auch nach ihm aus zwei Aussagen besteht, n\u00e4mlich 1), dass es durch einen Punkt zu einer Geraden in der Ebene stets eine Gerade gibt, die die erstere nicht trifft; und 2), dass es nur eine solche Gerade gibt (oder mit anderen Worten: Wenn zwei Geraden einer Ebene eine dritte nicht treffen, so treffen sie auch einander nicht). In seinem Oapitel \u00fcber die Unabh\u00e4ngigkeit des Parallelenaxioms2) beweist Hilbert die erste Aussage aus den \u00fcbrigen Axiomen. Die zweite Aussage dagegen sei unabh\u00e4ngig und daher bestehe die M\u00f6glichkeit einer nicht-euklidischen Geometrie. Dieser Schluss aber scheint mir nicht gerechtfertigt, da Hilbert\u2019s Definition des Parallelismus der Begriff der Ebene zu Grunde liegt, welchen er ganz euklidisch auf fasst; denn eine Ebene ist nach ihm durch drei nicht in einer Geraden liegende Punkte bestimmt. In einem nicht-euklidischen Baume dagegen \u2014 auch bei constanter Kr\u00fcmmung \u2014 m\u00fcssen durch je drei Punkte mindestens zwei (nicht-euklidische) \u00bbEbenen\u00ab m\u00f6glich sein, oder aber der Unterschied zwischen euklidischer und nicht-euklidischer Ebene wird belanglos.\nIn der zweiten, durch das epochemachende Eintreten von Bie-mann und Helmholtz f\u00fcr die nicht-euklidische Geometrie charak-terisirten Entwicklungsstufe der Metageometrie tritt das geometrische, haupts\u00e4chlich an das Parallelen axiom ankn\u00fcpfende Interesse sehr in den Hintergrund zu Gunsten einer rein algebraischen, analytischen Betrachtungsweise, die entschieden auf den gewaltigen, \u00fcberall ausschlaggebenden Einfluss der analytischen Geometrie zur\u00fcckgef\u00fchrt werden muss. Der Baum ist lediglich Gr\u00f6\u00dfe und bildet in seiner dreifachen Ausdehnung nur einen speciellen Fall des ra-fach ausgedehnten Mannigfachen. So wird der Begriff der Ausdehnung, von welchem durchaus nicht bewiesen wird, dass er \u00fcberhaupt auf etwas anderes als den gegebenen Baum anwendbar ist, als ein selbstverst\u00e4ndliches Attribut jeder Mannigfaltigkeit betrachtet. Hat man sich aber einmal dazu verstanden, das was eine ra-fach variable Mannigfaltigkeit hei\u00dfen sollte, eine \u00ab-fach ausgedehnte zu nennen, dann\n1)\tD. Hilbert, Grundlagen der Geometrie. Festschrift zur Feier der Enth\u00fcllung des Gau\u00df-Weber-Denkmals. S. 10.\n2)\tEbenda, S. 22.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n361\nist, da man f\u00fcr Ausdehnung ja auch Dimension sagt, der Schritt von dem M-fach ausgedehnten oder \u00bb\u00bb-dimensionalen Mannigfachen zu dem \u00ab-dimensionalen Baume ein sehr naheliegender. So bauen sich gro\u00dfartige mathematische Theorien, denen man in ihrem Oberbau weder K\u00fchnheit noch Eleganz absprechen kann, auf logischen Schnitzern auf und gar noch solchen, hei welchen ungen\u00fcgende Begriffsbestimmung und oberfl\u00e4chlicher Sprachgebrauch eine wesentliche Rolle spielen.\nIn den Arbeiten von Riemann und Helmholtz \u00fcber nichteuklidische Geometrie spielt neben dem Begriff des Mannigfachen derjenige der Kr\u00fcmmung eine ma\u00dfgebende Rolle. Unter Kr\u00fcmmung ist urspr\u00fcnglich offenbar nichts anderes als die Abweichung von der geraden Linie zu verstehen. Da aber diese Abweichung verschiedene St\u00e4rke besitzen kann, so bedarf man eines Ma\u00dfes der Kr\u00fcmmung, als welches der sog. Kr\u00fcmmungsradius, d. i. der Radius desjenigen Kreises, der an der betreffenden Stelle der Curve am n\u00e4chsten kommt, am geeignetsten ist. (Man pflegt gew\u00f6hnlich zu sagen, das Ma\u00df sei der Radius des Kreises, der mit der Curve an der betreffenden Stelle drei auf einander folgende Punkte gemein habe. Diese Ausdrucksweise ist jedoch verwerflich, da es erstens keine auf einander folgende oder benachbarte Punkte gehen kann, und da zweitens, selbst wenn es welche g\u00e4be, ein Kreis durch drei auf einander folgende Punkte nicht bestimmt sein k\u00f6nnte.)\nDas Gau\u00df\u2019sehe Kr\u00fcmmungsma\u00df f\u00fcr Fl\u00e4chen scheint nicht so ganz \u00fcber alle Zweifel erhaben. Es versucht die Kr\u00fcmmung einer Fl\u00e4che zu bestimmen, ohne aus der Fl\u00e4che herauszugehen. Es wird dargestellt durch das Product zweier linearer Gr\u00f6\u00dfen, und stellt daher, ohne weiteres, nichts als eine lineare Gr\u00f6\u00dfe dar. Auch der Kr\u00fcmmungsradius ist ja eine lineare Gr\u00f6\u00dfe, aber er ist doch ein Radius, also ein Repr\u00e4sentant einer Fl\u00e4chenfigur. So wie aber die Kr\u00fcmmung einer Linie die Ebene oder wenigstens die Fl\u00e4che voraussetzt, und nur durch eine Fl\u00e4chengr\u00f6\u00dfe (man meint doch den Kr\u00fcmmungskreis, wenn man auch vom Kr\u00fcmmungsradius spricht) gemessen werden kann, so setzt auch die Fl\u00e4chenkr\u00fcmmung das K\u00f6rperh\u00f6he voraus und kann nur durch ein K\u00f6rperliches gemessen werden. Schon die Thatsache, dass nach der Gau\u00df\u2019sehen Betrachtungsweise eine Fl\u00e4che, die das Kr\u00fcmmungsma\u00df 0 besitzt, durchaus nicht nothwendig identisch ist mit einer nicht gekr\u00fcmmten Fl\u00e4che (hierher","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nA. Kirschmann.\ngeh\u00f6ren Ebene, Cylinder- und Kegelmantel) sondern lediglich eine Fl\u00e4che bedeutet, die nicht in mehr als einer Richtung gekr\u00fcmmt ist, sollte uns hinsichtlich des Begriffs des Kr\u00fcmmungsma\u00dfes stutzig machen. Nimmt man aber den Begriff in dieser Fassung an und willigt ein, den genannten Fl\u00e4chen das Kr\u00fcmmungsma\u00df 0 zuzuschreiben, und die Fl\u00e4chen mit dem Kr\u00fcmmungsma\u00dfe 0 zu den Fl\u00e4chen mit constanter Kr\u00fcmmung zu rechnen, dann hat man offenbar zwei Arten von Fl\u00e4chen mit constanter Kr\u00fcmmung; eine Art n\u00e4mlich, in welcher man jede Figur oder Curve beliebig verschieben und drehen kann, ohne die lineare Kr\u00fcmmung zu \u00e4ndern (wie die sph\u00e4rische Fl\u00e4che und die Ebene), und eine andere, in welcher man zwar Verschiebungen in der Richtung von geod\u00e4tischen Linien, nicht aber Drehungen und Verschiebungen in den Richtungen anderer Linien vornehmen kann (Kegel, Cylinder).\nDieser weder eindeutige noch sonst einwandsfreie Begriff des /\u25a0 Kr\u00fcmmungsma\u00dfes, der den allseitig ausgedehnten Raum voraussetzt und nur auf Raumgrenzen anwendbar ist, wird dann auf den Raum selbst angewandt. W\u00e4hrend die Kr\u00fcmmung doch eine Richtungs\u00e4nderung im Raume ist, spricht man auf einmal von der Kr\u00fcmmung des Raumes selbst und unterscheidet, analog der Eintheilung der Fl\u00e4chen, R\u00e4ume von constanter und solche von nichtconstanter Kr\u00fcmmung. Dabei sollen constantes Kr\u00fcmmungsma\u00df des Raumes, Congruenz des Raumes und freie Beweglichkeit ziemlich gleichbedeutende Begriffe sein. Nun wolle man bedenken, dass Fl\u00e4chen von inconstantem Kr\u00fcmmungsma\u00dfe uns nur im congruenten Raume, d. h. in einem Raume gegeben sind, in welchem man ein Raumgebilde frei nach allen Ortenjbewegt denken kann, ohne seine Gr\u00f6\u00dfe oder Gestalt zu \u00e4ndern. Also dieser Raum von constanter Kr\u00fcmmung, und zwar dem Kr\u00fcmmungsma\u00dfe 0, ist die Voraussetzung der Beurtheilung des Kr\u00fcmmungsma\u00dfes von Fl\u00e4chen. Die Unterscheidung der Constanz oder Nichtconstanz des Kr\u00fcmmungsma\u00dfes im System von n \u2014 1 Dimensionen setzt daher die Thats\u00e4chlichkeit der Constanz und Congruenz des \u00eez-dimensionalen Systems voraus. Wenn demnach unser Raum von 3 Dimensionen nicht ein specieller Fall einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit ist, haben wir eigentlich gar kein Mittel, um nachzuweisen, dass unser Raum wirklich constante Kr\u00fcmmung besitzt.","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n363\nDenn Wesen, die in einem incongruenten Raume existiren, k\u00f6nnen ja die bei den Ortsver\u00e4nderungen von geometrischen Gebilden oder materiellen K\u00f6rpern in einem solchen Raume unvermeidlichen Verzerrungen gar nicht merken, wenn sie nicht gleich einen Raum, in welchem Oongruenz und freie Beweglichkeit erhalten sind, zum Vergleich danebenihaben.\nNun kann zum Ueberfiuss das Kr\u00fcmmungsma\u00df auch noch negativ werden. Helmholtz hat dies zwar anf\u00e4nglich geleugnet, aber ein anderer Mathematiker, der Italiener Beltrami, macht die //,-dimensionalen Mannigfaltigkeiten von constanter, negativer Kr\u00fcmmung zum vornehmsten Gegenstand seiner Forschung. Wenn man nun bedenkt, dass negativ im Raume nie etwas anderes bedeuten kann, als eine Richtung, die zu einer anderen Richtung, die man willk\u00fcrlich als positiv bezeichnet hat, antagonistisch ist, so dass man also jeder Zeit unbeschadet der Anschauung oder Rechnung negativ und positiv vertauschen kann, so muss man zugeben, dass der Begriff des negativen Kr\u00fcmmungsma\u00dfes ein ebenso inhaltsloser Pseudobegriff ist, wie etwa der der negativen Farbe oder der negativen Farbens\u00e4ttigung oder Helligkeit. Aber wir haben gesehen, schon y die Kr\u00fcmmung des Raumes ist ein mit inneren Widerspr\u00fcchen behafteter Scheinhegriff. Der congruente Raum ist das, was den Begriff der Kr\u00fcmmung \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich macht. Da sich der L\u00f6we nicht selbst den Kopf abhei\u00dfen kann, so k\u00f6nnen daher nur Raumgrenzen, nicht aber der Raum selbst gekr\u00fcmmt sein. So gut wie der Mathematiker von einem gekr\u00fcmmten Raum spricht, k\u00f6nnte der Psychologe auch von einer krummen Farbe oder von einem krummen Bewusstsein reden. Und wenn man ihn b\u00e4te, solche interessanten Dinge doch auch einmal vorzudemonstriren, dann k\u00f6nnte er mit demselben Rechte, mit dem es der Mathematiker thut, antworten: \u00bbJa lieber Freund, so etwas kann man sich zwar nicht vorstellen, aber man kann sich\u2019s wenigstens denken. \u00ab Ich behaupte aber, kein Mensch kann sich etwas denken, was einen Widerspruch enth\u00e4lt. Wohl kann man sagen, dass man sich\u2019s denke, aber dann sagt man die \u2014 Unwahrheit. So z. B. will es mir nie gelingen, mir ein materielles Atom zu denken, da ich ihm die widersprechenden Eigenschaften der Ausdehnung und der Untheilbarkeit zuschreihen muss. Wenn ich daher diesen Terminus dennoch gebrauche, so sind die folgenden drei F\u00e4lle m\u00f6glich: Entweder sage","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nA. Kirschmann.\nich die Unwahrheit, d. h. ich mache den H\u00f6rer oder Leser glauben, dass ich bei dem Gebrauch des Wortes Atom einen Begriff habe, w\u00e4hrend ich doch weiter nichts habe als das Wort; oder zweitens, ich gebe dem Worte eine ganz willk\u00fcrliche Definition, die den oben ger\u00fcgten Widerspruch weder offen noch versteckt enth\u00e4lt; (in diesem Falle aber hat der Begriff gar nichts vor dem des kleinen (nicht kleinsten) Theilchens voraus. Oder endlich ich gebrauche ihn kritiklos, als \u00bbHeerdenthier\u00ab dem \u00bbguten Beispiel\u00ab Anderer folgend \u2014 und das ist auch eine Art Unwahrheit. Ich bin \u00fcbrigens \u00fcberzeugt, dass der gr\u00f6\u00dfte Theil des sog. Gedankenaustausches durch die Sprache, im t\u00e4glichen Leben, und ein guter Theil auch in der Wissenschaft, aus solcher kritiklosen, dem thierischen Nachahmungstriebe entstammenden, Heerdenthiersprache besteht.\nBei dieser Gelegenheit m\u00f6chte ich bemerken, dass es mir auch nicht gelingen will, den Ausdr\u00fccken Form und Inhalt, Inneres und Aeus-seres, die sich in der Philosophie und Psychologie einer so vielseitigen Verwendung erfreuen, einen andern als rein r\u00e4umlichen Sinn beizulegen, es sei denn, dass ich sie ganz willk\u00fcrlich und ohne jegliche Beziehung zu ihrer urspr\u00fcnglichen Bedeutung definire. Ueberall da, wo diese Ausdr\u00fccke auf anderes als R\u00e4umliches \u00fcbertragen werden, da ist diese Uebertragung rein willk\u00fcrlich und h\u00f6chstens durch zuf\u00e4llige Ber\u00fchrungsassociationen mitbedingt. Man h\u00e4tte gerade so gut auch zwei neue Worte erfinden oder die Ausdr\u00fccke umgekehrt gebrauchen k\u00f6nnen, d. h. das Form und Aeu\u00dferes nennen k\u00f6nnen, was jetzt Inhalt und Inneres hei\u00dft, und umgekehrt.\nAuch den oben erw\u00e4hnten, so h\u00e4ufig gemachten Einwand, dass man sich wohl denken k\u00f6nne, was man sich nicht v\u00f6rzustellen im Stande sei, m\u00fcssen wir mit Entschiedenheit abweisen. Denken und Vorstellen sind gar nicht scharf zu trennende Vorg\u00e4nge. Darum ist auch die Ansicht von Schmitz-Dumont1), dass der Raum \u00fcberhaupt nicht vorgestellt, sondern nur gedacht werde, entschieden zu verwerfen. Da wir den leeren Raum nirgends wahmehmen, so sind nach ihm die Raumeigenschaften und Raumverh\u00e4ltnisse nur denkend gesetzte Bestimmungen. Vorgestellt, sagt er, werden nur K\u00f6rper mit sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften. Hiergegen ist einzu-\n1) Naturphilosophie und exacte Wissenschaft, S. 151.","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n365\nwenden, dass die Raumeigenschaften genau so gut sinnlich wahrnehmbar sind, wie die sog. Sinnesqualit\u00e4ten. An einer rothen Fl\u00e4che nehme ich eben so wohl die Ausdehnung wie die Qualit\u00e4t \u00bbroth\u00ab direct wahr. Zwar kann die Ausdehnung ohne Sinnesqualit\u00e4t nicht wahrgenommen werden; aber die Sinnesqualit\u00e4t kann dies eben so wenig ohne die Ausdehnung. Wenn das R\u00e4umliche wirklich nur \u00bbgedacht\u00ab und nicht vorgestellt und angeschaut w\u00fcrde, so h\u00e4tte Liebmann Recht, der den Riemann\u2019schen und Helmholtz\u2019schen Begriff der h\u00f6heren Dimensionen, trotz der mangelnden F\u00e4higkeit des Anschauungsverm\u00f6gens, sich etwas dem Begriffe entsprechendes vorzustellen, f\u00fcr logisch durchaus unbedenklich erkl\u00e4rt. Aber der von Liebmann1') auf Kant\u2019scher Grundlage so sehr betonte Gegensatz zwischen anschaulicher und logischer Noth wendigkeit ist im Grunde genommen eine sprachliche Fiction. Es gibt keine andere Nothwendigkeit als die geometrisch-anschauliche.\nWenn wir uns nicht auf den Standpunkt der vergangenen Tagen angeh\u00f6renden Theorie der Seelenverm\u00f6gen stellen wollen, so m\u00fcssen wir mit Wundt annehmen, dass es kein Denken ohne Vorstellen und kein Vorstellen ohne Denken gibt. Die Producte des Denkens, die Begriffe, sind doch nur stellvertretende Vorstellungen, begleitet von gewissen anderen Vorstellungen. Der Allgemeinhegriff des Dreiecks ist weiter nichts als die Vorstellung von einem beliebigen speci-ellen Dreieck, begleitet von der Nebenvorstellung, dass alles, was man von diesem Dreieck aussagen wolle, auch von jedem andern Dreieck gelte. Der Bereich des Vorstellens und Denkens umfasst daher alles, was sich widerspruchslos definiren (beschreiben) l\u00e4sst, d. h. alles was sich unmittelbar oder mittelbar als explicite Function letzter nicht weiter analysirbarer, im Bewusstsein gegebener Elemente darstellen l\u00e4sst. Diese Elemente sind entweder assertorischer, d. h. thats\u00e4ch-licher, wie die Sinnesqualit\u00e4ten, oder apodictischer, d. i. notliwendiger Natur, wie die logisch-mathematischen Axiome2).\n1)\tNaturphilosophie und exacte Wissenschaft, S. 79.\n2)\tIch behalte die Begriffe \u00bbassertorisch\u00ab und \u00bbapodictisch\u00ab hei als verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig passend, m\u00f6chte aber alle erkenntnisstheoretischen Betrachtungen von zweideutigen Begriffen, wie Erfahrung, a priori u. s. w., emancipirt wissen. Beide oben genannte Arten von Elementen besitzen (absolute, denn es gibt keine andere) Gewissheit. Assertorisch gewiss nenne ich diejenigen Elemente, die im gegebenen","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nA. Kirschmann.\nWenn nun jemand einen Ausdruck, ein Wort, gebraucht und vorgibt, es stecke ein Begriff dahinter, und er k\u00f6nne sich etwas Bestimmtes dabei denken oder vorstellen, so ist mit dieser Aussage, auch wenn sie mit gr\u00f6\u00dfter Zuversichtlichkeit getlian wird, die Legitimation des betreffenden Wortes als Begriff noch keineswegs gegeben. Denn da die Vorsehung den Menschen mit der F\u00e4higkeit ausgestattet hat, der Wahrheit auch einmal ein Schnippchen zu schlagen, sei es nun mit voller Absicht oder nur aus Fahrl\u00e4ssigkeit, Bequemlichkeit etc. (was man gew\u00f6hnlich Ii'rthum nennt), so kann ja die in Frage stehende Aussage auch falsch sein. Es kann ja auch einer kommen und sagen: Ich kann mir ein rundes Dreieck, eine eckige Kugel, einen violetten Schmerz und einen salzigen Ton vorstellen oder denken. Was f\u00fcr ein Kriterium haben wir nun, um solche aus leeren oder sich widersprechenden Worten bestehende Scheinbegriffe von einem wirklichen Begriffe zu unterscheiden? Kein anderes als das der widerspruchslosen Defiration. Wenn ein Wort nicht eine elementare, der weiteren Zerlegung nicht mehr f\u00e4hige Thatsache oder Notb-wendigkeit (in welchem Falle weder Beschreibung noch Erkl\u00e4rung, sondern nur Aufzeigung m\u00f6glich ist) bezeichnet, so muss sich seine Bedeutung als eine Function jener Element aj:thatsachen und Axiome darstellen lassen, oder aber es bleibt ein tr\u00fcgerisches Wort, ein Pseudobegriff, dessen Anwendung jedes Mal T\u00e4uschungen verursacht.\nSolange daher die Metamathematiker nicht im Stande sind ihre Begriffe wie \u00bbKr\u00fcmmungsma\u00df des Baumes\u00ab, oder \u00bbKr\u00fcmmung einer allgemeinen Ma\u00dfbestimmung\u00ab* 1), \u00bbvierdimensionale Ebene\u00ab, \u00bbunendlich ferne\u00ab und \u00bbimagin\u00e4re Punkte\u00ab u. s. w. in der angegebenen Weise (das heisst auf Elemente, nicht auf andere unklare Begriffe zur\u00fcckgehend) klar und eindeutig zu definiren, wird man das Becht haben, diesen \u00bbBegriffen\u00ab mit Misstrauen zu begegnen, bezw. sie als Pseudobegriffe zu betrachten.\nNun wird der Mathematiker einwenden, diese Begriffe seien vollst\u00e4ndig hinreichend definirt und zwar durch ganz eindeutige algebra-\nBewusstseinsinhalt so sind, die ich mir aber ebenso gut anders denken k\u00f6nnte. Apodictisch gewiss dagegen nenne ich die, die immer und \u00fcberall so sind und die ich mir unter keinen Umst\u00e4nden andere denken k\u00f6nnte.