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{"created":"2022-01-31T14:44:25.313352+00:00","id":"lit4943","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Brix, Walter","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 6: 104-166","fulltext":[{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\nEine logische Untersuchung.\nVon\nWalter Brix.\n(Fortsetzung.)\nDrittes Kapitel.\nDie erkenntnisstheoretischen Formen des Zahlbegriffs.\n1. Die Zahlbegriffe des mathematischen Realismus, die Zahlbezeichnung als solche bedingt eine gewisse\nlogische Arbeit, da mit der Nennung einer Menge in der Regel auch zugleich eine Einordnung derselben in die bereits bekannten Objecte des Denkens verbunden zu sein pflegt. So geben die Eins, Zwei, Drei u. s. w.. die ihr psychologischer Charakter zu Cardinal-zahlen stempelte, sofort Anlass zu einer Ordnung im Bewusstsein, welche nach ihrer Gr\u00f6\u00dfe, d. h. nach der Menge der zu ihrer Bildung erforderlichen Denkacte vorgenommen zu werden pflegt. Auf diese Weise erzeugt die erste logische Behandlung des Begriffes die Ordinalzahlen ; und das ist in der That die Form, welche zuerst die Eigenschaften der Zahlen n\u00e4her kennen gelehrt hat.\nWo man nun aber immer die Anf\u00e4nge der Zahlenlehre verfolgen mag, \u00fcberall tritt dem Beobachter zun\u00e4chst, wie es ja auch nicht anders sein kann, ein naiver Realismus entgegen, der in der Zahl die subjectiven, psychologischen Momente vollst\u00e4ndig \u00fcbersah und sie schlechtweg auf irgend welche concreten Einheiten der Au\u00dfenwelt bezog. In der h\u00f6chsten Entwicklung dieser Periode, in","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t105\nder griechischen Mathematik tritt dann an die Stelle der \u00e4u\u00dferen Beziehungssubstrate der allgemeinere, stellvertretende Begriff der Gr\u00f6\u00dfe. Allerdings scheinen die Definitionen Euklid\u2019s von Einheit und Zahl*) schon einen mehr formalen Charakter an sich zu tragen. Erw\u00e4gt man indessen, dass in seiner ganzen (im siebenten Buch der Elemente enthaltenen) Arithmetik die Zahl niemals selbst\u00e4ndig auftritt, sondern \u00fcberall geometrisch, in der Hegel als Strecke inter-pretirt wird, bedenkt man ferner, dass diese Anlehnung an geometrische Vorstellungen sogar zu zwei verschiedenen Arten der Multiplication f\u00fchrt, deren erste als die Vervielfachung einer Strecke erscheint1 2), w\u00e4hrend die zweite, das Product von zwei und drei Strecken, als Rechteck, resp. senkrechtes gerades Parallelepiped gedeutet wird3), und ber\u00fccksichtigt man endlich den Umstand, dass alle Beweise des Buches sich niemals der formalen Rechnungsvorschriften ernstlich bedienen, sondern immer mit Strecken operiren, so muss man nothwendig zu dem Schl\u00fcsse gelangen, dass die Zahl hei Euklid \u2014 und seinen Standpunkt darf man ja auch f\u00fcr den des Alterthums ansehen \u2014 noch nicht formal, sondern nur in Begleitung des Gr\u00f6\u00dfenhegriffs vorkommt. Freilich deckt sie sich nicht unmittelbar mit diesem, aber sie ist doch durchaus von ihm abh\u00e4ngig, mit anderen Worten: sie ist nichts weiter, als das Ma\u00df der Gr\u00f6\u00dfe. Euklid\u2019s Einheit bedeutet daher in Wahrheit doch immer nur eine Gr\u00f6\u00dfeneinheit, welche der Rechnung zu Grunde gelegt wird und in einer anderen Gr\u00f6\u00dfe, wenn diese eine Zahl darstellen soll, vollst\u00e4ndig aufgehen muss. In der Th\u00e0t sind denn auch alle Rechenoperationen, wie sie Euklid im siebenten Buch der Elemente entwickelt, lediglich basirt auf die Idee der Messung von Gr\u00f6\u00dfen aneinander und auf die dabei auftretenden Zahl-, d. h. Ma\u00dfbeziehungen, wie ja \u00fcberhaupt dieses Buch im wesentlichen eine\n1)\tMovoU \u00eaoxiv, v.a!f i)v Zxaaxov t\u00f6W \u00f4vtibv Sv Mfeiai. Elementa VII a und Api&fi\u00e0\u00ee \u00f4\u00e8 t\u00f4 h. [Aov\u00e2hajv sofxetfiEVov -Xrjfto?, ebenda \u00df'.\n2)\t\u2019Aptfipios dpiftpiov TtoXXociXasidCeiv P.\u00e9yerai, \u00f4xav, 8sat eiolv \u00e9v a\u00f9x\u00f4j piovocSej, ToaccoTtms utmeDij) 8 noXXairXaoia\u00ef<5p.evo\u00ee '/.ai f\u00e9-/rjTai xt; ebenda it\u2019.\n3)\t\"Oxav \u00f4\u00e8 ouo \u00e0piDjxot xroXXaixXaaiofsavxst \u00e0XXrjXou; Tioimaf xiva, 6 yevittevo\u00e7 \u00eaxtiTOSo\u00ee xaXe\u00eexai, zXeopal 8\u00e8 a\u00f9xo\u00fb of itoXXauXaot\u00e4aavxej \u00e0XXr|Xou\u00e7 \u0153pi9p.ot und : \u201cOxav \u00f4\u00e8 xpe\u00ee{ \u00e0pi&aot iroXXomXaot\u00e0tsavxe\u00ee \u00e0XXfjXou\u00e7 roir\u00e2ai xiva, \u00e9 Y\u00a3v\u00f4fi\u00a3vo\u00ee tsrepe\u00e9t \u00e9oxiv, irXeupal \u00f4\u00e8 o\u00f9xo\u00fb of TtoXXomXaaicfaavxe\u00ee \u00e0XX-f]Xou\u00ee \u00e2piDuo\u00ee. Diese beiden Definitionen stehen ebenfalls im siebenten Buch als i\u00a3 und irj\u2019.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nWalter Brix.\nWiederholung der allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenlehre des f\u00fcnften Buches im arithmetischen Gew\u00e4nde darstellt.\nWie aber im Laufe der Untersuchung schon mehrfach angedeutet wurde, blieb dieser absolute Realismus f\u00fcr die Arithmetik v\u00f6llig unfruchtbar. Die Zahl, als das Ma\u00df der Gr\u00f6\u00dfe betrachtet, war eben einer selbst\u00e4ndigen Entwicklung nicht f\u00e4hig. Die Ausbildung der Mathematik betraf vielmehr ganz die allein ma\u00dfgebende Gr\u00f6\u00dfenlehre, die auch bereits zum Begriff des Irrationalen, des Unmessbaren vorgeschritten war, w\u00e4hrend die Arithmetik als der quantitative Ausdruck der allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen, soweit diese der Messung \u00fcberhaupt zug\u00e4nglich waren, eigentlich nur als eine bestimmte methodische Behandlung eines ganz speciellen Gebietes der Gr\u00f6\u00dfenlehre erschien.\nDieselbe Auffassung hat sich auch beinahe durch die ganze griechische Mathematik unver\u00e4ndert erhalten. Denn sieht man ab von den nominalistischen Lehren der Sophistik; die \u00fcbrigens in Bezug auf die Mathematik niemals in dem plastischen Geist der Hellenen Boden zu gewinnen vermochten, und nimmt man den Skepticismus aus, dessen thats\u00e4chlicher Einfluss auf die mathematischen Anschauungen ebenfalls ein sehr geringer war, so konnten selbst weitergehende erkenntnisstheoretische Richtungen diesen unmittelbaren Realismus, der in der Ueb er einstimmun g mit der Au\u00dfenwelt oder mit einem von ihr construirten Ideal seine Wirklichkeit suchte, nur unwesentlich modificiren. Und wenn Plato, selbst einer der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit, die mathematischen Anschauungen in die Ideenwelt verlegte und auf diese Weise einen transcendenten Realismus in\u2019s Leben rief, so mochte das wohl einen Ansto\u00df zur Weiterforschung bieten und durch das Hinein tragen gewisser \u00e4sthetischer Principien bestimmte Disciplinen, wie die Lehre von den regelm\u00e4\u00dfigen K\u00f6rpern, erheblich f\u00f6rdern, f\u00fcr die mathematischen Gr\u00fcndanschauungen aber war die Verlegung in\u2019s Transcendente eigentlich \u00fcberfl\u00fcssig. Denn die apriorischen Gr\u00f6ssenbeziehungen fanden sich ja doch alle in der Welt der Erscheinungen wieder; es war eben nur ein doppelter Realismus erzeugt, dessen entbehrliche Trennung denn auch im wesentlichen in der Aristotelischen Immanenztheorie wieder beseitigt wurde. Mag ferner auch die Zahlsymbolik der Pythagoreer einer mehr nominalistischen\nfl","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t107\nAuffassung des Gegenstandes das Wort reden, mag auch der Umstand, dass sie der gew\u00f6hnlichen Eechenkunst oder Logistik eine wissenschaftlich ausgebildete Zahlenlehre oder Arithmetik gegen\u00fcberstellten, auf eine klare Erkenntniss des formalen Charakters der Zahl hin weisen, in Wahrheit l\u00e4sst sich auch diese Ansicht nicht halten. Denn wenn man bedenkt, wie das Bestreben dieser Schule allein auf die Entdeckung von Ma\u00dfbeziehungen gerichtet war, wie sie die Arithmetik nicht um ihrer selbst willen pflegte, sondern allein wegen der m\u00f6glichen mystischen Beziehungen, die man aus den abstracten Formeln f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Au\u00dfenwelt gewinnen k\u00f6nnte, so muss man nothwendig zu dem Schl\u00fcsse gelangen, dass auch ihre Grundansicht sich noch nicht allzuweit von dem oben charakterisirten, wesentlich concreten Standpunkt entfernte, nur dass sie, durch mystische Elemente verunreinigt, die Zahl nicht allein als Ma\u00df der Gr\u00f6\u00dfe, sondern \u00fcberhaupt als Grundlage aller Erscheinungen nachweisen zu k\u00f6nnen meinte. Der Pythagoreismus ist daher im g\u00fcnstigsten Falle als eine begriffliche Vertiefung des empirischen Realismus zu bezeichnen, der, wenn auch nicht der Philosophie der Griechen, so doch ihrer gesammten Mathematik eigen war. Je ernster er aufgefasst, je strenger er durchgef\u00fchrt wurde, um so enger blieb das Gebiet, das er der Zahl und ihren Operationen zuweisen konnte, so dass diese allein bestimmt waren, die Beziehungen der Objecte begrifflich zu spiegeln. Daher blieb der Zahlbegriff auf den der ganzen Zahl, die Arithmetik auf die Anf\u00e4nge der Zahlentheorie, die Formenlehre auf die einfachsten F\u00e4lle der anschaulichen vier Species beschr\u00e4nkt.\nSo war die Zahl hei den Griechen als Ma\u00df der Gr\u00f6\u00dfe zwar nicht direct mit der letzteren identifient', aber doch begrifflich fest mit ihr verbunden, obschon andererseits nicht eng genug, um zu der Bildung von gebrochenen Zahlen Anlass zu geben. Diese, von den Griechen m\u00fchsam durch Proportionen umschrieben, konnten erst durch eine weitergehende Verschmelzung der Zahl mit der Gr\u00f6\u00dfe eingef\u00fchrt werden, wie sie, nach den sp\u00e4rlichen Ueberliefe-rungen zu urtheilen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade die \u00e4gyptische Mathematik vorgenommen zu haben scheint. Der letztere Schritt ist um so bemerkenswerther, als dies das einzige Mal ist, wo der Realismus zu einer Erweiterung des Zahlbegriffs Veranlassung","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nWalter Brix.\ngegeben hat, wenn auch, wie es nicht anders sein konnte, auf Kosten der logischen Strenge. Denn jene Vermengung, wie sie in der \u00e4gyptischen Mathematik vorgenommen zu sein scheint, ist sehl-undurchsichtig, und Zahl und Gr\u00f6\u00dfe sind hier beide so mit einander vermischt, dass man f\u00fcr sie \u00fcberhaupt kein festes Kriterium mehr entdecken kann. Daher m\u00fcssen wir auch der \u00e4gyptischen Arithmetik, soweit sie \u00fcberhaupt der Forschung zug\u00e4nglich ist, in der Hauptsache noch jenen unmittelbaren empirischen Realismus zusprechen, welcher die griechische charakterisirte.