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{"created":"2022-01-31T12:22:24.208632+00:00","id":"lit4576","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"K\u00f6nig, Edmund","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 19: 418-458","fulltext":[{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\nVon\nEdmund K\u00f6nig.\nSondershausen.\nWenn man die Geschichte der einzelnen Wissenschaften \u00fcberblickt, so bemerkt man bei allen, die Mathematik nicht ausgenommen, einen im Laufe der Zeit sich vollziehenden Wandel der methodologischen und theoretischen Grundanschauungen, der durch den Fortschritt der Erkenntniss selbst bedingt ist und somit nichts Wunderbares oder Auff\u00e4lliges an sich hat. Dagegen zeigen die biologischen Disciplinen insofern ein besonderes Verhalten, als hier zwei entgegengesetzte Auffassungsweisen der Erscheinungen, die mechanische und die teleologische, in periodischem Wechsel sich best\u00e4ndig wiederhole^--ohne dass es bis jetzt der einen von beiden gelungen w\u00e4re, die andere endg\u00fcltig zu verdr\u00e4ngen. Nachdem w\u00e4hrend des 17. Jahrhunderts die durch Descartes .entwickelte mechanische Naturanschauung die Geister ausschlie\u00dflich beherrsc\u00c8T'n\u00e2hite, im folgenden die teleologische, theils in der Form der durch Wolff wieder' A? Jl\u00e7bung gekommenen Erkl\u00e4rung nach \u00e4u\u00dferen Zwecken, theils in der des physio'-\"' logischen Vitalismus und Animismus an ihre Stelle und behauptet das Feld, bis im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wiederum ein Umschlag erfolgt, und der Zweckbegriff von neuem als unwissenschaftlich in Acht und Bann gethan wird. Diesmal scheint der Herrschaft der mechanischen Anschauung aber nur eine kurze Dauer beschieden zu sein; die vor etwa zehn Jahren zuerst sch\u00fcchtern hervorgetretene Opposition der Neovitalisten und Antidarwinisten ist bereits heute zu einer m\u00e4chtigen Bewegung angewachsen, die sehr wahrscheinlich mit dem Siege der Teleologie enden wird.\nNat\u00fcrlich hat weder das mechanische noch das teleologische Begriffssystem ganz unver\u00e4ndert die Jahrhunderte \u00fcberdauert,' vielmehr","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n419\nhaben beide, unter dem Einfl\u00fcsse einer immer mehr in die Breite und in die Tiefe gehenden Thatsachenkenntniss, Ver\u00e4nderungen im Sinne einer fortschreitenden Verfeinerung erfahren, die charakteristischen Grundvoraussetzungen sind jedoch dieselben geblieben. F\u00fcr die Mechanisten steht es fest, dass alle Vorg\u00e4nge und Gebilde in der Lebewelt wie in der Natur \u00fcberhaupt allein durch blind wirkende Ursachen bestimmt werden bezw. hervorgebracht worden sind; die Teleologen sind dagegen \u00fcberzeugt, dass zum mindesten der Bau der Organismen und der Verlauf der Lebensth\u00e4tigkeiten ohne die Annahme der Wirksamkeit von Zwecken unverst\u00e4ndlich sei, und folgern hieraus, dass in der Natur \u00fcberhaupt die Zweckbestimmung (Finalit\u00e4t) neben der Oausalit\u00e4t eine Bolle spiele. Diese Constanz der leitenden Ideen ist ein deutlicher Beweis daf\u00fcr, dass es sich in denselben um Gedanken handelt, denen eine axiomatische Geltung beigelegt wird, und die also nicht aus der speciellen biologischen Erfahrung, sondern aus allgemeinen philosophischen Erw\u00e4gungen abgeleitet sind. In der That besteht ja der Gegensatz der mechanischen, d. h. causalen, und der teleologischen Betrachtungsweise auch in der Wissenschaft, die nicht irgend ein beschr\u00e4nktes Gebiet der Wirklichkeit, sondern die Welt als Ganzes zum Gegenst\u00e4nde hat, in der Metaphysik. Andrerseits zeigt sich freilich, dass die teleologischen Systeme der Metaphysik mit wenigen Ausnahmen in der Biologie wurzeln, indem sie die Bealit\u00e4t von Zwecken in der Lebewelt als erwiesen ansehen und es unternehmen, den Zusammenhang der Dinge \u00fcberhaupt nach Analogie bestimmter biologischer Zweckbeziehungen zu deuten. In diesem, auf einen circulus vitiosus hinauslaufenden Verh\u00e4ltniss hegt, wie ich glaube, der Hauptgrund, dass es in dem Streite zwischen Mechanismus und Teleologie zu keiner rechten Entscheidung kommen will. Die Philosophen haben sich im allgemeinen zu wenig darum gek\u00fcmmert, ob und wie weit die Lebenserscheinungen wirklich die Merkmale eines Zweckzusammenhanges darbieten, und die Biologen pflegen den Zweckbegriff als Erkl\u00e4rungsprincip heranzuziehen, ohne nach seiner eigentlichen Bedeutung und den unabtrennbar mit ihm verbundenen weiteren Voraussetzungen zu fragen. Aus der neuesten vitalistischen Literatur lassen sich zahlreiche Stellen anf\u00fchren, die eine erstaunliche Kritiklosigkeit der Verfasser bei der Anwendung eines so verwickelten Begriffes bekunden, wie es der Zweckbegriff ist. Wenn irgendwo, so\n27*","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nE. K\u00f6nig.\nist also liier eine dankbare Aufgabe gegeben f\u00fcr jene planm\u00e4\u00dfige Verkn\u00fcpfung von Empirie und philosophischer Begriffsarbeit, ohne die nach Wundtweder die Philosophie noch die Einzelwissenschaften gedeihen k\u00f6nnen.\nWenn wir es unternehmen, in diesem Sinne das Problem der Naturzwecke im Folgenden zu bearbeiten, so sind wir doch weit entfernt von dem Glauben, es vollst\u00e4ndig l\u00f6sen zu k\u00f6nnen. Es soll nur der Versuch gemacht werden, die auf dem Boden der empirischen Naturwissenschaft erwachsenen teleologischen Hypothesen einer etwas sch\u00e4rferen logischen und erkenntnisstheoretischen Kritik zu unterwerfen, als dies gew\u00f6hnlich geschieht, und dadurch vielleicht einige Schwierigkeiten zu heben und Unklarkeiten zu zerstreuen. Zu diesem Zwecke wollen wir zun\u00e4chst den Ursprung des Zweckbegriffes untersuchen, sodann seinen logischen Charakter und seinen Erkennt-nisswerth feststellen, weiter die thats\u00e4chlichen Grundlagen, auf denen die Annahme von Naturzwecken beruht, pr\u00fcfen, um endlich zu einem Urtheil zu gelangen, ob und in welchem Sinne neben der causalen Interpretation der Erscheinungen eine teleologische in Frage kommen kann.\n1. Dass der Begriff des Zweckes urspr\u00fcnglich von den Verh\u00e4ltnissen der menschlichen Willensth\u00e4tigkeit abstrahirt worden ist und (in dieser sein eigentliches Anwendungsgebiet hat, wird allseitig zug\u00e9standen. Wir sprechen hier von einem Zweck, insofern und soweit eine Handlung durch den Gedanken an ihren wirklichen oder vermeintlichen Erfolg bestimmt wird. Wenn ich z. B. der Lampe einen Lichtschirm aufsetze, um weniger von der Helligkeit geblendet zu werden, so ist die Verdunkelung des Zimmers mein Zweck, und weil dieser Erfolg, wie ich wei\u00df, durch Aufsetzen des Schirmes bewirkt wird, f\u00fchre ich die entsprechende Handlung aus. Bei dem ganzen Vorgang sind demnach drei Glieder zu unterscheiden, die Vorstellung des Enderfolges oder Zweckvorstellung (Z), die entsprechende Handlung, das Mittel [M] und der wirkliche Erfolg, der realisirte Zweck (E) ; jedes dieser Glieder bestimmt das n\u00e4chstfolgende, und zwar stehen M und E im Verh\u00e4ltnis von Ursache und Wirkung, w\u00e4hrend zwischen Z und M eine complicit\u00e9, noch zu untersuchende\n1) System der Philosophie, S. 17.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n421\nAbh\u00e4ngigkeitsbeziehung stattfindet. Der Umstand, dass in vielen F\u00e4llen E nicht die unmittelbare, sondern eine entferntere Folge von M ist, indem zwischen beide eine kleinere oder gr\u00f6\u00dfere Zahl von Mittelgliedern sich einschiebt, \u00e4ndert die Sachlage nicht wesentlich, es tritt nur an Stelle der einfachen Causalbeziehung zwischen M und E eine Oausalreihe. Unter allen Umst\u00e4nden geh\u00f6rt aber der Verlauf M. . E ganz und gar der physischen Sph\u00e4re an, und er wird deswegen auch durch dieselben Gesetze bestimmt, wie alle anderen Vorg\u00e4nge der \u00e4u\u00dferen Natur. Dagegen deutet der Zusammenhang zwischen Zund M in allen F\u00e4llen auf ein psychophysisches Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss hin, da Z der Innen-, M aber der Au\u00dfenwelt angeh\u00f6rt; hierzu kommen aber noch weitere theils psychische, theils physische Beziehungen hinzu. Gehen wir von M, der \u00e4u\u00dferen Willenshandlung1) aus, so l\u00f6st sich diese bekanntlich in einen Complex von Muskelcontractionen auf, die durch gewisse ihrer n\u00e4heren Beschaffenheit nach unbekannte Vorg\u00e4nge der motorischen Centren ausgel\u00f6st werden. Gehen wir von Z aus, so schlie\u00dfen sich daran zun\u00e4chst gewisse intellectuelle Vorg\u00e4nge einfacher oder zusammengesetzter Art. Wenn n\u00e4mlich der Erfolg E nicht unmittelbar durch Bewegungen unserer Gliedma\u00dfen realisirt werden kann, so findet meistentheils eine Ueberlegung, ein Suchen nach den geeigneten H\u00fclfsmitteln statt, d. h. wir construiren uns in Gedanken versuchsweise verschiedene Causalreihen, bis wir eine gefunden haben, die das beabsichtigte Resultat ergibt. Hierzu ist nat\u00fcrlich die Kenntniss der in Betracht kommenden speciellen Causal-gesetze n\u00f6thig, die durch fr\u00fchere Erfahrung erworben sein muss, und deren Mangelhaftigkeit nicht selten zur Wahl ungeeigneter Mittel und dadurch zur Verfehlung des Zieles f\u00fchrt. Wie alle intellectuellen Th\u00e4tigkeiten, kann aber auch diese durch Uebung abgek\u00fcrzt, mehr oder weniger mechanisirt werden, so dass mit der Zweckvorstellung sich scheinbar ganz unmittelbar die Vorstellung der zur Realisirung des Zwecks nothwendigen Handlung verbindet. Damit es nun zur wirklichen Handlung kommt, ist offenbar noch n\u00f6thig, dass diese Vorstellung in die entsprechende motorische Innervation \u00fcbergeht; wie dies aber geschieht, das ist die gro\u00dfe Frage, an der bisher alle Theorien der Willensth\u00e4tigkeit sich vergeblich versucht haben.\n1) Die sog. innere Willensth\u00e4tigkeit kann f\u00fcr unsern Zweck au\u00dfer Betracht hleiben.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nE. K\u00f6nig.\nEin Act bewusster Setzung kann es nicht sein, denn thats\u00e4chlich haben wir von den die willk\u00fcrliche Gliederbewegung bedingenden centralen physiologischen Ursachen gar keine unmittelbare Kenntniss. F\u00fcr gew\u00f6hnlich bilden wir uns bei der Ueberlegung der Mittel zu einem entfernteren Zweck \u00fcberhaupt gar nicht einmal eine klare Vorstellung der von uns auszuf\u00fchrenden Bewegungen (if), sondern der bewusste Gedankengang endet von E ausgehend schon bei irgend einem Zwischengliede Mx zwischen E und M, worauf sofort die geeignete Bewegung ausgef\u00fchrt wird. Man hat sich nun freilich gerade auf dergleichen Thatsachen berufen, um zu behaupten, dass ebenso, wie in F\u00e4llen der angezogenen Art der ohne besonders darauf gerichtete Absicht erfolgende Uebergang von der Vorstellung Mx zur Handlung zweifellos ein Uebungsergebniss sei, ebenso auch die Coordination der 'Willk\u00fcrbewegungen M mit den entsprechenden Bewegungsvorstellungen durch Uebung sich ausgebildet, d. h. erst nachtr\u00e4glich aus einem mit Bewusstsein vollzogenen Acte in ein automatisches Geschehen sich verwandelt habe. Dabei wird indess \u00fcbersehen, dass alle Uebung das Bestehen derartiger Coordinationen, d. h. die Herrschaft des Willens \u00fcber den K\u00f6rper bereits voraussetzt, denn der Effect aller Uebung besteht ausschlie\u00dflich darin, dass eine Anzahl einzelner Willenshandlungen, die wir vorher schon unabh\u00e4ngig von einander ausf\u00fchren konnten, zu einem einheitlichen Ganzen zusammengezogen werden; bedenkt man ferner, dass mit der Vorstellung einer Bewegung ja keinesfalls die Bewegung selbst, sondern nur der entsprechende motorische Impuls unmittelbar verkn\u00fcpft sein kann, so leuchtet ein, dass dies Verh\u00e4ltniss ganz au\u00dferhalb des Bereiches der Uebung liegt. Nicht viel weiter kommt man, wenn man die Existenz aus innerem Antrieb erfolgender Bewegungen als gegeben annimmt, und nur die Unterordnung derselben unter die entsprechenden Vorstellungen durch Erfahrung und Uebung erkl\u00e4ren will; denn dadurch, dass zwischen Vorstellung und Bewegung noch ein undefinirbares psychisches Zwischenglied in Gestalt des Antriebes zur Bewegung eingeschaltet wird, wird die Sache nicht begreiflicher. Die willk\u00fcrlichen K\u00f6rperbewegungen, d. h. jene einfachsten Formen von Willensth\u00e4tigkeit, bei denen der gewollte Erfolg E mit der Handlung M unmittelbar zusammenf\u00e4llt, bilden also nicht nur die Grundlage, auf der das Handeln nach entfernteren Zwecken allein m\u00f6glich wird, sondern auch die","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n423\nVoraussetzung, unter denen die teleologische Reflexion \u00fcber die Mittel zu gegebenen Zwecken erst einen Sinn bekommt. H\u00e4tten wir nicht erfahren, dass wir in einem gewissen Umfange k\u00f6nnen, was wir wollen, so w\u00fcrden wir gar nicht darauf kommen, irgend welche Zwecke zu setzen, d. h. irgend welche Ver\u00e4nderungen der Au\u00dfenwelt als Erfolge m\u00f6glicher Willenshandlungen zu betrachten.