\n1) Felix Klein, Ueber die nicht-euklidische Geometrie. Mathemat. Ann., IV, S. 595.","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n367\nische Ausdr\u00fccke. Ich behaupte aber, solche Ausdr\u00fccke bestimmen nur eindeutig, soweit es die der allgemeinen 1-dimensionalen Gr\u00f6\u00dfen-lehre angeh\u00f6renden Ma\u00dfverh\u00e4ltnisse anbelangt, und bestimmen gar nichts mit Bezug auf Raum und R\u00e4umliches. Will man jene Begriffe so definiren, dass sie auf R\u00e4umliches anwendbar sind, so muss man sie auf letzte, elementare Raumattribute zur\u00fcckf\u00fchren.\nWenn man beispielsweise bei der projectivischen Ma\u00dfbestimmung den mit einer Constante c multiplicirten Logarithmus eines gewissen Doppelverh\u00e4ltnisses als \u00bbEntfernung\u00ab zweier Punkte, den mit einer anderen Constante c' multiplicirten Logarithmus eines anderen Doppelverh\u00e4ltnisses als \u00bbWinkel zweier Ebenen\u00ab bezeichnet1), so haben die so definirten Begriffe \u00bbEntfernung\u00ab und \u00bbWinkel\u00ab nicht allein keine Aehnlichkeit mehr mit dem, was man gew\u00f6hnlich mit diesen Worten bezeichnet, sondern sie haben \u00fcberhaupt keinen Zusammenhang mehr mit dem Raume, es sei denn, dass man zuvor die s\u00e4mmtlichen zur Benutzung gelangten rechnerischen Operationen wie Multiplication, Logarithmus, Doppelverh\u00e4ltniss etc., in einem von dem arithmetischen abweichenden, rein r\u00e4umlichen Sinne definirt hat. Was man beispielsweise unter der Multiplication von Richtungen verstehen will, hat entweder mit dem Begriff der Multiplication oder mit dem der Richtung nichts mehr zu thun; denn Richtungen lassen sich eben so wenig mit einander multipliciren, wie etwa Farben oder T\u00f6ne. Man gibt vor, unter v\u00f6lliger Vermeidung metrischer Begriffe neue Coordi-natensysteme, Ma\u00dfbestimmungen, Rechnungsmethoden einzuf\u00fchren2); warum enth\u00e4lt man sich denn nicht auch der metrisdien Ausdrucksweise, die doch irref\u00fchren und zu T\u00e4uschungen Anlass gehen muss. Wenn man aber bei den projectivischen Coordinaten eine solche Wahl der Zahlen trifft, dass sie auch f\u00fcr die metrische Betrachtung passen, so hat man nicht, wie Whitehead meint, die metrische Betrachtungsweise der projectivischen untergeordnet, sondern man hat sie beide unter einen, im Grunde genommen doch metrischen Hut gebracht.\n1)\tFelix Klein, Ueber die nicht-euklidische Geometrie. Mathemat. Ann., IV, S. 574.\n2)\tVgl. auch die von Natorp besonders an dem projectivischen Distanzbegriff ge\u00fcbte Kritik: Zu den logischen Grundlagen der neueren Mathematik, Arch. f. system. Philos., VII, S. 202 ff.","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nA. Kirschmann.\nEin Mathematiker hat mir gesagt: Das Kr\u00fcmmungsma\u00df, die Kr\u00fcmmung eines Raumes, haben mit krumm nichts mehr zu thun. Dann muss man aber fragen: Warum nennt ihr diese Dinge denn so ? Und warum verfallt ihr, sobald ihr eure nicht-euklidischen Ideen oder Begriffe veranschaulichen wollt, immer wieder in die euklidische Geometrie zur\u00fcck? Warum, wenn ihr negativ gekr\u00fcmmte Fl\u00e4chen eines pseudosph\u00e4rischen oder hyperbolischen Raumes euren H\u00f6rem oder Lesern wenigstens sinnbildlich veranschaulichen wollt, zeichnet ihr dann immer irgend eine positiv gekr\u00fcmmte Fl\u00e4che des euklidischen Raumes? Ist es euch niemals aufgefallen, dass eure negative Kr\u00fcmmung der einzige Fall ist, wo das Negative selbst\u00e4ndig ohne sein positives Correlat, d. h. nicht als Umkehrung oder Antagonismus eines Positiven auf treten soll? Was w\u00fcrde man halten von einem Menschen, der behauptete, er k\u00f6nne sich au\u00dfer den dem normalen Gesichtssinne zu Gebote stehenden Farben und Farbenverh\u00e4ltnissen noch andere vorstellen oder denken, und diese Aussage in allerhand algebraische Formeln kleidete, der aber, aufgefordert seine Farbenbegriffe in Farben und nicht in Zahlen zu d\u00e9finirai und zu illu-striren, zum Beweise immer nur vorbr\u00e4chte, was sich auf den ersten Blick als den bekannten Farben zugeh\u00f6rig documentirte1) ? Das Ideal / einer wissenschaftlichen Terminologie fordert, dass jeder Begriff eindeutig als Function letzter nicht weiter zerlegbarer Grundthatsachen und Grundnothwendigkeiten definirt werde, dass nirgends dasselbe Wort f\u00fcr verschiedene Begriffe gebraucht und nie derselbe Begriff mit verschiedenen Worten bezeichnet werde. Wir behaupten: Wenn einmal dieses Ideal in der Mathematik verwirklicht ist, dann wird von all den nicht-euklidischen R\u00e4umen und andern metageometrischen Speculationen nichts mehr \u00fcbrig geblieben sein.\nKroman2) wirft mit Recht Riemann und Helmholtz vor, dass sie sich \u00fcber ihre nicht-euklidischen R\u00e4ume \u00bbkaum irgendwo wirklich klar ausgedr\u00fcckt\u00ab haben. Aber kann man denn \u00fcberhaupt von einem consequenten und radicalen Empiriker vollst\u00e4ndige Klarheit verlangen?\n1)\tDass dieser Einwand mit der individuellen Verschiedenheit der Farbenempfindungssysteme (Farbenblindheit u. s. w.) nichts zu thun hat, braucht wohl kaum erst gesagt zu werden. Vgl. \u00fcbrigens meine Abhandlung: Beitr\u00e4ge zur Kenntniss der Farbenblindheit. Philos. Studien, VIII, S. 182.\n2)\tUnsere Naturerkenntniss, S, 145.","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n369\nMuss er nicht von vornherein zugestehen, dass sich alle seine Definitionen und Erkl\u00e4rungen im Kreise bewegen, da er keinen Punkt, der fester steht als irgend ein anderer, zum Anfangspunkt hat? Wer nicht von einer Gewissheit ausgeht, kann nie zu einer solchen gelangen. Es muss deshalb auch sehr Wunder nehmen, dass die Verfechter dieser Theorien es mit ihrem Empipsmus vereinigen konnten, der mathematischen Analysis eine solche Bedeutung und alles beherrschende Stellung beizulegen. Der \u00fcbertriebene Empirismus ist \u00fcbrigens bereits betr\u00e4chtlich gemildert und es ist zu erwarten, dass es der aufstrebenden projectiven Geometrie gelingen wird, das mathematische Denken auf Bahnen zur\u00fcckzulenken, die den Zusammenhang mit dem ureigenen Gebiete der Mathematik, dem R\u00e4umlich-Anschaulichen nicht wieder verlieren. Vorl\u00e4ufig aber herrscht die sog. Analysis, deren folgenschwerster Fehler darin besteht, dass sie willk\u00fcrlich gew\u00e4hlte Symbole, die gewisse Complexe von Thatsachen oder Nothwendigkeiten, von einem bestimmten Gesichtspunkte betrachtet, correct zu repr\u00e4sen-tiren im Stande sind, so verwendet, als ob sie die betreffenden Complexe von jedem Standpunkt aus betrachtet ad\u00e4quat repr\u00e4sentirten. Auf diesem Fehler, verbunden mit einem gewissen Spielen mit theils undefinirten und widerspruchsvollen, theils zweideutigen Begriffen beruht die ganze Pan- und Metageometrie. Zu diesen zweifelhaften Begriffen geh\u00f6rt beispielsweise der der k\u00fcrzesten Linien. Was in der Ebene diej\u00dferade ist, das vertritt auf gekr\u00fcmmten K\u00f6rperoberfl\u00e4chen die geod\u00e4tische Linie, auf einer sph\u00e4rischen Fl\u00e4che z. B. der gr\u00f6\u00dfteJKreis. In der Ebene wie im Raume \u00fcberhaupt wird der Abstand zweier Punkte, d. i. der k\u00fcrzeste Weg, durch die gerade Linie gemessen. Das ist das allererste Axiom aller metrischen Geometrie. Auf einer gekr\u00fcmmtenjpi\u00e4che wird der Abstand zweier Punkte durch das zwischen ihnen gelegene St\u00fcck der geod\u00e4tischen Linie gemessen, aber wohlverstanden, nur wenn es nicht m\u00f6glich ist, den einfachen, r\u00e4umlich k\u00fcrzesten Weg, die den K\u00f6rper durchsetzende Gerade, zu w\u00e4hlen, oder wenn man gar nicht den wirklich k\u00fcrzesten Weg, sondern den an der Oberfl\u00e4che verlaufenden k\u00fcrzesten messen will. Im letzteren Falle hat man kein Recht, den auf der geod\u00e4tischen Linie gemessenen Abstand als absolut k\u00fcrzeste Linie zu bezeichnen, und im ersteren Falle\nW un dt, Philos. Studien. XIX.\t24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nA. Kirschmann.\nhandelt es sich um eine Sache der Physik, nicht der Geometrie; denn hei einem geometrischen K\u00f6rper k\u00f6nnen wir stets die directen Abst\u00e4nde durch den Raum messen. Mit diesem erschlichenen Begriffe der k\u00fcrzesten Linie lassen sich dann nachher allerhand sch\u00f6ne Dinge ausf\u00fchren.\nAnfangs unterschied man neben dem gegebenen oder ebenen Raum noch sph\u00e4rische und pseudosph\u00e4rische R\u00e4ume. In dem 3-dimensio-nalen sph\u00e4rischen Raum laufen alle k\u00fcrzesten Linien in sich seihst zur\u00fcck. Es wird uns au\u00dferordentlich schwer, den Gedanken von Helmholtz zu folgen, wenn er behauptet, in einem solchen Raume g\u00e4be es keine Parallelen', also keine Linien mit gleichem Abstand von anderen Linien. Ferner ist nach Helmholtz der sph\u00e4rische Raum zwar unbegrenzt aber endlich. Wenn wir uns einen derartigen Raum mit anschauenden Wesen belebt denken, so m\u00fcsste deren Anschauungsverm\u00f6gen recht eigenth\u00fcmlich beschaffen sein. Sie k\u00f6nnten zwar mit der Arithmetik und Algebra vertraut sein, aber der Begriff der geraden Linie w\u00e4re ihnen unbekannt. Wenn sie sich von irgend einem Punkte ihres Raumes fortbewegten und eine Richtung einhielten, die f\u00fcr sie einen k\u00fcrzesten Weg bedeutete, so m\u00fcssten sie immer wieder an die Ausgangsstelle zur\u00fcckkommen und d\u00fcrften sich nicht einmal dessen wundern. Und wenn diese Wesen eines sch\u00f6nen Tages auf die Idee k\u00e4men, zur Abwechselung einmal so zu reisen, dass sie nicht wieder zum Ausgangspunkt zur\u00fcckk\u00e4men, und wenn sie dann entdeckten, dass es eine Linie g\u00e4be, die zu diesem Zwecke die g\u00fcnstigste ist, die n\u00e4mlich, die wir die gerade nennen, so m\u00fcsste diese Gerade aber den sph\u00e4rischen Wesen als die aller \u00bbkrummste \u00ab erscheinen und sie d\u00fcrften nicht merken, dass sie die Distanz zwischen zwei Punkten in einer solchen Linie in einer geringeren Zahl von Schritten zur\u00fccklegten als auf jedem anderen Wege. Man sieht, welch\u2019 ein Rattennest von Ungereimtheiten und Widerspr\u00fcchen schon in dem sph\u00e4rischen Raume steckt; und der ist von allen nicht-euklidischen noch der verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig einfachste. Das Widersinnigste ist, dass der sph\u00e4rische Raum unbegrenzt, aber doch nicht unendlich sein soll. Das ist denn doch ein gar zu oberfl\u00e4chliches und plumpes Spielen mit dem zweideutigen Begriffe des Unbegrenzten. Unbegrenzt bedeutet f\u00fcr gew\u00f6hnlich so viel als \u00bbkeine Grenzen haben\u00ab und ist demnach gleichbedeutend mit","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n371\nunendlich. Manchmal aber bezeichnet man auch in ganz anderem Sinne eine geschlossene, stetige Curve oder eine ohne Unterbrechung der Stetigkeit in sich zur\u00fccklaufende krumme Fl\u00e4che als unbegrenzt. Aber auch in diesem Sinne angewandt hat der Begriff nur eine beschr\u00e4nkte Geltung. Wenn ich z. B. den Kreis oder die Kugel unbegrenzt nenne, so bezieht sich das nur auf die Kreisperipherie und die Kugeloberfl\u00e4che. Die Kreisfl\u00e4che und der Kugelk\u00f6rper sind stets begrenzt. Es k\u00f6nnen also nur Baumgrenzen, nicht aber ganze B\u00e4ume in diesem Sinne \u00bbunbegrenzt\u00ab sein. Von den Planetenbahnen k\u00f6nnte map eventuell sagen, dass sie unbegrenzt aber endlich seien. Von einem endhchen Baume ausgesagt, muss es aber immer eine Absurdit\u00e4t bleiben. Es ist zwar behauptet worden (Biemann), dass Unbegrenztheit und Unendlichkeit schon deshalb auseinander gehalten werden m\u00fcssten, weil erstere eine Sache der Ausdehnung, letztere eine solche der Gr\u00f6\u00dfe (Ma\u00dfVerh\u00e4ltnisse) sei. Es erscheint mir aber zweifelhaft, ob die Vertreter dieser Ansicht Ausdehnung und Ma\u00dfverh\u00e4ltnisse dabei gen\u00fcgend auseinander gehalten haben. Uebrigens ist gerade die Unendlichkeit, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, ein von der Ausdehnung, d. i. dem Charakteristischen des Baumes, untrennbarer Begriff.\nDas Unbegrenzte, wenn es nicht als mit dem Unendlichen identisch genommen wird, ist also weiter nichts, als das sich selbst Begrenzende, das in sich Geschlossene oder Zur\u00fccklaufende. Nun ist eigentlich gar nicht einzusehen, warum man diese Bezeichnung auf stetig gekr\u00fcmmte Linien oder Fl\u00e4chen beschr\u00e4nken soll. Die Peripherie eines Polygons, die Oberfl\u00e4che eines Polyeders ist doch genau so gut unbegrenzt, wie die Kreislinie oder Kugelfl\u00e4che. Ob ich mich bei der Bewegung in einer solchen Curve oder Fl\u00e4che stetig drehe oder hier und da um eine Ecke biege, macht doch hinsichtlich dessen, was f\u00fcr die Unbegrenztheit charakteristisch ist, n\u00e4mlich das In-sich-zu-r\u00fcckkehren, keinen wesentlichen Unterschied. Man kann daher jeden allseitigjbegrenzten K\u00f6rper als von einer unbegrenzten Fl\u00e4che umschlossen ansehen. Anderseits, wenn eine Kreisperipherie ein unbegrenztes Gebilde darstellt, so k\u00f6nnte man auch von unbegrenzt endlichen B\u00e4umen innerhalb des euklidischen, wenigstens solchen, die in einer Bichtung unbegrenzt sind, sprechen, wie Binge, Kettenglieder u. s. w. Auch k\u00f6nnte man mit gutem Bechte das in sich\n24*","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nA. Kirschmann.\ngeschlossene System der Farbenqualit\u00e4ten ein unbegrenztes nennen. Da \u00fcbrigens ein unbegrenztes Gebilde von n Dimensionen ein von ihm begrenztes von n + 1 Dimensionen voraussetzt1), so w\u00e4re mit einem unbegrenzten 3 - dimensionalen R\u00e4ume die Nothwendigkeit eines 4-dimensionalen gegeben.\nAuch der pseudosph\u00e4rische Raum hat recht interessante Eigenschaften. In seinen, den Ebenen des euklidischen Raumes entsprechenden \u00bbebensten Fl\u00e4chen\u00ab kann man beispielsweise durch jeden Punkt zu jeder Geraden ganze Scharen paralleler Linien ziehen. W\u00e4hrend im sph\u00e4rischen Raume die Summe der Winkel im Dreieck stets gr\u00f6\u00dfer ist als 180\u00b0, erreicht sie im pseudo-sph\u00e4rischen Raume diesen Werth niemals.\nNeuere Vertreter der Metamathematik, wie Felix Klein u. A. suchen die nicht-euklidische Geometrie mit der projectiven in Verbindung zu bringen, wobei es nat\u00fcrlich ohne Ma\u00dfbestimmung und Coordinaten nicht abgeht2), obgleich die projective Geometrie, wenn sie eine cons\u00e9quente Ausdehnungs- und nicht Gr\u00f6\u00dfenlehre sein wollte, die Begriffe der Entfernung, Strecke, Winkelgr\u00f6\u00dfe nicht kennen d\u00fcrfte. Man spricht dann von hyperbolischen und elliptischen R\u00e4umen im Gegensatz zu dem gegebenen, der parabolisch ist, und f\u00fchrt neue, unklare Begriffe, wie hyperbolisches und elliptisches Entfernungsma\u00df, ein. In der elliptischen Geometrie laufen die \u00bbGeraden\u00ab nat\u00fcrlich in sich selbst zur\u00fcck, oder wie man sich \u00bbnoch deutlicher\u00ab ausdr\u00fcckt, sie besitzen zwei imagin\u00e4re, unendlich ferne Punkte. W\u00e4hrend im sph\u00e4rischen Raume die geod\u00e4tischen Linien zwei Punkte gemein haben k\u00f6nnen, k\u00f6nnen sie sich im elliptischen Raume nur in einem Punkte schneiden. Jedem Punkte im elliptischen Raume entsprechen zwei im sph\u00e4rischen. Wie wenig \u00fcbereinstimmend die Ideen \u00fcber diese nicht-euklidischen R\u00e4ume sind, l\u00e4sst sich daraus ersehen, dass es Metamathematiker gibt, welche den von Klein so stark betonten Unterschied zwischen sph\u00e4rischer und elliptischer Geometrie gar nicht anerkennen und behaupten, beide R\u00e4ume seien gar nicht verschieden.\nIn der hyperbolischen Geometrie besitzt jede \u00bbGerade\u00ab zwei unendlich ferne Punkte. Aber es kann offenbar solche Geraden nicht\n1)\tMilau, Aus den Grenzgebieten der Mathematik und Philosophie, S. 32.\n2)\tVgl. auch Natorp, Zu den log. Grundlagen der neueren Mathematik, II. Arch. f. system. Philos., VII, S. 207.","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n373\nin allen m\u00f6glichen \u00bbRichtungen\u00ab geben, denn alle jene unendlich fernen Endpunkte der Geraden bilden zusammen eine reelle gekr\u00fcmmte Fl\u00e4che zweiter Ordnung. Da aber auf der Grenzfl\u00e4che des hyperbolischen Raumes (nach Lindemann) die euklidische Geometrie gilt, so besitzen wir eigentlich gar kein Kriterium zur Unterscheidung von Ebenen und solchen hyperbolischen Grenzfl\u00e4chen. Ja, vielleicht ist unser ganzer gegebener Raum nur die 3-dimensionale Grenzform eines 4-dimensionalen hyperbolischen Raumes.\nDer gegebene Raum der Wirklichkeit wird im Gegensatz zu den nicht-euklidischen als ebener oder auch als parabolischer Raum bezeichnet. Das hat auch ohne jede Bezugnahme auf nicht-euklidische Geometrie und metageometrische Raumformen seine Berechtigung, da neben der Geraden und dem Kreise die Parabel unter allen im Raume m\u00f6glichen Ourven eine ganz eigenartige bevorzugte Stellung einnimmt, indem sie sich n\u00e4mlich stets selbst \u00e4hnlich bleibt. Wenn man bei der Betrachtung der Raumgebilde unter Annahme der Relativit\u00e4t aller Gr\u00f6\u00dfen den Factor der absoluten Gr\u00f6\u00dfe vernachl\u00e4ssigt und nur die Gestalt in Betracht zieht, so gibt es nur eine Gerade, nur einen Kreis und eine Parabel. Mit anderen Worten: Alle Parabeln sind einander \u00e4hnlich. Es h\u00e4tte daher einen gewissen Sinn, den ebenen oder geraden Raum auch den sph\u00e4rischen oder parabolischen zu nennen.\nEs muss \u00fcbrigens anerkannt werden, dass die Begr\u00fcnder der neuesten, bereits unter dem Einfluss der projectivischen Geometrie stehenden Phase der Metageometrie nicht so sehr von nicht-euklidischen R\u00e4umen, als von nicht-euklidischer Geometrie, reden, und Oayley hat es direct ausgesprochen, dass \u00bbnicht-euklidischer Raum\u00ab von vornherein ein unzul\u00e4ssiger Begriff sei. Damit aber gesteht man doch gewisserma\u00dfen zu, dass die metageometrischen^JSpeculationen im Grunde genommen mit r\u00e4umlichenJPingen nichts zu thun haben; dann sollte man aber consequenter Weise auch nicht von \u00bbGeometrie\u00ab dabei reden, sondern die Producte dieser Speculationen als das bezeichnen, was sie sind, n\u00e4mlich analytische Formeln der an undl f\u00fcr sich stets auf das Eindimensionale beschr\u00e4nkten Gr\u00f6\u00dfenlehre, diel man auf den allseitig ausgedehnten Raum und seine nicht 1-dimen-sionalen Verh\u00e4ltnisse nur so weit anwenden kann, als sich dabei keine Widerspr\u00fcche ergeben.","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nA. Kirschmann.