\nWir haben aber gesehen, wie diese Auffassung, deren Hauptmangel ihre Unselbst\u00e4ndigkeit ist, in sich selbst die Nothwendig-keit ihrer Beschr\u00e4nkung trug. Eine Ausdehnung des Zahlbegriffs war daher von ihr nicht mehr zu erwarten, sondern konnte erst durch eine Losl\u00f6sung desselben von der Gr\u00f6\u00dfe geleistet werden, welche geeignet war, einmal seine formale Natur zum klaren Ausdruck zu bringen, dann aber auch die Rechenoperationen in einer Weise zu vervollkommnen, wie es die blo\u00dfe Abstraction aus den Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen niemals h\u00e4tte erreichen k\u00f6nnen. Diesen gewaltigen Fortschritt finden wir aber bei den Indern verwirklicht, welche die formale Ausbildung der Arithmetik dementsprechend in der That zu einer solchen Vollendung trieben, dass sie bei ihren mechanisch ausgef\u00fchrten Rechnungen an Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen \u00fcberhaupt nicht mehr dachten.\nWar aber auf diese Art die Trennung der Methodik von der Anschauung durchaus gelungen, so machte die abstracte Nominalauffassung der Zahlbegriffe selbst doch bedeutend mehr Schwierigkeiten. Denn das Zahlgebiet der Inder umfasste ja, wie wir gesehen haben, au\u00dfer den gew\u00f6hnlichen absoluten Zahlen noch die negativen, gebrochenen, irrationalen und als eine singul\u00e4re Form die Null; und zwar waren alle diese neuen Begriffe gewonnen durch eine Verallgemeinerung der sogenannten lytischen Operationen, Subtraction, Division und Radicirung \u00fcber Grenzen hinaus, wo sie gar nicht mehr durch anschauliche Beziehungen versinnlicht werden konnten. Hierin lag nun aber offenbar eine Willk\u00fcr, die sich wohl durch die M\u00f6glichkeit ihrer Durchf\u00fchrung rechtfertigen, in keiner Weise aber fortleugnen lie\u00df. Die neuen Zahlen waren \u2014 das konnte unm\u00f6glich bestritten werden \u2014 eine rein nominalistische Sch\u00f6pfung,\ni","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n109\neine gegen\u00fcber dem prim\u00e4ren realen Zahlbegriff v\u00f6llig incommensurable Neuschaffung, sobald man ihre erkenntnisstheoretische Bedeutung in\u2019s Auge fasste. In der formalen Algebra hatten sie sich gl\u00e4nzend bew\u00e4hrt; deshalb mochte man sie auch dort nicht missen. Wie aber konnten sie der Ordnung der bisherigen, ganz andersartigen Begriffe eingereiht werden? Von der L\u00f6sung dieser Frage hing ja ihre ganze logische Lebensf\u00e4higkeit ab. Jene waren alle durch einen l\u00e4ngeren oder k\u00fcrzeren Abstractionsprocess aus der Erfahrung gewonnen und zum gr\u00f6\u00dften Theil Gattungsbegriffe, diese aber das Resultat einer Nominaldefinition auf Grund eines Analogieverfahrens, dem ein anschauliches Substrat nicht mehr entsprach. Man hatte es hier also in der That mit einer ganz neuen Art von Begriffen zu thun, deren rein willk\u00fcrliche Festsetzung ihre erkenntnisstheoretische Bedeutung sehr hypothetisch, die aus ihnen gezogenen Resultate aber illusorisch zu machen drohte. Andererseits jedoch wollte man sie auch wieder in der Algebra nicht entbehren. Es w\u00e4re also scheinbar kein anderer Ausweg geblieben, als der Entschluss, sie mit dem vollen Bewusstsein ihres rein nominalistischen Charakters bestehen zu lassen, wenn nicht die im Grunde doch v\u00f6llig reale Anschauung der Inder vor einer derartigen Schema-tisirung zur\u00fcckgeschreckt w\u00e4re.\nIn dieser Schwierigkeit, die allerdings den Indern kaum v\u00f6llig zum Bewusstsein gekommen sein d\u00fcrfte, erfand man nun ein Auskunftsmittel, das als solches freilich nicht erkannt wurde, der con-sequenten Kritik aber doch in keinem andern Lichte erscheinen kann. Man legte n\u00e4mlich den nominalistisch gewonnenen Begriffen nachtr\u00e4glich anschauliche Bedeutungen unter, man stempelte sie gewaltsam zu Realbegriffen. Die Null konnte ja in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten machen, und ebenso wenig die Br\u00fcche. Wiewohl rein formal erzeugt, durch Anwendung der Division auf F\u00e4lle, wo sie nicht mehr definirt war, und in ihren Eigenschaften rein schematisch bestimmt, wurden die letzteren doch ungeachtet ihrer nominalistischen Entstehungsweise stets als reale Gr\u00f6\u00dfen behandelt, streng genommen ohne jede Berechtigung. Denn es musste doch vor allen Dingen der Nachweis gef\u00fchrt werden, dass diese Schemata auch wirklich mit den durch die Theilbarkeit der Materie gegebenen realen Bruch Verh\u00e4ltnissen zu identificiren waren. Der","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nWalter Brix.\nanaloge Nachweis, der in diesem Falle \u00fcbrigens noch leicht beizubringen ist \u2014 denn man braucht ja nur zu zeigen, dass die formalen Gesetze der messenden Gr\u00f6\u00dfenverkn\u00fcpfung mit denen der Bruchrechnung \u00fcbereinstimmen \u2014 fehlt vollends bei den Irrationalit\u00e4ten. Diese waren ebenfalls rein formal durch unanschauliche Ba-dicirungen gewonnen, erlangten aber trotzdem ziemlich schnell das B\u00fcrgerrecht. Denn die Inder kannten dieselben nur in der Form von Quadrat- und h\u00f6chstens Cubikwurzeln. und diese waren ja immer leicht geometrisch als Seiten von Quadraten oder Cuben zu interpretiren.\nSo blieb den Indem der Gegensatz zwischen nominalistischer Entstehungsweise und unbewusst postulirter realer Bedeutung bei den Br\u00fcchen und Irrationalzahlen v\u00f6llig verborgen. Ein gl\u00fccklicher logischer Leichtsinn brachte es mit sich, dass eine weitausgebildete Bechnungsart, angewandt auf Gebiete, f\u00fcr welche sie eigentlich gar nicht definirt war, Besultate zeitigen konnte, die in ihrer Fruchtbarkeit und Allgemeinheit weit \u00fcber den Kreis der construirenden griechischen Mathematik hinausgingen. Um so unsicherer blieb dagegen der Begriff der negativen Zahlen. Denn diese treten von Anfang an als etwas ganz heterogenes auf. Zwar gelang es schlie\u00dflich in speciellen F\u00e4llen, negative Zahlenverh\u00e4ltnisse auch in der Welt der Anschauung nachzuweisen, wie z. B. in dem Gegensatz von Verm\u00f6gen und Schulden oder in der zweifachen Bichtung einer Geraden \u2014 denn auch diese Interpretation war den Indern schon bekannt \u2014 aber solche Beziehungen ergaben sich nicht aus der Natur der Sache und mussten erst m\u00fchsam gesucht werden. Deshalb werden in der Begel die negativen L\u00f6sungen einfach verworfen, h\u00e4ufig genug mit einer so mangelhaften Motivirung, wie der Bh\u00e4s-kara\u2019s: \u00bbgew\u00f6hnlich l\u00e4sst man keine negativen L\u00f6sungen zu\u00ab1).\nDieses Schwanken zwischen Dulden und Wegwerfen der negativen Zahlen, die au\u00dferordentliche Unsicherheit in der begrifflichen Handhabung derselben im Gegensatz zu der hohen Ausbildung der algebraischen Bechnung, das unverkennbare Misstrauen gegen alles Negative, das sich deutlich der indischen und der ganzen, von ihr abh\u00e4ngigen arabischen und christlich-mittelalterlichen Arithmetik\n1) Vgl. Hankel, Geschichte der Mathematik S. 194.","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t111\naufgepr\u00e4gt hat, w\u00e4re aber an sich unerkl\u00e4rlich, h\u00e4tte sich eben nicht in den klaren Formalbegriff der Zahl wieder der Begriff der Gr\u00f6\u00dfe eingedr\u00e4ngt und auf die Beseitigung solcher Zahlformen gedrungen, die nicht mit ihm \u00fcber einstimm ten. Da sich nun in sehr vielen F\u00e4llen eine Gr\u00f6\u00dfendeutung f\u00fcr negative L\u00f6sungen nicht finden lie\u00df, so wurden diese einfach verworfen und zwar h\u00e4ufig genug auch zugleich als Wurzeln der betreffenden Gleichung. Eine klare Sonderung der Begriffe h\u00e4tte sie aber, wie es in anderen F\u00e4llen vorkam, als Wurzeln der algebraischen Gleichung bestehen lassen und nur hervorheben m\u00fcssen, dass f\u00fcr das gerade vorliegende concrete Problem, dessen L\u00f6sung auf die betreffende Gleichung hinauskam, eine Deutung nicht zu gewinnen war. Denn die Gleichung als solche f\u00e4llt in die allein den formalen Rechenoperationen unterworfene Algebra, in welcher negative Zahlen ebenso wohl defi-nirt sind wie positive. Jede nicht rein algebraische Aufgabe dagegen operirt in der Regel mit Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen, welche nur \u00e4u\u00dferlich auf Zahlbeziehungen reducirt werden k\u00f6nnen, darf also auch nur solche L\u00f6sungen in Betracht ziehen, die einer Deutung in den fraglichen Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen f\u00e4hig sind.\nSieht man aber von der sehr heiklen Auffassung des Negativen ab, so muss man bekennen, dass es der indischen Mathematik doch verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig leicht gelungen war, ihren urspr\u00fcnglich rein formalen Zahlen anschauliche und in diesem Sinn reale Deutungen zu geben. Dass indessen diese Beziehungen selbst keineswegs real, sondern lediglich formal und k\u00fcnstlich waren, \u2014 denn jene Begriffe waren ja nicht aus ihren Veranschaulichungen abstrahirt, sondern erst nachtr\u00e4glich diesen untergeschoben \u2014 das \u00fcbersah man vollst\u00e4ndig; und froh, \u00fcberhaupt eine reale Deutung gefunden zu haben, welche das erkenntnisstheoretische Gewissen nicht mehr bel\u00e4stigte, glaubte man jene tiefe begriffliche Kluft zwischen Nominaldefinition und anschaulicher Gr\u00f6\u00dfe durch einen neuen, real aussehenden, in Wirklichkeit aber doch nur formal bestimmten Begriff \u00fcberbr\u00fcckt zu haben. Der Begriff, welcher dazu ausersehen war, diesen logischen Betrug zu verdecken, und unter dessen Form sich der sonst so unth\u00e4tige Realismus den nominalistischen Zahlbegriff dienstbar machte, ist die Zahlgr\u00f6\u00dfe, deren Name schon die willk\u00fcrliche Vereinigung zweier heterogener Elemente bezeichnet.","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nWalter Brix.\nIndem man sich aber daran gew\u00f6hnte, jede Zahlform zugleich anschaulich als Gr\u00f6\u00dfe zu denken, verschwanden allm\u00e4hlich die befremdenden unvorstellbaren Momente derselben, und man gelangte schlie\u00dflich dazu, selbst von extrem realistischen Anschauungen ausgehend, keinen Widerspruch mehr in ihnen zu entdecken. Wo daher immer neue Zahlbegriffe gewonnen werden \u2014 und dies konnte, wie wir bereits zu bemerken Gelegenheit hatten, immer nur durch eine Nominaldefinition geschehen \u2014 beginnt auch sofort der Realismus durch unausgesetzte Veranschaulichungsversuche an ihrer Unterwerfung zu arbeiten. Die letztere gelang den Indern schon vollst\u00e4ndig bei den Br\u00fcchen und algebraischen Irrationalit\u00e4ten, das Negative hingegen, allein durch den Gegensatz von Verm\u00f6gen und Schulden oder die beiden Richtungen einer Geraden der anschaulichen Darstellung zug\u00e4nglich, erweckte immer noch unbeschwich-tigte Bedenken gegen seine Existenzf\u00e4higkeit.