\nGeht hieraus hervor, dass der Begriff des Zweckes auf den der Willensth\u00e4tigkeit sich bezieht, so schlie\u00dft umgekehrt auch der letztere den Zweckhegriff als wesentliches Element in sich ein. Denn willk\u00fcrlich nennen wir eine K\u00f6rperbewegung insofern und nur insofern, als sie einer vorhandenen Zweckvorstellung entspricht. Zweifelhaft k\u00f6nnte dieser Zusammenhang h\u00f6chstens im Falle der triebartigen Bewegungen erscheinen, die man doch gemeiniglich auch zu den willk\u00fcrlichen z\u00e4hlt, deren Besonderheit aber gerade darin liegen soll, dass sie ohne bewusste Absicht ausgef\u00fchrt werden. Nun ist aber thats\u00e4chlich ein absolut \u00bbblinder\u00ab Trieb nirgends nachweisbar; was man so nennen k\u00f6nnte (das Picken junger H\u00fchnchen nach dem Futter u. s. w.), sind zun\u00e4chst reflexartige Bewegungen von zweckm\u00e4\u00dfigem Charakter, die durch Sinneseindr\u00fccke oder auch durch Gef\u00fchle erregt werden, und deren Ausf\u00fchrung in den meisten F\u00e4llen ebenfalls mit einer Aenderung der Gef\u00fchlslage im Sinne eines Lustzuwachses verbunden ist, bei \u00f6fterer Ausf\u00fchrung werden sie aber sehr bald zu absichtlichen und zweckbewussten Handlungen, die sich von anderen Willenshandlungen nur noch dadurch unterscheiden, dass das Auftreten der betreffenden Zweckvorstellungen im Bewusstsein durch besonders intensive, mit dem physischen Lebensprocess unab\u00e4nderlich verbundene Gef\u00fchle bestimmt wird.*j Dies ist aber kein durchschlagendes Unterschiedsmerkmal, da auch alle anderen Willens-th\u00e4tigkeiten mit Gef\u00fchlszust\u00e4nden in innigem Zusammenhang stehen, welche aber niemals direct, sondern nur durch das Medium der mit ihnen verkn\u00fcpften Zweckvorstellungen die Richtung des jeweiligen Wollens bestimmen.\n1) Die posthynotischen zweckm\u00e4\u00dfigen Handlungen, welche Wolff neben den instinktiven zum Beweise daf\u00fcr anf\u00fchrt, dass Zweckm\u00e4\u00dfigkeit ohne Zweckbewusstsein m\u00f6glich sei (Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1902, S. 9), zeigen nur, dass das letztere im Moment der Ausf\u00fchrung nicht (mehr) da zu sein braucht.","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nE. K\u00f6nig.\nFassen wir die Hauptergebnisse kurz zusammen, so k\u00f6nnen wir sagen, dass der ZweckbegrifE das Vorhandensein einer Intelligenz und eines Wollens zur Voraussetzung hat, Erst\u00eares insofern der Zweck jederzeit etwas Vorgestelltes und nur in der Vorstellung Bestehendes ist, Letzteres insofern er auf eine augenblickliche oder zuk\u00fcnftige Willensth\u00e4tigkeit hinweist. Wir sahen ferner, dass, wenn auch vielleicht eine Intelligenz ohne nebenhergehendes Wollen denkbar ist, doch ein blindes, nicht auf bestimmte Zwecke gerichtetes Wollen nicht existirt und nicht existiren kann, da irgend ein k\u00f6rper-' licher Act sich eben nur dadurch mit Sicherheit als Willensact erweist, dass er einer (Zweck-) Vorstellung entspricht. Der Zusammenhang zwischen Zweckvorstellung und Zweckerfolg, um den es sich bei der Frage nach dem Wesen der Zweckbeziehung oder Finalit\u00e4t eigentlich handelt, kann ein mehr oder weniger inniger sein, je nachdem jener Erfolg eine n\u00e4here oder fernere Folge des centralen motorischen Impulses ist, mit dem die physische Willens\u00e4u\u00dferung beginnt; er ist am engsten bei den Willenshandlungen, die eine K\u00f6rperbewegung zum Zwecke haben, aber auch hier ist er kein unmittelbarer, da sich zwischen Vorstellung und Erfolg immer noch der Innervationsvorgang als directe Ursache der K\u00f6rperbewegung einschieht. Die Finalit\u00e4t schlie\u00dft also in allen aus der Erfahrung bekannten F\u00e4llen Causalit\u00e4t als integrirenden Bestandtheil ein; wir kennen kein Beispiel, wo ein Zweck unmittelbar, ohne Betheiligung eines physischen, nach eigenen Gesetzen functionirenden Mechanismus realisirt w\u00fcrde, vielmehr basirt alle bewusste Zweckth\u00e4tigkeit auf einer gegebenen Coordination zwischen Zweckvorstellungen Und centralen motorischen Impulsen in Verbindung mit einem System causaler Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen. Ob jene Coordination selbst als eine urspr\u00fcngliche nicht weiter zu analysirende Beziehung aufzufassen sei, oder ob sie sich auf andere Zusammenhangsformen zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst, musste dahingestellt bleiben ; keinesfalls hat man ein Kecht, den Namen Finalit\u00e4t ohne weiteres auf jenes Verh\u00e4ltniss zu \u00fcbertragen und es der Causalit\u00e4t als urspr\u00fcngliche Beziehungsform an die Seite zu stellen.\n2. Nach diesen Vorbereitungen k\u00f6nnen wir an die Beantwortung der Frage herangehen, welcher Begriffsklasse der Zweckbegriff angeh\u00f6rt, ob er insbesondere als specieller Erfahrungsbegriff einen Vorgefundenen Thatbestand bezeichnet oder als allgemeiner Beziehungs-","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n425\nbegriff (als Kategorie) die denkende Verkn\u00fcpfung der Erfahrungstatsachen beherrscht. Der Umstand, dass derselbe aus der psychologischen Erfahrung abstrahirt worden ist, und dass man ihn nur unter Bezugnahme auf die Verh\u00e4ltnisse der menschlichen Willens-th\u00e4tigkeit erl\u00e4utern kann, beweist in dieser Hinsicht noch nichts, da auch der Begriff der Oausalit\u00e4t das Ergebniss eines an die Erfahrung ankn\u00fcpfenden Abstractionsprocesses ist und so lange ein leeres Schema bleibt, als wir ihn nicht auf bestimmte, empirisch gegebene Arten des Geschehens anwenden. Es k\u00f6nnte ja sehr wohl sein, dass auch dem psychologischen Zweckbegriff eine Beziehungsform von allgemeiner Bedeutung zu Grunde l\u00e4ge, die sich aus der Verbindung mit den speciellen Thatsachen der inneren Erfahrung losl\u00f6sen und auf andere Erfahrungsgebiete \u00fcbertragen lie\u00dfe.\nIn der That ist der Versuch einer derartigen Verallgemeinerung in verschiedener Weise gemacht worden. Das roheste auf diesem Wege gewonnene Product ist der Begriff der Zweckursache, d. h. einer Ursache, deren Wirksamkeit nach Art und Gr\u00f6\u00dfe durch den hervorzubringenden Erfolg bestimmt wird. Dass diese Forderung einen Widersinn einschlie\u00dft, ist einleuchtend. Ursache ist die Gesammtheit der f\u00fcr das Eintreten eines Erfolges nothwendigen und hinreichenden Bedingungen, Oausalit\u00e4t also ihrem Wesen nach eine determinatio a parte ante, und es hei\u00dft den Begriff derselben aufheben, wenn man die Bestimmung hinzuf\u00fcgt, dass die Ursache sich nach der hervorzubringenden Wirkung richten solle. Bei der intelligenten Willens-th\u00e4tigkeit ist dies ja allerdings in gewissem Sinne der Fall, aber daf\u00fcr haben wir es hier auch nicht mit einer einfachen Causalrelation, sondern mit einem zusammengesetzten Geschehen zu thun, und das Bestimmende ist dabei nicht der Erfolg als solcher, sondern die vorausgehende Vorstellung desselben. Von dieser psychischen Bedingung m\u00f6chten aber die Vertheidiger der Zweckursachen (zweck-th\u00e4tigen Kr\u00e4fte, immanenten Entwicklungstendenzen u. s. w.) gerade abstrahiren, um den Begriff des Zweckes oder-Zieles auch auf Vorg\u00e4nge anwenden zu k\u00f6nnen, bei denen psychische Factoren nicht betheiligt sind. Auf besserer Grundlage ruht eine andere Erw\u00e4gung, durch die der Finalit\u00e4t der Bang einer der Oausalit\u00e4t gleichwerthigen Kategorie gesichert werden soll. Wenn im Sinne des auf die Totalit\u00e4t alles Seins und Geschehens angewandten Causalprincips aus der","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nE. K\u00f6nig.\njeweilig gegebenen Weltlage die n\u00e4chstfolgende mit Nothwendigkeit hervorgeht, so stellt sich der Weltprocess als eine in sich eindeutig bestimmte Reihe von Ver\u00e4nderungen dar, die vom Denken ebenso gut in der einen wie in der anderen Richtung durchlaufen werden, d. h. in der man sich mit gleich gutem Rechte das Sp\u00e4tere durch das Fr\u00fchere wie das Fr\u00fchere durch das Sp\u00e4tere bestimmt denken kann. \u00bbDer folgerichtig gedachte Causalbegriff fordert also den Zweckbegriff als seine Erg\u00e4nzung\u00ab, ein Geist, der den Weltlauf zu \u00fcberschauen verm\u00f6chte, w\u00fcrde \u00bballes gleichzeitig unter dem Gesichtspunkte des Zweckes und der Causalit\u00e4t erblicken\u00abJ). Die Coordination von Causalit\u00e4t und Finalit\u00e4t gelingt indess hier nur dadurch, dass beide Begriffe unter Abstraction von der Zeit auf das Schema der logischen Determination zur\u00fcckgef\u00fchrt werden. Nun ist aber erstens die Annahme, dass die Totalit\u00e4t des Seins und Geschehens als ein System von Gr\u00fcnden und Folgen gedacht werden k\u00f6nne, die nach zeitloser logischer Nothwendigkeit untereinander verkn\u00fcpft sind, keineswegs selbstverst\u00e4ndlich ; ferner w\u00e4re die Abh\u00e4ngigkeit der Glieder eines solchen Systems von einander nicht sowohl eine gleichzeitig causale und finale, sondern im Wesen weder das eine noch das andere, denn wenn von der Zeitlichkeit abstrahirt wird, so kann weder von Causalit\u00e4t noch von Finalil\u00e4t, sondern nur noch von logischer Abh\u00e4ngigkeit gesprochen werden.\nDas Gegenst\u00fcck zu dieser Deduction des Zweckbegriffes aus den Voraussetzungen einer rein rationalistischen Ontologie bildet der neuerdings gemachte Versuch, vom Standpunkte des empiristischen Ph\u00e4nomenalismus aus seine Gleichberechtigung mit dem Causalbegriff zu erweisen. Die Vertreter des bezeichneten Standpunktes wollen bekanntlich Kategorien in der Bedeutung von Denkformen, die, ohne aus der Erfahrung gesch\u00f6pft zu sein, doch objective Geltung haben, \u00fcberhaupt nicht zulassen, und betrachten vielmehr alle Begriffe ohne Ausnahme als mehr oder weniger conventioneile Symbole, deren Zul\u00e4ssigkeit oder Unzul\u00e4ssigkeit allein vom Gesichtspunkte der praktischen Brauchbarkeit zu beurtheilen ist. Es sei also auch gegen die Anwendung des Zweckbegriffs nichts einzuwenden, falls er sich zur Zusammenfassung von Erfahrungsthatsachen geeignet erweist. Man\n1) Wundt, Logik, I, S. 651. v. Hartmann, Kategorienlehre, S. 472.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Uel)er Naturzwecke.\n427\nigt zwar geneigt, die Allgemeing\u00fcltigkeit der Causalit\u00e4t als ein gesichertes, wenn auch keineswegs a priori feststehendes Ergebniss der Wissenschaft anzuerkennen, bestreitet aber ihre * Alleing\u00fcltigkeit\u00ab, da es gar keinen Grund gebe, \u00bbweshalb dieselbe Erscheinung nicht verschiedenen Zusammenh\u00e4ngen eingeordnet werden k\u00f6nne, je nachdem, mit welchen anderen Erscheinungen wir sie Zusammenhalten.\u00ab Nun werde durch die Lebensvorg\u00e4nge es nahe gelegt, an Stelle der causalen Auffassungsweise, bei der immer zwei Glieder verkn\u00fcpft werden, die \u00bbteleologische\u00ab Aufeinanderbeziehung je dreier Glieder treten zu lassen. Wir sehen n\u00e4mlich hier in vielen F\u00e4llen, dass auf eine Erscheinung c, die ver\u00e4nderlich ist (z. B. einen Lichtreiz), eine Erscheinung d folgt, die gleichfalls ver\u00e4nderlich ist (Zusammenziehung der Pupille), und auf diese eine Erscheinung e, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Individuen die gleiche ist (Schutz des Auges). Diese besondere Art empirischer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit sei im Gegensatz zur causalen als eine teleologische zu bezeichnen1). Der Begriif eines derartigen dreigliedrigen Zusammenhangs ist aber vollst\u00e4ndig unausdenkbar. Denn einmal ist das dritte Glied gar kein concretes objectiv gegebenes Geschehen, sondern ein nur im Denken bestehendes Verh\u00e4ltniss, sodann ist auch die Art der Abh\u00e4ngigkeit der Glieder von einander durchaus unklar. Eine Abh\u00e4ngigkeit zwischen drei Elementen kann nur so gedacht werden, dass zwei von ihnen das dritte bestimmen; dies dritte kann hier nur das Mittelglied sein, denn zuerst muss c gegeben sein, damit die functionelle Beziehung \u00fcberhaupt in Kraft treten kann, und e kann seiner Constanz wegen nicht die abh\u00e4ngige Gr\u00f6\u00dfe sein. Wie aber soll ein realer Vorgang d durch etwas bestimmt werden, das wie e noch gar nicht besteht? Ich sehe keinen anderen Weg, als dass man entweder dem e eine ideelle Pr\u00e4existenz (als Vorstellung) beilegt und dadurch den \u00bbanthro-pomorphistischen\u00ab Gedanken der bewussten Absicht, der aus dem\n1) Cossmann, Elemente der empirischen Teleologie (Stuttgart 1899), S. 23 ff., S.56ff.; ihm folgtReinke, Einleitungin d. theoretische Biologie (Berl. 1901), S. 74,80. Nach Wolff (a. a. O. S.9) besteht die Finalit\u00e4t in der causalen Abh\u00e4ngigkeit des Daseins einer Einrichtung von ihrem Effect; er gesteht zu, dass diese Abh\u00e4ngigkeit irgendwie vermittelt sein m\u00fcsse, behauptet aber, dass die Vermittelung nicht nothwendig eine \u00bbpsychische\u00ab zu sein brauche. Ein so v\u00f6llig problematischer Begriff hat indess keinerlei Existenzberechtigung, ehe nicht die Thats\u00e4chlichkeit derartiger Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen erwiesen ist. (Vgl. S. 434 f.)","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nE. K\u00f6nig.\nZweckbegriff entfernt werden sollte, heimlich wieder einschmuggelt oder dass man sich auf den Standpunkt eines extremen Subjectivismus zur\u00fcckzieht und das Bestehen irgend welcher realen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen \u00fcberhaupt bestreitet, in welchem Falle das Auf suchen und Constatiren von Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten aber \u00fcberhaupt keinen vern\u00fcnftigen Sinn mehr hat und jede beliebige Aufeinanderbeziehung von Thatsachen gleicherweise erlaubt ist. Es ist ein Missverst\u00e4ndniss, wenn sich einzelne Teleologen auf den transcendentalen Idealismus Kant\u2019s berufen haben, um der Causalit\u00e4t als einer \u00bbsubjectiven Form der Beurtheilung\u00ab die Finalit\u00e4t als eine zweite derartige Form an die Seite stellen zu k\u00f6nnen1), da f\u00fcr Kant die Causalit\u00e4t nur im transcendentalen Sinne subjectiv, im empirischen aber objectiv-real ist, w\u00e4hrend der Finalit\u00e4t von ihm allerdings nur die Bedeutung eines subjectiven Princips der Urtheilskraft beigemessen wird.