\nMan hat gesagt!) : Man k\u00f6nne zwar ein Minder von Dimensionen, n\u00e4mlich einen 2-dimensionalen Raum, intuitiv auffassen, ein Mehr nicht. Aber die Abstraction sei nicht an das Intuitive gebunden, und man k\u00f6nne daher mit derselben Berechtigung von re-fach Ausgedehntem reden, wie etwa von negativen und imagin\u00e4ren Zahlen. Hiergegen muss zun\u00e4chst eingewandt werden, dass Niemand einen rein 2-dimensionalen Raum intuitiv aufzufassen im st\u00e4nde ist1 2). Wir k\u00f6nnen uns, wie wir weiter unten sehen werden, Fl\u00e4chen auch nur im allseitig ausgedehnten Raum, vorstellen oder denken. Ferner sind negative und imagin\u00e4re Zahlen anerkannterma\u00dfen rechnerische H\u00fclfs-begriffe, die ihrer alogischen Eigenschaften wegen am Ende des Calc\u00fcls wieder ausgemerzt sein m\u00fcssen. Der Raum von n-Dimen-sionen dagegen soll doch so eine Art Wesenheit sein, die den gegebenen \u00bb3-dimensionalen\u00ab Raum als speciellen Fall einschlie\u00dft. Uebrigens k\u00f6nnte man diese an die Intuition nicht gebundene Ab-/ straction mit dem gleichen Rechte auch f\u00fcr andere Gebiete als das des Raumes in Anspruch nehmen. So k\u00f6nnte man verlangen, dass die ja ebenfalls 3-dimensional genannten Systeme der optischen und akustischen Empfindungen als beschr\u00e4nkte und specielle F\u00e4lle von Systemen h\u00f6herer Ordnung von Licht- resp. Schallempfindungen aufgefasst w\u00fcrden. Die wissenschaftliche Berechtigung einer solchen Pan-Optik und Meta-Akustik ist um nichts geringer als diejenige der modernen Ueber-Mathematik.\nEin anderer Gesichtspunkt, welcher der Hypothese von der vierten und den h\u00f6heren Dimensionen Vorschub leistet, ist der folgende: Die erste Potenz der Zahlen dr\u00fcckt lineare, die zweite Fl\u00e4chengr\u00f6\u00dfen aus, die dritte bezeichnet K\u00f6rpergr\u00f6\u00dfen. Sollten da nun die vierte, die f\u00fcnfte und die h\u00f6heren Potenzen nicht auch etwas Ausgedehntes repr\u00e4sentiren? Nun ist diese Analogie zwischen Dimensioneni .und Potenzen aber eine ziemlich unvollkommene. Da\u00e6\u00b0 = l ist, so m\u00fcsste die nullte Potenz die Einheit ausdr\u00fccken, und da die Einheit nicht wieder eine lineare Gr\u00f6\u00dfe sein k\u00f6nnte, \u2014 denn lineare Gr\u00f6\u00dfen werden durch die erste Potenz repr\u00e4sentirt \u2014 so m\u00fcsste man den Punkt als Einheit ansehen. Was w\u00fcrde dann aber aus den r\u00e4um-\n1)\tLiebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 57.\n2)\tYgl. auch Wundt, Logik I, S. 494.","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n375\nliehen Repr\u00e4sentanten der Potenzen mit negativen und gebrochenen Exponenten ? Ist es somit ausgeschlossen, den Parallelismus zwischen Potenzen und Dimensionen nach jjnten hin \u00fcber das Gegebene hinaus fortzusetzen, so fehlt auch jede Veranlassung dies nach^oben zu thun.\nDass man Fl\u00e4chen als zweite, K\u00f6rper als dritte Potenzen betrachten kann, in der Rechnung, stellt nichts mehr als eine zuf\u00e4llige Analogie dar, so wie man auch die Reihe der farblosen Lichtempfindungen als 1-dimensionale und das gesammte System der Licht- und Farbenempfindungen als 3-dimensionale Mannigfaltigkeit darstellt. Eben so wenig wie Licht und Farbe an sich etwas mit Coordinaten zu thun haben, eben so wenig bestehen von Hause aus, jene Beziehungen zwischen Raumgebilden und Potenzen. Der Ausdruck a2 bedeutet nicht nothwendig eine quadratische Fl\u00e4che, noch a b ein Rechteck. Diese Ausdr\u00fccke k\u00f6nnen eben so gut einfache lineare Gr\u00f6\u00dfen bezeichnen. Die Zahl 64 kann eine gerade Linie von der L\u00e4nge 64, ein Quadrat von der Seitenl\u00e4nge 8 und einen W\u00fcrfel von der Kantenl\u00e4nge 4 bezeichnen.\nMit demselben Rechte, mit welchem man f\u00fcr die h\u00f6heren Potenzen Raumcorrelate verlangt, k\u00f6nnte man auch Folgendes annehmen: In der gew\u00f6hnlichen Algebra ist nur f\u00fcr den einen Fall der Zahl 16 n,y = yn. In keinem anderen Fall kann man Basis und Exponent vertauschen, ohne den Werth der Function zu \u00e4ndern (sog. Com-mutationsgesetz, wodurch sich die Operation dritter Ordnung von den niederen unterscheidet). Nun kann man die Einf\u00fchrung (finer Algebra verlangen, von welcher die thats\u00e4chlich durch die r\u00e4umliche und logische Natur unserer Bewusstseinsth\u00e4tigkeit gegebene nur einen Specialfall bildet, und bei welcher auch f\u00fcr das Potenziren und die h\u00f6heren Operationen vierter und weiterer Ordnung das Oommutationsgesetz gilt.\nEbenso k\u00f6nnte man sagen: In der gew\u00f6hnlichen Arithmetik ist\ns = p\u20142\nS = 0\nohne Rest theilbar durch p, wenn p eine absolute Prim ist. Nun verlangen wir, dass man diese unvollkommene Arithmetik als speci-ellen Fall einer umfassenderen, h\u00f6heren unterordnet, in der das obige","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nA. Kirschmann.\nGesetz nicht nur f\u00fcr Primzahlen, sondern f\u00fcr alle ungeraden Zahlen gilt.\nAuch aus folgendem Grunde ist die Analogie zwischen Dimensionen und Potenzen eine ungen\u00fcgende und schiefe: Man kann die Multiplication aus der Addition, die Potenzirung aus der Multiplication ableiten, d. h. die Operation h\u00f6herer Ordnung als eine Wiederholung der Operationen niederer Ordnung darstellen. Man kann aber nicht die Ebene aus der linearen Ausdehnung, den Raum aus der Ebene ableiten, ohne jedes Mal ein ganz neues, r\u00e4umliches Moment einzuf\u00fchren. Durch arithmetische Operationen mit linearen Gr\u00f6\u00dfen erh\u00e4lt man immer wieder lineare, durch rechnerische Operationen mit Fl\u00e4chengr\u00f6\u00dfen immer wieder Fl\u00e4chengr\u00f6\u00dfen. Es ist zwar ganz richtig, dass ein Rechteck, das 20 m lang und 5 m breit ist, 20 X 5 Quadratmeter, d. h. quadratische Fl\u00e4chen von 1 m Seitenl\u00e4nge enth\u00e4lt. Wenn man die Ma\u00dfzahlen der linearen Seitengr\u00f6\u00dfen multiplicirt, so erh\u00e4lt man die Ma\u00dfzahl der Fl\u00e4che auf die Fl\u00e4cheneinheit (die als Seitenma\u00df die Linieneinheit hat) bezogen. Es hat aber noch niemand bewiesen, dass die lineare Ma\u00dfeinheit, mit sich selbst multiplicirt, die Einheit des Fl\u00e4chenma\u00dfes ergibt. Es besteht eine Coincidenz der zweiten und dritten Potenz mit den Ma\u00df-factoren von Ebene und K\u00f6rper, nicht aber mit Ebene und K\u00f6rper selbst.\nMit welchen wunderbaren, mathematischen Eigenschaften man \u00fcbrigens die geometrischen Gebilde der h\u00f6heren Dimension begaben muss, m\u00f6ge aus dem folgenden Beispiel geschlossen werden, welches nicht \u00fcber die vierte Dimension hinausgeht: Wenn a' eine Linie, a5 ein Quadrat von der Seitenl\u00e4nge a und a3 einen W\u00fcrfel repr\u00e4-sentirt, so bedeutet ai einen 4-dimensionalen K\u00f6rper. Wie ein Quadrat von 4 Seiten, ein W\u00fcrfel von 6 quadratischen Fl\u00e4chen begrenzt wird, so wird dieses 4-dimensionale Raumgebilde von 8 W\u00fcrfeln begrenzt. Seine Ecken und Kanten werden nicht von Fl\u00e4chen sondern von K\u00f6rpern, jenen begrenzenden W\u00fcrfeln, gebildet; so hat es z. B. 16 vierdimensionale Ecken u. s. w.1).\nIn allen diesen Speculationen \u00fcber nicht-euklidische Geometrie, h\u00f6here Dimensionen, R\u00e4ume h\u00f6herer Ordnung, hat man meines Er-\n1} Hermann Schubert in: The Monist III, p. 433 f.","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Baumes.\n377\nachtens zwei au\u00dferordentlich folgenschwere Irrth\u00fcmer begangen: Man hat sich einej^eits nicht vergewissert, ob der Begriff der Dimension, nach der ausdr\u00fccklich gegebenen oder stillschweigend acceptirten Definition, \u00fcberhaupt eine eindeutige und widerspruchslose Anwendung auf den Baum und r\u00e4umliche Verh\u00e4ltnisse zul\u00e4sst; und man hat anderseits die herk\u00f6mmliche Dreizahl der Dimensionen des ge-gegebenen Baumes kritiklos als etwas Selbstverst\u00e4ndliches, in der Natur des Baumes liegendes angenommen, das \u00fcber jeden Zweifel erhaben ist und keiner Untersuchung bedarf. Hier muss die Oorrectur einsetzen. Es muss zun\u00e4chst festgestellt werden, welche Definitionen des Begriffs der Dimension m\u00f6glich und zul\u00e4ssig sind und ob eine derselben die Anwendung dieses Begriffes auf andere B\u00e4ume als den gegebenen gestattet. Es muss sodann zweitens untersucht werden, ob die allgemein angenommene 3-Dimensionalit\u00e4t des Baumes unserer Anschauung wirklich den Charakter einer Thatsache oder gar einer Denknothwendigkeit b\u00e8sitzt. Der Behandlung dieser Probleme ist der folgende Abschnitt gewidmet.\n\u00ab\nZweiter Theil.\nKritik der Lehre von den Dimensionen.\nV. Definition des Dimensionsbegriffes.\nDiejenigen, die den Baum als speciellen Fall einer Mannigfaltigkeit h\u00f6herer Ordnung ansehen, definiren eine n-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit als eine solche, in welcher die Beziehungen eines Elementes zu allen andern Elementen und zur Gesammtheit des Systems durch einen Ausdruck mit n von einander unabh\u00e4ngigen Variabein eindeutig bestimmt ist1). Der Dimensionsbegriff, so definirt, hat mit? dem Baume wenig oder nichts zu thun. Allerdings kann man diei herk\u00f6mmlichen drei Dimensionen des Baumes oder die Cartesianischen Coordinaten nun auch als eine solche dreifache ^Mannigfaltigkeit betrachten. Das gibt aber Niemand ein Becht alles, was unter\n1) Whitehead, A Treatise on Universal Algebra, p. 17.","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nA. Kirschmann.\ndiesen neiden Dimensionsbegriff, der vom Kaum unabh\u00e4ngig ein Erzeugnis der Gr\u00f6\u00dfenlehre bildet, jederzeit wieder auf R\u00e4umliches anzuwenden. Die \u00ab-dimensionale Mannigfaltigkeit ist, so lange die Dimensionen nicht im Anschluss an eine wirklich vorhandene qualitative Mannigfaltigkeit interpretirt werden k\u00f6nnen, weiter nichts als ein reines (also 1-dimensionales) Gr\u00f6\u00dfengebilde mit \u00ab-Variabein.\nDaher wird man auch analytisch mit diesem Dimensionsbegriff nicht mehr leisten k\u00f6nnen, als mit dem bisherigen Begriffe der Variabein. Ob ich von einer \u00ab-dimensionalen Mannigfaltigkeit oder von einer Mannigfaltigkeit von \u00ab-f\u00e2cher Variabilit\u00e4t spreche, ist nur eine Frage des Ausdrucks. Es kann nach obiger Definition ein Ausdruck, der analytisch 3-dimensional ist, etwas r\u00e4umlich 2-dimensionales bezeichnen und umgekehrt. Wenn man Ourven nur vom Standpunkt des L\u00e4ngenma\u00dfes betrachtet (wie das mit den geod\u00e4tischen Linien von Kegel- und Cylindermantel gethan werden muss, wenn man diese Fl\u00e4chen zu denen vom Kr\u00fcmmungsma\u00df 0 rechnen will), so sind sie 1-dimensional, obgleich geometrisch jede Kr\u00fcmmung einer Linie die zweite Dimension voraussetzt. Anderseits kann das, was im R\u00e4ume geradlinig ist, analytisch unter Anwendung der obigen Definition betrachtet, mehr-dimensional sein. Zwei sich gerade auf einander zu bewegende Massen ertheilen sich gegenseitig gewisse Beschleunigungen. Wenn ich die Gleichung f\u00fcr die Entfernung beider Massen in irgend einem Zeitpunkt aufstelle, so erscheinen die beiden Beschleunigungen darin als unabh\u00e4ngige Variabele. Obgleich die Bewegung r\u00e4umlich, weil geradlinig, 1-dimensional ist, so muss sie doch analytisch durch eine Mannigfaltigkeit von 2 Dimensionen ausgedr\u00fcckt werden. Jede ungleichf\u00f6rmig beschleunigte, geradlinige Bewegung ist nach obiger Definition \u00bbmehr-dimensional\u00ab. Hier ge-rathen also der analytische Dimensionsbegriff und der r\u00e4umliche, in directen und unl\u00f6sbaren Widerspruch zu einander.\nNun sagen die Mathematiker : Wir meinen auch gar nicht immer etwas R\u00e4umliches, wenn wir von Dimensionen sprechen. Dann muss mau aber fragen: Warum gebraucht ihr denn diesen Ausdruck mit allgemein anerkannter, r\u00e4umlicher Bedeutung? Warum redet ihr nicht einfach von Variabelen? Hierbei geht es eben wie \u00fcberall, wo man einem Worte mit gel\u00e4ufiger Bedeutung einen neuen Sinn unterzuschieben f\u00fcr n\u00fctzlich h\u00e4lt. Man mag noch so sehr versichern, dei","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n379\nneue Gebrauch habe mit dem alten gar nichts gemein, man habe nur das Wort gew\u00e4hlt, weil das Kind doch einmal einen Namen haben muss; ein wenig sp\u00e4ter oder ein paar Seiten weiter unten im Buche wird die alte Bedeutung, bewusst oder unbewusst, doch ganz leise wieder eingeschmuggelt.\nMan hat daher statt der \u00bbR\u00e4ume\u00ab h\u00f6herer Ordnung die Ausdr\u00fccke \u00bbRaumoide\u00ab1) und \u00bbOrdnungssysteme\u00ab und statt \u00bbDimension\u00ab \u00bbScala\u00ab vorgeschlagen. Aber selbst dies erscheint \u00fcberfl\u00fcssig, da die Bezeichnungen Mannigfaltigkeit und Variabilit\u00e4t vollst\u00e4ndig ausreichend sind. Benno Erdmann2) ist der Ansicht, dass sich durch die gebr\u00e4uchlichen Bezeichnungen (Raum von nDimensionen u. s.w.) \u00bbnicht wenige grobe und feine Missverst\u00e4ndnisse, besonders bei den philosophischen Beurtheilern, gebildet haben.\u00ab Und zwar sollen die fraglichen Bezeichnungen bei den Philosophen nicht sowohl die Ursache, sondern den \u00bbwillkommenen Anlass\u00ab f\u00fcr die Missverst\u00e4ndnisse bilden. Da, scheint mir, hat der Philosoph Erdmann seine Berufsgenossen doch gar ungerecht mitgenommen. Die Philosophen haben sich bis jetzt darauf beschr\u00e4nkt, unlogische und widerspruchsvolle Begriffe geb\u00fchrend zur\u00fcckzuweisen, w\u00e4hrend die besagten Missverst\u00e4ndnisse im mathematischen Lager selbst entstanden sind, wo man \u00fcber Bedeutung und Tragweite der metageometrischen Speculations-producte durchaus nicht einig ist. Was kann die Philosophie daf\u00fcr, dass der eine Mathematiker, Cayley, die Anwendung der nichteuklidischen Geometrie auf au\u00dferempirische \u00bbR\u00e4ume\u00ab als von vornherein verfehlt verwirft, w\u00e4hrend der andere, Helmholtz, mit einer Zuversicht von nicht-euklidischen und krummen R\u00e4umen spricht, als k\u00f6nne er sie jeder Zeit mit dem Zollstab ausmessen. Wenn sich, wie Erdmann3) glaubt, \u00bbdie Begriffe jener R\u00e4ume mit all\u2019 jener Klarheit und Deutlichkeit bilden lassen, welche die discursive Natur der begrifflichen Erkenntniss \u00fcberhaupt zul\u00e4sst\u00ab, so muss es doch auch den Mathematikern ein Kleines sein, diese Begriffe widerspruchslos mit Klarheit und Deutlichkeit und in unzweideutigen Ausdr\u00fccken zu definiren und zwar so, dass der gesunde Menschenver-\n1)\tLotze, Metaphysik, S. 241.\n2)\tDie Axiome der Geometrie, S. 49.\n3)\tA. a. O., S. 135.","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nA. Kirschmann.\nstand, der ja die \u00fcbrige Mathematik doch auch acceptirt hat, keinen Ansto\u00df findet. Dass es aber zu solchen Missverst\u00e4ndnissen zwischen Mathematik und Philosophie, zu solchen Widerspr\u00fcchen innerhalb der mathematischen Begriffssph\u00e4re \u00fcberhaupt kommen konnte, daran tr\u00e4gt nicht zum mindesten der Umstand schuld, dass die Mathematiker, anstatt der alten p\u00e4dagogischen Kegel eingedenk zu bleiben, wonach man eine Sache um so besser kennt, von je zahlreicheren und verschiedeneren Standpunkten man sie betrachtet hat, gar zu geneigt sind, unter Vernachl\u00e4ssigung der Anschaulichkeit alles auf eine einzige, ganz einseitige Darstellungsweise, das analytische Verfahren, zu reduciren. Man kann sich in dieser Hinsicht der scharfen aber treffenden Kritik nur anschlie\u00dfen, die Schmitz-Dumont der einseitigen und unklaren, analytischen Symbolik zu Theil werden l\u00e4sst1).\nWir sehen somit : Der analytische Dimensionsbegriff l\u00e4sst sich nur in gewissen F\u00e4llen \u2014 und auch dann nur in einer willk\u00fcrlichen, nicht in der Natur der Sache begr\u00fcndeten Weise \u2014 auf den Raum anwenden und ger\u00e4th nicht selten mit dem r\u00e4umlichen Dimensionsbegriff in directen Widerspruch. Uebrigens werden wir weiter unten sehen, dass sich die r\u00e4umlichen Dimensionen nur dann dem analytischen Begriffe der w-fach ausgedehnten Mannigfaltigkeit einordnen lassen, wenn man sie als vertauschbare Coordinaten auffasst, wobei die Zahl derselben willk\u00fcrlich wird. Die Geometrie des n-fach ausgedehnten Raumes repr\u00e4sentirt daher keineswegs jene h\u00f6chste und absolute Geometrie, von der Kant einmal tr\u00e4umte, sondern sie ist lediglich ein ungenauer und unpassender .Ausdruck f\u00fcr eine Gr\u00f6\u00dfenlehre der n-fachen Mannigfaltigkeiten.\nEine zweite M\u00f6glichkeit den Begriff der Dimension zu definiren f ist durch die Thatsache nahegelegt, dass r\u00e4umliche Dimensionen und Potenzen sich in einem gewissen Grade entsprechen. Eindimensionale Gebilde, d. i. gerade Linien k\u00f6nnen bei geradlinigen Coordinaten stets durch eine Gleichung ersten Grades dargestellt werden. Gekr\u00fcmmte, also die zweite Dimension voraussetzende Curven bed\u00fcrfen einer Gleichung mindestens zweiten Grades. Damit aber h\u00f6rt die Analogie auch schon auf; denn es gibt auch Curven dritten, vierten\n1) Schmitz-Dumont, Naturphilosophie und exacte Wissenschaft, S. 148 ff.","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n381\nund h\u00f6heren Grades in der Ebene, also im Zweidimensionalen. Auch schon aus dem Grunde ist die Beziehung zwischen Potenzen und Dimensionen eine ziemlich lose, weil sie geradlinige Coordinaten voraussetzt. Bei Polarcoordinaten stellt sich die Sache anders dar. Wir werden aber weiter unten sehen, dass die Cartesianischen Raum-coordinaten gerade wegen ihrer Yertauschbarkeit nicht geeignet sind die r\u00e4umlichen Dimensionen zu repr\u00e4sentiren.