\nAuf demselben Standpunkt blieben auch die Araber und die von ihnen abh\u00e4ngigen christlichen Mathematiker; und erst nach der Zeit Descartes\u2019, der ja Algebra und Geometrie in eine einzige Gr\u00f6\u00dfenlehre zusammenfasste, hatte man sich an den fragw\u00fcrdigen Begriff so gew\u00f6hnt, dass man schlie\u00dflich in der Veranschaulichung auf der Geraden nur den nat\u00fcrlichen Ausdruck des Negativen sah.\nGanz denselben Weg mussten sp\u00e4ter die imagin\u00e4ren und com-plexen Zahlen zur\u00fccklegen. In die Algebra eingef\u00fchrt von Cardan, mehr durch eine nominalistische Spielerei, \u00fcber deren Werth er sich selbst nicht recht klar war, als auf Grund wissenschaftlicher Motive, erkenntnisstheoretisch fortw\u00e4hrend angefochten, in der Analysis jedoch mit Vortheil und gro\u00dfem Nutzen verwendet, f\u00fchrten sie, schon in der Benennung r\u00e4thselhaft, als \u00bbunm\u00f6gliche Gr\u00f6\u00dfen\u00ab ein eigenartiges Zwitterdasein, aus welchem sie erst durch die geometrische Veranschaulichung und durch die Autorit\u00e4t eines Gau\u00df befreit wurden.\nDie praktische Bedeutung dieser geometrischen Darstellung war also eine au\u00dferordentliche, da sie die definitive Aufnahme der bisher nur sehr misstrauisch geduldeten neuen Begriffe in den Kreis der arithmetischen Grundformen erst sicherstellte ; die logische aber ist eine weit geringere. Denn die Gleichstellung reeller und imagin\u00e4rer Zahlen auf diesem Wege war doch immer eine gewaltsame.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t113\nIn Wahrheit blieben beide genau so heterogen wie vorher. Denn es war ja niemand im Stande, den Begriff des Complexen aus seiner anschaulichen Bedeutung heraus zu abstrahiren, sondern dieser anschauliche Charakter war ihm erst sp\u00e4ter mit gro\u00dfer Kunst und vielem Scharfsinn aufgezwungen worden, weil ein im Grunde unberechtigtes Verlangen, dass die rein formale Mathematik \u00fcberall der Anschauung entsprechen solle, ihre Verdinglichung forderte. Die Ueberbr\u00fcckung des Gegensatzes von formaler und anschaulicher Mathematik, welcher zu jener Zeit als Widerspruch empfunden wurde, war also wie bei den Indern eine rein \u00e4u\u00dferliche, eine Concession, die man der Ausgleichung eines in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen Widerspruches machte, ohne doch dem wahren Charakter des Imagin\u00e4ren damit n\u00e4her zu kommen. Statt seine rein formale Natur zu enth\u00fcllen, hatte man sie durch einen t\u00e4uschenden Anstrich dem forschenden Auge verdeckt. Die Ansicht von Gau\u00df: \u00bbVon einer anderen Seite wird hierdurch die wahre Metaphysik der imagin\u00e4ren Gr\u00f6\u00dfen in ein neues helles Licht gestellt\u00ab b kann man so wenig gelten lassen, dass man viel eher von einer logischen Verdunkelung des Gegenstandes sprechen k\u00f6nnte.\nSo ist der Grundzug der mathematischen Auffassung der Arithmetik von den Indern bis etwa in die Mitte dieses Jahrhunderts \u2014 ja es kann nicht geleugnet werden, dass selbst heutzutage noch Viele auf demselben Standpunkt stehen \u2014 ein Realismus a posteriori. Was der Veranschaulichung f\u00e4hig, nicht was aus der Anschauung abstrahirt ist, gilt ihm als real, gleichviel ob die jeweilige geometrische Bedeutung naturgem\u00e4\u00df aus dem Begriff selbst zu ziehen, oder nur mit gewaltsamen Mitteln zu bewerkstelligen ist. Da aber dieser Realismus mit dem ausgesprochenen Princip der Veranschaulichung um jeden Preis im Grunde doch nur ein versteckter, nicht eingestandener Nominalismus war, so krankte er an einem tiefen inneren Widerspruch, der unm\u00f6glich auf die Dauer verborgen bleiben konnte und entweder zu einer durchgreifenden Erneuerung Anlass gehen, oder aber direct zum Nominalismus \u00fcberf\u00fchren musste. Bevor man nun aber zu diesem Letzten, Ae\u00fc\u00dfersten sich entschloss, versuchte man doch noch, und zwar immerhin nicht\n1) Werke II, S. 176.\nWundt, Philos. Studien. YI,\n8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nWaller Brix.\nganz ohne Gl\u00fcck, die realistische Betrachtungsweise durch eine gr\u00fcndlichere Auffassung zu retten. Die Bestrebungen in dieser Richtung sind im allgemeinen getragen von den mathematischen Ideen des Rationalismus.\nEine Vertiefung der erw\u00e4hnten Anschauungen konnte nun eigentlich h\u00f6chstens dadurch erreicht werden, dass man den Realismus dem bisher ma\u00dfgebenden empirischen Standpunkt entzog. In dieser Beziehung hatten schon die Pythagoreer Fortschritte gemacht, indem sie der allgemeinen Zahlenlehre eine selbst\u00e4ndige, freilich v\u00f6llig der Wirklichkeit immanente Bedeutung beima\u00dfen. In gleicher Richtung wirkten der transcendente Realismus Plato\u2019s und der immanente des Aristoteles, ohne indessen gerade an dem Zahlbegriff viel zu \u00e4ndern. Der Erste, welchem wirklich auch eine eingehender durchgef\u00fchrte Auffassung zugesprochen werden muss, war Descartes. Sein apriorischer Realismus l\u00e4sst die mathematischen Begriffe nicht mehr durch Abstraction aus der Anschauung entstehen, sondern spricht sie als urspr\u00fcnglichen Besitzstand von Ideen dem menschlichen Geiste zu. Diese Auffassung bietet in der That den doppelten Vortheil, dass sie einmal nicht mit den Widerspr\u00fcchen zu k\u00e4mpfen braucht, welche die nachtr\u00e4gliche Veranschaulichung dem Zahlbegriff einimpft, andererseits aber auch eine freie selbst\u00e4ndige Entwickelung der Zahlbeziehungen allein aus ihrem Begriff heraus gestattet. Von dem letzten Vortheil hat nun Descartes allerdings noch weniger Gebrauch gemacht, wie von dem ersten. Denn w\u00e4hrend er die Zahlen, welche als solche zu den \u00bbklaren Ideen\u00ab geh\u00f6ren, bald rein begrifflich fasst, gleich den racines fausses und imaginairesl), bald aber auch \u2014 und hierin besteht ja seine Hauptbedeutung f\u00fcr die Mathematik \u2014 mit den\n1) Mais souvent il arrive que quelques unes de ces racines sont fausses ou moindre que rien; comme si on suppose que x d\u00e9signe aussi le d\u00e9faut d\u2019une quantit\u00e9 qui soit 5, on a x + 5 = 0. Descartes: La G\u00e9om\u00e9trie, Livre troisi\u00e8me (1637 erschienen) in der Cousin\u2019schen Gesammtausgabe, V, Paris 1824, p. 389, in der Separatausgabe: Paris 1886, p. 56. F\u00fcr das Imagin\u00e4re kommt die Stelle in Betracht : Au reste tant les vraies racines que les fausses ne sont pas toujours r\u00e9elles, mais quelquefois seulement imaginaires, c\u2019est-\u00e0-dire qu\u2019on peut bien toujours en imaginer autant que j\u2019ai dit en chaque \u00e9quation, mais qu\u2019il n\u2019y a quelquefois aucune quantit\u00e9 qui corresponde \u00e0 celles qu\u2019on imagine. A. a. O. bei Cousin V, p. 398, in der Separatausgabe p. 63.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t115\nanschaulichen geometrischen Gr\u00f6\u00dfen identifient, ist seine ganze Ausbildung der Arithmetik, die imagin\u00e4ren Zahlen v\u00f6llig ignorirend, lediglich eine anschauliche, d. h. erkenntnisstheoretisch wesentlich bestimmt durch die von Plato \u00fcbernommene Wiedererinnerung, verm\u00f6ge deren die sinnlich wahrnehmbaren Beziehungen der Au\u00dfenwelt uns die apriorischen mathematischen zum Bewusstsein bringen sollen. Von einer klaren Herausarbeitung der Grundgedanken kann daher bei Descartes noch keine Rede sein.\nWeitaus systematischer und consequenter ist die nahe verwandte Ansicht von Leibniz, weil sie die Anschaulichkeit v\u00f6llig preisgibt und den Zahlen gleich allen anderen Ideen nur eine apriorische begriffliche Existenz zuspricht. Sie sind in Folge dessen hier v\u00f6llig verschieden von der sinnlichen Anschauung, auf welche sie nur bezogen werden k\u00f6nnen. Wenn sie nichtsdestoweniger an der letzteren haupts\u00e4chlich zum Bewusstsein kommen, so bildet doch der Mechanismus der dunklen Erfahrungsvorstellungen nur eine Gelegenheitsursache, welche die Vorstellung jener Begriffe blos anzuregen vermag. Eine Wiedererinnerung, wie bei Descartes und Plato, haben wir hier aber nicht anzunehmen. Denn die Begriffe sind ja den Anschauungen nicht mehr ad\u00e4quat, sie sind keine dunklen, sondern klare Vorstellungen. Als solche d\u00fcrfen sie darum auch nicht an die Erfahrung angelehnt werden; vielmehr muss es m\u00f6glich sein, weil ihnen apriorische Existenz zukommt, aus ihrem Begriffe selbst alle ihre Eigenschaften abzulesen und durch blo\u00dfe Analyse zu erhalten. Die Wissenschaft von der Verkn\u00fcpfung der Zahlen, die Algebra oder die mathesis universalis prior1) (im Gegensatz zur posterior, welche die Infinitesimalmethode umfasst) ist deshalb, wie alle Mathematik, bei Leibniz begrifflich, apriorisch und analytisch, und ihre Durchf\u00fchrung gilt als um so vollkommener, je weniger sie auf die Erfahrung Bezug nimmt, je mehr sie ars inveniendi erfordert.\nIn dieser Auffassung ist zun\u00e4chst die Zahl noch, wie hei Be scar tes, wesentlich mit dem, hier abstract gefassten, Begriff der Gr\u00f6\u00dfe verschmolzen, wenn es auch bisweilen den Anschein hat,\n1) Matheseos universalis pars prior; Leibnizens mathematische Schriften, herausgegeben von Gerhardt, Band VU, Halle 1863, p. 53 ff.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nWalter Brix.\nals wollte Leibniz beide von einander trennen1). Sie umspannt bereits das ganze complexe Gr\u00f6\u00dfengebiet, positive Zahlen wie negative , gebrochene wie irrationale, zu denen hier sogar, ein Erzeugnis des Infinitesimalcalculs, die transcendenten hinzukommen, endlich die complexen2); das Operationsfeld ist das gew\u00f6hnliche der Algebra3), obgleich er es allerdings einmal bei der Aufl\u00f6sung des casus irreductibilis der cubischen Gleichungen durch eine neue Rechnungsmethode erweitert zu haben glaubt4), welche es gestatte, bisweilen Gr\u00f6\u00dfen, die \u00e4u\u00dferlich in imagin\u00e4rer Form erscheinen, wie z. B. jene in Wirklichkeit reellen und nur scheinbar complexen Wurzeln im casus irreductibilis, in die reelle Form \u00fcberzuf\u00fchren.