\nNach der vorausgeschickten Analyse des Zweckbegriffes war die Aussichtslosigkeit aller derartigen Bem\u00fchungen eigentlich von vornherein klar. Wenn das Zweckverh\u00e4ltniss mehrere Beziehungen umfasst, so kann es unm\u00f6glich als eine prim\u00e4re Relationsform angesehen werden. Nun w\u00e4re es an sich denkbar, dass unter jenen Beziehungen eine von specifischer Art enthalten w\u00e4re, die zuf\u00e4llig nur in dieser bestimmten Verbindung mit anderen in der Erfahrung vorkommt, und in der That haben wir eine solche vorgefunden in Gestalt der Coordination von Zweckvorstellung und centraler Innervation ; aber welche Bedeutung diese auch haben mag, so w\u00fcrde es doch eine willk\u00fcrliche Ver\u00e4nderung des Sprachgebrauches sein, wenn man den Namen der Finalit\u00e4t auf dieselbe \u00fcbertragen und sie etwa als unbewusste Finalit\u00e4t definiren wollte. Denn so sicher es, mit E. v. Hartmann zu reden, eine psychologische T\u00e4uschung ist, wenn wir glauben, die bewusste Finalit\u00e4t von innen zu kennen2) d. h. das Hervorgehen des Zweckerfolges aus der Zweckvorstellung schrittweise verfolgen zu k\u00f6nnen, so wenig ist doch der Schluss auf eine der bewussten zu Grunde liegende unbewusste Finalit\u00e4t gerechtfertigt; die bewusste Zweckth\u00e4tigkeit ruht auf\n1)\tDriesch, Biologie als selbst\u00e4ndige Grundwissenschaft (Leipzig 1893), S. 58. Auch bei Wolff macht sich (a. a. O. S. 9, 12, 21) das Schwanken zwischen den Begriffen der \u00bbteleologischen Beurtheilung\u00ab und der realen Zweckbestimmung unliebsam bemerklieh.\n2)\tKategorienlehre, S. 432.","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Naturzwecke.\n429\nder Grundlage unbewusster Vorg\u00e4nge, das ist unleugbar, aber eine sehr k\u00fchne Hypothese ist es, wenn man diese Vorg\u00e4nge selbst als Aeu\u00dferung einer unbewussten Zweckth\u00e4tigkeit auffasst. Ueberdem ist nicht ersichtlich, wieso die unbewusste Finalit\u00e4t eher als echte Kategorie gelten k\u00f6nnte, als die bewusste, denn wenn hier auch der Zusammenhang zwischen Zweckvorstellung und Zweckerfolg als ein unmittelbarer gedacht werden kann, so besteht doch immer noch die Schwierigkeit, dass die beiden verkn\u00fcpften Glieder disparaten Gebieten angeh\u00f6ren. So wenig aber ein Ton sich in das System der Farben einordnen oder zu ihm in irgend eine Beziehung bringen l\u00e4sst, so wenig ist es m\u00f6glich, eine Vorstellung und ein reales Geschehen in ein positives Verh\u00e4ltnis zu einander zu bringen.\nWir kommen also zu dem Resultat, dass der Begriff der Zweckth\u00e4tigkeit oder Zweckbestimmung wesentlich ein empirischer ist, der einen verwickelten Thatbestand der unmittelbaren Erfahrung bezeichnet, nicht ein reiner Verstandesbegriff, der eine elementare Function des auf die Erfahrungsdaten angewandten verkn\u00fcpfenden Denkens abspiegelt. Daraus folgt aber, dass wir durchaus nicht ohne weiteres berechtigt sind, jeden beliebigen Vorgang ebenso einem Zweck-zusammenhange einzuordnen, wie wir ihn, gem\u00e4\u00df dem Oausalprincip, in causale Beziehung zu anderen setzen. Der Ursachbegriff ist seinem Inhalte nach allgemeing\u00fcltig, da er den Objecten keinerlei besondere Beschaffenheit beilegt, sondern ein Verh\u00e4ltnis bezeichnet, das gar nicht in der Erfahrung gegeben sein kann, sondern stets zu den Objecten hinzugedacht werden muss. Der Zweckbegriff gilt aus demselben Grunde unmittelbar nur f\u00fcr die menschlichen Willenshandlungen; wenn wir ihn auf andere Vorg\u00e4nge anwenden, so legen wir diesen den Charakter von Willenshandlungen bei, d. h. wir machen die Hypothese, dass an ihrem Zustandekommen psychische Bedingungen in der gleichen Weise betheiligt sind, wie dies bei der menschlichen Willensth\u00e4tigkeit der Fall ist. Wenn daher auch die causale Deutung eines gegebenen Thatsachencomplexes in gewissem Sinne immer hypothetisch bleibt, insofern das Bestehen eines nothwendigen Zusammenhangs zwischen den einzelnen Bestandteilen desselben niemals empirisch erwiesen werden kann, so ist es die teleologische Deutung doch noch in einem weit engeren Sinne, denn hier wird der Thatbestand selber durch Hinzuf\u00fcgung psychischer Glieder hypothetisch","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nE. K\u00f6nig.\nerg\u00e4nzt. Ohne Intelligenz und Wille ist eine Zweckbestimmung undenkbar, und wenn der Satz Wundt\u2019s, dass es eine v\u00f6llig willk\u00fcrliche und darum erkenntnisstheoretisch ungerechtfertigte Annahme bleibe, eine causale Wirksamkeit von Zwecken dort anzunehmen, wo uns Willenshandlungen nicht in der Erfahrung gegeben sind1), auch vielleicht etwas zu weit geht, so wird doch in allen F\u00e4llen einer versuchten teleologischen Erkl\u00e4rung aufs genaueste zu pr\u00fcfen sein, ob zu der Yermuthung der psychophysischen Bedingtheit der betreffenden Vorg\u00e4nge hinreichende Gr\u00fcnde vorhanden sind.\n3. Wir kommen damit auf die Oardinalfrage nach den empirischen Kriterien f\u00fcr die Anerkennung oder Nichtanerkennung einer objectiv bestehenden Zweckbestimmung. Dabei m\u00f6gen zun\u00e4chst jene menschlichen und thierischen Lebens\u00e4u\u00dferungen, denen allgemein der Charakter von Willensth\u00e4tigkeiten beigelegt und f\u00fcr die daher die Zul\u00e4ssigkeit der Zweckerkl\u00e4rung von keiner Seite bestritten wird, au\u00dfer Betracht bleiben, obwohl es bekanntlich keineswegs leicht ist, ein sicheres objectives Unterschiedsmerkmal zwischen eigentlichen Willens\u00e4u\u00dferungen und blo\u00df mechanischen Reactionen anzugeben, und obwohl es ferner noch fraglich ist, ob wir berechtigt sind, den Zweck als den bestimmenden Grund der Willenshandlung anzusehen. Unsere Untersuchung soll also darauf gerichtet sein, die Merkmale von Naturobjecten und Vorg\u00e4ngen festzustellen, aus denen mit einiger Sicherheit auf ihnen zu Grunde liegende und sie bestimmende Zwecke geschlossen werden kann. Diese Merkmale werden nat\u00fcrlich bei Objecten und Vorg\u00e4ngen verschieden sein. Wenn wir den Zweckbegriff auf ein Geschehen anwenden, so nehmen wir an, dass die Vorstellung des Erfolges bestimmend war f\u00fcr seinen Eintritt und die Art seines Verlaufes, wobei das Anfangsglied des Processes unmittelbar durch die Zweckvorstellung gesetzt oder auch blo\u00df eine bereits causal vermittelte Folge aus ihr sein kann; im ersteren Falle stellt das betreffende Geschehen den vollst\u00e4ndigen physischen Theil eines Zweckzusammenhanges dar, im letzteren nur ein Bruchst\u00fcck davon. Ein Naturobject oder, allgemeiner ausgedr\u00fcckt, ein bestimmt geordnetes System materieller Elemente oder eine bestimmte Gruppirung von Energien nennen wir zweckm\u00e4\u00dfig, sofern wir sie als Product einer Zweck-\n1) Logik, I, S. 650.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"lieber Naturzwecke.\n431\nth\u00e4tigkeit betrachten, die entweder die Herstellung dieser Gruppirung zum Endziel hatte oder sich derselben nur als eines relativ best\u00e4ndigen Mittels zur Herbeif\u00fchrung der eigentlich bezweckten Erfolge bedient.\nDie Unterscheidung beider Richtungen der Zweckbeurtheilung ist auch deswegen wichtig, weil ihnen zwei typische Formen naturwissenschaftlicher Teleologie entsprechen, die man, mit nicht ganz zutreffenden Ausdr\u00fccken, als dynamische und statische bezeichnet hat, Die erstere Form ist die umfassendere, denn die Annahme, dass es ein Zweckgeschehen in der Natur gebe, schlie\u00dft die weitere in sich, dass gewisse Bildungen als Erzeugnisse einer Zweckth\u00e4tigkeit aufzufassen sind. Hingegen kann man sehr wohl eine gr\u00f6\u00dfere oder kleinere Zahl von Naturobjecten als Zweckerzeugnisse ansehen, ohne irgend einem einzelnen empirisch gegebenen Geschehen die Bedeutung einer Zweckth\u00e4tigkeit beizulegen, falls man annimmt, dass jene Objecte einem aller Erfahrung vorausgehenden (transcendenten) Zweckacte ihr Dasein verdanken. Daraus erhellt freilich zugleich, dass diese Art von Teleologie nicht eigentlich mehr eine naturwissenschaftliche, sondern eine metaphysische ist, insofern dabei gegebene Thatbest\u00e4nde mit Zweckvorstellungen einer \u00fcberweltlichen, au\u00dferhalb des Zusammenhangs des r\u00e4umlich und zeitlich bestimmten Daseins stehenden Intelligenz in Verbindung gebracht werden, w\u00e4hrend von Naturzwecken im eigentlichen Sinne nur soweit gesprochen werden kann, als nicht nur die Zweckerfolge, sondern auch die zwecksetzende Intelligenz und der Zwecke realisirende Wille in dem Zusammenh\u00e4nge des Naturganzen eingeschlossen sind.\nDie untr\u00fcglichsten Anzeichen f\u00fcr die Existenz von Naturzwecken hat man zu allen Zeiten an den Organismen zu finden geglaubt. Und in der That, je genauer die Structur und die Functionen der Lebewesen erforscht worden sind, desto mehr einzelne Z\u00fcge von Zweckm\u00e4\u00dfigkeit haben sich herausgestellt, so dass man das Leben selbst geradezu als die \u00bbF\u00e4higkeit, auf die Einfl\u00fcsse der Umgebung zweckm\u00e4\u00dfig zu reagiren\u00ab, definirt hat1). Fasst man die betreffenden Erscheinungen genauer ins Auge, so zeigt sich indess sofort, dass ihre Unterordnung unter den Zweckbegriff eigentlich eine petitio\n1) Wolff, Beitr\u00e4ge zur Kritik der Darwinschen Lehre (Leipzig 1898), S. 62. Plate, Ueber Bedeutung und Tragweite des Darwinschen Selectionsprincips (Leipzig 1900), S. 9.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nE. K\u00f6nig.\nprincipii darstellt. Wenn Functionen zweckm\u00e4\u00dfig genannt werden, so hei\u00dft dies im Grunde weiter nichts, als dass sie der Erhaltung des Daseins der Individuen oder der Art f\u00f6rderlich sind. Dass pflanzliche Samen die Wurzel stets nach unten, den Spross nach oben hin treiben, nennen wir zweckm\u00e4\u00dfig, weil andernfalls das Individuum sofort absterhen w\u00fcrde ; dass Am\u00f6ben sich bei starker Reizung kugelig zusammenziehen, ist zweckm\u00e4\u00dfig, weil so \u00e4u\u00dferen Sch\u00e4dlichkeiten eine geringere Angriffsfl\u00e4che dargeboten wird; dass mit der Entwicklung des S\u00e4ugethierembryo gleichzeitig die Milchdr\u00fcsen in Th\u00e4tigkeit treten, ist zweckm\u00e4\u00dfig, weil dadurch dem neugeborenen Thiere die erste Nahrung gesichert wird u. s. w. In keinem dieser F\u00e4lle gehen uns aber die Thatsachen an sich Veranlassung zu der Annahme, dass die hier angegebenen Wirkungen der betreffenden Vorg\u00e4nge bezweckte seien, dass es sich also hei den letzteren um Zweckth\u00e4tigkeiten handele. Die Zweckm\u00e4\u00dfigkeiten der Structur theilt man in der Regel ein in innere und \u00e4u\u00dfere. Innere Zweckm\u00e4\u00dfigkeit schreibt man den Organen und dem ganzen K\u00f6rperbau eines Lebewesens zu, insofern sie die Aus\u00fcbung wichtiger Lebensfunctionen erm\u00f6glichen, \u00e4u\u00dfere, sofern sie mit den Bedingungen der Umgehung derart in Einklang stehen, dass die Existenz des Wesens m\u00f6glichst gesichert wird. F\u00fcr unsere Frage ist aber die Unterscheidung dieser beiden Formen, sowie die weitere Classification der zweckm\u00e4\u00dfigen Einrichtungen, hinsichtlich deren die Anschauungen erheblich auseinandergehen1), bedeutungslos; es gen\u00fcgt, zu constatiren, dass auch hier die Thatsachen an sich keinen Beweis daf\u00fcr enthalten, dass jene Einrichtungen Erzeugnisse einer Zweckth\u00e4tigkeit sind.\nBeschr\u00e4nken wir also unsere Aussage auf das, was die Erfahrung wirklich lehrt, so k\u00f6nnen wir nur sagen, dass jeder Organismus so gebaut ist und auf die Einwirkungen der Au\u00dfenwelt so reagirt, dass er innerhalb gewisser zeitlicher Grenzen und innerhalb eines gewissen Spielraums der \u00e4u\u00dferen Bedingungen ausdauert und sich in ihm gleichenden Nachkommen wiederholt. Die relative Best\u00e4ndigkeit der Individuen w\u00fcrde an sich \u00fcberhaupt nicht als besondere Eigenth\u00fcm-lichkeit hervorzuheben sein, da ja nach dem allgemeinen Beharrungsgesetz alles Bestehende, soweit an ihm selbst liegt, fortdauert; die\n!\n1) Vgl. Wolff, a. a. O., S. 64. Plate, a. a. O., S. 10.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n433\nOrganismen w\u00fcrden aber, wie das Verhalten nach dem Tode zeigt, durch die Einwirkungen der Umgebung binnen kurzem vernichtet werden, wenn diese nicht durch entsprechende Reactionen best\u00e4ndig im Sinne der Erhaltung ausgeglichen w\u00fcrden. Ebenso kommt die Fortpflanzung der Arten, ein Vorgang, zu dem sonst in der Natur nur sehr entfernte Analogien aufzuweisen sind, nur durch eine Summe besonderer Veranstaltungen und Verhaltungsweisen zu Stande, deren Vorhandensein als eine besondere, specifische Eigenschaft der Lebewesen zu registriren ist. Die Realit\u00e4t der biologischen Zweckm\u00e4\u00dfigkeit in dem vorhin n\u00e4her bestimmten Sinne l\u00e4sst sich also, wie auch Plate gegen K\u00f6lliker und N\u00e4geli mit Recht betont (a. a. O., S. 8), nicht in Abrede stellen, und sie wird auch von der Mehrzahl der streng mechanistisch denkenden Biologen nicht geleugnet; aber ihre teleologische Deutung ist durchaus problematisch. Wenn es in der Natur auf die Erhaltung des Lebens abgesehen ist, dann muss man allerdings sagen, dass die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes in bewundernswerter Weise berechnet sind, ob aber dieser Zweck wirklich bei der Gestaltung der Organe ma\u00dfgebend war und die einzelnen Functionen andauernd regulirt, ist fraglich. Der Zweckgedanke ist also eine Hypothese, die man zur Erkl\u00e4rung des tats\u00e4chlichen Sachverhalts aufstellen kann, aber durchaus nicht aufstellen muss.