\nEin Dimensionsbegriff, der sich weit besser mit wirklichen Eigen-f' sch\u00e4ften der r\u00e4umlichen Anschauung deckt, ergibt sich aus der Betrachtung der Raumgebilde im Yerh\u00e4ltniss zu ihren Grenzen. Schreiben wir einem nach allen m\u00f6glichen Richtungen im Raume ausgedehnten Raumtheile n Dimensionen zu, so k\u00f6nnen wir \u00dcbereinkommen, das Raumgebilde, das die Grenzen eines solchen allseitig ausgedehnten Raumtheiles bildet, als ein solches von n\u20141 Dimensionen A bezeichnen. Das ist aber nur zul\u00e4ssig unter der ausdr\u00fccklichen Bedingung, dass wir unter Dimension nicht etwa Richtungen verstehen. Denn bei dem Uebergang von n zu n \u2014 1 Dimensionen geben wir nicht eine, sondern viele Richtungen preis. Ebenso k\u00f6nnen wir dann die Grenze des n \u2014 1-dimensionalen Gebildes n\u20142-dimensional nennen u. s. w. Bezieht man diesen Dimensionsbegriff auf alle in Frage kommenden M\u00f6glichkeiten hinsichtlich der Raumgebilde (K\u00f6rper, Fl\u00e4chen, Linien, Punkte), so sind 4Dimensionen anzunehmen; beschr\u00e4nkt man ihn dagegen entweder auf die begrenzten (K\u00f6rper, Fl\u00e4che, Linie) oder auf die begrenzenden Gebilde (Fl\u00e4che, Linie, Punkt), so haben wir drei Dimensionen. Dabei ist es gleichg\u00fcltig, ob man die Dimensionen bei dem unbestimmtesten Raumgebilde, dem allseitig ausgedehnten, unbegrenzten (d. i. unendlichen) und daher unbeweglichen (weil die Bewegung selbst erst m\u00f6glich machenden) Raume oder bei dem bestimmtesten, dem Punkt, zu z\u00e4hlen anf\u00e4ngt. Bei begrenzten K\u00f6rpern und Fl\u00e4chen beruht die gr\u00f6\u00dfere Bestimmtheit eben darauf, dass sie durch die bestimmteren Gebilde begrenzt sind.\nYon allen Dimensionsbegriffen ist dieser auf die m\u00f6glichen Formen der Raumgrenzen basirte der berechtigtste, da er der einzige ist, der seine Begr\u00fcndung in der Natur der r\u00e4umlichen Anschauung findet. Er l\u00e4sst sich aber rechijgrisch nicht wohl verwerthen, da die Dimensionen hier qualitativ verschiedene Dinge sind und mehr eine Ord-BSDg, als eine Anzahl darstellen. Man spricht in diesem Sinne von","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nA. Kirschmann.\neinem 3-dimensionalen Gebilde, weil dasselbe in die dritte Gruppe der so geordneten Eaumgebilde geh\u00f6rt. Aber man kann in dem 3-dimensionalen Gebilde nicht etwa die einzelnen Dimensionen als Richtungen oder irgend sonst etwas aufzeigen. Man kann aus der linearen Gr\u00f6\u00dfe, ohne etwas ganz neues hinzuzuf\u00fcgen, nicht Fl\u00e4chengr\u00f6\u00dfen ableiten, und aus den letzteren nicht K\u00f6rper constru-iren, ohne dabei Begriffe einzuf\u00fchren, wie beispielsweise die Bewegung, die den voll ausgedehnten Raum schon voraussetzen. Ebenso kann man von K\u00f6rpern auf Fl\u00e4chen nur dadurch kommen, dass man von etwas, was den K\u00f6rpern als wesentlich und charakteristisch zukommt, abstrahirt. Darum ist es aber auch nicht gestattet, diese auf die Grenzverh\u00e4ltnisse des Raumes bezugnehmende Betrachtungsweise in umgekehrter Richtung jenseits des gegebenen Raumes fortzusetzen. Der r allseitig ausgedehnte Raum ist die erste und Hauptbedingung f\u00fcr die M\u00f6glichkeit solcher Grenzbeziehungen, kann also selber nie Grenze sein. Nun wird man einwenden, die Ebene sei ja auch die Bedingung der linearen Grenzbeziehung und doch selbst Grenze der 3-dimensionalen Gebilde. Das ist aber nicht richtig. Denn erstlich ist nicht die f\u00fcr sich existirende Ebene, sondern nur die im allseitig ausgedehnten Raume gedachte Ebene \u2014 eine andere gibt es nicht \u2014 in Anschlag zu bringen; und zweitens ist gar nicht die Ebene als solche, sondern die Fl\u00e4che die Vorbedingung linearer Begrenzung. Die Fl\u00e4che aber kann gekr\u00fcmmt sein und setzt daher in allen F\u00e4llen den allseitig ausgedehnten Raum voraus.\nDazu kommt, dass diese Dimensionen mit dem, was man gew\u00f6hnlich Dimension nennt, nur lose Zusammenh\u00e4ngen. Denn nach dem gel\u00e4ufigen Gebrauch dieses Wortes ist nur die Gerade 1-dimensional, nur die ebene Fl\u00e4che 2-dimensional. Gekr\u00fcmmte Fl\u00e4chen, Curven, k\u00f6nnen nur als 2- resp. 1-dimensional betrachtet werden, wenn man sie lediglich mit R\u00fccksicht auf das Gr\u00f6\u00dfenma\u00df betrachtet und ihre Kx\u00fcrpiung vernachl\u00e4ssigt. Es sind daher diese Dimensionen, die wir der Einfachheit halber als Grenzdimensionen bezeichnen wollen, im Grunde genommen nur All-gemeinbegriffe f\u00fcr m\u00f6gliche Gebilde im allseitig ausgedehnten Raum. Sie sind qualitativ verschieden und nicht coordinirt, daher auch nicht vertauschbar, wie Erdmann meint. Nach Erdmann soll ja gerade die Vertauschbarkeit der Dimensionen den Unterschied zwischen dem Raume und anderen 3-dimensionalen Mannigfaltigkeiten (Farben,","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n383\nT\u00f6ne) ausmachen. Man kann daher diese Dimensionen nie und nimmer zu einem festen, oder f\u00fcr einen bestimmten Fall als fest angenommenen, Ger\u00fcst f\u00fcr die messende Raumbetrachtung zu einem Coordinatensystem machen. Sie sind vor allem eben keine Richtungen im Raum.\nMan wird geneigt sein, einzuwenden, dass ich bei dieser Betrachtungsweise die Wichtigkeit des Lothes au\u00dfer Acht lasse. Man gelangt, so wird man sagen, in der Richtung der Normalen auf einer Fl\u00e4che oder Curve in die n\u00e4chsth\u00f6here Dimension; und man kann somit der Normalen geradezu die Rolle ertheilen, diese Dimension zu repr\u00e4sentiren. Dies ist aber nicht richtig, denn die Wahl der Normalen, einerlei welche Vortheile sie auch in anderer Hinsicht bieten mag, ist hierbei ganz willk\u00fcrlich, da jede andere gerade oder krumme Linie dasselbe leistet. Es gibt in jedem Punkte einer Curve oder-Fl\u00e4che unendlich viele Richtungen, in welchen man den Uebergang zur n\u00e4chsth\u00f6heren Dimension vollziehen kann. Ueberdies sind dies Normalen auf Ourven und krummen Fl\u00e4chen nicht parallel und es w\u00e4re somit f\u00fcr jeden Punkt der letzteren eine andere Richtung die n\u00e4chsth\u00f6here Dimension.\nAuch Riemann\u2019s Definition der Dimension geh\u00f6rt eigentlich hierher, obgleich er bei der Anwendung des Dimensionsbegriffes das qualitativ Verschiedene nachher nicht mitspielen l\u00e4sst. Wenn eine \u00ab-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit auf bestimmte Art in eine andere, v\u00f6llig verschiedene \u00fcbergeht, so haben wir eine n + 1-oder n \u2014 1-fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit. Gerade die \u00bbbestimmte Art\u00ab des Uebergangs und die \u00bbv\u00f6llige Verschiedenheit\u00ab sollten aber den Mathematiker verhindern, die Dimensionen als reine Quantit\u00e4ten, Coordinaten zu behandeln. Uebrigens verkennt Rie-mann den Grenzcharakter der Dimensionen nicht, denn jedes n\u20141-dimensionale Gebilde trennt nach ihm das n-dimensionale in zwei v\u00f6llig geschiedene Theile. Aber gerade solche Bestimmungen machen den Dimensionsbegriff einerseits ganz unf\u00e4hig, auf .etwas anderes als den gegebenen Raum angewendet zu werden, und bewirken anderseits, dass man zwar von Gebilden von 1, 2, 3 Dimensionen sprechen kann, dass man aber nirgends das Ding vorzeigen kann, welches Dimension hei\u00dft. Deshalb ger\u00e4th man bei dem Riemann\u2019sehen Dimensionsbegriff auch sofort in Widerspr\u00fcche,","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nA. Kirschmann.\nwenn man ihn auf andere Mannigfaltigkeiten, etwa auf die der Farben oder T\u00f6ne, anwenden will.\nW\u00e4hrend die beiden ersten der gegebenen Definitionen der Dimension rein analytisch waren und kein Recht beanspruchen k\u00f6nnen auf den Raum bezogen zu werden, ist die vorliegende, auf die Raumgrenzen bezugnehmende durchaus geometrisch. Dasselbe ist der Fall mit der gew\u00f6hnlichen und gebr\u00e4uchlichsten Definition, wonach die Dimensionen Richtungen, und zwar Grundrichtungen im Raume sind. Diese Definition ist Jedermann gel\u00e4ufig. Sie wird uns gewisserma\u00dfen schon in dem Anschauungsunterricht der ersten Schuljahre eingeimpft, wenn wir lernen, dass jeder K\u00f6rper eine L\u00e4nge, Breite und Dicke (auch manchmal H\u00f6he oder Tiefe genannt) habe. Wir machen aber gar keinen Gebrauch von dem Dimensionsbegriff, bis wir uns mit der Anwendung der Mathematik auf praktische Probleme zu besch\u00e4ftigen haben und dann auf jene Definition unsere ganze analytische Geometrie aufbauen. Wenigstens halten wir sie f\u00fcr die unersch\u00fctterliche und unumg\u00e4ngliche Grundlage derselben. Wir machen es noch heute wie Descartes, der, wie Sigwart sich ausdr\u00fcckt, mit dem Begriffe der extensio in longum, latum et profundum arbeitet, als ob derselbe keiner weiteren Analyse bed\u00fcrfeJ-). Es bleibt / nun zu untersuchen, ob dieser so gel\u00e4ufigen Betrachtungsweise wirklich eine solche grundlegende Bedeutung zukommt. Gibt es in der That Richtungen im Raume, oder Richtungsverh\u00e4ltnisse, die eine derartige Bevorzugung, eine solche Ausnahmestellung als ma\u00dfgebende Factoren der Raumanschauung und Raummessung gerechtfertigt erscheinen lassen? Da diese Frage nach der Berechtigung der Annahme absoluter oder relativer Grundrichtungen im Raume in engster Beziehung zu derjenigen nach der Anzahl dieser Grundrichtungen oder Dimensionen steht, so d\u00fcrfte es sich empfehlen, beide Probleme gemeinsam und im Zusammenh\u00e4nge zu behandeln, welchem Zwecke die Betrachtungen des folgenden Capitels dienen m\u00f6gen,\nVI. Die Zahl der Dimensionen.\n\u00bbDer gegebene Raum hat drei Dimensionen\u00ab. Das ist der Satz, den Jedermann als selbstverst\u00e4ndlich hinzunehmen gewohnt ist und den\n1) Sigwart, Logik II, S. 63.","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n385\ndie Mathematiker und Philosophen fast ohne Ausnahme zu dem Range eines apriorischen Axioms, oder, sofern sie als waschechte Empiriker alles Apriorische und Axiomatische perhorresciren, wenigstens zu dem eines \u00bbnothwendigen\u00ab oder unvermeidlichen \u00bbPostulates\u00ab erhoben haben1). Nach Grassmann ist die Raumlehre, die einen speciellen Fall der allgemeinen Ausdehnpngslehrc bildet, an die dpi Dimensionen des Raumes gebunden, w\u00e4hrend die abs^acte Ausdehnungslehre von diesen Schranken freibleibt2). G-rassmann\u2019s abstracte Ausdehnungslehre ist aber keineswegs die weiter oben von uns geforderte, g\u00e4nzlich von der Gr\u00f6\u00dfenlehre befreite. Uebrigens erkl\u00e4rt Grassmann, dass es nicht m\u00f6glich sei die Nothwendigkeit der drei Dimensionen aus den Gesetzen des Denkens abzuleiten.\nNach Riemann ist es eine Voraussetzung, welche bei jeder Auffassung der Au\u00dfenwelt angewandt wird, dass der Raum eine unbegrenzte, dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit sei. \"Wir ge-x langen bei dem gegebenen Raum durch dreimaligen Uebergang vom begrenzten zum begrenzenden Raumgebilde zum nicht weiter zerlegbaren Raumelement, dem Punkt. Auch f\u00fcr Helmholtz ist die dreifache Ausdehnung des gegebenen Raumes eine erste Voraussetzung, und Erdmann definirt den Raum als eine \u00bbstetige Gr\u00f6\u00dfe,\n1)\tMit dieser beliebt gewordenen Ausdrucksweise dr\u00fcckt man sich sachte um die Anerkennung des wesentlichen Unterschieds zwischen der Gewissheit des that-s\u00e4chlichen Erfahrungsinhaltes und derjenigen der mathematischan Axiome und ihrer widerspruchslosen Derivate herum, eines Unterschieds, den der moderne Empiriker zwar fortw\u00e4hrend in seinen eigenen Darstellungen benutzt, den er aber principiell nie zugestehen darf. loh habe nie einsehen gelernt, wie man zu noth-wendigen, allgemeing\u00fcltigen Theorien und Postulaten gelangen kann, ohne von nothwendigen Axiomen auszugehen; es sei denn, dass es mit der Nothwendigkeit der Postulate und Theorien nicht weit her ist. J. Schultz (S. 126) fasst die Entstehung dieser axiomatischen Postulate sogar in ganz darwinistischer Weise auf: sie haben sich aus dem Denken niederer Lebensformen (Thiere), die noch nicht axiomatisch dachten, nach und nach entwickelt. Da muss man sich aber doch wundem, dass diese Entwicklung qualitativ so ganz gleichartig, d. h. ohne jede Variation der Arten verlief, so dass die so \u00bbentwickelten\u00ab Axiome allgemeine G\u00fcltigkeit erlangten und behalten, anstatt wie die physische bei den Thieren hier scharfe Z\u00e4hne, dort flinke Beine und bei andern stattliche H\u00f6rner hervorzubringen. Aber vielleicht bin ich im Irrthum mit diesem Argument. Vielleicht ist die Metageometrie in diesem Sinne als Merkmal einer neuen Variet\u00e4t aufzufassen, hinter welcher die \u00bbEuklidischen\u00ab in atavistischer Beschr\u00e4nktheit Zur\u00fcckbleiben m\u00fcssen.\n2)\tGrassmann, Ausdehnungslehre, Anhang III, 1877 (8. 297 der engl. Ausg.).\nWundt, Philos. Studien. XIX.\t26","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nA. Kirschmann.\nderen Elemente durch drei unabh\u00e4ngige Variabele eindeutig bestimmt sind.\u00ab Als erstes Axiom der euklidischen G-eometrie gilt ihm der Satz: Der Raum ist eine dreifach ausgedehnte (in sich congruente, ebene) Mannigfaltigkeit.\nBei neueren Schriftstellern findet sich hier und da eine Tendenz, die Dreidimensionalit\u00e4t nicht als letzten elementaren Grundsatz aufzufassen, sondern ihn in Bestandteile zu zerlegen. So besteht dieselbe nach Russel1) aus einem apriorischen und einem empirischen Theil. Der apriorische besagt, dass der Raum eine endliche ganze Zahl von Dimensionen haben m\u00fcsse; der empirische, dass wir that-s\u00e4chlich finden, dass es drei sind. Dabei sei die Gewissheit der Dreizahl der Dimensionen fast so gro\u00df wie die des apriorischen Elementes.\nDie empirische Dreidimensionalit\u00e4t des Raumes ist vielfach physio-psychologisch zu begr\u00fcnden gesucht worden. Man sucht sie auf drei verschiedene Empfindungsreihen des Bewegungssinnes (Innervationsoder Muskelempfindungen), auf eine Dreiheit von Richtungsgef\u00fchlen (Riehl, He y mans) zur\u00fcckzuf\u00fchren; und man bringt sie sogar mit der Dreizahl der Bogeng\u00e4nge des Geh\u00f6rlabyrinths in Verbindung.\nDie Thats\u00e4chlichkeit der Dreidimensionalit\u00e4t scheint jedoch meines Wissens von Niemandem bestritten zu werden; und ebenso scheint von Mathematikern wie von Nichtmathematikem als ganz selbstverst\u00e4ndlich und keines Beweises bed\u00fcrftig angenommen zu werden, dass man diese drei Dimensionen als Richtungen im Raume, Grundrichtungen, sog. Coordinaten auffassen d\u00fcrfe. Beide Annahmen aber scheinen mir sehr die Kritik herauszufordern. Wir werden daher das gel\u00e4ufige Urtheil \u00bbDer Raum hat drei Dimensionen, welche sich als drei auf einander senkrechte Richtungen darstellen lassen\u00ab, einer eingehenden Pr\u00fcfung auf seinen wahren Werth unterziehen m\u00fcssen.\nEin Mensch, der nie etwas von Philosophie geh\u00f6rt und keine Logik gelernt hat, wird zwar weder die Aristotelischen noch die Kantischen Urtheilsformen kennen. Aber wenn er nicht lediglich gedankenlos und kritiklos nachspricht, was er von andern h\u00f6rt, sondern selbst denkt, so wird er doch ausfindig machen, dass es, abgesehen von den falschen, d. h. einen Widerspruch enthaltenden, und\n1) The Foundations of Geometrie, p. 161\u2014163.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n387\nunwahren, d. h. mit der \"Wirklichkeit nicht \u00fcbereinstimmenden, Ur-theilen, drei ganz verschiedene Arten von Urtheilen gibt. Er wird diese drei Arten unterscheiden, auch wenn er sie nicht mit besonderen Namen zu belegen gelernt hat. Der Name und die sprachliche Form der Urtheile haben mit dieser Unterscheidung wenig oder nichts zu thun rj. Ja, derselbe Satz kann f\u00fcr alle drei Urtheilsarten stehen. Der Satz \u00bbder Raum hat drei Grundrichtungen (Ausmessungen) oder Dimensionen\u00ab kann demnach drei verschiedene Gedanken oder Gedankeng\u00e4nge repr\u00e4sentiren. Er kann erstich bedeuten, dass der Raum nothwendiger und unumg\u00e4nglicher Weise als 3-dimensionaler gedacht werden muss. In diesem Falle l\u00e4ge ein Ur-theil von apodiptischer G\u00fcltigkeit vor, ganz wie etwa hei dem Satze: Die gerade Linie ist der k\u00fcrzeste Weg zwischen zwei Punkten. Das hie\u00dfe also : Der Raum hat drei Grundrichtungen, und wir k\u00f6nnen es uns nicht denken, dass es anders sein k\u00f6nnte.\nDer Satz kann aber zwejfcens auch Folgendes bedeuten: Der Raum hat drei Dimensionen. Es k\u00f6nnte zwar gerade so gut auch anders sein, n\u00e4mlich dass er mehr oder weniger als drei h\u00e4tte; aber es ist nun einmal so und nicht anders. Ein solches Urtheil dr\u00fcckt etwas Thats\u00e4chliches aus, ganz so, wie wenn ich als ein thats\u00e4ch-liches Erlebniss ausgebe: Ich habe Hunger, ich sehe eine rothe Fl\u00e4che u. s. w. Ein solches Urtheil ist, obwohl eben so gewiss wie ein apodictisches, nur assertorisch.\nEndlich ist noch ein driver Fall m\u00f6glich: Das Urtheil von den drei Dimensionen kann ganz conventionell sein; so etwa wie das, welches aussagt, dass das Wasser bei 100\u00b0 W\u00e4rme siedet. Bei apo-dictischen und assertorischen Urtheilen handelt es sich immer um\n1) Die Kant'sehe Tafel der Urtheilsformen ist gerade deshalb von so geringem Werthe, weil sie der sprachlichen Form der Urtheile zu viel Bedeutung zumisst. Man kann Urtheile, die ihrem Inhalt nach genau \u00fcbereinstimmen, so abfassen, dass sie nicht in einer einzigen Rubrik der Urtheilstafel Kant\u2019s zusammenfallen. Man betrachte die folgenden beiden S\u00e4tze: 1) Wenn in einem Dreieck zwei Seiten gleich sind, so sind auch die diesen Seiten gegen\u00fcber liegenden Winkel nicht verschieden. 2) Alle Dreiecke, welche zwei gleiche Seiten haben, m\u00fcssen auch zwei diesen Seiten gegen\u00fcberliegende gleiche Winkel aufweisen. Das erste dieser Urtheile ist ein besonderes, verneinend, hypothetisch und assertorisch; das zweite ist allgemein, bejahend, kategorisch und apodictisch. Trotzdem aber bedeuten beide Urtheile genau dasselbe.\n25*","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nA. Kirsehmann.\netwas, was in der Natur der Sache, die man zum Ausdruck bringen will, begr\u00fcndet ist ; bei dem conventionellen Urtheil, obschon es wahr ist, ist dies nicht der Fall. Dass man Temperaturen oberhalb einer gewissen Grenze als W\u00e4rme bezeichnet und dass man den Spielraum von jener Grenze bis zu einer gewissen anderen Grenze in 100 Grade eintheilt, beruht auf einem f\u00fcr die gegenseitige Verst\u00e4ndigung sehr n\u00fctzlichen, aber dennoch ganz willk\u00fcrlichen Uebereinkommen. Anderseits nimmt ein conveijtionelles Urtheil sofort etwas von dem Charakter des falschen und unwahren Urtheils an, wenn man den H\u00f6rer oder Leser in dem Glauben l\u00e4sst oder ihn darein versetzt, dass es eine Thats\u00e4chlichkeit oder Nothwendigkeit ausdr\u00fccke.