\nNach alledem muss man es Leibniz in der That nachr\u00fchmen, dass er, von einer selbst\u00e4ndigen, apriori-realen Auffassung des Zahl-begrilfs ausgehend, die Arithmetik unabh\u00e4ngig von der Anschauung hinstellte und entwickelte. Um so mehr muss es befremden, wenn er nun doch wieder, halb und halb in den fr\u00fcheren Realismus zur\u00fcck verfallend, den Werth der so gewonnenen Resultate an ihrer praktischen Anwendbarkeit misst, ein Charakterzug, der sich durch die ganze, schon erw\u00e4hnte, grundlegende Abhandlung : Matheseos universalis pars prior hindurchzieht. Und hier wird es namentlich sehr auff\u00e4llig, wie er fast vollst\u00e4ndig in den Nominalismus \u00fcberlenkt. In concrete Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse \u00fcbertragbar sind ihm n\u00e4mlich nur die positiven Zahlen, den negativen und imagin\u00e4ren billigt\n1)\tVgl. z. B. Initia mathematica. Ebenda p. 29 ff, namentlich p. 31.\n2)\tNumeri seu Termini simplices Algebraici sunt vel positivi vel privativi, integri (iique simplices aut figurati) vel fracti, rationales vel surdi (sc. irrational), et impuri (sc. nur scheinbar irrationale, wie Va2 = a) vel affecti (sc. allgemeine algebraische Irrationalit\u00e4ten), sunt etiam numeri communes vel transcendentes et denique possibiles vel imaginarii seu impossibiles.\n3)\tEt generantur per operationes, quae sunt vel syntheticae (additio, multi-plicatio, potestatis ex radice excitatio) vel analyticae (subtractio, divisio, extractio radicis). Beide Stellen stehen unmittelbar hintereinander auf p. 208 des Bandes VII der mathematischen Schriften in der Abhandlung: De ortu, progressu et natura algebrae nonnullisque aliorum et propriis circa earn inventis (a. a. O. p. 203 ff).\n4)\tEt notabile est sextum nos habituros Operationis sive Arithmeticae sive Analyticae genus : nam praeter additionem, subtractionem, multiplicationem, divi-sionem, radicum extractionem habebitur Reformatio seu Reductio expressionum imaginariarum ad reales etc. VII, p. 141.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t117\ner dagegen keine Existenz in der Erfahrung zu1). Ihre Bedeutung ist vielmehr eine rein begriffliche; und wo sie immer in einem Problem als L\u00f6sungen auftreten, zeigen sie durch iliT Erscheinen an, dass die Fragestellung etwas Unm\u00f6gliches verlangte, geben aber zugleich eine Anleitung, wie man die Frage verbessern m\u00fcsste, um eine wirkliche L\u00f6sung zu erhalten2).\nDiese Ansicht unterscheidet sich nun aber von dem reinen Nominalismus allein dadurch, dass sie den Zahlen die apriorische Existenz zuschreibt, welche jener leugnet. Denn klarer als Leibniz hat selbst D\u00fchring die Thatsache nicht hervorheben k\u00f6nnen, dass imagin\u00e4re wie negative Zahlen lediglich Nominaldefinitionen w\u00e4ren, denen eine anschauliche Bedeutung nicht unterzulegen sei. Es ist aber zugleich ersichtlich, dass nicht allein den negativen und imagin\u00e4ren, sondern \u00fcberhaupt allen Zahlen Leibnizens eine concrete Interpretation nicht gegeben werden darf. Denn wie sollen a priori in uns liegende Ideen und Begriffe verwirklicht gedacht werden in einer von ihnen v\u00f6llig unabh\u00e4ngigen ganz heterogenen, Anschauung? Diese k\u00fcnstlich errichtete Kluft zwischen begrifflichem und anschaulichem, zwischen innerem und \u00e4u\u00dferem Werth, ist v\u00f6llig un\u00fcberschreitbar, und so leidet denn auch Leibnizens Ansicht unter dem Grundfehler seines ganzen Systems, das, ausgehend von einem blo\u00dfen Gradunterschied beider Welten, diesen in einen Artunterschied umwandelt, ohne doch die dadurch bedingte\n1)\tF\u00fcr das Negative kann er nat\u00fcrlich die beiden concreten Deutungen von Schulden und entgegengesetzter Richtung einer Geraden nicht vermeiden (VII p. 70), von den imagin\u00e4ren Zahlen hei\u00dft es hingegen direct (VII p. 73): Hae expressiones id habent mirabile, quod in calculo nihil involvunt absurdi vel con-tradietorii, et tarnen exhiberi non possunt in natura rerum seu in concreto.\n2)\tVgl. z.,B. die Stellen der Mathesis universalis, Mathematische Schriften VII p. 70 und 73: Quantitates negativae, cum a minori subtrahi debet maius, saepe oriuntur in calculo, et licet non videantur respondere ad quaestionem, reapse tarnen respondent perfectissime, non tantum enim indicant quaestionem fuisse male conceptam (etsi venia danda sit, quia praevideri non poterat) sed etiam quo-modo fuerit concipienda et quid ad earn recte conceptam sit respondendum ; und : Ex irrationalibus oriuntur quantitates impossibiles seu imaginariae, quarum mira est natura, et tarnen non contemnenda utilitas; etsi enim ipsae per se aliquid impossibile significent, tarnen non tantum ostendunt fontem impossibilitatis, et quomodo quaestio corrigi potuerit, ne esset impossibilis, sed etiam interventu ipsarum exprimi possunt quantitates reales. (Die letzte Bemerkung bezieht sich auf den oben erw\u00e4hnten casus irreductibilis der cubischen Gleichungen.)","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nWalter Brix.\nScheidung an irgend einer Stelle aufrechterhalten zu k\u00f6nnen. Diese Incongruenz ist aber durch keine Dialektik und keine Uhrvergleiche zu beseitigen, und selbst die Lehre vom pr\u00e4stabilirten Parallelismus versagt hier den Dienst, da es ja Zahlbegriffe gibt, denen ein anschauliches Substrat \u00fcberhaupt nicht mehr entspricht.\nHier zeigen sich offenbar nur zwei Auswege: entweder muss man eingestehen, dass man es mit zwei v\u00f6llig incongruenten Gebieten zu thun hat \u2014 und dies f\u00fchrt unausbleiblich zum Nominalismus, da die Verbindung beider durch die ontologische Dialektik, abgesehen von deren sonstigen Schw\u00e4chen, damals auch an den complexen Zahlen scheitern musste \u2014 oder man wird gezwungen, die apriorische Existenz der Begriffswelt als solcher aufzuheben und in der Anschauung aufgehen zu lassen. Diesen letzten Schritt in der Entwickelung des Realismus that nun Kant, indem er die Anschauung zun\u00e4chst der empirischen Erfahrung entzog und dann den transcendenten Realismus Leibnizens durch einen transcen-dentalen ersetzte ').\nWie nun bei Kant die Mathematik \u00fcberhaupt die Wissenschaft von der Construction der Begriffe in der Anschauung a priori ist, so stellt er speciell die Zahl als die Anwendung der Kategorie der Quantit\u00e4t auf die Zeitanschauung oder in seiner Terminologie : als das reine Schema der Gr\u00f6\u00dfe hin1 2). Den Anlass zur Bildung des Zahlbegriffs aber gibt die Wahrnehmung, insofern sie an den Gegenst\u00e4nden ihre einzelne zeitliche Selbst\u00e4ndigkeit in\u2019s Auge fasst und so eine Reihe einzelner Apperceptionsacte erzeugt, welche sich als unmittelbare Addition darstellt.\nWir hatten nun oben3) gesehen, wie diese Ansicht psychologisch v\u00f6llig zu Recht besteht. Sie kann aber auch nur bis zu dem psychologischen Begriff der Anzahl und der gew\u00f6hnlichen Zahlenreihe Vordringen und muss nothwendig versagen, wo es sich um den allgemeinen mathematischen Zahlbegriff handelt. Au\u00dferdem\n1)\tEs ist wohl erlaubt, hier vor\u00fcbergehend die Kan tischen Anschauungen als transcendentalen Realismus zu charakterisiren, trotzdem diese Bezeichnung schon in ganz anderem Sinne als Gattungsname f\u00fcr die Philosophie Herbart\u2019s, Schopenhauer\u2019s u. s. w. gebraucht wird.\n2)\tKritik der reinen Vernunft. Der Gesammtausgabe von Rosenkranz und Schubert Band II (Leipzig 1838) S. 126.\n3)\tKapitel II, 3.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklnngsformen.\t119\nhat Kant auch die logische Zur\u00fcckf\u00fchrung der Zahl auf die Zeit wohl beabsichtigt, aber nirgends n\u00e4her ausgef\u00fchrt. Seine Ansichten \u00fcber diesen Punkt finden sich vielmehr \u00fcberall zerstreut. Der Be-urtheiler sieht sich also hier einer Reihe einzelner, unzusammenh\u00e4ngender Meinungs\u00e4u\u00dferungen gegen\u00fcber, welche erst zu einem System erg\u00e4nzt werden m\u00fcssten. Nimmt man aber alle gelegentlichen, auf unsern Gegenstand bez\u00fcglichen Bemerkungen zusammen1), so muss man zu der Ueberzeugung gelangen, dass Kant\u2019s Ansicht \u00fcber den Zahlbegriff sich nicht frei aus sich seihst heraus entwickelt hat, sondern vollst\u00e4ndig unter dem Zwange seines Trans-cendentalsystems steht2). Nach Analogie bestimmend hat hier vor allen Dingen die unmittelbare Beziehung der Geometrie zur Raumanschauung gewirkt. W\u00e4hrend Kant aber gerade hier\u00fcber sehr klare und ausgearheitete Gedanken vortr\u00e4gt und hei Exemplifici-rungen im Gebiete der Mathematik auch am liebsten auf geometrische Beispiele zur\u00fcckgreift, mag er wohl andererseits seihst die Unm\u00f6glichkeit einer ebenso innigen Beziehung von Zeitanschauung und Arithmetik gef\u00fchlt haben ; denn alle hierhin zielenden Bemerkungen erscheinen als ebenso viel unzusammenh\u00e4ngende Behauptungen, die eines Beweises durchg\u00e4ngig ermangeln.\nEin solcher ist nun freilich auch nur in den seltensten F\u00e4llen zu gehen. Denn, wenn Kant z. B. gleich nach der discontinuir-lichen Auffassung der Zahl als der \u00bbVorstellung, welche die successive Addition von einem zu einem (gleichartigen) zusammenfasst\u00ab3), zu der Ableitung eines continuirlichen Zahlengebietes \u00fcbergeht, so ist hier eine weite logische L\u00fccke, die allein durch den Hinweis auf die Analogie mit der Zeitanschauung nicht \u00fcherbr\u00fcckt werden kann. Wenn er ferner gezwungen wird, ebenso wie die Geometrie die Construction im Raume ist, die Arithmetik als eine ebensolche,\n1)\tDie wichtigsten finden sich a. a. O. S. 126, 143, 146\u2014148, 244, 380, 554\u2014558 etc.\n2)\tAu\u00dfer der hier behandelten Ansicht hat Michaelis in seiner Abhandlung: Ueber Kant\u2019s Zahlbegriff (Programmabhandlung Berlin 1884) aus zwei Stellen der Kritik noch eine andere Auffassung nachweisen zu k\u00f6nnen gemeint, in welcher der begriffliche Charakter der Zahl mehr betont wird. Da aber die diesbez\u00fcglichen Angaben der Beurtheilung fast gar keine Handhabe bieten, k\u00f6nnen sie hier \u00fcbergangen werden. N\u00e4heres in der citirten Abhandlung p. 7 ff.\n3)\tA. a. O. p. 126.","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nWalter Brix.\nwenn auch nur symbolische in der Zeit anzusehen1), so ist dies eine Ansicht, die sich durch unmittelbare Betrachtung als falsch erweisen muss. Denn, kann schon die Mathematik wie die Logik in ihrer Auffassung des Zahlhegriffs als solchen der Zeit v\u00f6llig ent-rathen, so hat sich vollends noch niemals ein Forscher hei der Ableitung arithmetischer S\u00e4tze auf die Zeit-, viel eher auf die Baumanschauung berufen. Und, wenn Hamilton unter dem Einfl\u00fcsse Kant\u2019s in der schon mehrfach citirten Vorrede zu den Lectures on Quaternions die M\u00fche nicht gescheut hat, eine solche mathematische Begr\u00fcndung der Zahlenverh\u00e4ltnisse auf die Zeit wirklich zu versuchen, so gelingt ihm das allerdings \u00e4u\u00dferlich vollkommen durch zweckm\u00e4\u00dfige Handhabung einer singul\u00e4ren Terminologie. Aber die offenbare Gewalt, die er anwenden muss, um den Stoff in die ihm genehmen Formen zu pressen, spricht besser als alles andere daf\u00fcr, dass die fraglichen Besultate thats\u00e4chlich auf ganz anderem Wege gefunden sind.