\nVielleicht wird mancher Leser uns den Vorwurf machen, dass wir hier unn\u00fctzer Weise selbstverst\u00e4ndliche Dinge breit treten, da kein vern\u00fcnftiger Biologe unter dem \u00bbZweckm\u00e4\u00dfigen\u00ab etwas anderes verstehe als das N\u00fctzliche, im Sinne der Erhaltung Wirkende, man sollte dann aber doch den Sprachgebrauch lieber \u00e4ndern und zur Bezeichnung dieser Eigenschaft einen anderen, der Missdeutung weniger ausgesetzten Ausdruck w\u00e4hlen, denn leider lassen sich auch aus der neuesten Literatur Beispiele genug anf\u00fchren, wo die Zweideutigkeit des Ausdrucks Trugschl\u00fcsse zu gunsten einer teleologischen Deutung der Lebenserscheinungen veranlasst hat. So hebt Reinke mit Recht hervor, dass die Existenz einer objectiven Zweckm\u00e4\u00dfigkeit ebenso sicher ist wie diejenige der Naturgesetze1), begeht aber eine\n1) \u00bbW\u00e4re es richtig, dass nur der reflectirende Verstand des Menschen die Zweckm\u00e4\u00dfigkeit in die Natur hinein interpretire, so m\u00fcssten ja Pflanzen und Thiere auf h\u00f6ren zweckm\u00e4\u00dfig zu sein, wenn man alle Menschen todt schl\u00fcge.\u00ab Die Welt als That (Berlin 1899), S. 255. Vgl. auch Einleitung i. d. theoret. Biologie S. 82 f.\nWundt,Philos. Studien. XIX.\t28","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nE. K\u00f6nig.\npetitio principii, wenn er aus der Anerkennung dieser Zweckm\u00e4\u00dfigkeit die Nothwendigkeit folgert, \u00bbauf eine zu Grunde liegende Absicht zu schlie\u00dfen\u00ab. Mit dem hervorgehobenen Fehler verbindet sich in den Beweisf\u00fchrungen der Teleologen h\u00e4ufig noch ein zweiter, wenn die den Functionen genau und bis ins Einzelne hinein angemessene Structur der Organe als ein unzweifelhaftes Symptom teleologischer Determination angef\u00fchrt wird. Dass Z\u00e4hne, Schlund, Speiser\u00f6hre Magen und Ged\u00e4rme kunstvoll und planm\u00e4\u00dfig zum Zwecke des Essens Schluckens, Verdauens geschaffen sind, ist nach Lieb mann ganz unzweifelhaft; ja dieser Philosoph geht noch weiter und nimmt (mit Lotze, E. v. B\u00e4r u. A.) aus demselben Grunde eine \u00bbPlanm\u00e4\u00dfigkeit\u00ab des ganzen Universums an: planm\u00e4\u00dfig wird die Atmosph\u00e4re von der Gravitationsanziehung an die Erde gefesselt und kann sich nicht ins Unendliche verfl\u00fcchtigen; Luft, Wasser und Land, physikalische und chemische Processe arbeiten zusammen, um das Dasein einer Pflanzenwelt zu erm\u00f6glichen, ohne welche wiederum die Thierwelt und der Mensch nicht existiren k\u00f6nnte, u. s. w.1). Diese erweiterte Form des Gedankens l\u00e4sst aber zugleich deutlich erkennen, dass auch hier die Zweckbestimmung nicht sowohl aus den Thatsachen herausgelesen, sondern vielmehr in sie hineingelegt wird. Thatsache ist, dass die Existenz der Lebewelt bedingt wird durch die bestehende Anordnung der Stoffe und Kr\u00e4fte in der unorganischen Natur; willk\u00fcrlich hinzugef\u00fcgt ist die Hypothese, dass diese Anordnung auf die Existenz der Lebewesen berechnet ist. Die angebliche teleologische Beziehung ist in Wahrheit eine causale, die dadurch, dass man dem causal bedingten Erfolge die Bedeutung eines erstrebten Zieles unterlegt, in eine teleologische umgedeutet wird. Genau ebenso ist aber auch die Behauptung, dass die Z\u00e4hne zum Kauen da sind, nur eine Umschreibung der Thatsache, dass durch die Z\u00e4hne gekaut wird. Dass wir nun gerade zur Bezeichnung des Verh\u00e4ltnisses zwischen Organ und Function die teleologisch gef\u00e4rbte Ausdrucksweise bevorzugen, w\u00e4hrend Niemand daran denkt, zu sagen, dass die Gewitterwolken zum Blitzen da sind, hat allerdings seinen besonderen Grund. Er liegt darin, dass am Organismus uns gewisse typisch sich wiederholende Functionen in erster Linie in die Augen fallen; indem wir\n1) Gedanken und Thatsachen, II, -2 (Stra\u00dfburg 1901), S. 162, 152.\nf","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n435\ndann erst nach den vielfach der directen Wahrnehmung sich entziehenden Organen suchen, durch deren Th\u00e4tigkeit diese Functionen zu st\u00e4nde kommen, erscheinen uns die Organe naturgem\u00e4\u00df als Werkzeuge, die das Lebewesen zum Zweck dieser bestimmten, ihm wesentlichen Leistungen hat. Wie fruchtbar diese rein subjective, auf jeden Causalzusammenhang anwendbare heuristische Einsicht ist, ist bekannt Wieso wir aber durch unseren \u00bbCausalit\u00e4tstrieb\u00ab, oder duich unser \u00bblogisches Denken\u00ab gezwungen sein sollen, aus dem gegebenen Thatbestande auf eine zu Grunde liegende, wenn auch in Bezug auf die Art ihres Zustandekommens unbegreifliche, reale Zweckbestimmung zu schlie\u00dfen (Wolff, Vitalismus S. 11, 22), vermag ich nicht recht einzusehen. Wolff findet es unwahrscheinlich, dass hei hundert der Reihe nach unter verschiedenen Bedingungen vollzogenen Wetten immer dieselbe Person gewinnt; das ist richtig, m. a. W. wir haben a priori keinen Grund, dies Resultat zu erwarten, aber es kann deswegen doch eintreten, sein Eintritt enth\u00e4lt also keine N\u00f6thigung, eine auf dies Resultat hinarbeitende Ursache vorauszusetzen. Ebenso ist es a priori zwar unwahrscheinlich, dass eine Vielheit neben einander hergehender und (wenigstens theilweise) von einander unabh\u00e4ngiger Vorg\u00e4nge (die Functionen der einzelnen Organe) ein bestimmt charakterisirtes Gesammtresultat liefert (Erhaltung des Ganzen), aber es ist doch m\u00f6glich, ohne dass eine Absicht im Spiele zu sein braucht.\nNoch bleibt indess ein Einwand zu bedenken. Wenn ohne Z\u00e4hne oder \u00e4hnliche Vorrichtungen nicht gekaut werden kann, so folgt daraus nicht, dass sie des Rauens wegen entstanden sind, aber wie kommt es, dass die Z\u00e4hne der besonderen Art der Nahrung genau \u00bbangepasst\u00ab sind? Das Raubthier k\u00f6nnte zur Noth auch mit dem Gebiss eines Pflanzenfressers sich seine Beute verschaffen und sie zerkleinern, es hat aber nicht dieses, sondern das weit zweckm\u00e4\u00dfigere Raubthiergebiss ; ist das nicht ein gen\u00fcgender Beweis daf\u00fcr, dass das Organ mit R\u00fccksicht auf die besondere Anwendungsweise gebaut ist, oder sollen wir etwa annehmen, da.ss die Raubthiere Fleisch fressen, weil sie ein hierzu geeignetes Gebiss haben? Wie man sieht, kommen wir liier auf den schon oben er\u00f6rterten Begriff der objectiven \u00bbZweckm\u00e4\u00dfigkeit\u00ab zur\u00fcck. Das Raubthiergebiss ist zweckm\u00e4\u00dfig, insofern es die Gewinnung und Zerkleinerung der Nahrung erleichtert, es functionirt also im Sinne der\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\t\u2022\tE. K\u00f6nig.\nKraftersparniss und damit auch in dem der Daseinsf\u00f6rderung. Das ist das Factum, und dies Factum erfordert allerdings auch eine Erkl\u00e4rung, aber damit ist durchaus noch nicht die N\u00f6thigung gegeben, eine berechnende Intelligenz als Ursache vorauszusetzen. Wenn trotzdem das nat\u00fcrliche Denken zu dieser Annahme in erster Linie hinneigt, so ist dabei der Vergleich der Organe mit k\u00fcnstlich von uns construirten Werkzeugen ma\u00dfgebend, bei deren Herstellung ebenfalls auf m\u00f6glichste Kraftersparniss gesehen wird; dass indess diese Analogie nicht ohne weiteres auch auf die Entstehungsbedingungen ausgedehnt werden darf, geht schon daraus hervor, dass die Natur hei der Erzeugung der organischen Gebilde in ganz anderer Weise und mit ganz anderen Mitteln arbeitet als die menschliche Technik.\nNach der Meinung vieler Teleologen soll nun freilich gerade in den Vorg\u00e4ngen der embryonalen Entwicklung, aus denen der fertige Organismus resultirt, die Realit\u00e4t von Naturzwecken mit besonderer Evidenz zu Tage treten. Eine gro\u00dfe Zahl einzelner, an verschiedenen Punkten und zu verschiedenen Zeiten eintretender Ver\u00e4nderungen greifen hier so in einander, dass am Schluss das Individuum in seiner-typischen Form herauskommt; gelegentliche Missbildungen \u00bbvermindern nicht, sondern erh\u00f6hen unser Erstaunen \u00fcber die Zweckth\u00e4tig-keit und Zielstrebigkeit der Natur\u00ab, denn \u00bbganz offenbar arbeitet auch hier alles auf ein bestimmtes Ziel hin, nur leider wird dies Ziel nicht vollst\u00e4ndig erreicht\u00ab1). Sieht man n\u00e4her zu, in welcher besonderen Eigenth\u00fcmlichkeit des ontogenetischen Geschehens die Vorstellung eines leitenden Zweckes ihren Grund hat, so kann dies offenbar nur der Umstand sein, dass wir in so und so vielen Einzelf\u00e4llen denselben Process mit demselben typischen Resultat ablaufen sehen. H\u00e4tten wir nur ein einziges Mal Gelegenheit gehabt, die Entwicklung eines organischen Keimes zu verfolgen, so w\u00fcrden wir nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass der ganze Vorgang einem Ziele zustrebe, denn auch der Begriff der Harmonie oder des Zusammenstimmens der einzelnen Theilprocesse, auf den Driesch ein besonderes Gewicht legt (a. a. O., S. 87), gewinnt erst einen Sinn\n1) Liebmann, a. a. 0., S. 155. Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwicklung, S. 129. v. B\u00e4r, Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften (Petersburg 1876), S. 82.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher Naturzwecke.\n437\nbei Beziehung auf das typische Endresultat. Daraus geht aber her-v\u00f6r, dass das angebliche Ziel auch hier nur der in Gedanken voraus-genommene Erfolg ist; von einem dem ganzen Process immanenten \u00bbStreben\u00ab*) ist objectiv nichts zu bemerken, und wenn man von einem H\u00fchnerei mit Recht sagt, dass es \u00bbdie Bestimmung hat ein H\u00fchnchen auszubilden\u00ab (v. B\u00e4r), so ist dies nur eine andere Formulirung des Gedankens, dass aus diesem Ei gerade so wie aus jedem anderen unter geeigneten Umst\u00e4nden ein H\u00fchnchen hervorgehen wird. Die Wiederholung derselben Erscheinungsfolge in verschiedenen F\u00e4llen hat aber an sich durchaus nichts Auffallendes, da wir ja auch sonst unter gleichen Bedingungen stets die gleichen Erfolge eintreten sehen, und das Gleiche gilt von dem Umstande, dass der ganze Process nach der Befruchtung scheinbar spontan abl\u00e4uft, da man sich sehr wohl materielle Systeme denken kann, in denen durch einen geringf\u00fcgigen \u00e4u\u00dferen Ansto\u00df eine ganze Kette einander bedingender Ver\u00e4nderungen ausgel\u00f6st wird. Somit bleibt als einziger Anhaltepunkt f\u00fcr die teleologische Deutung der Ontogenese nur die Thatsache \u00fcbrig, dass die normale Entwicklung der organischen Keime wieder ein \u00bbzweckm\u00e4\u00dfig\u00ab gebautes, d. h. lebensf\u00e4higes Individuum liefert. Vom Standpunkte der mechanischen (causalen) Naturanschauung sei dies, wie behauptet wird, unbegreiflich, denn \u00bbNaturkr\u00e4fte, welche nicht auf ein Ziel gerichtet sind, k\u00f6nnen nichts Geregeltes erzeugen, nicht einmal mathematisch bestimmte Formen, viel weniger einen zusammengesetzten Organismus, sie zerst\u00f6ren nur\u00ab (v. B\u00e4r, a. a. O., S. 88). Wie man indess diesen Grundsatz in seiner Allgemeinheit beweisen will, ist unerfindlich. Der Begriff der \u00bbzerst\u00f6renden Naturkr\u00e4fte\u00ab wurzelt in einer rein anthropocentrischen Beurtheilung des Naturgeschehens, an sich hat jede durch die Wirksamkeit physischer Ursachen hervorgebrachte Ver\u00e4nderung eine Form, d. h. eine bestimmte\n1) \"Wenn manche Autoren im Anschl\u00fcsse an v. B\u00e4r es vorziehen, von Zielstrebigkeit statt von Zweckth\u00e4tigkeit zu reden, in der Meinung, dass dieser Ausdruck einen empirisch constatirbaren Sachverhalt bezeichne unter Ausschluss des hypothetischen Nebengedankens einer zwecksetzenden Intelligenz und eines Zwecke realisirenden Willens, so ist das, wie kaum bewiesen zu werden braucht, eine T\u00e4uschung Die Zielstrebigkeit ist so wenig Thatsache wie die Zweckth\u00e4tigkeit, und durch Einf\u00fchrung dieser ver\u00e4nderten Bezeichnung wird die Voraussetzung einer zu Grunde liegenden Zwecksetzung nicht entbehrlich gemacht, sondern nur verwischt.","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nE. K\u00f6nig.\nneue Verkeilung der Materie zum Ergebniss, und wenn man den Nachdruck darauf legt, dass im gegebenen Falle nicht nur \u00fcberhaupt eine Form, sondern eine zweckm\u00e4\u00dfige Form herauskommt, so ist dies nur ein neues Beispiel f\u00fcr die Thatsache, dass alle physiologischen Processe, zu denen ja, im weiteren Wortsinne, auch die Ontogenese geh\u00f6rt, im Sinne der Lebensf\u00f6rderung verlaufen.\n4. Wenn sonach, wie schon Kant ausgesprochen hat1), die Realit\u00e4t von Naturzwecken aus der Erfahrung nicht bewiesen werden kann, so bleibt doch die M\u00f6glichkeit offen, dass sie als Hypothese zur Erkl\u00e4rung gewisser Erscheinungen unentbehrlich ist. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkte zun\u00e4chst die vitalen Functionen, so w\u00fcrde die Annahme einer dabei mitspielenden Zweckbestimmung von vornherein auszuschlie\u00dfen sein, wenn diese Vorg\u00e4nge sich, der mechanistischen Ansicht entsprechend, restlos auf dieselben elementaren Wirkungsweisen zur\u00fcckf\u00fchren lie\u00dfen, aus denen sich die Vorg\u00e4nge in der unorganischen Natur zusammensetzen. Denn zugegeben selbst, dass eine neben der Causalit\u00e4t einhergehende Zweckbestimmung \u00fcberhaupt denkbar ist, so w\u00fcrde doch vom Standpunkte der Naturwissenschaft keine Veranlassung vorhanden sein, zu diesem Erkl\u00e4rungs-princip zu greifen, wenn sich die Erscheinungen schon aus dem Causalit\u00e4tsprincip vollst\u00e4ndig ableiten lassen. Nun ist die mechanistische Auffassung des Lebens keineswegs ein gesichertes Ergebniss wissenschaftlicher Forschung, sondern ein in allgemeinen naturphilosophischen Erw\u00e4gungen begr\u00fcndetes Postulat. Von der wirklichen Einsicht in die chemischen und physikalischen Processe, die die Lebenserscheinungen constituiren sollen, sind wir himmelweit entfernt, und es ist fraglich, ob diese Einsicht jemals in einem solchen Umfange zu erlangen sein wird, dass kein unaufgel\u00f6ster Best mehr zur\u00fcckbleibt. Man kann sich hier\u00fcber aber auch gar nicht wundem, wenn man bedenkt, dass schon der einfachste Organismus ein \u00e4u\u00dferst complicirtes Gebilde ist, und dass deswegen auch der Zusammenhang der an ihm sich abspielenden Processe ein sehr verwickelter sein muss. Auch im Gebiete der anorganischen Natur sind wir ja \u00fcberall, wo die Bedingungen des Geschehens einigerma\u00dfen verwickelte sind (z. B. schon bei der Fallbewegung eines unregelm\u00e4\u00dfig gestalteten\n1) Kritik der Urtheilskraft, \u00a7 60.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n439\nK\u00f6rpers), nicht in der Lage, die stattfindenden Ver\u00e4nderungen im einzelnen zu verfolgen. \"Wenn wir trotzdem uns \u00fcberzeugt halten, dass ihr Verlauf durch allgemeing\u00fcltige Gesetze geregelt wird, so st\u00fctzen wir uns auf das der Vernunft einleuchtende und durch die Erfahrung tausendf\u00e4ltig best\u00e4tigte Princip der Constanz der materiellen Substanz und ihrer Kr\u00e4fte.\nWenn die f\u00fcr sich allein vorhandenen materiellen Elemente A und B bei bestimmter gegenseitiger Beziehung e bestimmte Ver\u00e4nderungen erfahren (in welchem Falle wir von einer zwischen ihnen wirksamen Kraft sprechen), so treten, wofern nur dieselbe Beziehung c sich wiederholt, dieselben Ver\u00e4nderungen auch dann ein, wenn neben den Elementen A und B noch weitere C, D u. s. w. vorhanden sind, nur kommen jetzt unter Umst\u00e4nden zu der Wirkung zwischen A und B noch weitere Wirkungen zwischen A und C, A und D u. s. w. hinzu, so dass die Gesammtver\u00e4nderung, welche A erleidet, aus mehreren Oomponenten sich zusammensetzt. Umgekehrt wird man schlie\u00dfen, dass die Ver\u00e4nderungen, welche das Element A eines aus A, B, C. . zusammengesetzten materiellen Systems erf\u00e4hrt, jeweilig aus der Summation der zwischen A u. B, A u. C u. s. w. stattfindenden Wirkungen resultiren, da andernfalls ja die Elemente durch ihr blo\u00dfes Zusammensein neue Kr\u00e4fte, also neue Eigenschaften gewonnen haben m\u00fcssten. Was hier von einem materiellen System gesagt ist, muss nun aber, wenn es \u00fcberhaupt richtig ist, auch f\u00fcr die Organismen gelten, denn diese setzen sich ja, gerade so wie die nicht organisirten Systeme, aus von einander unabh\u00e4ngigen materiellen Elementen zusammen, die sich beim Zerfall des Ganzen wieder trennen, wie sie vor seiner Entstehung getrennt waren. Alle Wirkungen, die wir am Organismus eintreten sehen, sind also aufzufassen als Resultanten oder Combina-tionen von Wirkungen, wie sie zwischen den Elementen des Organismus auch sonst erfolgen.\nDie Gegner der mechanistischen Ansicht verfahren hiernach ganz richtig, wenn sie die G\u00fcltigkeit des Princips der Superposition der Kr\u00e4fte f\u00fcr den Organismus anzufechten suchen. Schon an den chemischen Verbindungen soll, wie behauptet wird, ersichtlich sein, dass dies Princip thats\u00e4chlich keine unbeschr\u00e4nkte Geltung habe. Wasser zeige z. B. ein ganz anderes Verhalten als Wasserstoff und Sauerstoff, und es sei nicht m\u00f6glich, aus den Eigenschaften dieser","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nE. K\u00f6nig.\nStoffe diejenigen des Wassers irgendwie abzuleiten1). Warum solle es also nicht denkbar sein, dass an der organisirten Materie ganz andere ^Wirkungsweisen auftreten als die, welche wir aus der unorganischen Natur kennen. Ob es gl\u00fccklich war, sich zur Unterst\u00fctzung dieser Hypothese auf die Schopenhauer\u2019sehe Lehre von den Naturkr\u00e4ften zu berufen, f\u00fcr welche die jeweilig gegebenen Umst\u00e4nde, also insonderheit die gegebenen Combinationen der Materie, nur Gelegenheitsursachen des Hervortretens bilden, und der W\u00e4rme, Elektricit\u00e4t u. s. w. \u00bbspecifische Energien\u00ab des Organismus an die Seite zu stellen2), d\u00fcrfte wohl zu bezweifeln sein, da diese Lehre mit den allgemeinen Anschauungen der heutigen Physik zu wenig vereinbar ist; eher k\u00f6nnte man die Annahme eines \u00bbspecifisch biologischen Geschehens\u00ab aus der ph\u00e4nomenalistischen Erkenntnisslehre zu rechtfertigen suchen, die die Erkl\u00e4rung gegebener Erscheinungen aus nicht wahrnehmbaren Bedingungen (Atomen, Atomkr\u00e4ften u. s. w.) grunds\u00e4tzlich verbietet und damit die Reduction auf Elementarwirkungen in vielen F\u00e4llen (z. B. beim Lichte) unm\u00f6glich macht3). Nur m\u00fcssten dann die Lebensvorg\u00e4nge, so wie sie sich der unmittelbaren Beobachtung darstellen, von allen bekannten Formen chemischen und physikalischen Geschehens ebenso qualitativ abweichen, wie z. B. die Lichterscheinungen von Bewegungsvorg\u00e4ngen. Dies ist aber thats\u00e4chlich nicht der Fall; im Gegentheil, wenn man die verschiedenen, angeblich \u00bbneuen Wirkungsweisen\u00ab, die \u00bbmit jeder der unendlichen Stufen und Formen der Organisation producirt werden, die Erhaltung der Art durch Wachsthum und Zeugung, Stoffwechsel, die verschiedenen Arten der Irritabilit\u00e4t, Phototaxis, Chemotaxis, Geotropismus\u00ab u. s. w. (Hertwig) n\u00e4her betrachtet, so sieht man, dass es sich dabei ausschlie\u00dflich um Bewegungen, chemische Umsetzungen, Aenderungen des Aggregatzustandes u. s. w., also um Vorg\u00e4nge von bekannter Art handelt, die sich nur nicht ohne weiteres den bekannten Gesetzen unterordnen lassen, sondern scheinbar ganz neuen Regeln folgen. Wenn man aber bedenkt, dass der Gesammt-verlauf der Vorg\u00e4nge in einem zusammengesetzten Ganzen auch stets\n1)\tWagner, Briefe eines unmodernen Naturforschers. Berlin 1897, S. 267.\n2)\tDriesch, Biologie als selbst\u00e4ndige Grundwissenschaft. Leipzig 1893, S. 42. Hertwig, die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert. Jena 1900, S. 26.\n3)\tSo Albrecht in Vorfragen der Biologie. Wiesbaden 1899, S. 33, 86ff.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n441\ndurch die Anordnung seiner Theile mitbedingt wird, und dass so sehr h\u00e4ufig anscheinend neue typische Geschehensformen (empirische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten) herauskommen, so wird auch hier die M\u00f6glichkeit zuzulassen sein, dass die specifischen Functionsweisen des Organismus nur die Bedeutung secund\u00e4rer (empirischer) Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten haben, und einer Ansicht, die diese M\u00f6glichkeit nicht ber\u00fccksichtigt, wird der Vorwurf nicht zu ersparen sein, dass sie in den Fehler des \u00e4lteren Vitalismus zur\u00fcckf\u00e4llt und die Lebensth\u00e4tigkeiten als etwas Einfaches und Unzerlegbares hinstellt, ohne \u00fcberhaupt zu untersuchen, ob sie sich nicht auf anderweit bekannte elementare Geschehensformen zur\u00fcckf\u00fchren lassen.\nUnter Bezugnahme auf die in der heutigen Physik allgemein anerkannte Unterscheidung von Kr\u00e4ften und Energien hat man von anderer Seite dem Mechanismus das Zugest\u00e4ndniss gemacht, dass im Organismus zwar keine anderen Energiearten Vorkommen, als au\u00dferhalb desselben, und dass auch f\u00fcr den Lebensprocess das Gesetz der Erhaltung der Energie uneingeschr\u00e4nkt gilt, verbindet aber damit die Behauptung, dass die Umwandlung der Energie im Organismus nach besonderen Gesetzen erfolge. W\u00e4hrend sonst die Art, wie ein K\u00f6rper auf \u00e4u\u00dfere Einfl\u00fcsse reagirt, d. h. wie er ihm zugef\u00fchrte Energien umsetzt, durch die Natur der in ihm vereinigten Elemente und durch die Art ihrer Verbindung bestimmt wird, soll die Reactionsweise des Organismus als eine v\u00f6llig neue Eigenschaft zu den Eigenschaften seiner Bestandtheile hinzutreten. In seltsamer und wenig klarer Form tritt dieser Gedanke in dem von Reinke aufgestellten Begriffe der (organischen) Dominanten1) entgegen, eine scharfe und innerlich\n1) Reinke, d. Welt als That, S. 267 ff. Stehen die Dominanten den Energien als ihre \u00bbLenker\u00ab gegen\u00fcber, so m\u00fcssen wir sie auch in der unorganischen Natur voraussetzen, in der nach R. die Energien \u00bballein herrschen\u00ab sollen (S. 270). Sie entsprechen dann dem, was man die Maschinenbedingungen eines Systems nennt, und der Begriff der Dominante w\u00fcrde also vollkommen zusammenfallen mit dem der Structur oder Configuration. W\u00e4hrend nun R. einerseits dies selbst ausdr\u00fccklich ausspricht (z. B. Einleitung i. d. theor. Biol. 177), bezeichnet er doch andrerseits wieder die D. als \u00bbzielm\u00e4\u00dfig und zweckth\u00e4tig wirkende Kr\u00e4fte\u00ab (a. a. 0.176), ja er fasst sie mit der menschlichen Intelligenz unter dem allgemeinen Begriffe der psychischen Kraft zusammen (a. a. O. 182, 576), womit doch wohl gesagt sein soll, dass ihr Wirken nicht blo\u00df ein Ausdruck oder eine Folge der jeweiligen Configuration des Systems sein, sondern durch rein ideale Zweckr\u00fccksichten bestimmt werden soll.","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nE. K\u00f6nig.\nfolgerichtige Fassung hat ihm E. v. Hartmann gegeben, indem er den allgemeinen Satz auf stellt, dass in allen Individuen h\u00f6herer Ordnung zu den \u00bbgesetzm\u00e4\u00dfigen Actionen der umspannten Individuen niederer Ordnung\u00ab noch eine \u00bbh\u00f6here Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit\u00ab hinzutritt1). Die unorganischen K\u00f6rper sind nach dieser Ansicht blo\u00dfe Aggregate niederer Individuen (der materiellen Elemente), deshalb gilt f\u00fcr sie das oben formulirte Princip der Addition der Wirkungen ohne jede Einschr\u00e4nkung; die Organismen dagegen sind Individuen h\u00f6herer Ordnung, der Organismus als Ganzes ist mehr als die Summe seiner Theile, und dies zeigt sich eben darin, das an ihm neben den physikalisch-chemischen Elementarkr\u00e4ften noch h\u00f6here, nicht von bestimmten Raumpunkten ausgehende dynamische Functionen in die Erscheinung treten und in Verbindung mit jenen die Umwandlung der Energien regeln. Die ganze Streitfrage wird hier auf die metaphysische Frage zur\u00fcckgef\u00fchrt, ob allein die Bestandtheile der Materie als reale Einheiten (Individuen) anzusehen sind, oder ob es daneben noch Wesenheiten gibt, die sich zwar in der Erscheinung als Complexe materieller Elemente darstellen, aber deswegen doch ebenso urspr\u00fcngliche reale Einheiten bilden wie jene. Wer aus irgend welchen Gr\u00fcnden die letztere Ueberzeugung hegt, der muss folgerichtigerweise die mit ihr unvereinbare mechanistische Naturauffassung grunds\u00e4tzlich bek\u00e4mpfen. Daher war z. B. Schopenhauer trotz seiner umfassenden naturwissenschaftlichen Bildung und seines Strebens, die philosophische Speculation durchweg an die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Erfahrung anzukn\u00fcpfen, ein grunds\u00e4tzlicher Gegner der mechanistischen Biologie2), und ihm hat sich v. Hartmann r\u00fcckhaltlos angeschlossen.3) Lassen wir aber alle metaphysischen Erw\u00e4gungen\n1)\tKategorienlehre, S. 465.\n2)\tVgl. Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig 1859, S. 173: Der gegebenen Ansicht gem\u00e4\u00df wird man zwar im Organismus die Spuren chemischer und physischer Wirkungsarten nachweisen, aber nie ihn aus diesen erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, weil er keineswegs ein durch das vereinigte Wirken solcher Kr\u00e4fte, also zuf\u00e4llig hervorgebrachtes Ph\u00e4nomen ist, sondern eine h\u00f6here Idee, welche sich jene niederen durch \u00fcberw\u00e4ltigende Assimilation unterworfen hat. Ebenso in \u00bbWille in der Natur\u00ab, S. 33 43.\n31 In \u00e4hnlichem Sinne stellt auch Driesch in seiner neuesten Schrift (die organischen Regulationen, Leipz.1901, S. 211) der extensiven Mannigfaltigkeit der in einem System gegebenen materiellen Bedingungen die \u00bbintensivere Mannigfaltigkeit\u00ab der \u00bbEntelechie\u00ab als mitbestimmenden Factor an die Seite.