\nVon welcher Art ist nun der Satz \u00fcber die 3-Dimensionalit\u00e4t des Raumes? Wir lernen als Kinder, dass jeder K\u00f6rper eine L\u00e4nge, Breite und Dicke (bezw. H\u00f6he, Tiefe) habe, dass man aber diese Grundrichtungen ziemlich beliebig festlegen kann. In einem unregelm\u00e4\u00dfig geformten K\u00f6rper oder auch in einem ganz regelm\u00e4\u00dfig gebildeten, wie die Kugel, bleibt es sich ganz gleich, welche Durchmesser ich als Dimensionen annehme; nur sollen sie normal zu einander stehen. Aber auch bei andern K\u00f6rpern, wie bei Polyedern, ist die Wahl nur eine durch die Convention sanctionirte. Bei einem W\u00fcrfel wird man eine Kante als H\u00f6he annehmen. Wenn ich aber eine W\u00fcrfelecke als dreiseitige Pyramide aus der Erde herausragen lasse, dann wird doch eine andere Linie die H\u00f6he. Es soll also 3 Dimensionen, geben aber man kann sie w\u00e4hlen wie man will; d. h. man kann der ersten eine ganz beliebige ^Richtung geben, die beiden andern sind dann durch die Bedingung der Rechtwinkligkeit bestimmt.\nGenau so verh\u00e4lt sich die Sache bei dem Cartesianischen Coor-dinatensysteme der analytischen Geometrie. Man nimmt als Coordi-natenaxen drei beliebige rechtwinklig sich schneidende Geraden an. Darin aber document\u00e2t sich doch nur die Thatsache, dass man in jedem Punkte im Raum drei auf einander senkrechte Richtungspaare festlegen kann, und zwar auch diese noch in unendlich vielf\u00e4ltiger |Weise. Grundrichtungen im Raume sind dadurch nicht gegeben, I weder absolute noch relative. Der Punkt, auf welchen ich Nachdruck legen m\u00f6chte, d\u00fcrfte vielleicht bei Uebertragung auf ein anderes Gebiet klarer werden. Man denke sich beispielsweise, dass Jemand","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n389\nbehaupte, es g\u00e4be drei und nur drei Grundfarben ; dass man dieselben aber in dem eine stetige und in sich zur\u00fccklaufende Mannigfaltigkeit bildenden Qualit\u00e4ten-Bereich der Lichtempfindungen, dem Farbenkreise, beliebig festlegen k\u00f6nne. Das heisst, wenn man eine beliebig bestimme, dann seien die andern'gegeben. Nun ist doch auf den ersten Blick klar, dass dies gleichbedeutend w\u00e4re mit dem Zugest\u00e4ndnis, dass es \u00fcberhaupt keine Grundfarben gibt, und dass die Reduction der unendlichen Mannigfaltigkeit von Qualit\u00e4ten auf drei Grundqualit\u00e4ten nur eine dem Princip der Oeconomie beim Gedankenaustausch dienende, sonst aber willk\u00fcrliche Annahme ist. Ganz dasselbe gilt f\u00fcr die coordinirten Dimensionen. Wenn man nicht bei jedem Raumgebilde in bestimmter eindeutiger Weise sagen kann \u00bbdies sind die drei Dimensionen\u00ab; wenn man sogar zugeben muss, dass man f\u00fcr jeden Punkt des Raumes die drei Grundrichtungen in tausendfach verschiedener Weise festsetzen kann, dann gibt man damit eben zu, dass es \u00fcberhaupt keine Grundrichtungen gibt.\nWenn es aber keine festen Grundrichtungen gibt, dann kann auch der Drei\u00ffahl der relativen, d. h. f\u00fcr einen gegebenen Fall gew\u00e4hlten Ooordinaten keine in der Natur des Raumes begr\u00fcndete Ausnahmestellung zukommen, so sehr sich dieselbe ihrer Einfachheit wegen zur analytischen Darstellung empfiehlt. Es verh\u00e4lt sich nicht , so, dass wir erst die Intuition oder den Begriff der Dimension haben und hernach gewahr werden, dass der Raum drei derselben besitzt. Im Gegentheil, in dem Raum, wie er als eine Bedingung und gemeinsame Eigenschaft der Erlebnisse in unserem Bewusstsein gegeben ist, finden wir von Anfang an, dass von jedem Punkte aus eine unendliche Anzahl von Richtungen oder geraden Linien m\u00f6glich sind. In jedem allseitig begrenzten Raumtheil oder materiellen K\u00f6rper, dem wir in der Wirklichkeit begegnen oder den wir in unserer Einbildung construiren, k\u00f6nnen wir von jedem Punkt im Innern in einer unendlichen Zahl von Richtungen Geraden ziehen oder gezogen denken, die die Grenze des K\u00f6rpers, d. i. seine Oberfl\u00e4che, treffen. Alles, was Ausdehnung besitzt, ist in dieser Weise allseitig ausgedehnt. Wenn wir Linien und Fl\u00e4chen auch ausgedehnt nennen, so wollen wir damit nicht sagen, dass diese Pro-ducte der Abstraction f\u00fcr sich allein in der Anschauung existiren k\u00f6nnten; wir k\u00f6nnen sie uns stets nur im allseitig ausgedehnten","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nA. Kirschmann.\nRaume als Grenzen von Raumtheilen vorstellen. Dabei ist zu be-/ achten, dass auch in der Ebene in jedem Punkte unendlich viele, in der Geraden aber nur zwei Richtungen m\u00f6glich sind. Dies entspricht ganz genau der eigenth\u00fcmlichen Thatsache, die wir \u00fcberall wiederfinden, wo es sich um die qualitative Differenzirung von Mannigfaltigkeiten handelt. Es gibt in einer Mannigfaltigkeit entweder eine Qualit\u00e4t (d. h. also gar keine Qualit\u00e4tsunterschiede) oder zwei Qualit\u00e4ten (antagonistisches oder bipolares System) oder drittens unendlich viele Qualit\u00e4ten (geschlossene Mannigfaltigkeit). Als Beispiel der ersten Art erw\u00e4hne ich die Reihe der farblosen Lichtempfindungen oder das System der Lichtempfindungen der total Farbenblinden (Achromaten); als Beispiele der zweiten Art k\u00f6nnen die Temperatur-Empfindungen und die Farbensysteme der Dichromaten (die unter sich wieder sehr verschieden sein m\u00f6gen) gelten. Zu der dritten Gruppe geh\u00f6ren das System der Farbenqualit\u00e4ten der Polychromaten (die Helmholtz Trichromaten nannte), die Mannigfaltigkeiten der Geschmacks- und Geruchsqualit\u00e4ten, die der Klangfarbe sowie die der Vocale der menschlichen Sprache. Physiologen und Psychologen haben zwar immer wieder und wieder versucht, diese stetigen, in sich abgeschlossenen Mannigfaltigkeiten in Systeme mit beschr\u00e4nkter Zahl von Grundempfindungen zu zw\u00e4ngen; aber in keiner dieser Mannigfaltigkeiten hat man die Grundqualit\u00e4ten in unanfechtbarer Weise vorzuf\u00fchren vermocht. Dem ganzen Bestreben der Oomponepientheorien liegt ein doppelter Denkfehler zu Grunde. Einmal glaubt man, das Princip der Einfachheit, welches hinsichtlich der wissenschaftlichen Darstellung in Worten und Symbolen berechtigt und geboten ist, auch auf die Thatsachen selbst \u00fcbertragen zu m\u00fcssen. W\u00e4hrend man sonst \u00fcberall gerne zugibt, dass die Natur keine Spr\u00fcnge macht, will man bei den Sinnesqualit\u00e4ten von stetigen Ueberg\u00e4ngen nichts wissen. Weil das f\u00fcr unsere schematische Darstellung ein wenig verwickelt wird, darum soll es auch f\u00fcr die Natur zu complicirt sein. Genau wie bei den Sinnesqualit\u00e4ten, so glaubt man nun auch der stetigen Mannigfaltigkeit der Raumqualit\u00e4ten (Richtungen) ein System von Grundqualit\u00e4ten, die Dimensionen, unterschieben zu m\u00fcssen.\nZweitens begehen die Oomponententheorien den Irrthum, dass sie die Zweitheilung im \u00bbeindimensionalen\u00ab (bipolaren) System und die","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Baumes.\n391\n2ur\u00fcckf\u00fchrung h\u00f6herer Mannigfaltigkeiten auf eine beschr\u00e4nkte Anzahl von Elementen als analoge, coordinate und gleichberechtigte Methoden betrachten. Dies ist aber, wie ich schon an anderer Stelle speciell f\u00fcr die Grundfarbentheorien dargethan habe1), ganz ungerechtfertigt. In einem antagonistischen oder bipolaren System ist die Zweiheit der Componenten nicht nur der f\u00fcr die Einfachheit der Darstellung g\u00fcnstigste, sondern \u00fcberhaupt der einzig m\u00f6gliche Fall. Nicht so bei h\u00f6heren Mannigfaltigkeiten. Hier ist zwar die Zur\u00fcckf\u00fchrung auf drei Grundqualit\u00e4ten immer noch der f\u00fcr die Darstellung einfachste Fall, aber durchaus nicht der einzig m\u00f6gliche, sondern nur ein aus vielen m\u00f6glichen willk\u00fcrlich (wenn auch vielleicht sehr brauchbar) gew\u00e4hlter.\nDie Verschiedenheit der Richtungen im Raume ist eine qualitative, wenn sich auch die Messung auf Winkelgr\u00f6\u00dfen anwenden l\u00e4sst. Auch hier liegen bez\u00fcglich der Zahl der Qualit\u00e4ten (Richtungen) drei M\u00f6glichkeiten vor. Es gibt entweder garjkeine Richtungen, wie bei dem Punkt, dem Repr\u00e4sentanten gr\u00f6\u00dfter r\u00e4umlicher Bestimmung, oder zwei Richtungen, wie bei den geraden Linien, oder unendlich vi&le Richtungen, wie bei der Ebene und dem allseitig ausgedehnten Raum. Der letztere repr\u00e4sentirt, da es in ihm in jedem Punkte unendlich viele Ebenen gibt, von denen jede unendlich viele Richtungen besitzt, eine Unendlichkeit h\u00f6herer Ordnung.\nVon jedem Punkte im Raume gehen unendlich viele Richtungen aus, und keine von diesen Richtungen kann ein besonderes Recht beanspruchen, als Grundrichtung oder Dimension betrachtet zu werden. Ebenso wenig kann aber ein bestimmtes Richtungsverh\u00e4ltniss eine bevorrechtete Stellung beanspruchen. Im orthogonalen cartesianischen Coordinatensystem ist dem Loth und damit dem Raumwinkel von der Gr\u00f6\u00dfe 4 n eine solche Ausnahmestellung gegeben, und man hat sich durch die analytische Geometrie an die Wahl des rechtwinkligen Co-ordinatensystems so gew\u00f6hnt, dass sie fast als selbstverst\u00e4ndlich, als in der Natur des Raumes begr\u00fcndet erscheint. Es soll gewiss nicht geleugnet werden, dass das dreiaxige, rechtwinklige Coordinatensystem sich bei der analytischen Darstellung au\u00dferordentlich n\u00fctzlich erweist. Aber es ist durchaus nicht das einzige, das m\u00f6glich ist, wenn es\n1) Beitr\u00e4ge zur Kenntniss der Farbenblindheit. Philos. Studien VIH, S. 181.","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nA. Kirschmann.\nauch yon allen m\u00f6glichen das brauchbarste sein mag. Es sind andere Systeme m\u00f6glich, die sich ebenso gut als Skelett, als Ger\u00fcst f\u00fcr unsere analytischen Raumbetrachtungen benutzen lie\u00dfen. Ich will hier nur eins erw\u00e4hnen. Wenn man von dem Mittelpunkt eines regul\u00e4ren Tetraeders Geraden durch die Eckpunkte legt, so steht jede dieser vier Geraden zu den drei andern in gleichen Raum-(Winkel-) Beziehungen. Denkt man sich diese Linien als Coordinatenaxen, so theilen sie den ganzen Raum in vier gleiche Raumwinkel von dem Werthe n. Trotzdem hier vier sich treffende, nicht sich schneidende Coordinatenaxen vorhanden w\u00e4ren, so w\u00e4re doch jeder Punkt im Raum durch drei Coordinaten eindeutig bestimmt, und zwar als gemeinsamer Punkt dreier \u00fcberall sich unter gleichen Winkeln schneidenden Ebenen. Es sind jedoch stets vier Bestimmungen vorhanden, da der jeweilige Fortfall einer der vier Coordinaten anzeigt, in welchem der vier Raumwinkel der betreffende Punkt sich befindet. Es ist klar, dass ein solches Coordinatensystem viele der Bequemlichkeiten (z. B. hinsichtlich der Verschiebung des Anfangspunktes) entbehren w\u00fcrde, die dem rechtwinkligen eigen sind; aber es h\u00e4tte auch anderseits seine Vortheile aufzuweisen. So ist es beispielsweise bei diesem Systeme nicht nothwendig, positive und negative Richtungen anzunehmen, wie hei den orthogonalen und schiefwinkligen cartesianischen. Man pflegt gew\u00f6hnlich zu sagen: Zur eindeutigen Feststellung eines Punktes sind drei Bestimmungsst\u00fccke nothwendig; oder: Ein Punkt ist bestimmt durch die Angabe seiner Distanzen von drei gegebenen Punkten, Linien oder Ebenen. Oder: Jeder Punkt im Raum wird durch drei unabh\u00e4ngig ver\u00e4nderliche Coordinaten vollst\u00e4ndig bestimmt1). Das ist aber nur richtig, wenn man vorher die willk\u00fcrliche Entscheidung getroffen hat, welche Richtungen positiv und welche negativ zu rechnen sind. Diesen positiven und negativen Richtungen aber entspricht nichts im Raume. Nur wenn die Ma\u00dfzahlen mit Vorzeichen behaftet sind, ist durch drei Coordinaten ein Punkt bestimmt. Fehlen die Vorzeichen, so hat man hei drei Bestimmungsst\u00fccken die Wahl zwischen 8 Punkten, je einen in jedem Octanten.\n1) Heymans, Die Gesetze und Elemente des -wissenschaftlichen Denkens, S. 188.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n393\nDie Lage eines Punktes ist eindeutig bestimmt, wenn seine Entfernung von mindestens vier nicht in einer Ebene gelegenen Punkten von bekannter Lage gegeben ist. Es sind stets vier Bestimmungsst\u00fccke erforderlich; aber sie m\u00fcssen nicht nothwendig in Form von Distanzen oder Linearcoordinaten gegeben sein. Bei den geradlinigen dreiaxigen Coordinatensystemen ist die vierte Bestimmung in der Wahl der Vorzeichen, bei Polar-Coordinaten in der Angabe der Richtung, in welcher die Winkel-Coordinaten zu rechnen sind, versteckt. Bei dem oben erw\u00e4hnten vieraxigen Systeme besteht das vierte Bestimmungsst\u00fcck in dem jeweiligen Fortfall einer der vier Ooordinaten.\nWenn somit die Nothwendigkeit von mindestens vier Bestimmungsst\u00fccken nicht geleugnet werden kann, warum behauptet man dann noch, Dimensionen und Ooordinaten durcheinander werfend, der Raum sei dreidimensional? Wenn wir die Dimensionen als Grundoder Coordinaten-Richtungen definiren, dann ist die Dreizahl ganz und gar conventionell. Man hat diese drei Grundrichtungen gew\u00e4hlt, weil sie besonders bequem sind. Man h\u00e4tte aber eben so gut eine andere Zahl w\u00e4hlen k\u00f6nnen. Je nach der Anzahl der gew\u00e4hlten Grundrichtungen k\u00f6nnte man dann dem gegebenen Raum eben so wohl vier, f\u00fcnf, sechs u. s. w. Dimensionen zuschreiben. Dass die Welt in Bezug auf die Raumanschauung, wie sich Fechner ausdr\u00fcckt, nur bis drei z\u00e4hlen kann, ist nicht allein keine Eigenschaft der Welt, sondern es ist auch nicht einmal eine unserer subjectiven psychischen Individualit\u00e4t inh\u00e4rirende Eigenschaft, wie Mi lau1) und mit mit ihm so viele andere meinen. Es ist vielmehr lediglich die Folge einer Convention. Wir finden es in diesem Falle recht bequem bis drei zu z\u00e4hlen, und wir wollen nicht weiter z\u00e4hlen.\nDiese conventionell gew\u00e4hlte. Dreiheit der \u00bbCoordinaten\u00ab-Dimen-sionen hat aber mit den weiter oben er\u00f6rterten, in den Begrenzungsverh\u00e4ltnissen der Raumgebilde, begr\u00fcndeten \u00bbDimensionen\u00ab, die man ja eventuell, allerdings ungenau, auch als eine Dreiheit auffassen kann, ebenso wenig zu thun, wie etwa mit der Dreiheit der Aggregatzust\u00e4nde, der logischen Fundamentalgesetze oder der M\u00f6glichkeiten\n1) Aus dem Grenzgebiet zwischen Mathematik und Philosophie, Kiel 1901, S. 26.","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nA. Kirschmann.\nbei der Gro\u00df en vergleiehung (gleich, gr\u00f6\u00dfer und kleiner). Wenn man aber jene auf die Grenzverh\u00e4ltnisse basirten Dimensionen als Dreiheit auf fasst, so ist dies, wie wir sagten, ungenau, weil es zwar dreierleiJEtaumgrenzen, aber, wie wir weiter oben bereits hervorhoben, vierj^tufen der Kaumbe^immung gibt (allseitige Ausdehnung, Fl\u00e4che, Linie, Punkt). Auch kann, was mit Bezug auf die Grenzdimensionen ein- oder zweidimensional ist, bei analytischer Darstellung im drei-axigen Coordinaten-System aller drei Dimensionen (als Grundrichtungen) bed\u00fcrfen; so im Falle der nicht ebenen Ourven und der gekr\u00fcmmten Fl\u00e4chen, die man nur dann als ein- resp. zweidimensional bezeichnen kann, wenn man von dem Gesichtspunkte der Grenzbestimmung ausgeht. Thats\u00e4chlich aber werden bei der anschaulichen Interpretirung der Formeln der analytischen Geometrie die zwei Dimensionsbegriffe fortw\u00e4hrend durcheinandergeworfen, trotzdem nur eine ganz zuf\u00e4llige Correspondenz zwischen ihnen besteht und trotzdem der eine rein conventioneller Art ist, w\u00e4hrend der andere wesentliche Eigenschaften der Baumgebilde zum Vorwand nimmt. Es muss hier nochmals betont werden, dass die Grenz-Dimensionen /\u2022weder vertauschbar sind, noch \u00fcberhaupt durch bestimmte Kichtungen oder Bichtungsverh\u00e4ltnisse im Baume repr\u00e4sentirt werden k\u00f6nnen. Man sollte daher auch gar nicht von der Zahl der Dimensionen, sondern von der Ordnung der Baumbestimmungsstufe, sprechen. Dabei wird es, wie wir weiter unten sehen werden, der Natur der Baumanschauung am besten entsprechen, wenn man den allseitig ausgedehnten Baum als die erste, Fl\u00e4chen als die zweite, Linien als die dritte und endlich die vollendete Ortsbestimmung im Baume, den Punkt, als die vierte Stufe ansieht.\nWill man nun den conventionellen, aus dem rechtwinkligen Coordinatensystem entspringenden Dimensionsbegriff \u2014 und dieser ist es, mit dem die Mathematik, da wo sie in controllirbaren, auf den wirklichen Baum anwendbaren Formeln spricht, gew\u00f6hnlich ope-rirt \u2014 eindeutig definiren, so kann diese Definition nur folgenderma\u00dfen ausfallen : Dimensionen hei\u00dfen die drei aufeinander senkrecht stehenden Doppelrichtungen, die man in jedem Punkte des Baumes (und zwar in unendlich vielfacher Weise) errichten kann. Da . aber nicht mehr als drei Linien sich in einem Punkte unter rechten Winkeln schneiden k\u00f6nnen, so enth\u00e4lt diese Definition, einerlei ob","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n395\nausdr\u00fccklich oder stillschweigend, die nothwendige Bestimmung, dass es nur drei Dimensionen gehen k\u00f6nne1). Die Ausdr\u00fccke vierte Dimension, Raum von n Dimensionen u. s. w. sind dann wesenlose, eine contradictio in adjecto enthaltende Scheinbegriffe, die in dieselbe Categorie geh\u00f6ren, wie die vierte Dreiecksseite oder das f\u00fcnfeckige Tetraeder. Sollte aber jemand behaupten, er stelle sich eben einen Raum vor, in welchem 4 oder mehr Lothe in einem Punkte m\u00f6glich seinen, so hat der H\u00f6rer dieser Aussage seinerseits das Recht zu erkl\u00e4ren, dass ein solcher Raum zusammengeh\u00f6rt mit der Logik, in welcher Indentit\u00e4t gleich Widerspruch ist, und mit der Arithmetik, in welcher 2x2 = 5 und 11 gerade ist.\nGibt man dagegen bei der Definition der Dimension den Charakter derselben als Normale auf, d. h. k\u00f6nnen die Grundrichtungen, die man zu Coordinatenaxen macht, sich unter anderen' als rechten Winkeln schneiden, dann ist der Zahl der Dimensionen allerdings keine Grenze gesetzt; aber es bedarf dann zur Repr\u00e4sentation der h\u00f6heren Dimensionen auch keiner au\u00dferempirischen oder nichteuklidischen R\u00e4ume. Der gegebene Raum hat dann eben so viele Dimensionen als man Grundrichtungen annimmt. Acceptirt man die weiter oben besprochenen tetraedrischen Coordinaten, so sind es vier, w\u00e4hlt man die acht W\u00fcrfel-Diagonalen, die den Raum in sechs vierseitige Pyramiden (ohne Basis nat\u00fcrlich) von dem Winkel-werthe f ~ zerlegen, so hat man vier Doppeldimensionen. Ebenso lie\u00dfen sich die Geraden von dem Mittelpunkte nach den Ecken des regul\u00e4ren Dodekaeders oder Ikosaeders als Grundrichtungen oder Dimensionen verwenden. Uebrigens braucht man nicht bei regul\u00e4ren Coordinaten, d. i. solchen, bei welchen jede Axe zu allen benachbarten gleiche Winkelbeziehungen hat, stehen zu bleiben. Nach \u2713 Analogie der dreiaxigen schiefen Coordinatensysteme lie\u00dfen sich schiefe mehraxige Systeme in unbegrenzter Zahl auf stellen. Yor allen diesen Systemen haben das \u00fcbliche Cartesianische System mit drei Doppel-axen und das tetraedrische vieraxige System nur den Vortheil gr\u00f6\u00dferer Einfachheit und daher praktischer Verwendbarkeit voraus, nicht aber\n1) Kirschmann, The fourth Dimension, Toronto 1896. S. auch Schmitz-Dumont, Naturphilosophie u. s. w. S. 152.","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nA. Kirschmann.