\nW\u00e4hrend daher die Lehre Kant\u2019s der Geometrie gerecht zu werden vermochte, konnte sie der Arithmetik nicht gen\u00fcgen. Denn schon die logische Schematisirung der reellen Zahlen in der Zeit musste misslingen, f\u00fcr die imagin\u00e4ren aber \u2014 und diese waren doch, trotzdem er sie stillschweigend \u00fcbergeht, ebenso wohl definirt \u2014 bleibt auf diese Weise kein Platz, w\u00e4hrend an die allgemeinen complexen gar nicht mehr zu denken ist2). Nimmt man hinzu, dass Kant die Grundlage seiner ganzen positiven Theorie, die hegrifflose Apriorit\u00e4t von Zeit und Baum weder hat beweisen noch wahrscheinlich machen k\u00f6nnen, so bleibt die Bedeutung seiner Ansicht wesentlich auf die Betonung der von Leibniz noch analytisch gedachten, synthetisch construirenden Natur der Zahloperationen beschr\u00e4nkt; und auch hier kommen die transcendental-anschaulichen Elemente in\u2019s Wanken, um begrifflichen Platz zu machen.\nMit der hegrifflosen Transcendentalit\u00e4t der Zeit f\u00e4llt aber auch\n1)\tA. a. O. S. 555.\n2)\tHamilton\u2019s Anstrengungen in dieser Beziehung sind zwar von Erfolg gekr\u00f6nt, aber die symbolischen Schemen, die er schlie\u00dflich zu Stande bringt, haben mit den wirklichen Zahlbegriffen, wie er sie in der eigentlichen mathematischen Entwicklung selbst anwendet, nichts gemein als die Namen,","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwieklungsformen.\t121\nunmittelbar die Realit\u00e4t der Zahl, und die ganze Lehre von der symbolischen Construction der Arithmetik1) und der Entstehung mathematischer Begriffe aus Definitionen2) f\u00fchrt unmittelbar zum crassesten Nominalismus \u00fcber.\nDas Resultat dieser ganzen realistischen Entwickelung des Zahlhegriffs ist also ein durchaus negatives. Denn weder konnte jener erste empirische Realismus durch allm\u00e4hliche k\u00fcnstliche Assimilation der zum psychologischen Zahlhegriff hinzukommenden neuen Formen deren nominalistische Definitionen verwischen, noch vermochte seine Verlegung in\u2019s Transcendente oder Transcendentale, jene weil sie die anschaulichen, diese weil sie die begrifflichen Elemente der Zahl aufheben musste, sie gegen\u00fcber den immer lauter werdenden Reclamationen des Nominalismus zu sch\u00fctzen. Der letztere war aber inzwischen derma\u00dfen erstarkt, dass er nun dem Realismus, welcher wenigstens noch in der Mathematik herrschend war, als ein ebenb\u00fcrtiger Gegner gegen\u00fchertrat.\n2. Die Zahlbegriffe des mathematischen Nominalismus.\nEs ist ein charakteristisches Merkmal in der Entwickelung des Zahlhegriffs, dass sie fast unausweichlich zum Nominalismus hindr\u00e4ngt. Denn wo immer eine neue Erweiterung der bestimmenden Elemente vorgenommen wurde, \u00fcberall beruhte sie auf einer willk\u00fcrlichen Festsetzung. Mochte sie auch Manchem mehr als noth-wendig denn als willk\u00fcrlich erscheinen, in dem Wesen der vorher herrschenden Begriffe lag sie nicht; und der beste Beweis daf\u00fcr war ja, dass es eine ausgebildete Arithmetik immer schon vor der Auffindung der neuen Zahlformen gab.\nSollte man nun aber solche abstracten Begriffe verwerfen, weil sie in der Anschauung niemals realisirt werden konnten? Dazu hat man zu keiner Zeit ernstlich den Muth gehabt; und wenn die Griechen \u00fcber derartige Schwierigkeiten niemals klagen konnten, so war das keine Entsagung, die ihnen mathematische oder logische Bedenken zur Pflicht gemacht h\u00e4tten, sondern eine gl\u00fcckliche Veranlagung ihres durchaus realen Geistes, der sie von nominali-\n1)\tA. a. O. S. 555.\n2)\tA. a. O. S. 566.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nWalter Brix.\nstischen Speculationen zur\u00fcckhielt. Wir haben aber gesehen, wie man andrerseits sich den formalen Charakter der formalen Begriffe auch nicht eingestehen mochte, wie der Wunsch ihrer Beibehaltung und das Unverm\u00f6gen, auf die Anschauung zu verzichten, jenen Kampf zwischen Realismus und Nominalismus erzeugte, in welchem der erste bis in die Mitte unseres Jahrhunderts Sieger blieb, ohne doch den zweiten ganz verdr\u00e4ngen zu k\u00f6nnen. Hatte aber der Realismus die Assimilirung der gebrochenen und irrationalen Zahlen noch ohne allzu gro\u00dfe Schwierigkeit zu vollziehen vermocht, so brauchte er doch schon ein ganzes Jahrtausend, um sich das Negative zu unterwerfen. W\u00e4hrend dessen hatte aber der Nominalismus bereits den viel unanschaulicheren Begriff des Imagin\u00e4ren erzeugt. Und wenn es gleich dem Realismus schlie\u00dflich noch gelang, auch diesen seinem Gegner zu entringen, so waren damit seine Kr\u00e4fte doch endg\u00fcltig ersch\u00f6pft; und da sich selbst der R\u00fcckzug in\u2019s Transcendente und Transcendentale unausf\u00fchrbar erwies, war er gezwungen, vor dem Nominalismus ganz das Feld zu r\u00e4umen, der nur in den allgemeinen complexen Zahlen eine dauernde Unm\u00f6glichkeit schuf, den Zahlbegriff auf die Anschauung zu begr\u00fcnden.\nDie v\u00f6llig abstracte Natur der arithmetischen Operationen brachte es nun aber mit sich, dass die nominalistische Kritik\u00bb derselben einen wesentlich anderen Charakter tragen musste, als die Anwendung der n\u00e4mlichen Principien auf die geometrischen Grundbegriffe. Die letzteren erschienen im Lichte dieser Betrachtungsweise fast immer als die Resultate einer Abstraction aus der Erfahrung, denen ihre unleugbare Constanz dann durch eine hinzukommende willk\u00fcrliche, alle variabeln empirischen Elemente elimi-nirende Definition verliehen wird. Der willk\u00fcrliche Charakter des ganzen Verfahrens tritt dabei um so mehr hervor, je mehr man sich von der empirischen Anschauung entfernt. Das ist nun aber bei den Zahlbegriffen in viel h\u00f6herem Ma\u00dfe, als bei den geometrischen Verh\u00e4ltnissen der Fall. Denn diese waren ja, soweit sie \u00fcber die positive ganze Zahl hinausgingen, wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, \u00fcberhaupt nicht mehr durch Abstraction gewonnen, sondern stellten sich als v\u00f6llig inhaltlose Nominaldefinitionen dar, welche sich sogar im Anfang einer nachtr\u00e4glichen Veranschaulichung entzogen. Wollte der Nominalismus hier seine Kritik","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t123\nernstlich ansetzen, so erwuchs ihm demnach die doppelte Aufgabe, erstens diese eigenartigen, neuen, g\u00e4nzlich unanschaulichen Formen aus der k\u00fcnstlichen realistischen H\u00fclle herauszusch\u00e4len und in ihrer urspr\u00fcnglichen begrifflichen Natur wiederherzustellen, zweitens aber den so restaurirten Begriffen ihren richtigen Platz in der Erkenntnistheorie anzuweisen.\nEs ist nun auf\u2019s h\u00f6chste zu bedauern, dass die zweite Aufgabe viel fr\u00fcher in Angriff genommen wurde als die erste, dass man anfing, \u00fcber die nominalistische Natur der Zahlen zu urtheilen, lange bevor man dieselbe wirklich erkannt hatte. Die Vertreter der letzteren Richtung, haupts\u00e4chlich Philosophen der empirischen Schule, \u00fcberlie\u00dfen die Reinigung des Zahlbegriffs so vollst\u00e4ndig den Mathematikern, dass diese, wenig gew\u00f6hnt sich mit solchen Untersuchungen zu besch\u00e4ftigen, noch bis auf den heutigen Tag die nothwendige Rehabilitirung desselben nicht im vollen Umfange haben vornehmen k\u00f6nnen '). Die Folge davon ist nat\u00fcrlich eine in den empiristischen Ansichten \u00fcberall zu Tage tretende Unklarheit, welche sich einerseits in der Vermeidung jeder tieferen Begr\u00fcndung ihrer Anschauungen1 2), andrerseits aber auch in ihrer inneren Uneinigkeit zeigt. Denn von Anfang an treten im Nominalismus, allerdings unter der Oberfl\u00e4che verborgen, aber dem aufmerksamen Beobachter doch deutlich erkennbar, zwei diametral entgegengesetzte Richtungen auf, eine positive, welche auf der Beibehaltung der neuen Begriffe besteht und so, unterst\u00fctzt durch die Schw\u00e4che eines geometrisch geschulten, der Anschauung nicht zu entw\u00f6hnenden Geistes, anf\u00e4nglich regelm\u00e4\u00dfig in\u2019s realistische Lager \u00fcberf\u00fchrt, und eine ne-girende, welche ihnen die Existenzberechtigung \u00fcberhaupt bestreitet, sich aber dadurch ebenfalls dem Realismus wieder n\u00e4hert, da nun die noch geduldeten Zahlbegriffe in gewisser Weise als Realit\u00e4ten erscheinen m\u00fcssen. Die Trennung beider Richtungen wird au\u00dfer durch diese Inconsequenz noch durch ihr durchweg gleichzeitiges Auftreten erschwert. Und in dieser unerquicklichen Vereinigung\n1)\tSehr interessant und lehrreich ist z. B. in dieser Beziehung die allm\u00e4hliche Formalisirung des Irrationalen.\n2)\tSchon auf das Negative hat sich ein solches System niemals ernstlich eingelassen, und das Imagin\u00e4re und Complexe wird hei allen mit alleiniger Ausnahme Comte\u2019s stillschweigend \u00fcbergangen.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nWalter Brix.\nder heterogensten Elemente, welche die Anh\u00e4nglichkeit der Mathematiker an die Anschauung zu einem tief verborgenen, aber acuten Gegensatz zuspitzte, liegt die Quelle aller jener unendlichen Unklarheiten, welche so lange \u00fcber den Zahlbegriff geherrscht haben. Aus ihr fl\u00f6ssen z. B. die vielen wunderbaren und unsicheren Ansichten \u00fcber das Negative, sie erzeugte die unm\u00f6gliche Benennung der \u00bbunm\u00f6glichen Gr\u00f6\u00dfen\u00ab f\u00fcr das Imagin\u00e4re, sie f\u00fchrte endlich zu jenen eigenartigen \u00abconsid\u00e9rations g\u00e9n\u00e9rales\u00ab, wie wir sie unten hei Cauchy finden werden.\nWo in der fr\u00fcheren Zeit der Nominalismus sich wirklich in bestimmter Weise geltend macht, ist er zun\u00e4chst immer negirend, um dann gemildert in einen gewissen Argwohn und schlie\u00dflich in eine misstrauische Duldung der neuen Begriffe \u00fcberzugehen. Alle drei Stadien scheinen nach Hankel\u2019s und Cantor\u2019s Darstellungen1) in Bezug auf das Negative die Inder durchlaufen zu haben, w\u00e4hrend man sp\u00e4ter jede Ber\u00fchrung der gef\u00e4hrlichen Frage \u00e4ngstlich zu vermeiden suchte. Cardan ist in seiner Betrachtung des Imagin\u00e4ren, eines viel schwierigeren Problems, schon einen Schritt weiter gekommen. Denn er erkennt, zwar nirgends direct, aber doch \u00fcberall implicit die formale Berechtigung desselben an. Andrerseits stellt er aber die complexen wie negativen Zahlen als num\u00e9ros fictos den realen numeris veris gegen\u00fcber, und weist einmal sogar ausdr\u00fccklich einen m\u00f6glichen Einwurf gegen die Hegel, dass \u2014 (\u2014 a) = + a gesetzt werden m\u00fcsse, mit der Erkl\u00e4rung zur\u00fcck, dass solche Beziehungen, \u00fcber die unmittelbare Anschauung hinausgehend, lediglich Erzeugnisse des Verstandes betr\u00e4fen2). Seine Ansicht ist daher durchaus nominalistisch und w\u00fcrde ihn schlie\u00dflich zu einer vollen Anerkennung jener Zahlformen gezwungen haben, wenn nicht ein letzter Rest realistischer Bedenklichkeit ihn von diesem entscheidenden Schritte wieder zur\u00fcckgehalten h\u00e4tte. So begn\u00fcgt er sich jedoch damit, die M\u00f6glichkeit ihrer algebraischen\n1)\tHankel, Geschichte der Mathematik S. 172 ff., und M. Cantor, Geschichte der Mathematik S. 505 ff.