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n443\nbeiseite, um die Sache vom Gesichtspunkte der empirischen Naturwissenschaft zu pr\u00fcfen, so zeigt sich, dass die von Schopenhauer aufgestellte und von Hartmann eingehender begr\u00fcndete Theorie zu unhaltbaren Consequenzen f\u00fchrt. Wie an den Organismen eine h\u00f6here Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit in Kraft treten kann ohne \u00bbSt\u00f6rung oder Suspension der Gesetze, nach denen die unorganischen Kr\u00e4fte die Kraftumwandlung vorgenommen h\u00e4tten, wenn sie sich selbst \u00fcberlassen geblieben w\u00e4ren\u00ab, ist unerfindlich. Die Gesetze der physikalischen und chemischen Elementarwirkungen bestimmen, so viel wir wissen, die Vorg\u00e4nge in einem materiellen System vollkommen eindeutig, f\u00fcr eine h\u00f6here Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit ist also nur Platz, wenn jene aufgehoben oder eingeschr\u00e4nkt werden, d. h. wenn die materiellen Elemente, dem Princip der Oonstanz zuwider, mit dem Eintritt in den Organismus ihre Eigenschaften (Kr\u00e4fte) verlieren oder ver\u00e4ndern. So lange nicht biologische Thatsachen vorliegen, welche gar keine andere Deutung zulassen, wird man schwerlich Jemand \u00fcberreden, dies zu glauben, und statt mit Schopenhauer aus der angenommenen Realit\u00e4t der \u00bbh\u00f6heren Ideen\u00ab (h\u00f6heren Individuationsstufen) auf die Unrichtigkeit der mechanischen Auffassung des Lebens zu schlie\u00dfen, wird man mit besserem Rechte aus dem durch die Erfahrung ausnahmslos best\u00e4tigten Princip der Unver\u00e4nderlichkeit der materiellen Elemente die Unhaltbarkeit jener metaphysischen Voraussetzung folgern.\nZugegeben aber auch, dass der Begriff neuer specifischer Kr\u00e4fte und Eigenschaften, die an bestimmte Complexe materieller Elemente gebunden sind, mit den allgemeinsten Grunds\u00e4tzen unserer Naturanschauung vereinbar w\u00e4re, so w\u00fcrde doch durch denselben f\u00fcr die Sache der Teleologie noch wenig gewonnen sein. Denn wofern diese Kr\u00e4fte in gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise wirken sollen (und eine nicht so wirkende Kraft ist ein Unding), muss man annehmen, dass ihre Wirkungen sich nach der jeweiligen Verfassung des Systems, von dem sie ausgehen, und nach den wechselnden Beziehungen desselben zu seiner Umgebung richten, sie k\u00f6nnen also unm\u00f6glich gleichzeitig durch Zwecke bestimmt werden. Man k\u00f6nnte einwenden, dass die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit der betreffenden Vorg\u00e4nge eben deshalb eine \u00bbh\u00f6here\u00ab genannt werde, weil sie nicht blo\u00df von den genannten \u00e4u\u00dferen Bedingungen, sondern daneben auch von Zweckvorstellungen abhingen. Aber es scheint mir undenkbar, eine derartige Abh\u00e4ngigkeit in einem","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nE. K\u00f6nig.\nnoch so complicirten Gesetz auszudr\u00fccken, denn unter einem Gesetz versteht man die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung zwischen einer concreten Wirkung und ihrer Ursache, also zwischen zwei unmittelbar auf einander folgenden Ver\u00e4nderungen, ein Zweck wird aber immer erst durch eine Reihe von Ver\u00e4nderungen realisirt.\nNeuerdings haben nun aber einige Teleologen die mechanistische Theorie auf empirischem Wege dadurch zu widerlegen gesucht, dass sie bestimmte biologische Vorg\u00e4nge aufzeigten, die ihrer Meinung nach in keiner Weise aus den gegebenen \u00e4u\u00dferen Bedingungen causal zu erkl\u00e4ren sind. Wolff glaubt in der Regeneration der herausgenommenen Linse beim Triton, Driesch in der Entwicklung von Echiniden-eiem einen derartigen Eall entdeckt zu haben1). Wolff legt bei seiner Schlussfolgerung den Nachdruck darauf, dass die Linse beim ausgebildeten Thier sich nicht mehr in der Umgebung befindet, in der sie entstanden ist; losgel\u00f6st von ihrem Mutterboden (dem Ectoderm), ist sie \u00bbals ein Fremdling in fremde Umgebung gewandert\u00ab. Wenn nun trotzdem der Organismus aus dem Epithel der Iris eine neue Linse erzeugt, so k\u00f6nne dieser Vorgang \u00bbunm\u00f6glich nach dem ererbten Typus der ontogenetischen Entstehung erfolgen, sondern der Organismus muss v\u00f6llig neue Wege finden, um das Gebilde wiederherzustellen\u00ab. Letzteres ist nun gewiss richtig, trifft aber streng genommen hei jeder Regeneration zu, da die Bedingungen niemals dieselben sind, wie hei der ersten Entstehung des betreffenden Organs ; wenn also Regeneration \u00fcberhaupt mechanisch (d. h. causal) verst\u00e4ndlich ist, und das Gegentheil kann Niemand beweisen, so ist nicht einzusehen, warum sie es in diesem Falle nicht auch sein soll. Der Beweis, den Driesch f\u00fcr die Realit\u00e4t eines \u00bbvitalistischen Geschehens\u00ab beibringt, steht und f\u00e4llt mit der Annahme, dass \u00bbdas Ei nicht aus mannigfach verschiedenen Elementen in irgend einer typisch specifischen Lagerung aufgebaut sein kann, die etwa zu den sp\u00e4teren Differenzirungen in irgend einer Beziehung st\u00e4nden\u00ab; hieraus folgert er, dass, wenn trotzdem an verschiedenen Stellen des Eies unter den gleichen \u00e4u\u00dferen Bedingungen verschiedene morphogene Vorg\u00e4nge einsetzen, hierf\u00fcr eine causale Erkl\u00e4rung nicht m\u00f6glich sei. Die\n1) Wolff, Beitr\u00e4ge u. s. w., S. 68. Driesch, Die Localisation morpho-genetischer Vorg\u00e4nge, in: Archiv f. Entwicklungsmechanik, Bd. VIII, S. 35 ff.","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"TJeber Naturzwecke.\n445\nThatsache, dass sich auch aus der H\u00e4lfte, ja dem'Viertel eines Eies (nach Ablauf der ersten Furchungen) eine vollst\u00e4ndige Larve ausbilden kann, stellt aber keinen gen\u00fcgenden Beweis f\u00fcr die Gleich-werthigkeit der Zellen der Furchungskugel dar, da sie auch unter der Voraussetzung einer stattfindenden Regeneration der fehlenden H\u00e4lfte erkl\u00e4rt werden kann.1)\n5. Sind wir somit auf Grund der Thatsachen berechtigt und durch die allgemeinen Grunds\u00e4tze der causalen Naturerkl\u00e4rung ge-n\u00f6thigt anzunehmen, dass alle Vorg\u00e4nge am Organismus auf physikalische und chemische Elementarwirkungen zur\u00fcckf\u00fchrbar sind, und dass ihr besonderer Charakter ausschlie\u00dflich bedingt ist durch die Structur des materiellen Substrats, an dem sie erfolgen, so ist doch damit die Hypothese der Naturzwecke noch nicht endg\u00fcltig widerlegt, denn es bleibt die Frage nach dem Ursprung dieser besonderen Structur noch offen. Die \u00bbMaschinentheorie der Lebensvorg\u00e4nge\u00ab f\u00fchrt nur die Reactionszweckm\u00e4\u00dfigkeit auf Structurzweckm\u00e4\u00dfigkeit zur\u00fcck, aber sie l\u00e4sst diese letztere unerkl\u00e4rt. Ist es nun denkbar, so kann man fragen, dass eine Maschine, die die wunderbare F\u00e4higkeit besitzt, sich selbst die zum Betriebe n\u00f6thige Energie fortdauernd anzueignen, entstandene Defecte auszubessern und neue ihresgleichen zu produciren, ohne Mitwirkung einer zweckth\u00e4tigen Intelligenz entstanden ist? Es gibt Biologen und Philosophen, welche den chemischphysikalischen Charakter der Lebensfunctionen zugeben, aber trotzdem jene Frage verneinen zu m\u00fcssen glauben und behaupten, dass ebenso wenig wie eine Taschenuhr oder ein anderes Werk menschlicher Kunst, ebenso wenig auch ein erhaltungs- und fortpflanzungsf\u00e4higer Organismus jemals durch die planlos wirkenden Naturkr\u00e4fte zu st\u00e4nde gebracht werden w\u00fcrde.\nDer hervorragendste Vertreter dieser Ansicht ist Kant. \u00bbUm einzusehen, dass ein Ding nur als Zweck m\u00f6glich sei\u00ab, dazu wird nach der bekannten Definition in der Kritik der Urtheilskraft (\u00a7 63) er-\n1) Der zweite \u00bbBeweis\u00ab f\u00fcr die Autonomie der Lebensvorg\u00e4nge, den D. in \u00bbdie organischen Regulationen\u00ab S. 183ff. vorbringt, w\u00fcrde, wenn er stichhaltig w\u00e4re, dem ausgesprochenen Bedenken den Boden entziehen; nur fehlt dem entscheidenden Satze, dass \u00bbeine nach drei Dimensionen differente Maschine nicht getheilt werden und doch dem Bau nach ganz bleiben, sich also auch nicht theilen und in ihren Theilst\u00fccken jewe\u00fcs vervollst\u00e4ndigen kann\u00ab, selbst die Begr\u00fcndung.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446-\nE. K\u00f6nig.\nfordert, \u00bbdass seine Form nicht nach blo\u00dfen Naturgesetzen m\u00f6glich sei\u00ab, oder positiv ausgedr\u00fcckt, dass \u00bbdie Theile (ihrem Dasein und ihrer Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze m\u00f6glich sind\u00ab (\u00a7 64); als Natur zweck erweist sich das Ding dann, wenn die Theile zugleich das Ganze \u00bbaus eigner Causalit\u00e4t hervorbringen \u00ab. Die Lebewesen stellen nach Kant Naturzwecke dar, insofern ihnen \u00bbeine sich fortpflanzende bildende Kraft innewohnt, welche durch das Bewegungsverm\u00f6gen allein nicht erkl\u00e4rt werden kann\u00ab. Dennoch ist Kant nur in bedingtem Sinne zu den Teleologen zu rechnen, da ein gro\u00dfer Theil seiner Ausf\u00fchrungen vielmehr darauf abzielt, zu zeigen, dass die objective Realit\u00e4t des Zweckbegriffs in seiner Anwendung auf Naturgegenst\u00e4nde nicht erwiesen werden k\u00f6nne, da er weder aus der Erfahrung abstrahirt, noch auch zur M\u00f6glichkeit derselben erforderlich sei, ja dass der Gebrauch des Begriffes als eines objectiv g\u00fcltigen geradezu zu Widerspr\u00fcchen f\u00fchre. Folgerichtiger denkend als manche der neueren Teleologen ist Kant sich vollkommen klar dar\u00fcber, dass die Hypothese einer objectiven Zweckbestimmung nur einen Sinn hat unter Voraussetzung \u00bbabsichtlich wirkender Ursachen\u00ab (\u00a7 72). Diese kann man, wie er weiter ausf\u00fchrt, entweder mit dem \u00bbHylozoismus\u00ab als den Dingen innewohnend, oder mit dem \u00bbTheismus\u00ab als transcendent denken. Der Hylozoismus sei aber unhaltbar, denn er m\u00fcsse entweder die Materie seihst als lebend ansehen, was ihrem Begriff zuwiderlaufe, oder sie (im Sinne von Leibniz) als bis in ihre kleinsten Theile organisirt und belebt betrachten, was auf eine Zirkelerkl\u00e4rung hinauskomme. Ebenso scheitere aber auch die theistische Begr\u00fcndung der Teleologie an der Unm\u00f6glichkeit, einen Endzweck anzugehen, dem sich die zerstreuten Einzelzwecke unterordnen lie\u00dfen (\u00a7 84). M\u00f6gen diese kritischen Argumente immerhin im einzelnen der genaueren Ausarbeitung bed\u00fcrfen, wenn man sie auf die seit Kant aufgestellten teleologischen Systeme anwenden will, so haben sie doch auch f\u00fcr die Gegenwart noch volle Beweiskraft, und es l\u00e4sst sich ihnen kaum etwas WesentlichesJiinzu-f\u00fcgen. Kant seihst zog daraus den bekannten Schluss, dass der Zweckhegriff keine constitutive, sondern nur eine regulative Bedeutung habe, insofern er dazu dienen k\u00f6nne, die Eigenschaften der Organismen \u00bbnach einer entfernten Analogie mit unserer Causalit\u00e4t nach Zwecken\u00ab zu \u00bbbeurtheilen\u00ab. Das positive Ergebniss seiner","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n447\nUntersuchungen besteht also eigentlich darin, dass die Organisation als ein Grundph\u00e4nomen anzusehen sei, da wir nicht im st\u00e4nde seien, seine M\u00f6glichkeit aus physischen Bedingungen zu erkl\u00e4ren, und selbst dieser Satz wird noch durch die Bemerkung abgeschw\u00e4cht, dass wir anderseits auch die Unm\u00f6glichkeit der Erzeugung der organisirten Naturproducte durch den blo\u00dfen Mechanismus der Natur keineswegs beweisen k\u00f6nnen\u00ab (\u00a7 70).\nDie heutige Naturwissenschaft steht indess dem Problem der Organisation nicht mehr so ganz rathlos gegen\u00fcber, wie das zu Kant\u2019s Zeiten der Fall war. Wenn es richtig ist, dass die Erde aus dem feurig-fl\u00fcssigen Zustande allm\u00e4hlich in den jetzigen \u00fcbergegangen ist, so muss das organische Leben auf ihr zu irgend einer Zeit seinen Anfang genommen haben; will man also nicht an einen \u00fcbernat\u00fcrlichen sch\u00f6pferischen Eingriff glauben, so hat man nur die Wahl, eine Uebertragung des Lebens auf die Erde anzunehmen, wodurch das Problem nur zur\u00fcckgeschoben wird, oder die ersten Organismen durch Urzeugung entstanden zu denken. K\u00f6nnen wir uns nun von diesem Vorg\u00e4nge bis jetzt auch keinerlei Begriff machen, so hat doch nach der Meinung der mechanistisch denkenden Biologen Darwin wenigstens gezeigt, wie die specifische Zweckm\u00e4\u00dfigkeit, d. h. Erhaltungsf\u00e4higkeit der Organismen, deren Existenz f\u00fcr Kant ein unl\u00f6sbares R\u00e4thsel war, ohne Mitwirkung absichtlich wirkender Ursachen entstehen konnte, ja entstehen musste. Es w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, wenn wir die viel er\u00f6rterte Frage nach der Haltbarkeit und der Tragweite der Darwinschen Principien hier in ihrem ganzen Umfange aufrollen wollten. F\u00fcr unser Thema sind von den mannigfachen gegen die Selectionstheorie erhobenen Einw\u00e4nden nur zwei von Bedeutung. Zun\u00e4chst hat man geltend gemacht, dass die fortschreitende Steigerung der Organisationsh\u00f6he aus zuf\u00e4l\u00fcgen Variationen nicht zu erkl\u00e4ren sei, dass hierzu vielmehr eine bestimmt gerichtete Ab\u00e4nderungstendenz, eine Zielstrebigkeit des phylogenetischen Processes angenommen werden m\u00fcsse. Sodann ist betont worden, dass der Darwinismus und die Descendenzhypothese \u00fcberhaupt im g\u00fcnstigsten Falle die h\u00f6heren Organismen aus niederen abzuleiten, aber den Ursprung der einfachsten Lebensformen nicht zu erkl\u00e4ren verm\u00f6ge, da er diese vielmehr als Ausgangspunkt der Entwicklung voraussetze. Das erste Bedenken mag, so weit es die Unzul\u00e4nglich-","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nE. K\u00f6nig.\nkeit des Princips der zuf\u00e4lligen, d. h. richtungslosen Variation betrifft, immerhin berechtigt sein, aber es folgt doch daraus noch nicht, dass bei der Entstehung der Ab\u00e4nderungen eine nach Zwecken wirkende Ursache im Spiele gewesen sein m\u00fcsse, da ja das Zustandekommen bestimmt gerichteter einseitiger Variationen auch unter der ausschlie\u00dflichen Wirkung blinder Ursachen, z. B. auf dem Wege der \u00bb directen Anpassung\u00ab, sehr wohl denkbar ist. Die zweite Bemerkung ist zweifellos richtig, aber sie beweist nur, was eigentlich von Niemand bestritten wird, dass die ersten zweckm\u00e4\u00dfigen, d. h. lebensf\u00e4higen Formen nicht auf dem Wege der Selection entstanden sein k\u00f6nnen; es folgt daraus nicht, dass sie Erzeugnisse einer zweckth\u00e4tigen Intelligenz seien. Die Polemik gegen den Darwinismus verfehlt also ihr Ziel durchaus, sofern sie zugleich die Wirksamkeit von Zwecken bei dem Ursprung und der Weiterentwicklung der Lehewelt beweisen will.