\nbesitzen sie ein besonderes Vorrecht auf die Identificirung ihrer Grundrichtungen mit den Dimensionen des Raumes.\nAuf die Entstehung des unklaren Dimensionsbegriffes der heutigen Mathematik hat neben der fortw\u00e4hrenden Confusion der Stufen r\u00e4umlicher Grenzbestimmung mit Coordinaten oder Grundrichtungen noch ein anderer', uns so zu sagen in Fleisch und Blut \u00fcbergegangener, folgenschwerer Irrthum bestimmend eingewirkt, n\u00e4mlich die Vorstellung, dass alle Raumbetrachtung von dem Punkte als Raum-\u00bb Element\u00ab beginnen m\u00fcsseJ), und dass die linearen Gr\u00f6\u00dfen bei aller Ausdehnung als das Prim\u00e4re zu betrachten seien.\nDer Punkt hat keine Ausdehnung. Bei diesem Satze pflegt man, da das Nicht-Ausgedehnte doch nicht r\u00e4umlich sein k\u00f6nne, stillschweigend hinzuzudenken, dass also der Punkt etwas Nicht-R\u00e4umliches sei. Das muss sogar dem gro\u00dfen Philosophen und Mathematiker passirt sein, der die analytische Geometrie einf\u00fchrte, sonst h\u00e4tte er wohl nicht schlie\u00dfen k\u00f6nnen, dass, da die Seele nicht r\u00e4umlich sei, der influxus physicus nur in einem Punkte des Gehirns stattfinden k\u00f6nne. Hier liegt ein einfacher sprachlich-logischer Schnitzer vor, der sich dem ungenauen Ausdruck \u00bbunr\u00e4umlich\u00ab an die Ferse heftet. Das R\u00e4umliche ist ein weiterer Begriff als das Ausgedehnte. Auch die Raumgrenzen, Raumbeziehungen u. s. w. sind r\u00e4umlich, nicht nur der Raum selbst und seine Theile. In der That, der Punkt ist r keineswegs etwas Unr\u00e4umliches. Er ist im Gegentheil so zu sagen von allem R\u00e4umlichen das R\u00e4umlichste, denn er ist das Product der vollendeten Raumbestimmung. Aber dabei ist er doch kein Theil jdes Raumes, also auch kenURaumelement. Der Raum besteht nicht jaus Punkten, sondern, da er homogen, congruent ist, aus R\u00e4umen. Jeder noch so kleine Theil des Raumes ist wieder ein allseitig ausgedehnter Raum. Die Widerspr\u00fcche, die sich einstellten, wenn man den Punkt als Raum-Element ansah, haben denn auch die Mathematiker zur Einf\u00fchrung solcher Pseudobegriffe wie Linienelement, Fl\u00e4chenelement, Punktmenge u. s. w. bewogen, mit welchen man wenigstens sprachlich um die Schwierigkeiten herumzukommen glaubt, die entstehen m\u00fcssen, wenn man qualitative Verschiedenheiten durch reine Gr\u00f6\u00dfenunterschiede auszudr\u00fccken vermeint. Punktreihen und\n1) Grassmann, Ausdehnungslehre, Engel\u2019sche Ausgabe, S. 28.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n397\nPunktmengen spielen in der modernen Mathematik eine wichtige Rolle, und man behandelt diese \u00bbGebilde\u00ab, als ob die Menge der Punkte ihre charakteristische Eigenschaft sei, die sich sodann zur Deduction anderer Raumbeziehungen verwenden lasse. \u00bbEine Punktmenge besteht aus unendlich vielen Punkten\u00ab(wobei die Unendlichkeit von verschiedener Ordnung sein kann) und kann sogar noch sogenannte Verdichtungsstellen enthalten, wo sich die Punkte besonders h\u00e4ufen. Nun behaupte ich aber: Eine Punktreihe oder Punktmenge ist von einem einzelnen Punkte gar nicht verschieden, au\u00dfer wenn sie neben der Menge von Punkten noch etwas anderes enth\u00e4lt, was qualitativ \u00fcber die Eigenschaften des Punktes hinausgeht, z. B. lineare oder fl\u00e4chenhafte Ausdehnung. Jeder beliebige Punkt kann als Punktmenge oder als Yerdichtungsstelle von beliebiger St\u00e4rke aufgefasst werden; und alles, was man mit H\u00fclfe solcher widerspruchsvollen Scheinbegriffe, wie Punktmenge u. s. w., zu erreichen vorgibt, ist lediglich das Product einer logischen Erschleichung. 'Zwischen Punkt und Linie oder Linie und Fl\u00e4che besteht ein qualitativer Unterschied, der durch keine quantitative Approximation \u00fcberbr\u00fcckt werden kann. Diese falsche Idee des \u00bbunr\u00e4umlichen\u00ab Punktes, der doch als Raumelement fungiren mu\u00df, ist selbst in der neuesten mathematischen Litteratur nicht beseitigt. Auch Russell sieht eine Antinomie darin, dass Geraden und Ebenen einerseits als Beziehungen von Punkten betrachtet werden m\u00fcssen (projective Geometrie) w\u00e4hrend sie anderseits doch aus Punkten bestehen (made up of points). \u00bbEin Punkt muss r\u00e4umlich sein\u00ab, sagt Russell1 2), \u00bbsonst k\u00f6nnte er nicht die Aufgabe eines Raumelements erf\u00fcllen. Anderseits aber darf er doch keinen Raum enthalten, denn bes\u00e4\u00dfe er irgend welche endliche Ausdehnung, so w\u00e4re er weiterer Zerlegung f\u00e4hig\u00ab. Diese Schwierigkeit in dem sich selbst widersprechenden Begriff des unr\u00e4umlichen Raumelementes glaubt Russell heben zu k\u00f6nnen, wenn er jedem geometrischen Satze von vornherein eine gewisse Beziehung zur Materie gibt und das punktuelle Raum-Element durch das Atom ersetzt, da dies ein nicht-\n1)\tF. Klein, Vorlesungen \u00fcber die Anwendung der Differential- und Integral-Rechnung auf Geometrie. Eine Revision der Principien. 1902 ; S. 36,\n2)\tRussell, The Foundations of Geometry 1897, p. 189.","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nA. Kirschmann.\nr\u00e4umliches einfaches Element sei, welches r\u00e4umliche Beziehungen zu andern Elementen besitzt1).\nEin weiterer Widerspruch in der landl\u00e4ufigen Auffassung des Punktes l\u00e4sst sich am drastischsten in zwei S\u00e4tze kleiden, die sich hei Veronese sogar in demselben Axiom zusammengefunden haben, n\u00e4mlich: Es gibt verschiedene Punkte. Alle Punkte sind identisch2). Die L\u00f6sung scheint mir hier nicht schwierig; denn es ist klar, dass der zweite Satz einfach nicht wahr ist. Es gibt keine zwei identischen ^Punkte. Jeder Punkt im Raum ist von allen andern, eben durch seine Lageverh\u00e4ltnisse zu den andern, verschieden.\nBei derartigen S\u00e4tzen spielt uns die hergebrachte Auffassung von den abstracten oder Allgemeinbegriffen gar zu leicht einen Streich. Man denkt, jedem Worte m\u00fcsse eine bestimmte Vorstellung entsprechen. Die Gattungs- und abstracten Begriffe sind aber gar nicht Vorstellungen in diesem Sinne, sie sind abgek\u00fcrzte Bezeichnungen f\u00fcr complicirte Denkvorg\u00e4nge. Wenn man von \u00bbdem Punkt\u00ab im Allgemeinen spricht, so hat man bei diesem Begriffe nicht etwa die Vorstellung von einem allgemeinen Punkt, der nicht hier und nicht dort ist; solche allgemeinen Vorstellungen sind unm\u00f6glich; darin hatte Berkeley recht und wird auch recht behalten. Bei dem Allgemeinbegriff des Punktes haben wir die Vorstellung eines speciellen Punktes mit dem Nebengedanken, dass alles, was wir von diesem Punkte aus-sagen wollen, auch f\u00fcr jeden andern Punkt g\u00fcltig ist. Von den beiden S\u00e4tzen \u00bbAlle Punkte sind verschieden\u00ab und \u00bbAlle Punkte sind identisch\u00ab bezieht sich nur der erstere auf die wirklichen Punkte im Raum; der letztere aber, wenn er \u00fcberhaupt einen Sinn haben soll, kann nur von dem Allgemeinbegriff des Punktes gelten, d. h. dem Worte, unter welchem wir das bei allen Punkten Ueberein-stimmende zusammenfassen, welches in diesem Palle noch dazu negativ ist, n\u00e4mlich dass sie keine Gr\u00f6\u00dfe haben.\nKehren wir jetzt zur Er\u00f6rterung der Raumelemente zur\u00fcck. Wenn man den Punkt zum Raumelement macht, so stellt man damit die ganze Raumanschauung auf den Kopf. Denn der Punkt ist von\n1)\tRussel, The Foundations of Geometry 1897, p. 192.\n2)\t(Ass. I Esistono punti distinti \u2014 Tutti i punti sono identici.) Giusseppe Veronese, Fondamenti di Geometria, p. 210.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n399\nallen Kaumbestimmimgen die vollkommenste, die am wenigsten einfache oder prim\u00e4re. Ueberdies sind die Raumgrenzen keine Elemente, / aUs welchen der Raum besteht. Der Raum ist nicht aus Fl\u00e4chen, Linien, Punkten zusammengesetzt. Und wenn man den Raum mit H\u00fclfe der Bewegung aus den Grenzgebilden abzuleiten sucht \u2014 z. B. indem man einen geometrischen K\u00f6rper als die \u00bbSpur\u00ab einer bewegten Fl\u00e4che, eine Kurve als die Spur eines bewegten Punktes betrachtet \u2014 so enth\u00e4lt diese Auffassung eine petitio principii, denn die Bewegung setzt den vollen allseitig ausgedehnten Raum voraus. Denn man kann nur allseitig ausgedehnte K\u00f6rper, nicht aber Ebenen, Linien und Punkte bewegen oder als bewegt denken. Quantitative Raumelemente kann es wegen der Relativit\u00e4t aller Gr\u00f6\u00dfen \u00fcberhaupt nicht geben, und qualitativ ist der allseitig ausgedehnte unbegrenzte Raum das Elementarste, Einfachste, das Prim\u00e4re. Dieses Urbild der Raumanschauung, welches in seiner absoluten Unbestimmtheit gewisserma\u00dfen den geometrischen Ort alles Wirklichen und M\u00f6glichen darstellt, begleitet jede specielle Raumvorstellung. Die n\u00e4chste Stufe der Raumbestimmung ist die unbegrenzte Ebene; die dritte wird von der Geraden gebildet, und die vierte und letzte Stufe, und daher die vollendete, absolut eindeutige Raumbestimmung, ist der Punkt. Er bildet somit das letzte und complexeste Glied in der Stufenfolge der Bestimmungen und nicht das erste.\nIn dem allseitig ausgedehnten Raum, wie er uns als prim\u00e4re Raumanschauung mit der ersten r\u00e4umlichen Empfindung des Gesichts- oder Tastsinns gegeben sein muss \u2022\u2014 welcher jedoch urspr\u00fcnglich noch nichts von Gr\u00f6\u00dfen- oder Entfernungsbeurtheilung enth\u00e4lt, da alle Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzung oder Messung auf der Intensit\u00e4tsvergleichung beruht, die ihrerseits erst nach eingetretener Aenderung (d. i. Bewegung), also \u00bbim Laufe der Erfahrung\u00ab, sich entwickelt \u2014 gibt es unendlich viele Richtungen. Durch gewisse Beschr\u00e4nkung oder Abstraction gelangen wir zu einer engeren Mannichfaltigkeit von Richtungen, auch noch unendlich in ihrer Art, zur Ebene, die jedoch nur deshalb als ein Raumgebilde besonderer Ordnung betrachtet werden kann, weil sie ein Specialfall des Grenzgebildes erster Ordnung, der Fl\u00e4che, bildet. Durch weitere Beschr\u00e4nkung gelangen wir zur Doppelrichtung der Geraden und endlich zu dem den h\u00f6chsten Grad r\u00e4umlicher Bestimmtheit repr\u00e4sentirenden Richtungsursprung, dem Punkt.","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nA. Kirschmann.\nNun k\u00f6nnte man einwenden, ein allseitig begrenzter Raumtheil, ein K\u00f6rper repr\u00e4sentire eine eben so hohe Stufe der Raumbestimmung. Das ist ganz richtig; aber es ist dabei zu bedenken, dass der K\u00f6rper dies nur thut kraft der ihn begrenzenden Ebenen, Linien und Punkte.\nDer Uebergang von einer zur andern \u00bbDimension\u00ab im Sinne des gel\u00e4ufigen Gebrauchs dieses Wortes bedeutet also nicht den Wegfall oder den Hinzutritt einer neuen Richtung, sondern den unendlich vieler. Von diesem Standpunkt betrachtet, erscheint auch der weiter oben bei der Er\u00f6rterung symmetrisch congruenter Raumgebilde behandelte Begriff der Circumversion, des Umklappens in der n\u00e4chsth\u00f6heren Dimension in einem anderen Lichte. Zwei ebene congruente, aber symmetrische Eiguren k\u00f6nnen nur dadurch zur Deckung gebracht werden, dass man die eine derselben \u00bbdurch die dritte Dimension\u00ab in die Lage der anderen \u00fcberf\u00fchrt. Dieses Ueberf\u00fchren durch die dritte Dimension aber entpuppt sich bei eingehenderer Betrachtung als ein ungenauer Ausdruck f\u00fcr die Drehung der Ebene, in welcher sich die Figuren befinden, um 180 Grad, also durch alle andern im Raume m\u00f6glichen Ebenen hindurch. Ebenso bedeutet die Circumversion einer linearen Richtung in der zweiten Dimension einfach eine Drehung in der Ebene um 180 Grad, wobei die \u00bbgewendete\u00ab Linie alle anderen in der Ebene m\u00f6glichen Linien successive zu passiren hat. Mit einigen derselben wird sie in einem Stadium der Drehung zusammenfallen, andere wird sie schneiden; aber treffen muss sie alle. In ganz derselben Weise k\u00f6nnen wir jetzt definiren, was das Umklappen der enantiomorphen Raumgebilde in der vierten Dimension zu bedeuten h\u00e4tte. Es m\u00fcsste durch eine Drehung des gegebenen Raumes durch alle andern in der vierdimensionalen Welt m\u00f6glichen dreidimensionalen R\u00e4ume hindurch bewerkstelligt werden. Angesichts dieser Definition wird man es begreif lieh finden, dass ich die Enantiomorphie lieber als unerkl\u00e4rte und unerkl\u00e4rbare Thatsache acceptire \u2014 wie ich das ja \u00fcberdies mit allen fundamentalen Thatsachen zu thun gezwungen bin \u2014 als dass ich sie mit H\u00fclfe des Pseudobegriffes der vierten Dimension zu \u00bberkl\u00e4ren\u00ab suche. Wenn irgendwo einmal pl\u00f6tzlich eine rechte Schraube in eine linke, ein rechtsdrehender Quarz-krystall in einen linksdrehenden verwandelt w\u00fcrde, so w\u00e4re es vom Standpunkte der unparteiischen exacten Wissenschaft immer noch","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n401\ngerechtfertigter, das Eingreifen einer unbekannten Gewalt anzunehmen, die das rechte Individuum vernichtete und das linke neu schuf, als zur vierten Dimension seine Zuflucht zu nehmen. Denn die erstere Annahme verst\u00f6\u00dft nur gegen das bisher Beobachtete, die letztere aber gegen die nothwendigen Anschauungs- und Denkgesetze.\nMan nimmt gew\u00f6hnlich an, dass wir hei der Vorstellung einer Fl\u00e4che oder Ebene von dem, was man die dritte Dimension nennt, v\u00f6llig ahstrahiren. Wenn man damit aber meint, dass man bei der Vorstellung einer Fl\u00e4che den die Fl\u00e4che einschlie\u00dfenden Baum als nicht vorhanden betrachten k\u00f6nne, so scheint mir das eine folgenschwere Verkennung dessen zu sein, was die Abstraction wirklich ist und sein kann. Von dem als nothwendig Erkannten kann man \u00fcberhaupt nicht ahstrahiren. Ein geometrischer Satz, dessen Bichtigkeit man eingesehen hat, muss immer und \u00fcberall g\u00fcltig sein. Kommt derselbe hei irgend einem Gedankengange \u00fcberhaupt nicht in Frage, so braucht man auch nicht von ihm zu ahstrahiren. Kommt er aber in Frage, so handelt man gegen die Wahrheit, wenn man ihn dennoch nicht ber\u00fccksichtigt, und die Ergebnisse k\u00f6nnen niemals Anspruch auf Gewissheit oder wissenschaftlichen Werth machen. Wenn man von etwas Thats\u00e4chlichem abstrahirt, so hei\u00dft das weiter nichts, als dass man ihm im betreffenden Falle nur geringe oder keine Aufmerksamkeit zuwendet, nicht aber, dass man dasselbe als nicht vorhanden, nicht thats\u00e4chlich annimmt. Die Eigenschaften, Verh\u00e4ltnisse und Beziehungen, von welchen man in einem gegebenen Falle abstrahirt, werden nicht etwa als nicht vorhanden betrachtet, sondern sie werden nur m\u00f6glichst weit aus dem Centrum der Aufmerksamkeit wegger\u00fcckt. Eine v\u00f6llige oder auch nur ann\u00e4hernd vollst\u00e4ndige Abstraction, die ja der Negirung gleich oder nahe k\u00e4me, ist eben so wenig m\u00f6glich wie eine Ann\u00e4herung an die Null oder eine Ann\u00e4herung der linearen Gr\u00f6\u00dfe an den Punkt. Jede, auch die geringste Gr\u00f6\u00dfe, ist unendlich viel gr\u00f6\u00dfer als das Nichts, und jede, auch die kleinste Linie, auch wenn man sie in der Maske des Linienelements auftreten l\u00e4sst, ist, mit gen\u00fcgend starkem Vergr\u00f6\u00dferungsglas betrachtet, eine gro\u00dfe Linie, w\u00e4hrend der Punkt immer Punkt bleibt. So darf auch die Abstraction niemals zur v\u00f6lligen Vernachl\u00e4ssigung oder Negation werden. Nur so lange man dessen eingedenk bleibt, bilden die Producte der Abstraction recht-\nWundt, Philos. Studien. XIX.\t26","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nA. Hirschmann.\nm\u00e4\u00dfige Glieder in der Kette wissenschaftlicher Schlussfolgerungen. Sobald man die Eigenschaften, Beziehungen etc., von welchen man abstrahirt, so betrachtet, als ob man sie ganz aus dem Bewusstsein escamotiren k\u00f6nne, hat man angefangen, die Thatsachen zu entstellen, zu f\u00e4lschen.\nAber ganz abgesehen davon, dass eine \u00bbv\u00f6llige\u00ab Abstraction ohne Entstellung der Thatsachen nicht m\u00f6glich ist; es ist nicht eimnal richtig, dass wir bei dem Begriffe oder der Vorstellung der Fl\u00e4che von allen au\u00dferhalb der Fl\u00e4che existirenden Baumeigenschaften und Kaumverh\u00e4ltnissen abstrahiren. Der Begriff der Fl\u00e4che ist von der Vorstellung der Fl\u00e4che abh\u00e4ngig. Der Allgemeinbegriff der Fl\u00e4che besteht aus der Vorstellung einer beliebig gew\u00e4hlten speciellen Fl\u00e4che und der begleitenden Ueberzeugung, dass alles, was man von dieser aussage, auch von allen andern Fl\u00e4chen gelten m\u00fcsse. Wenn man sagt, \u00bbdie Fl\u00e4che etc., so ist das nur ein abgek\u00fcrzter Ausdruck f\u00fcr \u00bbjedes Kaumgebilde von der und der Beschaffenheit etc. Also ohne die repr\u00e4sentirende Vorstellung einer besonderen Fl\u00e4che ist der Allgemeinbegriff der Fl\u00e4che nur ein leeres Wort. Die Vorstellung t einer Fl\u00e4che ist nur m\u00f6glich, wenn der allseitig ausgedehnte Raum hinzu vorgestellt wird. Denn gerade das, was die Fl\u00e4che zu dem macht, was sie ist, besteht aus Beziehungen zu dem \u00fcbrigen Raum. Wir abstrahiren daher bei der Fl\u00e4che keineswegs von dem \u00fcbrigen Raum \u00fcberhaupt, sondern nur von gewissen Verh\u00e4ltnissen und Beziehungen desselben. Wenn ich eine Fl\u00e4che wahrnehme oder mir vorstelle, so muss ich sie stets in eine, wenn auch vielleicht ganz unbestimmte, Entfernung verlegen; es muss also der vor der Fl\u00e4che gelegene Raum mit vorgestellt werden. Ebenso ist eine Gerade, die doch mit ihrer Richtung identisch ist, das, was sie ist, nur auf Grund ihrer Beziehungen zu anderen Richtungen. Wir abstrahiren bei der Geraden nicht von diesen ihren Beziehungen zu anderen Richtungen, sondern nur von den Beziehungen der letzteren unter einander. Fl\u00e4che, Ebene, Linie, Gerade, Punkt haben einen Sinn nur im allseitig ausgedehnten Raum. Darum sollte man auch die Fl\u00e4che von rechts-wegen definiren als \u00bbeinen Theil des Raumes, unter besonderer Ber\u00fccksichtigung der Grenzen desselben, und unter weitgehender, aber nicht vollst\u00e4ndiger Abstraction von allem anderen, aufgefasst\u00ab. Bei einer Linie handelt es sich um die Concentration des Interesses auf die","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n403\ngemeinsame Grenze zweier Fl\u00e4chen; und der Punkt als die h\u00f6chste und eindeutigste Raumbestimmung, die gemeinsame Grenze zweier Linien, setzt die niederen Bestimmungen, Linie und Fl\u00e4che voraus. Die Definitionen von Linie und Punkt m\u00fcssen demgem\u00e4\u00df recht com-plicirt ausfallen.