\n2)\tEt si dicas, qu\u00f4d hoe est contra quintam secundi Euclidis, dich, quod qui hoc dicit non intelligit vere Euclidem, et eius imaginatio est supra intellectual, istud tarnen verum est, quod tales aequationes (sc. negative L\u00f6sungen) requirunt intellectual subtilissimum et sunt quasi entia rationis. Ars magna Arithmeticae, quaestio 38 (in der oben citirten Ausgabe S. 373).","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t125\nVerwendung an einigen Beispielen zu zeigen, wobei er freilich noch formale Fehler macht, und die Bemerkung hinzuzuf\u00fcgen, dass er die ganze Frage des Imagin\u00e4ren wegen ihrer Complicirtheit f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig halte1), offenbar nur eine bequeme Ausflucht, um der Schwierigkeit zu entgehen.\nHatte aber Cardan dem Banne der realistischen Anschauung sich nicht v\u00f6llig zu entrei\u00dfen vermocht, so hat doch sein Zeitgenosse, der deutsche Algebrist Micha\u00ebl Stifel \u2014 und dies ist um so bemerkenswerther, als er f\u00fcr lange Zeit der einzige blieb, der die Algebra thats\u00e4chlich ganz formalisirte \u2014 den letzten Schritt, die definitive L\u00f6sung von der Anschauung, wirklich ausgef\u00fchrt. Denn, ohne sich freilich auf das ihm noch unbekannte Imagin\u00e4re einzulassen, r\u00e4umt er den numeris fictis, zu welchen er die negativen Zahlen und \u2014 ein f\u00fcr jene Zeit ganz au\u00dferordentlicher Fortschritt \u2014 die Br\u00fcche rechnet2), die volle Gleichberechtigung mit den numeris veris ein. Ueberhaupt ist er sowohl nach der ganzen Behandlungsweise, wie nach den im ersten Buch seiner Arith-metica integra niedergelegten Grundansichten wirklich als der erste, leider ganz vereinzelte Vertreter des positiven Nominalismus anzusehen ; und sein Grundsatz : Permittendum esse Arithmeticis, ut, dum bona ratione et utili consilio aliquid fing\u00fcnt, uti possint huius-modi rebus fictis3), verr\u00e4th eine Klarheit der Anschauung, wie sie bedauerlicherweise nach ihm ganz wieder verloren ging. Denn die Besch\u00e4ftigung mit dem Imagin\u00e4ren, welche ja noch am ehesten geeignet schien den schwach sich regenden Nominalismus zu kr\u00e4ftigen, f\u00fchrte im Gegentheil, wie wir gesehen haben, geradeswegs wieder zu einem R\u00fcckfall in den alten Realismus.\nSo wurde denn die Ausbildung und F\u00f6rderung der nomina-listischen Ansichten von den Mathematikern ganz der Philosophie anheimgestellt, sehr zum Schaden der Sache. Denn wenn auch die diesbez\u00fcglichen Theorien, wie sie der Schule des Empirismus\n1)\t.. . et hucusque progreditur Arithmeticae subtilitas, cuius hoc extremum ut dixi, ade\u00f6 est subtile, ut sit inutile : Liber artis magnae XXXVII, in der ci-tirten Ausgabe S. 287.\n2)\tvidelicet minutias unitatis habendas esse pro numeris fictis. Arithmetica integra. Norimbergae 1544, liber III, caput V, p. 249.\n3)\tVgl. Gerhardt: Geschichte der Mathematik in Deutschland. M\u00fcnchen 1877, S. 74.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126\nWalter Brix.\nentsprangen, viel zur Kl\u00e4rung der erkenntnisstheorelischen Frage \u00fcberhaupt beigetragen haben, so kann doch auf der andern Seite nicht geleugnet werden, dass sie in der Kegel blos auf die Geometrie zugeschnitten waren. Wo sie aber auch auf Arithmetik Anwendung fanden, da brachte die Unkenntniss der in Frage kommenden Begriffe eine nur oberfl\u00e4chliche Behandlung des Gegenstandes, mit sich, die sich zudem nie \u00fcber die ganzen Zahlen hinauswagte. Der Referent, will er nicht dies Kapitel ganz \u00fcbergehen, steht demnach vor der unangenehmen Aufgabe, die Specialisirungen aus den jeweilig ge\u00e4u\u00dferten allgemeinen Anschauungen zu einem gro\u00dfen Theil selbst heraus zu construiren. In der That scheint dies die einzige M\u00f6glichkeit, der ganzen Richtung, die auch hier ihrer gro\u00dfen erkenntnisstheoretischen Bedeutung wegen nicht ganz vernachl\u00e4ssigt werden darf, einigerma\u00dfen gerecht zu werden. Da jedoch in diesem Falle die Gefahr unberechtigter Interpretationen die gr\u00f6\u00dfte Vorsicht empfiehlt, wird man sich mit den allgemeinsten Andeutungen begn\u00fcgen m\u00fcssen.\nSogleich Thomas Hobbes, mit dem die Besprechung der erw\u00e4hnten Tendenzen beginnen muss, h\u00e4lt sich mit Vorliebe an die geometrischen Grundbegriffe, w\u00e4hrend er \u00fcber Zahlen sich nur gelegentlich \u00e4u\u00dfert. Wie aber ihm, dem consequentesten aller Nominalisten, die Begriffe \u00fcberhaupt nichts anderes sind als Namen, lediglich bestimmt als Erkennungs- und Erinnerungszeichen f\u00fcr irgend welche Objecte des Denkens zu dienen1), so stellen naturgem\u00e4\u00df die geometrischen Begriffe nur W\u00f6rter f\u00fcr die Lagenverh\u00e4ltnisse der K\u00f6rperwelt, die arithmetischen Ausdr\u00fccke nur Bezeichnungen f\u00fcr concrete Mengenbeziehungen vor. Die Zahl ist daher nichts anderes als das, was wir Ziffer nennen, das Zeichen, f\u00fcr eine discontinuirliche Gr\u00f6\u00dfe2), und die ganze Arithmetik nur ein Cal-\n1)\tA name is a word taken at pleasure to serve for a mark, which may raise in our mind a thought like to some thought we had before, and which being pronounced to others may be to them a sign of what thought the speaker had or had not before in his mind. Hobbes : Elements of Philosophy, first section, part I, chap. II, \u00a7 4, in der englischen Gesammtausgabe von Molesworth, London 1839. Band I, S. 16.\n2)\tIm \u00a7 15 des oben citirten Kapitels (S. 16) ist die Quantity not continual direct als Number nominalisirt und dasselbe besagt auch wohl die synthetische Definition : Number is unities, welche im zweiten Theil, chap. VII, \u00a7 7 (S. 96) gegeben ist.\nI","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklnngsformen.\t127\nculiren, ein reasoning mit solchen Symbolen. Da nun die Namengebung durch keinerlei \u00e4u\u00dfere Verh\u00e4ltnisse bestimmt, sondern lediglich Sache des pers\u00f6nlichen Geschmacks ist, kann es nicht Wunder nehmen, wenn man sich f\u00fcr solche viel gebrauchten Namen die bequemsten Formen ausgesucht, d. h. mit Eliminirung aller variabeln empirischen Elemente ihnen eine absolute mathematische Constanz gegeben hat.\nVon diesem Standpunkt aus erscheint nun freilich schon die ganze Zahl \u2014 und das ist ein Schritt, der weit \u00fcber den sch\u00fcchternen Nominalismus fr\u00fcherer Zeiten hinausf\u00fchrt \u2014 als ein rein formaler Begriff. Sie muss hier gleich allen anderen reellen Zahlen aufgefasst werden als ein der subjectiven Bequemlichkeit wegen ein-f\u00fcr allemal conventionell fixirtes Schema der wirklichen Ordnungen der Gegenst\u00e4nde und Erscheinungen in Raum und Zeit. Ebenso sind in Folge dessen die arithmetischen Operationen nur anzusehen als ein formales H\u00fclfsmittel der Betrachtung wirklicher Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen, und k\u00f6nnen auf G\u00fcltigkeit auch nur in soweit Anspruch machen, als sie sich in der Natur verwirklicht finden.\nWeiter wird man aber hier in der Specialisirung der generellen Bemerkungen nicht vorschreiten d\u00fcrfen. Denn wenn man auch die negativen Zahlen noch unterbringen k\u00f6nnte1), die com-plexen haben in diesem Systeme keinen Platz, da sie ohne irgend welche Beziehung zur Erfahrung entstanden, aus Nominalbegriffen wieder nominal definirt, gewisserma\u00dfen Schemata zweiter Ordnung darstellen w\u00fcrden. Dies m\u00fcsste aber zu der Ansicht Cardan\u2019s f\u00fchren, dass sie unn\u00f6thig und darum aufzugeben w\u00e4ren, und so in den durchaus positiven Grundcharakter der Hobbes\u2019sehen Lehre ein verneinendes Element hineintragen. Denn wenn der Arithmetik, wie \u00fcberhaupt aller Mathematik, die Bedeutung zukommt, dass sie einen exacten Schematismus f\u00fcr die in Wirklichkeit ungenauen Beziehungen der Au\u00dfenwelt aufstellen soll, so ist alles Unanschauliche aus ihr zu verbannen oder doch wenigstens, seines begrifflichen\n1) In der That erw\u00e4hnt Hobbes einmal ganz gelegentlich negative Zahlen, n\u00e4mlich an der Stelle First section, part I, chap. II, \u00a7 6 (S. 18} : And for the same reason we say truly less than nothing remains, when we substract more from less; for the mind feigns such remains as these for doctrine sake, and desires, as often as is necessary to call the same to memory.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nWalter \u00dfrix.\nGewandes entkleidet, auf den Werth einer Hiilfsmethodik herabzudr\u00fccken.\nIn noch h\u00f6herem Grade m\u00fcsste deshalb Locke zu einem ne-girenden Resultate gelangen, da er die von Hobhes zur Erkl\u00e4rung der Constanz der mathematischen Begriffe angenommene Willk\u00fcr der Convention in eine freie Variation, die gewaltsame Beseitigung der Erfahrung in einen Kl\u00e4rungsprocess der begrifflichen Schemata zu Ideen umwandelt. So ist hier die Zahl der von selbst gebotene begriffliche Ausdruck einer wahrgenommenen Mehrheit, die Arithmetik aber die naturgem\u00e4\u00dfe Nachbildung von Mengenbeziehungen im menschlichen Geiste1). Die Zahl ist, mit andern Worten, die Idee der Menge, und zwar ist sie als solche \u00bbthe simplest and most universal idea\u00ab, \u00bbfor Number applies itself to Men, Angels, Actions, Thoughts, every thing, that either doth exist, or can be imagined \u00ab 2). Hiermit ist aber zugleich auch die Folgerung verbunden, dass der Zahlenlehre eben wegen dieser nahen Uebereinstimmung mit den physikalischen Beziehungen auch eine gewisse Allgemeing\u00fcltigkeit zugesprochen werden m\u00fcsse. Und dieses noth wendige Resultat f\u00fchrt direct wieder aus dem nominalistischen Gesichtskreis heraus zu einem Realismus a posteriori.