\nIm Grunde verf\u00fcgen die Teleologen nur \u00fcber ein einziges leidlich annehmbares Argument f\u00fcr ihre Hypothese, das ist der schon mehrmals angef\u00fchrte Gedanke, dass die \u00bbzuf\u00e4llige\u00ab Entstehung eines lebensf\u00e4higen Gebildes gerade so unwahrscheinlich sei, wie die Entstehung eines mechanischen Kunstwerkes durch das Zusammenwirken blinder Naturkr\u00e4ftel). Dieser Einwand verliert indess viel von seiner \u00fcberredenden Kraft, wenn man bedenkt, dass auch eine fertig vor uns stehende Maschine das Resultat einer gro\u00dfen Menge einzeln nach einander und zum Theil zuf\u00e4llig gefundener Verbesserungen darstellt2). Dass einer der h\u00f6heren Organismen jemals durch Urzeugung entstanden sein k\u00f6nnte, ist gewiss \u00e4u\u00dferst unwahrscheinlich, dass dagegen irgendwann und irgendwo einmal durch Zusammentreffen geeigneter Bedingungen ein einfaches erhaltungs- und fortpflanzungsf\u00e4higes materielles System, ein Urorganismus, seinen Ursprung genommen habe, ist ganz gut denkbar; war ein solches aber einmal da, so war es, ungleich den Zufallsproducten der (anorganischen) Natur, die ebenso wie sie entstehen auch wieder verschwinden, durch die ihm immanente F\u00e4higkeit, st\u00f6rende Einfl\u00fcsse auszugleichen, vor dem Untergange gesch\u00fctzt und seine Fortdauer bezw. Weiterentwicklung nicht blo\u00df m\u00f6glich, sondern nothwendig.\n1)\tVgl. Liebmann, a. a. O., S. 170.\n2)\tVgl. B\u00fctschli, Mechanismus und Vitalismus. Leipzig 1901, S. 24 ff.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n449\nVor allen Dingen m\u00fcssen aber die Vertreter der Teleologie ihrerseits dar\u00fcber Auskunft geben, wie man sich die Zweckth\u00e4tigkeit, der die organischen Formen ihr Dasein verdanken sollen, eigentlich zu denken hat, denn es ist unm\u00f6glich, von Zwecken in der Natur zu reden, ohne ein zweckth\u00e4tiges Agens vorauszusetzen; eine Teleologie, die die Beantwortung dieser Oardinalfrage. ablehnt, wie das z. B. bei E. v. B\u00e4r (a. a.O., S. 77), sowie bei \"Wolff der Fall ist, ist ein Geb\u00e4ude ohne Fundament. So viel ich sehe, bestehen hinsichtlich der Wirksamkeit vonZweckenbei der Entwicklung der organischen Formen gegenw\u00e4rtig drei verschiedene Anschauungen, die sich leicht den von Kant unterschiedenen. zwei Typen unterordnen. Entweder f\u00fchrt man die zweckm\u00e4\u00dfigen Ab\u00e4nderungen auf blind wirkende zweckth\u00e4tige Kr\u00e4fte, oder auf die bewussten oder unbewussten Triebe und Willensth\u00e4tig-keiten der Individuen zur\u00fcck, oder man fasst sie als unmittelbare Producte einer transcendenten Activit\u00e4t, eines sch\u00f6pferischen, dem Einzeldasein vorhergehenden und es bedingenden absoluten Willens auf, der im pantheistischen oder im theistischen Sinne gedacht werden kann. F\u00fcr den Ursprung des Lebens kommt nat\u00fcrlich, wenn man keine Urzeugung annehmen will, nur die letztere Erkl\u00e4rungsweise in Betracht, wobei es gleichg\u00fcltig ist, ob man die heute bestehenden Arten oder eine kleinere oder gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Urformen an den Anfang setzt. Der Begriff der zweckth\u00e4tigen Kr\u00e4fte wurde schon oben wegen seiner inneren Widerspr\u00fcche und seiner Unvereinbarkeit mit dem Substanzaxiom zur\u00fcckgewiesen (vgl. S. 425, 443), die Trieb-und Willenshandlungen lebender Individuen \u00fcben zweifellos eine R\u00fcckwirkung auf die Organisation in dem Sinne aus, dass die Organe den Functionen immer besser angepasst werden, ja sie haben vielleicht, wie Wundt eingehender dargelegt hat1), bei der fortschreitenden Differenzirung des Substrats der Lebenserscheinungen wesentlich mitgewirkt; aber erstens setzt wenigstens die bewusste Willensth\u00e4tigkeit eine schon bestehende, wenn auch noch so primitive Organisation voraus, sie kann also nicht zur Erkl\u00e4rung aller zweckm\u00e4\u00dfigen Einrichtungen dienen, zweitens ist es noch sehr fraglich, ob es angeht, die den Willen bewegenden Motive als Ursachen der entsprechenden Handlungen anzusehen, ob nicht vielmehr diese Ursachen wie bei\n1) System der Philosophie, S. 537 ff.\nWundt, Philos. Studien. XIX.\n29","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nE. K\u00f6nig\nallen \u00fcbrigen Lebens\u00e4u\u00dferungen in gewissen physischen Antecedentien der Willenshandlung zu suchen sind, in welchem Falle die individuelle Willensth\u00e4tigkeit nicht als wirkliches Erkl\u00e4rungsprincip in Betracht kommen k\u00f6nnte. Die Annahme einer sch\u00f6pferischen Beth\u00e4tigung des transcendenten Weltgrundes endlich ist unvereinbar mit dem Gausalgesetze, dem zufolge jeder Vorgang in der raumzeitlichen Erscheinungswelt von Ursachen abh\u00e4ngt, die selbst der Erscheinungswelt angeh\u00f6ren. Ver\u00e4nderungen, die unmittelbar aus einer transcendenten sch\u00f6pferischen Zweckth\u00e4tigkeit resultiren, w\u00e4ren, vom empirischen Standpunkte angesehen, ursachlose Ver\u00e4nderungen, w\u00e4ren Wunder, deren Auftreten \u00fcberdem, bei der durchg\u00e4ngigen causalen Determination des Einzelnen durch anderes Einzelne, nur unter Durchbrechung der Naturgesetze m\u00f6glich sein w\u00fcrde1).\nSelbst wenn man annimmt, dass die Entwicklung und der erste Anfang des Lebens durch blind wirkende Ursachen bestimmt worden seien, bleibt \u00fcbrigens der Teleologie noch ein letztes Refugium offen. Mag das Leben als Product des zuf\u00e4lligen Zusammentreffens gewisser Bedingungen naturgesetzlich entstanden sein, so ist doch dies Zusammentreffen selbst eine Thatsache, die aus den allgemeinen Wirkungsgesetzen allein nicht zu erkl\u00e4ren ist. Gewiss w\u00fcrde man bei hinl\u00e4nglicher Kenntniss der Verh\u00e4ltnisse sagen k\u00f6nnen, warum an diesem bestimmten Orte zu dieser bestimmten Zeit gerade diese bestimmten Umst\u00e4nde eintraten, aber man k\u00e4me doch dadurch nur auf eine andere, fr\u00fchere Constellation von Umst\u00e4nden zur\u00fcck, bez\u00fcglich deren dieselbe Frage sich wiederholen w\u00fcrde. So gibt die kosmische Mechanik, um ein typisches Beispiel anzuf\u00fchren, an der Hand des Gravitationsgesetzes Rechenschaft \u00fcber die relativen Lagen und Geschwindigkeiten der K\u00f6rper des Planetensystems in irgend einem Zeitmoment, aber sie kann dies nur, indem sie die Verfassung des Systems in einem anderen Augenblicke (die Anfangslage) als gegeben\n1) Unter den Neueren huldigt haupts\u00e4chlich Reinke der Sch\u00f6pfungshypothese die Welt als That (S. 318). Seine Behauptung, dass das Wie? der transcendenten Einwirkung auch nicht r\u00e4thselhafter ist, als das Wie? der immanenten Dominanten, ist um so weniger verst\u00e4ndlich, als er selbst die \u00bbkosmische Vernunft\u00ab f\u00fcr unerkennbar erkl\u00e4rt. Wenn ferner dem Einwande der Durchbrechung der Naturgesetze durch den Hinweis auf die Zweckth\u00e4tigkeit des Menschen begegnet wird (S. 321), so ist dabei \u00fcbersehen, daBS die menschliche Intelligenz durch Vermittlung einer k\u00f6rperlichen Organisation wirkt, die kosmische nicht.","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n451\nvoraussetzt. Denkt man sich den Stand unserer gesammten Natur-erkenntniss auf die gleiche H\u00f6he gebracht, so w\u00fcrden wir die jeweilige Weltlage als nothwendige Folge der vorhergehenden verstehen, aber die Anfangslage bliebe als ein causal zuf\u00e4lliges Factum \u00fcbrig. Von dieser h\u00e4ngt aber der Verlauf der Vorg\u00e4nge in dem Ganzen sehr wesentlich mit ah; bei anderer Anfangslage w\u00fcrden z. B. die Bahnen der Planeten statt Ellipsen Parabeln oder Hyperbeln geworden sein. Ist es nun nicht eigent\u00fcmlich, dass unter der unendlichen Zahl m\u00f6glicher Anfangslagen eine zur Wirklichkeit geworden ist, die dem System eine gewisse Stabilit\u00e4t sicherte ? Ist es nicht ebenso wunderbar, dass verm\u00f6ge der urspr\u00fcnglichen Anordnung der Stoffe und Kr\u00e4fte die Bedingungen f\u00fcr die Entstehung und Weiterentwicklung des Lehens auf der Erde sich realisirten? Fast unabweisbar dr\u00e4ngt sich hier der Gedanke einer Zweckbestimmung auf, durch die dem Wirken der Naturkr\u00e4fte eine bestimmte Richtung gegeben wurde.\nIn der That hat Driesch in fr\u00fcheren Schriften die Teleologie auf derartige Erw\u00e4gungen zu gr\u00fcnden gesucht, indem er hervorheht, dass \u00bbschon das allereinfachste Geordnete und in diesem Sinne Formale causaler Erkenntniss nicht zug\u00e4nglich ist\u00ab und \u00bbteleologisch beurtheilt werden muss\u00ab*). Kr\u00e4fte und Stoffe seien das Areal der causalen, Formen das der teleologischen Betrachtung. Oh freilich diese letztere schon hei den organischen Formen einzusetzen hat, wie er will, ist damit noch nicht erwiesen; sollte aber auch das Problem der Urzeugung jemals einmal gel\u00f6st werden, so w\u00fcrde doch dadurch der Ankn\u00fcpfungspunkt f\u00fcr die Teleologie nur weiter zur\u00fcckgeschohen; Object der Zweckerkl\u00e4rung w\u00e4re dann die urspr\u00fcngliche Verfassung des Universums, von der alles causale Erkl\u00e4ren ausgehen muss, die biologische Teleologie w\u00fcrde sich zur kosmologischen erweitern. Wir k\u00e4men damit auf den bekannten Standpunkt von Leibniz, der erkl\u00e4rt, dass alles in der Welt nach Gesetzen mechanischer Oausalit\u00e4t determinirt ist, dass aber diese Gesetze seihst nur aus dem Gesichtspunkte des Zweckes zu begreifen sind, eine Ansicht, die unter den neueren Philosophen E. v. Hartmann noch genauer formulirt und eingehender begr\u00fcndet hat1 2). Ehen wegen ihres universellen Charakters ist aber eine derartige Teleologie nicht mehr eine physische,\n1)\tAnalytische Theorie der organischen Entwicklung, S. 166.\n2)\tVgl. Kategorienlehre, S. 470 ff.\n29*","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nE. K\u00f6nig.\nsondern eine metaphysische. Auf Einzelobjecte und einzelne Vorg\u00e4nge als solche findet der Zweckbegriff keine Anwendung, da ja der Voraussetzung nach innerhalb des Weltprocesses alles causal determinirt ist, und nur die ersten Grundlagen und die allgemeinsten Bedingungen des Daseins (die Anfangslage der Welt und die in ihr herrschenden Gesetze) auf Zwecke berechnet sind. Am klarsten kommt dies zum Ausdruck in dem theistischen System des Leibniz, der die bestehende Weltordnung auf einen vorweltlichen g\u00f6ttlichen Willensact zur\u00fcckfuhrt und damit die weitere Verfolgung der teleologischen Hypothese zu einer theologischen Aufgabe macht. F\u00fcr den Pantheismus ist zwar die Zweckth\u00e4tigkeit des Absoluten (der natura naturans) in gewissem Sinne eine innerweltliche, insofern sie in jedem Momente und an jedem Punkte wirksam ist, aber sie geh\u00f6rt doch nicht der Erscheinungswelt an, sondern liegt ihr als metaphysische Bedingung zu Grunde, kommt also nicht in Frage, so lange wir nur den Zusammenhang der in der Erfahrung gegebenen Objecte und Vorg\u00e4nge betrachten. Umgekehrt wird daher auch gegen eine metaphysische Teleologie, d. h. gegen die Annahme einer im Absoluten bestehenden Zweckbestimmung, vom Gesichtspunkte der empirischen Naturbetrachtung nichts einzuwenden sein, falls irgend welche anderweite Gr\u00fcnde sie nothwendig machen sollten. In der That gibt es nun, wie ich glaube, ein Factum, welches nur verst\u00e4ndlich wird, wenn wir die in der physischen Sph\u00e4re ausnahmslos und ausschlie\u00dflich geltende causale Determination als Ausdruck oder Erscheinungsform einer metaphysischen Zweckth\u00e4tigkeit betrachten, das ist die bewusste individuelle Willensth\u00e4tigkeit.\n6. Bisher haben wir im Anschluss an die vulg\u00e4re Auffassung der Dinge angenommen, dass beim Wollen die \u00e4u\u00dfere Handlung durch die vorhergehende Zweckvorstellung bestimmt werde, wenn es auch nicht m\u00f6glich war, diesen Vorgang auf irgend einen klaren Begriff zu bringen. Sind jedoch die gegen die Hypothese einer objectiven Zweckbestimmung in der Natur vorgebrachten Gr\u00fcnde \u00fcberhaupt richtig, so treffen sie ganz unvermeidlich auch diese Annahme mit, und die Meinung, dass wir nach Zwecken handeln, m\u00fcsste im Gegensatz zum nat\u00fcrlichen Bewusstsein f\u00fcr eine blo\u00dfe Illusion erkl\u00e4rt werden.1) Wenn die Vorstellungen oder irgend welche anderen\n1) Mit Recht hat Reinke die enge Verbindung des biologischen Problems der","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n453\n\u00bbinneren\u00ab (psychischen) Zust\u00e4nde des Individuums, die als solche nicht zum Inhalte der \u00e4u\u00dferen Erfahrung, nicht zur Natur im engeren (eigentlichen) Wortsinne geh\u00f6ren, dennoch einen bestimmenden Einfluss auf die k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge und weiter auch auf die Umgebung ausijben w\u00fcrden, so w\u00e4ren die durch sie veranlassten physischen Ver\u00e4nderungen Wunder im gleichen Sinne, in welchem die Eingriffe eines transcendenten Willens in das Naturgeschehen es sind. Mit jeder einzelnen Willenshandlung w\u00fcrde der stetige Zusammenhang der physischen Vorg\u00e4nge untereinander unterbrochen und in sch\u00f6pferischer Weise der Anfang einer neuen Oausalreihe gesetzt. Die cons\u00e9quente Anwendung der allgemeinsten Grunds\u00e4tze physischer Causalerkl\u00e4rung zwingt uns also zu dem Schl\u00fcsse, dass die Willenshandlungen ebenso wie alle anderen Lebensvorg\u00e4nge am Organismus naturgesetzliche Folgen eines rein physischen Ursachen-complexes sind, dessen Componenten wir allerdings in diesem Falle der \u00fcberwiegenden Zahl nach im Organismus selbst zu suchen haben. Die psychische Seite des Willensvorganges w\u00fcrden wir demnach als eine selbst\u00e4ndige Begleiterscheinung des physiologischen Processes zu betrachten haben, die f\u00fcr den Verlauf desselben ganz bedeutungslos ist, freilich auch ihrerseits von ihm nicht beeinflusst wird.