\nDie unbestimmteste und primitivste Raumanschauung in diesem Sinne ist der allseitig unbegrenzte Raum, der, undifferenzirt und unbeweglich, in gewissem Sinne doch einfach ist, obgleich er unendlich viele Orte und Richtungen enth\u00e4lt. Die n\u00e4chste Stufe, der Raumbestimmung ist die der Raumgrenze erster Ordnung, die unbegrenzte Fl\u00e4che; dann folgt, mehr und complexere Beziehungen als die vorige enthaltend, als dritte Stufe die unbegrenzte lineare Grenze und als vierte Stufe. und Grenze dritter Ordnung die complexeste Raumbestimmung, der definitive Ort im Raum oder der Punkt. Bei geradlinigen und andern Figuren, hei theilweise oder allseitig begrenzten Raumtheilen (K\u00f6rpern), tritt eine Cooperation aller dieser Raumbestimmungen ein. Wenn man in \u00fcblicher Weise den Punkt als das seihst nicht ausgedehnte Raumelement bezeichnet, so hat man damit nicht wirklich den Punkt nach seinen wesentlichen Merkmalen, sondern nur ganz einseitig eine gewisse Eigenschaft desselben definirt, die lediglich auf Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse Bezug nimmt.\nEbenso verkehrt wie es ist, die verschiedenen Stufen der Raumgrenzen als etwas zu betrachten, was auch f\u00fcr sich, unabh\u00e4ngig vom allseitig ausgedehnten Raum, bestehen k\u00f6nnte, ebenso unrichtig ist es, wenn man sie nur als Abstractionsproducte, als begriffliche Construc-tionen ansieht, die nicht selbst wahrgenommen werden. Man hat gesagt, Punkte sind in der Anschauung nie gegeben. Das ist offenbar nur insofern richtig, als es den angeblich v\u00f6llig abstrakten Begriff des Punktes angeht, der ein Unding ist. Der Punkt ohne bestimmte z Raum-Beziehungen ist eine eben solche Unm\u00f6glichkeit wie die Farbe ohne Licht. Wirkliche und daher mathematische Junkte sind bei jeder r\u00e4umlichen Wahrnehmung anschaulich^, gegeben, aber nicht isolirt, als sich selbst gen\u00fcgende Entit\u00e4ten, sondern als das, was Punkte wirklich sind und nur sein k\u00f6nnen, als Grenzen von Linien, und da diese nur mit Fl\u00e4chen und die letzteren nur mit allseitig ausgedehnten Raumtheilen gegeben sein k\u00f6nnen, indirect als Grenzen von Raumtheilen oder K\u00f6rpern. Alle Raumbestimmungen aber, einfache wie\n26*","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nA. Kirschmann.\ncomplexe, vollst\u00e4ndige und theilweise Begrenzungen, sind stets nur im allseitig ausgedehnten, unendlichen Raume m\u00f6glich.-Der unbegrenzte, unendliche Raum muss daher bei jeder speciellen * Raumwahrnehmung oder Raumvorstellung mitgedacht werden. Der unendliche Raum ist daher auch nicht etwa eine begriffliche Abstraction oder Construction, sondern er ist eine mit jeder Wahrnehmung gegebene Tliatsache (Bewusstseinsthatsache), die wir nicht einmal hinwegdenken k\u00f6nnten, wenn wir auch wollten. Nicht die Vorstellung des unendlichen, sondern gerade die des in sich abgeschlossenen endlichen Raumes begegnet un\u00fcberwindlichen Schwierigkeiten. Wir sind gezwungen, jeden endlich abgeschlossenen Raumtheil als im unendlichen Raume befindlich vorzustellen.\nWundt hat sehr treffend das Gebiet des Transcendenten in zwei Theile geschieden, das der qualitativen oder imagin\u00e4ren, und das der quantitativen oder realen Transcendenz. Zu der letzteren geh\u00f6ren unendliche Ausdehnung, unendliche Theilharkeit u. s. w. Dabei erkl\u00e4rt Wundt den, ohne qualitative Aenderung des Vorstellungsinhaltes, rein quantitativ gedachten Regressus ins Unendliche nicht allein Unerlaubt, sondern geradezu als nothwendig gefordert. Ich m\u00f6chte hier noch einen Schritt weiter gehen. Gewiss sind unendliche Strecken, Fl\u00e4chen u. s. w. und unendliche Theilung quantitativ transcendent; nicht aber unendliche Theilharkeit und die Vorbedingung f\u00fcr den mit Bezug auf specielle Ausdehnungsgebilde geforderten regressus in infinitum, der unendliche Raum selbst. Die unendliche Theilharkeit jedes Raumtheiles und der unendliche Raum selbst sind bei jeder Wahrnehmung mitgegebene Thatsachen.\nDer Begriff des Unendlichen ist in der Mathematik wie in der Philosophie keineswegs so klar, wie man bei seinem mannigfachen Gebrauche annehmen sollte. Das geht schon daraus hervor, dass er gew\u00f6hnlich so gebraucht wird, als oh er einen contradictorischen Gegensatz des Endlichen bilde. Nun sind aber endlich und unendlich nur der sprachlichen Form nach contradictorische, in Wirklichkeit aber contr\u00e4re Gegens\u00e4tze, zwischen welchen mannigfache Zwischenstufen existiren. Wenn man unter Endlichkeit allseitige Begrenztheit und unter Unendlichkeit allseitige Unhegrenztheitl) versteht,\n1) Der Ausdruck \u00bbunbegrenzt\u00ab darf nat\u00fcrlich nicht in dem weiter oben verworfenen Sinne von \u00bbselbstbegrenzend, oder in sich zur\u00fcckkehrend\u00ab genommen werden.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Kaumes.\n405\ndann sind eine Linie von gegebener L\u00e4nge, eine geschlossene ebene Figur und ein geometrischer K\u00f6rper allerdings endlich, eine auf beiden Seiten unbegrenzte Gerade, eine in jeder ihrer Richtungen unbegrenzte Ebene und der allseitig ins Unbegrenzte ausgedehnte Raum aber unendlich. Wie aber bezeichnet man nun eine Linie, die sich von einem gegebenen Punkte ins Unendliche erstreckt? Sie ist offenbar nach einer Richtung hin unendlich, nach der andern endlich. Ebenso l\u00e4sst sich jeder Fl\u00e4chenwinkel in der Richtung seiner Oeffnung als unendlich betrachten. Der Schattenkegel, den ein gr\u00f6\u00dferer K\u00f6rper in dem Lichte eines kleineren wirft, ist in der Richtung der Fortpflanzung des Lichtes unendlich, in allen anderen Richtungen aber endlich. Es gibt also auch eine partielle Unendlichkeit; und wenn man Unendlichkeit nicht ausdr\u00fccklich im Sinne von partieller Unbegrenztheit definirt, in welchem Falle man eine andere Bezeichnung f\u00fcr die allseitige Unendlichkeit einzuf\u00fchren verpflichtet ist, so kann man nicht sagen, dass das, was nicht unendlich sei, endlich sein m\u00fcsse. Selbst Kant ist in den Antinomien diesem auf der kritiklosen Hinnahme gel\u00e4ufiger Ausdr\u00fccke beruhenden Irrthum zum Opfer gefallen, und zwar gleich bei dem Beweis der Thesis der ersten Antinomie, die in gewissem Sinne als grundlegend f\u00fcr die ganze Beweisf\u00fchrung in den Antinomien gelten kann. Die Welt soll einen Anfang in der Zeit haben, denn wenn man annehme, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang, so sei ja \u00bbbis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen\u00ab. Nun besteht aber, so sagt Kant weiter, \u00bbdarin die Unendlichkeit, dass sie durch successive Synthesis niemals vollendet werden kann\u00ab. Es ist ganz offenbar, dass Kant hier die einseitige lineare Unendlichkeit mit der all- (d. i. hier zwei-) seitigen verwechselt. Er h\u00e4tte gerade so gut behaupten k\u00f6nnen: Es ist unm\u00f6glich, dass eine gerade Linie auf der einen Seite einen Endpunkt habe und auf der andern sich in die Unendlichkeit erstrecke. Denn w\u00e4re dies m\u00f6glich, so w\u00e4re die gerade Linie ja unendlich und h\u00e4tte doch einen Endpunkt.\nEine Verwechselung der einseitigen und allseitigen Unendlichkeit, scheint mir auch bei den in der nrojectiven Geometrie, gemachten Annahmen hinsichtlich der uneigentlichen Grundgebilde vorzuliegen. Man definirt als Strahle^\u00fcschel den Inbegriff aller durch einen Punkt gehenden Geraden. Die Gerade oder der Strahl ist demnach als nach","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nA. Kirschmann.\nbeiden Seiten unendlich zu denken. Um nun aber bei der Zuordnung von Punktreihe und Strahlenb\u00fcschel der Schwierigkeit zu entgehen, die dadurch entsteht, dass jedes B\u00fcschel einen Strahl mehr hat als der Tr\u00e4ger einer Punktreihe Punkte besitzt, nimmt man an, dass derjenige Strahl eines B\u00fcschels, welcher zu einer gegebenen Punktreihe parallel ist, mit der letzteren einen, und nur einen, uneigentlichen, d. i. in unendlicher Perne gelegenen, Punkt gemein habe. Hierbei rechnet man offenbar mit einem nur einseitig unendlichen Strahl, denn sonst m\u00fcsste man doch, die absolute Gleichberechtigung der beiden antagonistischen Richtungen der Geraden anerkennend, annehmen, dass der Parallelstrahl die Punktreihe in zwei unendlich fernen Punkten schneide. Der diesem Widerspruch zu Grunde liegende Irrthum besteht offenbar in der Identiflcirung von \u00bbStrahl\u00ab und \u00bbGerade\u00ab. Wenn man unter \u00bbStrahl\u00ab den elementaren Begriff der \u00bbRichtung\u00ab versteht \u2014 und die Geometrie der Lage sollte doch von wirklich, nicht weiter zerlegbaren Begriffen, Elementen, ausgehen \u2014 dann sind Strahl und Gerade durchaus nicht gleichbedeutend. Jede Gerade ist dann ein aus zwei Richtungen bestehender Doppelstrahl. Von parallelen Strahlen oder Richtungen darf man wohl sagen, dass sie nach einem unendlich fernen gemeinsamen Punkte convergiren, nicht aber von parallelen Geraden.\nDie Confusion von Richtung und Doppelfichtung hat aber einen ganzen Rattenk\u00f6nig von Absurdit\u00e4ten im Gefolge. Nicht nur muss man annehmen, dass eine Gerade nur einen unendlich fernen Punkt habe, sondern es m\u00fcssen auch die s\u00e4mmtlichen, den Geraden einer Ebene adjungirten Punkte wieder in einer einzigen unendlich fernen Geraden liegen. Denn w\u00e4re das nicht der Fall, l\u00e4gen sie in einer unendlich fernen gekr\u00fcmmten Linie, so m\u00fcsste man ja zwei Punkte dieser Kurve durch eine eigentliche Gerade verbinden, also eine Gerade mit zwei uneigentlichen Punkten ziehen k\u00f6nnen. So giebt es also zwei Arten von Geraden, n\u00e4mlich eigentliche, die unendlich viele eigentliche und einen uneigentlichen Punkt haben, und uneigentliche, die nur aus uneigentlichen Punkten bestehen und keine bestimmte Richtung besitzen. Eine Gerade, die keinen eigentlichen Punkt besitzt und keine Richtung repr\u00e4sentirt, ist aber f\u00fcr den gesunden Menschenverstand ein ganz \u00e4hnliches Ding wie ein Messer ohne Heft und Klinge. Da jede Ebene nur eine solche","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n407\nuneigentliche Gerade haben kann, so m\u00fcssen diese unendlich fernen Geraden auch alle in einer einzigen Ebene liegen. Der Raum hat demnach nur eine einzige unendlich ferne Ebene. Aber obgleich man dieser uneigentlichen Ebene keine bestimmte Lage zuschreiben kann, so ist sie doch eines ganz bestimmten Verhaltens andern ins Unendliche reichenden Raumgebilden, z. B. den geradlinigen Fl\u00e4chen zweiter Ordnung, gegen\u00fcber f\u00e4hig. Sie schneidet das einschalige Hyperboloid \u2014 einerlei welche Lage im Raum es hat \u2014 in einem Kegelschnitt und tangirt das hyperbolische Paraboloid. Wenn die projective Geometrie den Anspruch erheben will, eine reine Ausdehnungslehre zu sein, so sollte sie, da die Ausdehnung nur in der Anschauung gegeben sein kann, das Gebiet der Anschauung auch nicht verlassen ; denn alle Ausdehnungsbegriffe, die nicht angeschaut oder vorgestellt werden k\u00f6nnen, sind Pseudobegriffe. Es ist bedauerlich, dass man selbst in der projectiven Geometrie jene einseitige \u00bbanalytische\u00ab Symbolik nicht ganz aufzugeben vermag, die um die Gl\u00e4tte der Formel zu retten der Anschauung einen Fu\u00dftritt versetzt.\nAuch vom Standpunkt der Himmels-Mechanik hat man geglaubt die Nothwendigkeit der Dreidimensionalit\u00e4t des Weltenraumes dar-thun zu k\u00f6nnen. Man hat gesagt: Kur in einem dreidimensionalen Raume erscheint das New tonische Gravitationsgesetz als das vern\u00fcnftigste aller m\u00f6glichen; denn nur unter Annahme dreier Dimensionen ist die Weltordnung unabh\u00e4ngig von der absoluten Gr\u00f6\u00dfe ihres Ma\u00dfstabes '). Nur im dreidimensionalen Raume l\u00e4sst sich nach dem Newton\u2019sehen Gesetz mit Massen, Entfernungen und Geschwindigkeiten verfahren, unter gleichzeitiger Annahme der Relativit\u00e4t aller Gr\u00f6\u00dfen. Dies ist im Grunde ein sehr schwerwiegendes Argument, denn die Relativit\u00e4t aller Gr\u00f6\u00dfenbeurtheilung und Messung, oder was dasselbe ist, das Wundt\u2019sehe Beziehungsgesetz, ist nicht etwa eine vage Theorie oder eine Tr\u00e4umerei der Philosophen, sondern eine uns auf Schritt und Tritt begleitende That sache, die nur der leugnen k\u00f6nnte, der im Stande w\u00e4re f\u00fcr irgend eine Messung oder Gr\u00f6\u00dfenbeurtheilung ein absolutes Ma\u00df zu erbringen. Leider aber sind die \u00fcbrigen mathematischen Voraussetzungen, die jener Argu-\n1) Siehe Liebmann, Analysis der Wirklichkeit, S. 66 f.","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nA. Kirschmann.\nmentation zu Grunde liegen, nicht stichhaltig, wie ich an der Hand der urspr\u00fcnglich yon Laplace herr\u00fchrenden, von Lieb mann in einer Anmerkung gegebenen Rechnungsweise zeigen m\u00f6chte, indem ich mich gleichzeitig im Uehrigen der von Liebmann ge\u00fcbten philosophischen Kritik des Arguments anschlie\u00dfe.\nNach dem Gravitationsgesetz ist die von einem Himmelsk\u00f6rper auf einen andern ausge\u00fcbte Anziehungskraft, wenn r der Radius des anziehenden Himmelsk\u00f6rpers, und e die Entfernung von dem\n. ^ angezogenen ist, proportional dem Bruche Die durch diese\ne\nAnziehung in der Zeiteinheit geleistete Arbeit, d. i. die centripetale Verschiebung des angezogenen K\u00f6rpers sei = s. Wenn man sich nun die ganze Situation in n-fach vergr\u00f6\u00dfertem Ma\u00dfstab denkt, d. h. alle linearen Gr\u00f6\u00dfen mit n multiplicirt, so erh\u00e4lt man f\u00fcr\ndie Anziehungskraft = ^\u20142 = und f\u00fcr die centripetale\nVerschiebung n-s. Das hei\u00dft, es bleibt alles beim Alten: Der absolute Gr\u00f6\u00dfenma\u00dfstab hat im dreidimensionalem Raume keinen Einfluss auf das Gravitationsgesetz. Das w\u00e4re alles ganz sch\u00f6n; leider aber hat diese Formel zwei gro\u00dfe Fehler. N\u00e4mlich erstens ist sie keineswegs ausschlie\u00dflich f\u00fcr eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit g\u00fcltig, und zwejtens ist sie in Bezug auf die Massenberechnung \u2014 falsch.\nHinsichtlich des erstenJPunktes ist leicht ersichtlich, dass nicht blo\u00df im obigen Falle \u00bballes beim Alten bleibt\u00ab, sondern in jedem Falle, wo der den Ma\u00dfstab der Vergr\u00f6\u00dferung ausdr\u00fcckende Factor im Z\u00e4hler des Bruches in der n\u00e4chsth\u00f6heren Potenz erscheint als im Nenner. Die Metamathematiker k\u00f6nnten also ganz folgerichtig einwenden, auch in einem \u00ab.-dimensionalen Raum w\u00e4re die Gravitation von dem absoluten Werth der Entfernungen und Ausdehnungen unabh\u00e4ngig, wenn die Massen durch die rate Potenz auszudr\u00fccken w\u00e4ren und die femwirkenden Kr\u00e4fte mit der n \u2014 lten Potenz der Entfernung abn\u00e4hmen.\nDie ger\u00fcgte Unrichtigkeit der Formel aber besteht darin, dass bei der Vergr\u00f6\u00dferung des Ma\u00dfstabes die Massen auch vergr\u00f6\u00dfert werden. Das ist aber offenbar nicht gestattet, wenn man zur Demonstration der Relativit\u00e4t alle linearen Gr\u00f6\u00dfen mit einem constanten Factor multiplicirt. Haben wir eine Kugel vom Radius r und messen","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n409\ndie Masse derselben, proportional dem Yolum, mit r3, so sind bei einer Kugel vom Radius rn die r\u00e4umlichen Proportionen mit der \u00fcbrigen Welt nicht erhalten, wenn ihre Masse = r3n3 ist. Sind auch alle andern Gr\u00f6\u00dfen-Beziehungen in ihren Verh\u00e4ltnissen unge\u00e4ndert geblieben, so ist dies bez\u00fcglich der Masse nicht der Fall; denn diese ist hinsichtlich ihrer Dichtigkeit absolut dieselbe geblieben. Will ich mir im ganzen Universum alle r\u00e4umlichen Ausdehnungen und Entfernungen im gleichen Ma\u00dfe vergr\u00f6\u00dfert denken, so muss ich das auch auf den Abstand der Massentheilchen von einander ausdehnen. Die Masse, die ja an und f\u00fcr sich nichts R\u00e4umliches ist, muss dann unge\u00e4ndert bleiben. In der obigen Formel aber bleibt nicht, wie behauptet, bei Einf\u00fchrung des Factors n alles heim Alten, sondern es resultirt vielmehr eine gr\u00f6\u00dfere Masse und ein nicht in derselben Proportion vermehrtes Quantum geleisteter Arbeit in Gestalt der centripetalen Verschiebung.\nUeberhaupt sind Materie und Masse Begriffe, die, sobald man /'ernstlich versucht, sie eindeutig zu definiren, mit der Thatsache der Relativit\u00e4t aller Raumgr\u00f6\u00dfen in unl\u00f6sbare Widerspr\u00fcche gerathen. So beispielsweise verliert das \u00bbGesetz\u00ab der Erhaltung der Quantit\u00e4t der Materie, vom Standpunkte der Gr\u00f6\u00dfenrelativit\u00e4t betrachtet, ganz seine Bedeutung, wie wir im Nachstehenden, an eine bekannte, wenn ich mich nicht irre, zuerst von Condillac stammende Ueberlegung ankn\u00fcpfend, noch zeigen wollen.