\nIn der That, wenn schon die Hobbes\u2019sehe Lehre von der Incongruenz und Parallelit\u00e4t der mathematischen und empirischen Begriffe im gro\u00dfen und ganzen eine Umkehrung der analogen Theorie Leibnizens ist \u2014 denn diesem sind die mathematischen, jenem die Erfahrungsbegriffe das Prim\u00e4re \u2014 so n\u00e4hert sich Locke andererseits bedenklich der Cartesianischen Anschauung, nur dass er die idealen Vorbilder desselben durch Nachbilder, seine \u00bbIdeen\u00ab ersetzt. Hier zeigt sich also wieder die schon fr\u00fcher beobachtete Erscheinung, wie nahe der positive Nominalismus dem Realismus verwandt ist. Da Locke aber andererseits gezwungen w\u00e4re, den negativen und imagin\u00e4ren Zahlen gegen\u00fcber, weil sie ja nicht anschaulich sind, einen negirenden Standpunkt einzunehmen3), so krankt seine Theorie,\n1)\tVgl. Locke, An Essay concerning human understanding: Book II, chap. VI, Of Number.\n2)\tA. a. O. \u00a7 1.\n3)\tEr selbst beschr\u00e4nkt sich in dem citirten Kapitel vorsichtig auf die ganze Zahl.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n129\nabgesehen von der unklaren Vermengung empirischer und rationalistischer Elemente im Begriff der \u00bbIdee\u00ab, auch an dem Gegensatz positiver und verneinender Grundanschauungen. Und weil dieser Widerstreit in der That ein unvers\u00f6hnlicher ist, so gab es, wollte man die nominalistischen Ansichten nicht ganz aufgeben, auf dem Boden des Empirismus nur zwei Auswege. Entweder man lie\u00df den positiven Standpunkt ganz fallen und negirte \u00fcberhaupt jede Mathematik, oder aber man kehrte zu den positiveren Anschauungen von Hobbes zur\u00fcck.\nDen ersten, zweifellos bequemeren, jedoch sehr bedenklichen Weg schlug Berkeley ein. Aber indem er die Existenz der Begriffe, wie die der reinen Zeit- und Raumanschauung \u00fcberhaupt leugnet, kann er selbstverst\u00e4ndlich den Zahlbegriff nur in seiner allerersten psychologischen Form, d. h. als Zahlvorstellung fassen. In der That sind denn auch die Zahlen hei ihm lediglich ein subjectives H\u00fclfsmitt'el der Wahrnehmung, eine Form der Vorstellung1).\nHierdurch ist aber der Zahlenlehre eine so schwankende, unzuverl\u00e4ssige Grundlage gegeben, dass man ihr jede erkenntnisstheore-tische Verwendung absprechen muss. Denn selbst der psychologische Process des Z\u00e4hlens setzt schon eine Reihe von Apperceptionsacten, also vor allen Dingen den von Berkeley geleugneten2) Begriff der Einheit voraus. Nun sucht er zwar als Ersatz daf\u00fcr die Berechtigung zu Zahlen Verkn\u00fcpfungen in der empirisch gegebenen Constanz der \u00e4u\u00dferen Beziehungen, auf welche sie angewandt werden3). Da es jedoch offenkundig ist, dass die Arithmetik als con-\n1)\tThat Number is entirely the Creature of the Mind, even th\u00f4 the other Qualities be allow\u2019d to Exist without, will be evident to whoever considers, that the same thing beares a different Denomination of Number, as the Mind views it with different respects, Thus, the same Extension is One, or Three, or Sixty Six, according as the Mind considers it with reference to a Yard, a Foot, or an Inch. Number is so visibly relative, and dependent on Mans Understanding, that it is strange to think how any one shou\u2019d give it an absolute Existence without the Mind. George Berkeley; A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, Part I, Dublin 1710 S. 53, Part I, \u00a7 12.\n2)\tUnity, I know, some will have to be a simple or incompounded Idea accompanying all other Ideas into the Mind. That I have any such Idea answering the Word \u00bbUnity\u00ab, I do not find and if I had methinks I could not miss finding it... ebenda \u00a7 13 S. 54.\n3)\tA. a. O. \u00a7 119 ff. = S. 169 ff.\nWundt, Philos. Studien. YI.\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nWalter Brix.\nstantes Beziehungselement nur den Begriff der Einheit, diesen aher auch nothwendig braucht, w\u00e4hrend ihr die etwaige Unver\u00e4nderlichkeit irgend welcher \u00e4u\u00dferen Verh\u00e4ltnisse vollst\u00e4ndig gleichg\u00fcltig ist, so stellt sich diese Ansicht in einen flagranten Widerspruch mit der Mathematik selbst. Zu einem \u00e4hnlichen Resultat muss aber jede derartige Negation f\u00fchren. Sollte daher nicht ein ebenso unfruchtbarer wie unberechtigter Skepticismus der Resignation *) der Erfolg dieser Bestrebungen sein, so blieb dem Empirismus nichts weiter \u00fcbrig, als den zweiten oben erw\u00e4hnten Ausweg zu beschreiten, d. h. wieder zu den positiveren Anschauungen zur\u00fcckzukehren.\nHier ergriff nun Hume die Initiative, indem er den von Berkeley so gr\u00f6blich ignorirten Begriff der Einheit wieder zur Grundlage der Arithmetik machte1 2), freilich nicht in der ahstracten Form, wie Hohhes. Denn er hat noch etwas von dem Bestreben Berkeley\u2019s geerbt, sich um jeden Preis, sollte dies auch zu offenbaren Widerspr\u00fcchen mit den Thatsachen des Bewusstseins f\u00fchren, an die empirisch gegebenen Grundlagen der Erkenntniss anzuklammern. Und wenn er auch nicht jedes einzelne mathematische Urtheil, wie jener, auf die Au\u00dfenwelt bezog, sondern die ahstracte Natur eines solchen wohl erkannt hatte, so glaubte er doch die Grundbegriffe nicht von der Anschauung l\u00f6sen zu d\u00fcrfen. Darum versteht er die wahre Natur des Begriffes der Einheit ebenso wenig, wie Berkeley. Denn in der Thatsache, dass man jedes Object, ja jede beliebige Menge als Einheit betrachten kann, sieht er allein einen Missbrauch dieses Begriffes. Derartige Einheiten sind ihm gleich den Zahlen rein nominalistische Erfindungen3). Die wahre, d. h. einzig reale Ein-\n1)\tIn der That versteigt sich schon Berkeley (auf S. 170 des citirten Werkes) zu dem Urtheil, die Ausbildung der ahstracten Mathematik f\u00fchre zu \u00bbmost trifling Numerical Speculations, which in practice are of no use, but serve only for Amusement\u00ab (sic).\n2)\t\u2019T is evident, that existence in itself belongs only to unity and is never applicable to number. Hume, Treatise on human nature I, vol. I, part II, sect. II in der Ausgabe von Green und Grose, London 1874, I S. 337.\n3)\tThat term of unity is merely a fictitious Denomination, which the mind may apply to any quantity of objects it collects together: nor can such a unity any more exist alone than number can, as being in reality a true number (weil n\u00e4mlich solche Einheiten physikalisch noch theilbar sind). Ebenda S. 338.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t131\nheit kann nur etwas v\u00f6llig untheilbares sein1 2) und dieses letzte Element der Beziehung sieht er in dem physikalischen, \u00bbmit Farbe und Solidit\u00e4t begabten Punkt \u00ab2). Die Bildung der Zahlen erfolgt dann nicht mehr durch einen Ahstractionsprocess \u2014 das Resultat dieses, bei Hume freilich nur rudiment\u00e4ren Processes ist ja eben der physikalische Punkt \u2014 sondern durch die Fiction einer wiederholten Setzung desselben.\nHiermit ist nun zwar die synthetische Natur der Zahlenbildung klarer erkannt, als dies hei Locke oder Berkeley der Fall war, indessen blieb die abstracte Zahl doch immer noch an dem sinnlichen Einheitspunkt haften. Und da es ja jedem freisteht, denselben mit anderer Farbe und anderer Solidit\u00e4t zu versehen, so entbehrt diese Einheit durchaus der Constanz, die ihr nun einmal nicht ab-zuphilosophiren ist. So lange die Zahl nichts weiter bedeuten kann, als im g\u00fcnstigsten Falle eine Reihe vorgestellter Punkte, so lange bleibt unerkl\u00e4rt, wie man \u00fcberhaupt etwas anderes z\u00e4hlen kann, als solche. Wie man sich auch zu dieser Frage stellen mag, die unleugbar abstracte Natur der Zahl fordert unbedingt ihre v\u00f6llige L\u00f6sung von der sinnlichen Anschauung und ihre Wiederherstellung als reinen Begriff.\nEine solche Scheidung konnte nun wieder entweder zu einer dualistischen positiven oder einer monistischen, negirenden Ansicht f\u00fchren. W\u00e4hrend aber f\u00fcr die letztere eigentlich nur ein einziger consequen ter Vertreter, D\u00fchring, existirt, wurde die erstere Gegenstand einer umfangreichen Bearbeitung, die von dem in franz\u00f6sischem Boden wurzelnden Positivismus ausging und sich dann mit diesem haupts\u00e4chlich nach England verbreitete, wo sie in John Stuart Mill ihren Hauptvertreter fand.\nDer Begr\u00fcnder dieser ganzen Richtung, Auguste Comte, gibt nun freilich noch keine sehr ausgearbeiteten oder vertieften Gedanken \u00fcber die Natur der mathematischen Begriffe, obwohl er ihnen fast den ganzen ersten Band seiner Philosophie positive gewidmet hat. Ihm ist die Mathematik zun\u00e4chst die Wissenschaft\n1)\tBut the unity, which can exist alone, and whose existence is necessary to that of all numbers, is of another kind, and must be perfectly indivisible, and incapable of being resolved into any lesser unity. Ebenda S. 338.\n2)\tN\u00e4heres im Originalwerk I, part II.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nWalter Brix.\nder anschaulichen Gr\u00f6\u00dfen, bestimmt dieselben auszumessen, aber nicht auf directem Wege \u2014 denn dazu bedarf es keiner Wissenschaft \u2014 sondern durch indirecte Methoden. Deshalb fasst er ihre Aufgabe in die Worte zusammen : \u00bb d\u00e9terminer les grandeurs les unes par les autres, d\u2019apr\u00e8s les relations pr\u00e9cises qui existent entre elles\u00ab1). Eine jede mathematische Untersuchung zerf\u00e4llt demnach in zwei Theile, einen concreten, der die in Wirklichkeit uns gegebenen Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse aufsucht und in die Form von Gleichungen bringt, und einen ahstracten, welcher, ohne sich weiter um die concreten Gr\u00f6\u00dfen zu k\u00fcmmern, diese Gleichungen nach allgemeinen Methoden aufl\u00f6st2). Die concrete Mathematik kann ihre Aufgabe, die Auffindung der Gleichungen in der Erscheinungswelt, der \u00e9quations des ph\u00e9nom\u00e8nes, wieder vom Gesichtspunkt der Ruhe oder Bewegung aus behandeln und theilt sich so in Geometrie und Mechanik; die ahstracte Mathematik hingegen, auch wohl als calcul bezeichnet, hat es nur mit den fertigen Formeln zu thun.\nDas Substrat der rein mathematischen Analyse, die Zahlen, sind demnach keine anschaulichen Gr\u00f6\u00dfen mehr, denn diese geh\u00f6ren in die math\u00e9matique concr\u00e8te, sondern allein Begriffe, und zwar die allgemeinsten, abstractesten und einfachsten Begriffe die \u00fcberhaupt m\u00f6glich sind3). In Folge der ahstracten Natur der Zahlen darf man sich denn auch nicht wundem, wenn man unter ihnen Ausdr\u00fccke findet, welche ohne eigentliche reale Bedeutung sind, wie das Negative und Imagin\u00e4re. Man darf diesen Begriffen eben \u00fcberhaupt keinen concreten Sinn zuschreiben wollen, sondern muss sie allein auffassen als das, was sie in Wahrheit sind: ahstracte, symbolische Ideen, welche der Allgemeinheit der Methode zu Liehe erfunden wurden4).