\nMan hat dieser \u00bbAutomatentheorie\u00ab nicht mit Unrecht den Vorwurf gemacht, dass sie den Gedanken der Wirksamkeit des Geistigen in der Welt zu einer wahrheitslosen Illusion herabsetze und dadurch die M\u00f6glichkeit eines Verst\u00e4ndnisses des menschlichen Culturlebens auf hebe. Derartige indirecte Erw\u00e4gungen k\u00f6nnen aber doch die directen Gr\u00fcnde, auf die jene Theorie sich st\u00fctzt, nicht ersch\u00fcttern; man kann aus ihnen nur folgern, dass die Annahme eines blo\u00dfen Parallelismus der physischen und psychischen Vorg\u00e4nge keine endg\u00fcltige L\u00f6sung--:des Willensproblems darstellt, nicht aber, dass sie falsch und durch die Annahme einer psychophysischen Causalit\u00e4t zu ersetzen ist. In der That spricht sich in ihr zun\u00e4chst nur die\nder organischen Zweckm\u00e4\u00dfigkeit und des psychophysischen Problems der intelligenten Willensth\u00e4tigkeit sehr energisch betont, nur dass er umgekehrt aus der Thats\u00e4chlichkeit der letzteren auf die Zul\u00e4ssigkeit der Hypothese einer organischen Zweckth\u00e4tigkeit schlie\u00dft. Dieser Schlu\u00df ruht aber m. E. auf der irrigen Voraussetzung, dass die Intelligenz zu den objectiv constatirbaren Funktionen des Organismus geh\u00f6rt (Einleitung u. s. w. S. 37).","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nE. K\u00f6nig.\nEinsicht aus, dass im Rahmen der bestehenden Naturordnung, die auch den K\u00f6rper des Menschen mit umfasst, Eingriffe einer zweckth\u00e4tigen Intelligenz undenkbar sind, wie aber die damit sich ergebende Antinomie zwischen Naturcausalit\u00e4t und zweckhewusster Willensth\u00e4tigkeit zu l\u00f6sen sei, bleibt noch unbestimmt.\t.\nLassen wir die spinozistische Ansicht, nach der Physisches und Psychisches die zwei Attribute oder Erscheinungsformen eines unbekannten Dritten bilden, hier hei Seite, da sie nur die Gleichberechtigung der physikalisch-physiologischen und der psychologischen Erkl\u00e4rungsweise proclamirt, aber die Vereinbarkeit beider thats\u00e4chlich nicht begreiflich macht, so bieten sich als entgegengesetzte L\u00f6sungsversuche der psychophysische Materialismus und der individualistische Voluntarismus dar. Der Materialismus sucht aus dem Widerstreit dadurch herauszukommen, dass er die Realit\u00e4t des Begriffes der Zweckbestimmung \u00fcberhaupt bestreitet und auch f\u00fcr die menschliche Willensth\u00e4tigkeit die physiologische Erkl\u00e4rung aus wirkenden Ursachen allein gelten l\u00e4sst. Er st\u00fctzt sich dabei auf die vergleichende Betrachtung der verschiedenen Stufen der Willensbeth\u00e4tigung, welche einen stetigen Uebergang von den einfachsten mechanisch ablaufenden Reflexen bis zu den auf Ueberlegung gegr\u00fcndeten Wahlhandlungen erkennen lassen, und folgert hieraus, dass auch die letzteren nichts weiter seien als zusammengesetzte Reflexvorg\u00e4nge, die sich von den einfachen nur durch die gr\u00f6\u00dfere Zahl der zwischen Reiz und Reaction eingeschalteten Zwischenglieder unterscheiden. Die psychischen Zust\u00e4nde des Vorstellens, Sichentschlie\u00dfens u. s. w., die f\u00fcr die Willens-th\u00e4tigkeiten im engeren Sinne charakteristisch sind, sind nach dieser Auffassung lediglich Symptome der verwickelten, centralen Reiz\u00fcbertragungen, Hemmungen und Ausl\u00f6sungen, welche der motorischen Innervation vorausgehen, haben aber keinen directen Einfluss auf den Verlauf des ganzen Vorgangs. Es bleibt auf diesem Standpunkte nur r\u00e4thselhaft, warum die complicirten Reflexe nicht ebenso unbewusst verlaufen wie die einfachen, und wodurch der tr\u00fcgerische Schein veranlasst wird, dass der vorgestellte Zweck die Handlung bestimme. In Wahrheit k\u00f6nnte man aus den Thatsachen mit gleichem Rechte den umgekehrten Schluss ziehen, dass schon die einfachsten Reactionen der Lebewesen auf Zwecke gerichtete und durch Zwecke bestimmte Willenshandlungen darstellen; denn \u00fcberall, wo eine gene-","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n455\ntische Reihe verschiedener Entwicklungsstufen besteht, m\u00fcssen alle wesentlichen Merkmale, die auf den h\u00f6heren Stufen zu Tage treten, auch schon hei den niederen im Keime nachzuweisen sein1). Damit haben wir aber den Grundgedanken des individualistischen Voluntarismus, dem zufolge die individuelle Willensth\u00e4tigkeit das zuerst Vorhandene war, aus dem sich die reflexartigen und automatischen Reactionen des Organismus erst nachtr\u00e4glich entwickelt haben. Nat\u00fcrlich d\u00fcrfen wir uns die primitiven Formen der Willensth\u00e4tigkeit nicht nach Analogie der bewussten Wahlhandlungen denken, sondern haben sie als Vorg\u00e4nge aufzufassen, die in gewissem Sinne die Eigenschaften der Reflex- und der h\u00f6heren Willensth\u00e4tigkeiten in sich vereinigen, die durch eine im entgegengesetzten Sinne fortschreitende Entwicklung aus ihnen hervorgegangen sind; jene in der Weise, dass durch Uebung sich Einrichtungen herausbildeten, welche weiterhin den Vollzug der betreffenden Th\u00e4tigkeiten bei Vorhandensein der entsprechenden Reize auch ohne Mitwirkung des Bewusstseins sicherten, diese in der Art, dass durch das Zusammentreffen und die Durchkreuzung verschiedener Motive die Verbindung zwischen diesen und den entsprechenden Handlungen immer lockerer und zugleich mit der fortschreitenden Ausbildung automatisch wirkender centraler Coordinationen immer mittelbarer wurde, w\u00e4hrend bei den primitiven Willenshandlungen, wie wir annehmen m\u00fcssen, das Motiv die Handlung eindeutig bestimmte und unmittelbar nach sich zog.\nDiese Hypothese bedarf indess nach mehreren Richtungen hin einer Erg\u00e4nzung und Vertiefung, wenn sie die Schwierigkeiten beseitigen soll, auf die es hier gerade ankommt. Der Widerstreit der von der voluntaristischen Hypothese angenommenen psychischen (teleologischen) und der vom naturwissenschaftlichen Standpunkte zu fordernden physischen (causalen) Determination bleibt auch bei den primitiven Willensth\u00e4tigkeiten bestehen, ja er tritt hier eigentlich erst recht in seiner vollen Sch\u00e4rfe hervor. F\u00fcr die h\u00f6heren Organismen erkl\u00e4rt sich ja die Thatsache, dass ein Theil der motorischen Reactionen ungeachtet seiner physiologischen Bestimmtheit doch zugleich als Ausfluss einer nach Zwecken handelnden Intelligenz aufgefasst werden kann, nach der voluntaristischen Hypothese daraus, dass der\n1) Ygl. Wundt, System, S. 540.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nE. K\u00f6nig.\nMechanismus, durch den jene Reactionen zu st\u00e4nde kommen, selbst Erzeugniss fr\u00fcherer Willenshandlungen ist, und dass sonach seine Leistungen gerade so wie die einer Maschine den Stempel des auf Zwecke gerichteten Wollens an sich tragen. Auf die Willenshandlungen des Urorganismus kann aber diese Erkl\u00e4rungsweise nicht angewandt werden. Wenn alle Willensth\u00e4tigkeit eine individuelle ist, bleibt es ferner unbegreiflich, wie sich mehrere elementare Individuen (z. B. Zellen) mit ihrem selbst\u00e4ndigen Individualwollen zu einem sie umfassenden Ganzen (dem zusammengesetzten Organismus) vereinigen k\u00f6nnen, das als solches Subject eines einheitlichen Gesammtwillens ist, da doch unm\u00f6glich die organisirende Wirksamkeit des individuellen Willens Uber die Sph\u00e4re der eigenen Leiblichkeit hinausgreifen und andere Willenssuhjecte sich eingliedern kann. Als ein weiteres derartiges Factum l\u00e4sst sich endlich auch noch die \u00bb Heterogonie der Zwecke\u00ab anf\u00fchren, eine Erscheinung, deren generelle Bedeutung f\u00fcr alle Entwicklungsprocesse Wundt eindringlich auseinandergesetzt hat, und die im wesentlichen darin besteht, dass der objectiv erreichte Zweck regelm\u00e4\u00dfig das ihm vorausgehende Zweckmotiv in der Art \u00fcberschreitet, dass die Neben- und die Folgeeffecte ihrerseits wieder mit R\u00fccksicht auf den zwecksetzenden Willen als zweckm\u00e4\u00dfige anerkannt werden m\u00fcssen. (System, S. 328.)\nAlle diese Schwierigkeiten verschwinden nun, wenn man den individuellen Voluntarismus zum universellen erweitert, d. h. wenn man das Wirken physischer Ursachen \u00fcberhaupt als Erscheinungsform einer einheitlichen Willensth\u00e4tigkeit betrachtet1). Die Bestimmung nach Zweckvorstellungen tritt dann nicht erst in der Lebewelt als etwas Neues zur Oausalit\u00e4t hinzu, sondern sie ist schon von vornherein und \u00fcberall unaufl\u00f6slich mit ihr verbunden. Das Individualwollen ist nur Glied oder Modus des Gesammtwillens, und die individuellen Zwecke sind nur Bestandtheile eines universellen, alles Geschehen durchziehenden Zusammenhangs. Ist der erste Umstand geeignet, den Conflict zwischen Oausalit\u00e4t und Finalit\u00e4t principiell zu l\u00f6sen, so macht der zweite den bei der individuellen Willensentwicklung zu beobachtenden Uebergang anscheinend rein mechanischer\n1) Ygl. hierzu v. Hartmann, Kategorienlehre, S. 448ff., 470ff. Derselbe, Wahrheit und Irrthum i. Darwinismus, S. 470 ff,","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber Naturzwecke.\n457\nBeactionsweisen in zweckbewusste Willensth\u00e4tigkeiten und den umgekehrten Vorgang der Mechanisirung urspr\u00fcnglich mit Bewusstsein vollzogener Willenshandlungen begreiflich, insofern es sich in beiden F\u00e4llen jetzt nicht mehr um die Verwandlung eines nur causalen Geschehens in ein finales und umgekehrt, sondern nur um den Eintritt bezw. Austritt eines Zweckzusammenhanges in das individuelle Bewusstsein handelt. Die Heterogonie der Zwecke endlich und die Entstehung h\u00f6herer Willenseinheiten erkl\u00e4rt sich aus der Einheitlichkeit des Gesammtwillens, von dem alle Individualwillen abh\u00e4ngig sind.\nOb die universelle Willensth\u00e4tigkeit als eine bewusste oder als unbewusste zu denken sei, bleibe dahingestellt; jedenfalls unterscheidet sie sich von der empirisch allein gegebenen individuellen auch sonst durch sehr wesentliche Merkmale. W\u00e4hrend die letztere, um nur einen Unterschied hervorzuheben, den Oausalnexus voraussetzt, muss jene umgekehrt als metaphysisches Prius der Causalit\u00e4t gedacht werden. Denn da Finalit\u00e4t und Causalit\u00e4t nicht neben einander bestehen k\u00f6nnen, wie in den fr\u00fcheren Abschnitten unserer Arbeit zu zeigen versucht wurde, und da die Finalit\u00e4t sich unm\u00f6glich auf Causalit\u00e4t zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst, wie wir in diesem letzten Abschnitt sahen, so bleibt nur \u00fcbrig, diese auf jene zur\u00fcckzuf\u00fchren, d. h. den Verlauf des Geschehens als eine Beihenfolge von Zweckacten zu betrachten, die sich empirisch (in der objectiv-realen Erscheinungswelt) als gesetzm\u00e4\u00dfige Aufeinanderfolge einzelner Ursachen und Wirkungen darstellt. Diese Zweckacte aber k\u00f6nnen nur als unmittelbare, d. h. so gedacht werden, dass in jedem Moment die ma\u00dfgebende Zweckvorstellung mit dem realisirten Zweck in Eins zusammenf\u00e4llt.\nWenn sonach die Thatsache des zweckbewussten individuellen Wollens uns dazu n\u00f6thigt, \u00bbdas kosmische Geschehen selbst als eine Entwicklung im wahren Sinne des Wortes\u00ab, d. h. als \u00bbeinen Verlauf unter einander verbundener Ereignisse, durch die objective Zwecke in gesetzm\u00e4\u00dfiger Beihenfolge zur Erf\u00fcllung gelangen\u00abJ), zu betrachten, so ist doch damit, wie kaum nochmals hervorgehoben zu werden braucht, der Gebrauch des Zweckbegriffes au\u00dfer f\u00fcr die Psychologie und die darauf sich gr\u00fcndenden Geisteswissenschaften nur f\u00fcr die Metaphysik,\n1) Wundt, System, S. 501.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nE. K\u00f6nig.\naber nicht f\u00fcr die empirische Naturwissenschaft legitimirt. In der Psychologie und in den Geisteswissenschaften wird die Welt vom Gesichtspunkte des zwecksetzenden Bewusstseins aus betrachtet, f\u00fcr das die Realit\u00e4t der Zweckbestimmung keines Beweises bedarf. Die Naturwissenschaft hat es mit der objectiv-realen Erscheinungswelt zu thun, welche die Anwendung des Zweckbegriffes nirgends herausfordert, ja sie \u00fcberhaupt nicht einmal zul\u00e4sst; die Metaphysik ist gen\u00f6thigt, eine transcendente Bestimmung nach Zwecken als Grundlage des empirisch gegebenen Geschehens vorauszusetzen, wenn die gleichzeitige G\u00fcltigkeit der causalen und der teleologischen Deutung der bewussten individuellen Willenshandlungen begreiflich sein soll.","page":458}],"identifier":"lit4576","issued":"1902","language":"de","pages":"418-458","startpages":"418","title":"Ueber Naturzwecke","type":"Journal Article","volume":"19"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:22:24.208637+00:00"}