\nMan setze den Fall, der liebe Gott reducire in der Nacht, w\u00e4hrend wir alle schliefen, die r\u00e4umliche Ausdehnung des ganzen Universums oder auch nur desjenigen Theiles, der unseren Sinnen und Instrumenten zug\u00e4nglich ist, auf ein Hundertmillionstel des jetzigen Ma\u00dfstabes, aber ohne an den gegenseitigen Raum-Verh\u00e4ltnissen das Geringste zu \u00e4ndern. Die Erde h\u00e4tte dann kaum die Gr\u00f6\u00dfe einer Kegelkugel, und wir Menschen w\u00e4ren noch viel kleiner als die winzigsten Infusorien oder Bact\u00e9rien1 *). Wenn wir nun am n\u00e4chsten Morgen aufwachten, w\u00fcrden wir die Ver\u00e4nderung bemerken? Gewi\u00df nicht, denn dazu h\u00e4tten wir auch nicht den geringsten Anhaltspunkt, da alles im selben Ma\u00dfstabe verkleinert w\u00e4re. Wir\n1) Ob man sich gleichzeitig mit den Raumgr\u00f6\u00dfen auch die Zeit- und Inten-\nsit\u00e4tsgr\u00f6\u00dfen entsprechend verringert denkt oder nicht, thut hier nichts zur Sache.","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nA. Kirschmann.\nf\u00e4nden uns und unseres Gleichen ganz wie zuvor 5 bis 6 Fu\u00df gro\u00df. Der K\u00f6lner Dom w\u00e4re genau wie sonst \u00fcber 150 m hoch, und das Pariser Normalmeter w\u00e4re immer noch ein Zehnmillionstel eines Erdmeridianquadranten.\nEs ist \u00fcbrigens gar nicht n\u00f6thig, dass der liehe Gott uns dieses Gl\u00fcck oder Ungl\u00fcck im Schlaf befallen l\u00e4sst. Die ganze Procedur kann vor unseren Augen vorgenommen werden und wir k\u00f6nnen nicht das Geringste davon merken. Ja, die absolute Gr\u00f6\u00dfe der uns bekannten Welt kann fortw\u00e4hrenden und enormen Schwankungen ausgesetzt sein, ohne dass es uns je zum Bewusstsein kommt. So wissen j- wir also nicht allein nichts \u00fcber die absolute Gr\u00f6\u00dfe der Welt und ihrer Theile, sondern wir sind auch nicht einmal sicher, dass diese Gr\u00f6\u00dfe constant bleibt. Wir haben auch kein Mittel es jemals festzustellen. Wenn aber die absolute Gr\u00f6\u00dfe dessen, was wir den uns bekannten Theil des Universums nennen, unbeschadet der Erhaltung der von uns wahrgenommenen Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse, variiren kann; wenn die Welt auf ein Milliontel ihres Volums zusammenschrumpfen oder sich bis zum Millionenfachen ausdehnen kann, ohne dass es der beobachtende und messende Mensch gewahr wird, was f\u00fcr einen Werth hat es dann noch, von einer Erhaltung der Quantit\u00e4t der Materie zu sprechen? Man mag sich die Materie denken wie man will, in allen F\u00e4llen kommt man in Conflict mit der Thatsache der Relativit\u00e4t der Raumgr\u00f6\u00dfen.\nSehen wir uns die vorhandenen M\u00f6glichkeiten etwas genauer an. 'Das, was die Materie constituirt, f\u00fcllt entweder den Raum ganz aus, oder es f\u00fcllt einen Theil des Raumes aus, oder endlich es nimmt \u00fcberhaupt keinen Raum ein. Es gibt au\u00dfer diesen dreien, die Grundannahmen der Continuit\u00e4tshypothese, der Atomistik und der dynamischen Theorien bildenden M\u00f6glichkeiten keine weiteren.\nFassen wir die Materie als Continuum auf, so bedeutet jede Volumverminderung der Welt auch eine Verringerung der Quantit\u00e4t der Materie. Man darf sich hier auch nicht durch die Einschmuggelung des Dichtigkeitshegriffes zu helfen suchen, denn Continuum und Dichtigkeit sind Begriffe, die sich gegenseitig aufs bestimmteste ausschlie\u00dfen. Wenn es erlaubt w\u00e4re, innerhalb eines Continuums Dichtigkeitsdifferenzen anzunehmen, dann lie\u00dfe sich eine unendlich ausgedehnte, continuirliche Materie denken, die doch eine endliche Masse, oder","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n411\nendliches Gewicht h\u00e4tte (z. B. wenn die Dichtigkeit im Centrum ein Maximum hat und von da mit der vierten Potenz der Entfernung oder in irgend einer Weise dergestalt abnimmt, dass die Ma\u00dfzahlen der Massen der einander umschlie\u00dfenden Kugelschalen eine convergente Reihe bilden).\nF\u00fcllt die Materie den Raum nur theilweise aus, so haben wir es mit irgend einer Form von Atomen, discreten Theilchen, zu thun, die, wenn sie auch aus irgend welchen Gr\u00fcnden f\u00fcr unzerlegbar ausgegehen werden, doch Ausdehnung besitzen m\u00fcssen; denn sonst nehmen sie ja \u00fcberhaupt keinen Raum ein. Werden nun bei der Verringerung aller Raumgr\u00f6\u00dfen auch die in ihrer Zahl nat\u00fcrlich nicht verminderten Atome kleiner, d. h. ihr Gesammtvolum geringer, so bleibt offenbar die Quantit\u00e4t der Materie nicht erhalten, sondern sie wird auch reducirt. Behalten aber die Atome selbst-ihre Gr\u00f6\u00dfe hei und werden nur ihre Abst\u00e4nde, die Zwischenr\u00e4ume zwischen ihnen, vermindert, dann sind damit nat\u00fcrlich die relativen Raumverh\u00e4ltnisse ge\u00e4ndert. Also mit der Annahme von Atomen ist die Relativit\u00e4t aller Raumgr\u00f6\u00dfen eben so wenig zu vereinen wie mit der Continuit\u00e4ts-Hypothese.\nNimmt man endlich zu rein dynamischen Theorien seine Zuflucht, so werden die Atome zu selbst nicht ausgedehnten Kr\u00e4fte-Centren, also zu Punkten. Aus Punkten aber setzt sich \u00fcberhaupt keine Quantit\u00e4t zusammen, nicht einmal eine rein r\u00e4umliche. Daher darf man in diesem Falle der Materie entweder gar keine Quantit\u00e4t zuschreiben, womit nat\u00fcrlich auch die Forderung der Constanz derselben in Fortfall kommt, oder aber man muss zugestehen, dass es nicht die punktuellen Kr\u00e4fte-centren selbst sind, die das constituiren, was man die Quantit\u00e4t der Materie nennt, sondern dass es die Wirkung derselben in dem umgebenden Raum ist. F\u00fcr diese r\u00e4umlichen Wirkungsbereiche gilt aber dann genau dasselbe, was weiter oben f\u00fcr die Atome demonstrirt wurde. Werden sie bei der allgemeinen Raumreduction auch verringert, so wird eben dadurch die Quantit\u00e4t der Materie vermindert. Bleiben sie aber constant, dann sind die r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse nicht durchweg erhalten geblieben.\nEs l\u00e4sst sich somit in keinem Falle die Lehre von der Erhaltung der Quantit\u00e4t der Materie mit der Thatsache der Relativit\u00e4t aller Raumgr\u00f6\u00dfen widerspruchslos vereinen. Da man aber in der Natur-","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nA. Kirschmann.\nWissenschaft noch immer gew\u00f6hnt ist, das direct im Bewu\u00dftsein Gegebene, das Psychische, aus dem Physischen zu erkl\u00e4ren, anstatt umgekehrt, so f\u00e4llt es heute keinem Menschen ein, das hypothetische Erhaltungsgesetz, mit dem man vertraut ist, in Zweifel zu ziehen zu Gunsten des Relativit\u00e4tsgesetzes, dessen unumst\u00f6\u00dfliche Thats\u00e4ch-lichkeit noch keineswegs eingesehen zu sein scheint. Wenn man aber die verschiedenen Erhaltungshypothesen der Physik einmal psychologisch bis in ihre letzten Elemente zerlegen wird, dann wird, so glaube ich, als Th at sa che nichts \u00fcbrig bleiben als die Erhaltung des bei allem Wechsel der Erlebnisse unausgesetzt mitEmpfindungen angef\u00fcllten Gesichts- und Tastfeldes, mit andern Worten \u00bbdie Erhaltung des Raumes.\u00ab\nSchluss.\nWir haben den Beweis zu f\u00fchren gesucht, dass die im gew\u00f6hnlichen Leben und in der mathematischen Wissenschaft allgemein anerkannte Dreidimensionalit\u00e4t des Raumes eine conventionelle, nicht in der Natur des Raumes begr\u00fcndete Voraussetzung ist und dass die auf die unkritische Annahme des Dimensionsbegriffes aufgebauten \u00bbUeber-r\u00e4ume\u00ab der Mathematiker Producte unberechtigter Speculationen sind. Nun k\u00f6nnte man einwenden, diese Ergebnisse der fortschreitenden mathematischen Entwicklung seien hypothetischer Natur und die Mathematik habe wie jedes andere Lehrgeb\u00e4ude das Recht zur Construction von H\u00fclfsbegriffen und zur Aufstellung brauchbarer Hypothesen. Demgegen\u00fcber muss aber betont werden, dass wir dem conventioneilen Dimensionsbegriff seine N\u00fctzlichkeit und praktische Verwendbarkeit durchaus nicht absprechen. Wir verlangen nur, dass er nicht als s etwas aus der Natur des Raumes mit Nothwendigkeit folgendes ausgegeben werde, damit keine Entstellung des wirklichen Thatbestandes der Gesetze der Raumanschauung verursacht wird.\nDen metageometrischen Theorien aber soll daraus kein Vorwurf entstehen, dass sie hypothetische Elemente enthalten, also \u00bbSache des Glaubens\u00ab sind, und wir sind gewiss die letzten, sie aus diesem Grunde zu verdammen1). Wir sind, im Gegentheil, der Ansicht, dass der\n1) Siehe auch die unter dem Pseudonym C. E. Rasius ver\u00f6ffentlichte, popul\u00e4r-philosophische Schrift: Rechte und Pflichten der Kritik. Kapitel \u00fcber Wissen u. Glauben.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n413\nGlaube nicht blo\u00df im gew\u00f6hnlichen Leben, sondern auch in der \"Wissenschaft eine viel gr\u00f6\u00dfere Eolle spielt, als man ihm in der Regel zuzuschreiben geneigt ist. Bei allen einen Zweck verfolgenden Handlungen reagiren wir auf \u00bbGlauben\u00ab und nicht auf \u00bbGewissheit\u00ab. Gewissheit ist Ausgangspunkt und Ziel unseres Handelns, die Triebkraft ist der Glaube. Auch in der exactesten wissenschaftlichen Forschung regirt der Glaube jeden Schritt, den wir ausf\u00fchren. Sind auch die Ergebnisse absolut gewiss, der Weg zu ihnen ist mit Glaubenss\u00e4tzen gepflastert.\nSelbst der Mathematiker kann des Glaubens nicht entrathen. Gern \u25a0geben wir apodictische Gewissheit der geometrischen Axiome (die an ihrer absoluten Einfachheit und Unzerlegbarkeit ebenso erkennbar sind wie die qualitativen Elemente der Sinneswahrnehmung) und der aus ihnen widerspruchslos abgeleiteten S\u00e4tze zu. Aber wir behaupten, dass der Mathematiker gar keine Veranlassung h\u00e4tte, von einem als gewiss erkannten Satze ausgehend, nach neuen Gewissheiten und Nothwendigkeiten zu suchen, wenn ihm nicht der Glaube den Antrieb g\u00e4be. Und nicht blo\u00df den Antrieb giebt er, er weist ihm auch die Richtung bei der fortschreitenden Forschung.\nNicht weil sie Hypothesen, Glaubenssache, sind, verwerfen wir die metageometrischen Theorien, sondern weil sie auf widerspruchsvollen Scheinbegriffen und Pseudo-Unterscheidungen aufgebaut sind. Denn das, was einen Widerspruch enth\u00e4lt, kann und darf man nicht glauben. Die heutige Mathematik l\u00e4uft Gefahr, sich in eine dem gesunden (ich meine nicht dem gemeinen) Menschenverst\u00e4nde entfremdete analytisch-formalistische Symbolik zu verlieren. Es ist daher erw\u00fcnscht, dass den allzuhoch fliegenden Speculationen die w\u00e4chsernen Fl\u00fcgel ein wenig schmelzen, damit sie sich nicht zu weit entfernen von dem Ausgangsgebiet aller mathematischen Forschung, von dem Gebiete, dem allein Nothwendigkeit innewohnt: der Geometrie des gegebenen Raumes.\nWir geben nachstehend eine kurze Zusammenfassung der Hauptpunkte unserer Darlegungen, und zwar ohne besondere Scheidung von Neuem und Bekanntem:","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nA. Kirschmann.\nI. Die Raumanschauung im Allgmeinen betreffend:\n1)\tDer allseitig ausgedehnte Raum ist zwar quantitativ unendlich theilbar, qualitativ aber absolut einfach und unzerlegbar. Er\n* ist die Bedingung aller speciellen Raumvorstellungen.\n2)\tEs gibt keine andere Ausdehnung als den Raum. Alles, was ausgedehnt ist, ist allseitig ausgedehnt. Die f\u00fcr einseitig oder mehrseitig ausgedehnt ausgegehenen \u00bbGebilde\u00ab' wie Linie, Ebene, Fl\u00e4che, sind nur im allseitig ausgedehnten Raume denkbar, und zwar als Grenzen von Raumtheilen. Wenn man bei der Vorstellung allseitig ausgedehnter Raumtheile die Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Grenzen richtet, so entsteht die Vorstellung der Fl\u00e4che, der Linie, des Punktes. Es ist nicht wahr, dass man sich Fl\u00e4chen, Linien oder Punkte unter vollst\u00e4ndiger Abstraction von dem allseitig ausgedehnten Raume vorstellen oder denken k\u00f6nne.\n3)\tDer Punkt ist nicht das Raumelement. Wie der allseitig ausgedehnte unendliche Raum qualitativ einfach und quantitativ complex ist, so ist umgekehrt der Punkt, d. i. die vollkommenste Ortsbestimmung im Raum, quantitativ zwar einfach, aber qualitativ complex.\nDa der Raum unendlich theilbar ist, so kann er keine letzten Elemente besitzen. Jeder, auch noch so kleine Raumtheil ist allseitig ausgedehnt. Die Raumgrenzen Fl\u00e4che, Linie, Punkt, sind unter einander und von dem allseitig ausgedehnten Raume qualitativ verschieden. Jede Richtung im Raum ist von jeder andern Richtung in einer Art verschieden, welche durch reine Gr\u00f6\u00dfen begriffe nicht ausgedr\u00fcckt werden kann.\nDie Ausdr\u00fccke Linien- und Fl\u00e4chen-Element, Punktreihe, Punktmenge u. s. w. Sind aus der Verkennung der qualitativen Eigenschaften des R\u00e4umlichen hervorgegangene Scheinbegriffe.\n4)\tDie Ausdehnung i^jsran und f\u00fcr sich nicht Gr\u00f6\u00dfe; sie wird es erst dadurch, dass auf Grund der Aenderung, die wir Bewegung nennen, die Intensit\u00e4tsvergleichung auf sie angewendet wird. Es gibt keine anderen als intensive Gr\u00f6\u00dfen. Auch der Raum, die Extension, ist als Gr\u00f6\u00dfe intensiv (gemessen durch die Intensit\u00e4t von gewissen Empfindungen). Alles Messen ist daher in letzter Instanz ein Messen intensiver Gr\u00f6\u00dfen.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n415\n5)\tEs ist eine reine Ausdehnungslehre, unabh\u00e4ngig von jeder Gr\u00f6\u00dfenbetrachtung, wohl m\u00f6glich. Dagegen ist eine ganz reine Gr\u00f6\u00dfenlehre, da die Vergleichung des Intensiven stets r\u00e4umliches Auseinandersein voraussetzt, nicht denkbar. Bei der sogenannten reinen Gr\u00f6\u00dfen- uiid Zahlenlehre abstrahirt man m\u00f6glichst weitgehend von allen Bichtungen im allseitig ausgedehnten Baum mit Ausnahme einer einzigen. Es liegt daher der letzte Grund aller apodictisch gewissen (nothwendigen) Urtheile doch in der Baumanschauung.\n6)\tDie Wundt\u2019sehe Lehre von den complexen Localzeichen l\u00e4sst nicht nur hinsichtlich des Problems der eindeutigen und widerspruchslosen r\u00e4umlichen Ordnung der Gesichts- und Tastwahrnehmungen nichts zu w\u00fcnschen \u00fcbrig, sondern sie wird auch den, unabh\u00e4ngig von der speciellen Sinnespsychologie, aus rein erkenntniss-theo-retischen Betrachtungen \u00fcber die Baumanschauung resultirenden Forderungen von allen Theorien am besten gerecht, indem sie, unter Annahme einer gewissen Modification, sowohl der rein qualitativen Urnatur der r\u00e4umlichen Ausdehnung, wie der entwicklungsf\u00e4higen quantitativen Betrachtung der r\u00e4umlich-intensiven Gr\u00f6\u00dfe geb\u00fchrend Bechnung tr\u00e4gt.\nII. Die Lehre von den Dimensionen betreffend:\n7)\tDer rein analytisch definirte Dimensionsbegriff hat mit der r\u00e4umlichen Ausdehnung nicht mehr zu thun als der Begriff der unabh\u00e4ngigen Variabein; er ger\u00e4th \u00fcberdies in direkten Widerspruch mit den r\u00e4umlich definirten Begriffen der Dimension. Der \u00bbn-dimensionale Baum\u00ab ist nur ein unpassender und irref\u00fchrender Ausdruck f\u00fcr die \u00bbMannigfaltigkeit mit n unabh\u00e4ngigen Variabein\u00ab.\n8)\tDer auf die M\u00f6glichkeiten der Baumbegrenzung aufgebaute Begriff der Dimension ist in der Natur der Baumanschauung begr\u00fcndet. Er ist jedoch weder geometrisch noch analytisch als H\u00fclfsmittel der Demonstration und Bechnung verwendbar, da die so abgeleiteten Dimensionen weder den Charakter der \u00bbGr\u00f6\u00dfe\u00ab besitzen, noch sich als \u00bbBichtungen\u00ab im Baume betrachten oder aufzeigen lassen. Au\u00dferdem sind sie weder coordinirt, noch vertauschbar.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nA. Kirschmann.\nAdoptirt man diesen Dimensionsbegriff, so kann man nach der Anzahl der Stufen der Raumbestimmung vier Dimensionen z\u00e4hlen, vom allseitig ausgedehnten Raum bis zum Punkt ; oder drei, wenn man den Punkt nicht als solche Stufe gelten lassen will. Da diese Stufen der Raumbestimmung v\u00f6llig heterogen sind, so w\u00e4re es willk\u00fcrlich und sinnlos, von ihnen ausgehend, weitere Dimensionen zu fordern.\n9)\tAuch auf die Analogie zwischen den Potenzen einerseits und den Fl\u00e4chen- und K\u00f6rperma\u00dfen anderseits, l\u00e4sst sich keine stichhaltige Definition der Dimension gr\u00fcnden.\n10)\tDer gel\u00e4ufigste aller, Dimensionsbegriffe, der mit Bezug auf Grundrichtungen und Ooordinaten definirte, ist rein con-ventioneller Natur und in dem Wesen der Raumanschauung nicht begr\u00fcndet. Es gibt im Raume von jedem Punkte aus unendlich viele Richtungen; keine derselben aber hat ein Vorrecht vor den andern, als Grundrichtung angesehen zu werden. Man kann daher eine beliebige Anzahl von Richtungen als Dimensionen w\u00e4hlen. Des Oeconomieprincipes halber wird man jedoch die Anzahl derselben m\u00f6glichst reduziren. Da zur eindeutigen Bestimmung eines Ortes im Raum (Punktes) mindestens vier Bestimmungsst\u00fccke n\u00f6thig sind, so sollte man nicht weniger als vier Dimensionen annehmen. Bei den gebr\u00e4uchlichen sogenannten\ny dreifachen Coordinatensystemen ist das vierte Bestimmungsst\u00fcck hinter der Wahl der positiven und negativen linearen oder Winkel-Richtungen versteckt.\n11)\tW\u00e4hlt man die drei auf einander senkrechten^Doppelrichtungen des gebr\u00e4uchlichen Coordinatensystems als Dimensionen, dann ist in der Definition schon die M\u00f6glichkeit einer vierten und h\u00f6herer Dimensionen vollst\u00e4ndig ausgeschlossen.\nL\u00e4sst man dagegen Dreiheit und Orthogonalit\u00e4t fallen, dann ist der Anzahl der Dimensionen allerdings keine Grenze gesetzt. Aber sie beziehen sich dann alle auf den gegebenen Raum, der, je nach der gew\u00e4hlten Anzahl der Grundrichtungen, als vier-, f\u00fcnf-oder \u00ab-dimensional betrachtet werden kann. Die Ausdr\u00fccke \u00bbvierte Dimension\u00ab, \u00bbRaum von \u00ab-Dimensionen\u00ab u. s. w. sind in allen F\u00e4llen, wo sie sich nicht auf den gegebenen Raum beziehen, Tr\u00e4ger von tr\u00fcgerischen Scheinbegriffen.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Die Dimensionen des Raumes.\n417\n12) Ein Schein Berechtigung entsteht f\u00fcr die metageometrische Speculation hei dem Versuche, die Erscheinungen der Enantio^ morphie mit dem Princip der allgemeinen Naturcausalit\u00e4t in Ein-Idang zu bringen. Vom strengsten wissenschaftlichen Standpunkte aus sollte aber hier das Zugest\u00e4ndniss der Unerkl\u00e4rbarkeit der Thatsachen einwurfsfreier erscheinen als die Zuflucht zu begrifflichen Constructionen, die einer streng logischen Kritik nicht Stand halten.\nWundt, Philos. Studien. XIX.\n27","page":417}],"identifier":"lit4575","issued":"1902","language":"de","pages":"310-417","startpages":"310","title":"Die Dimensionen des Raumes","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:24:05.938219+00:00"}