\nMit diesen Bemerkungen, die er in ziemlich ausgedehnter Darstellung vortr\u00e4gt, meint Comte die ganze Frage ebenso einfach wie elegant erledigen zu k\u00f6nnen; allein man ersieht beinahe\n1)\tCours de philosophie positive I, 3 ; in der dritten Auflage, Paris 1869, S. 98.\n2)\tVgl. f\u00fcr dies und das Folgende die dritte Lection : Consid\u00e9rations philosophiques sur l\u2019ensemble de la science math\u00e9matique (S. 89 ff.).\n3)\tLes id\u00e9es dont elle s\u2019occupe sont les plus universelles, les plus abstraites et les plus simples que nous puissions r\u00e9ellement concevoir. A. a. O. S. 109.\n4)\tA. a. O. Le\u00e7on 5, S. 159 ff.\nj","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t133\naus jedem Satze, wie sehr sich die gesammte Theorie an der Oberfl\u00e4che h\u00e4lt. Zun\u00e4chst ist die Scheidung von concreter und abstracter Mathematik in dieser Form durchaus unzutreffend; denn es d\u00fcrfte wohl nur wenig Mathematiker geben, die in der Formulirung der concreten Probleme wirklich ein Arbeitsfeld ihrer Wissenschaft s\u00e4hen. Es geh\u00f6rt allerdings immer schon ein geschultes Auge dazu, um im gegebenen Falle die fraglichen Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen \u00fcberhaupt herauszufinden; allein solche Aufstellungen sind doch von der Fachliteratur immer nur als Anwendungen der durchaus un-concreten Mathematik aufgefasst worden, und es d\u00fcrfte der Autorit\u00e4t eines Philosophen schwer werden, sie von der Richtigkeit des Gegentheils zu \u00fcberzeugen. Zudem sind die beiden Disciplinen, welche Comte als concrete bezeichnet, die Geometrie und Mechanik, in Wahrheit nichts weniger als concret; die reinen geometrischen und mechanischen Begriffe sind in der Natur keineswegs verwirklicht. Es gibt in der Au\u00dfenwelt weder vollkommene Gerade, noch absolut starre K\u00f6rper, weder Ellipsen, noch elliptische Bewegungen, und die Beispiele, die Comte zur Illustration des Gesagten anf\u00fchrt, der freie Fall und die Ausmessung eines K\u00f6rpers, sind beide unzutreffend; denn die \u00e4u\u00dfere Erfahrung kennt eine wirklich gleichf\u00f6rmige Beschleunigung so wenig, wie eine rein geometrische Figur. Geometrie und Mechanik sind eben nicht, wie Comte sie auffasst, Naturwissenschaften1), wenn auch die allgemeinsten, sondern selbst schon ganz abstracten Charakters, da sie beide mit idealen, in Wirklichkeit immer nur angen\u00e4hert realisir-baren Verh\u00e4ltnissen sich besch\u00e4ftigen ; und die exacten Beziehungen, welche die oben mitgetheilte Definition zwischen den anschaulichen Gr\u00f6\u00dfen voraussetzt, existiren in Wahrheit nirgends.\nWas nun vollends die Auffassung der Zahlen betrifft, so kann man diese wohl kaum anders als oberfl\u00e4chlich bezeichnen. Comte versichert uns zwar, dass sie die allgemeinsten, abstractesten und einfachsten Ideen w\u00e4ren, und stellt sie als solche den concreten Gr\u00f6\u00dfen gegen\u00fcber; allein, um das zu erkennen, bedarf es wahrlich keiner philosophie positive. Es ist zudem ganz undurchsichtig, was\n1) Ainsi la g\u00e9om\u00e9trie et la m\u00e9canique constituent, par elles-m\u00eames, les deux sciences naturelles fondamentales. Le\u00e7on 3, S. 106.","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nWalter Brix.\ner sich unter dieser Combination von Worten eigentlich Positives gedacht hat. Denn an der citirten Stelle, wie hei der Behandlung der negativen und imagin\u00e4ren Zahlen1), wo ihm ebenfalls Gelegenheit gegeben w\u00e4re, sich \u00fcber das Thema auszusprechen, weicht er der Frage mit der Erkl\u00e4rung aus, dass die gegebene Darstellung einfach und klar sei, und dass alle Dunkelheiten anderer Auffassungen nur durch weitergehende metaphysische Speculationen bedingt sein k\u00f6nnten. Man darf aber offenbar von einer systematischen Darstellung, wie sie der cours de philosophie positive bezweckt, verlangen, dass sie bei einem so grundlegenden Begriff wie dem der Zahl nicht blos behauptet, er sei abstract, sondern zum mindesten auch angibt, wovon man hei seiner Bildung eigentlich zu abstrahiren hat, wie er \u00fcberhaupt entsteht.\nEine Beantwortung dieser Frage, auf die doch schlie\u00dflich alles ankommt, vermissen wir aber bei Comte durchaus; versucht ist sie erst von John Stuart Mill, der, von \u00e4hnlichen Anschauungen ausgehend wie jener, theilweise direct unter seinem Einfluss, vielfach aber auch im Gegensatz zu ihm, in seinem gro\u00dfen systematischen Werke, der Logik, sich auch \u00fcber den Zahlbegriff eingehender ausspricht, als alle seine Vorg\u00e4nger im Nominalismus2). Zun\u00e4chst hat er die von Comte verkannte abstracte Natur aller mathematischen Begriffe klar zum Ausdruck gebracht und den von Hobbes eingef\u00fchrten, von Berkeley geleugneten und von Comte in falscher Weise verschobenen Dualismus der ungenauen Wirklichkeit und der exacten, aber eben darum hypothetischen Mathematik wiederhergestellt3). Wie deshalb die geometrischen und mechanischen Deductionen nur scheinbar exacte Erkenntnisse liefern, weil sie ja auf ganz irreale Verh\u00e4ltnisse sich beziehen, so geben auch alle arithmetischen Operationen keine absoluten Wahrheiten; denn sie arbeiten alle mit der Voraussetzung vollst\u00e4ndig gleicher Einheiten.\n1)\tLe\u00e7on 5, S. 159 ff.\n2)\tJohn Stuart Mill, A System of Logic Ratiocinative and Inductive, zuerst 1843 in London erschienen. F\u00fcr uns kommen besonders in Betracht: Book I, chap. VIII; II, chap. V und VI; und III chap. XXIV.\n3)\tConformably to this is said, that the subject-matter of mathematics, and of every other demonstrative science, is not things as they really exist, but abstractions of the mind. A. a. O. Book I, chap. VIII, \u00a7 6.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t135\nDiese aber sind in der Erfahrung nirgends gegeben, zwei Gr\u00f6\u00dfen sind niemals genau einander gleich1).\nSo ist Mill also im Wesentlichen zu den Anschauungen von Hobbes zur\u00fcckgekehrt. Der Unterschied beider besteht nur darin, dass Hobbes, \u00e4hnlich wie Leibniz, einen vollst\u00e4ndigen Parallelismus von mathematischen und empirischen Begriffen annahm, Mill aber diesen zu einem immanenten Monismus zusammenschmilzt. W\u00e4hrend also bei Hobbes eine selbst\u00e4ndige Existenz beider Begriffsklassen wohl denkbar war, aber andererseits doch wieder nicht recht in den Empirismus hinein passte, sind sie bei Mill unl\u00f6slich mit einander verbunden. Der Parallelismus, den Hobbes seinem System zu Liebe k\u00fcnstlich festsetzen musste, wird dadurch unn\u00f6thig. Denn bei Mill sind Erfahrungsthatsache und mathematische Form gewisserma\u00dfen nur zwei Seiten eines und desselben Dinges. Die Gr\u00f6\u00dfenbeziehung ist die Vorstellung der Zahl, die Zahl der begriffliche Ausdruck der Gr\u00f6\u00dfenbeziehung2). Wie deshalb die Geometrie die Lehre von den r\u00e4umlichen Eigenschaften der K\u00f6rper sein soll, so ist die Arithmetik die Wissenschaft von den Beziehungen der Gr\u00f6\u00dfen, d. h. das begriffliche Schema f\u00fcr die in Wahrheit in-commensurablen Verh\u00e4ltnisse der Erfahrung.\nDie Grundlage der Arithmetik bilden ferner einerseits die Zahlenaxiome, welche er von den neun koivc\u00fcg Ivvolcuq Euklid\u2019s auf zwei reduciren will, n\u00e4mlich : \u00bbDinge, welche einem und demselben Dinge gleich sind, sind einander selbst gleich\u00ab und \u00bbGleiches zu Gleichem addirt gibt gleiche Summen\u00ab3), und andererseits die Definitionen der verschiedenen Zahlen. Da diese rein wissenschaftliche, von den erkenntnisstheoretischen Fragen mehr absehende Behandlung dieses Gegenstandes uns hier am meisten interessiren muss, mag die betreffende Stelle hier w\u00f6rtlich folgen4) :\n\u00bbWie andere sogenannte Definitionen, so sind dieselben aus\n1)\tVgl. Book II, chap. VI, \u00a7 3.\n2)\tAll numbers must be numbers of something: they are no such things as numbers in the abstract. Ten must be ten bodies, or ten sounds, or ten beatings of the pulse. But though numbers must be numbers of something, they may be numbers of anything. Book II, chap. VI, \u00a7 2.\n3)\tVgl. Book III, chap. XXIV, \u00a7 5.\n4)\tIch entnehme diese Stelle der Bequemlichkeit wegen der deutschen Ueber-setzung von Schiel (vierte Auflage, Braunschweig 1887) in demselben Paragraphen,","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nWalter Brix.\nzwei Dingen zusammengesetzt, aus der Erkl\u00e4rung eines Namens und aus der Behauptung einer Thatsache, wovon die erste allein ein erstes Princip oder eine Pr\u00e4misse einer Wissenschaft bilden kann. Die in der Definition einer Zahl behauptete Thatsache ist eine physikalische Thatsache. Eine jede der Zahlen eins, zwei, drei, vier u. s. w. bezeichnet physikalische Ph\u00e4nomene und mitbezeichnet (connotes) eine physikalische Eigenschaft dieses Ph\u00e4nomens. Zwei z. B. bezeichnet alle Paare von Dingen, zw\u00f6lf alle Dutzende von Dingen, indem es mitbezeichnet, was sie zu Paaren, Dutzenden macht; und das, was sie dazu macht, ist etwas Physikalisches, da es nicht zu leugnen ist, dass zwei Aepfel von drei Aepfeln, zwei Pferde von einem Pferd physikalisch verschieden sind, dass sie ein davon verschiedenes sichtbares und f\u00fchlbares Ph\u00e4nomen (a different visible and tangible phenomenon) sind. Ich unternehme nicht zu sagen, welches der Unterschied sei; es ist hinreichend, dass ein Unterschied besteht, von welchem die Sinne Kenntniss nehmen k\u00f6nnen. Und obgleich hundert und zwei Pferde nicht so leicht von hundert und drei unterschieden werden, als zwei Pferde von einem Pferd (im Original steht: as two horses are from three), obgleich in den meisten F\u00e4llen die Sinne keinen Unterschied bemerken, so k\u00f6nnen sie doch in die Lage gebracht werden, dass ein Unterschied wahrnehmbar wird, weil wir sie sonst nie von einander unterschieden und ihnen verschiedene Namen gegeben h\u00e4tten\u00ab (or else we should never have distinguished them, and given them different names, ein interessanter Cirkelschluss).\nWir ersehen hieraus, dass sich auch Mill, wie die meisten seiner Vorg\u00e4nger auf den Begriff der ganzen Zahl, oder vielmehr den der Anzahl beschr\u00e4nkt und bei diesem noch dazu die psychologische Th\u00e4tigkeit ganz vernachl\u00e4ssigt. Von einer Zahl zwei, drei oder vier als solcher zu sprechen, ist man daher nach ihm nicht berechtigt, sondern nur von zwei \u00bbSteinen, Pferden, Zollen, Pfunden oder Gewichten\u00ab u. s. w. ; die Bezeichnung: zwei Kiesel aber sagt aus, dass man, um das Aggregat zusammenzusetzen, einen Kiesel zu dem anderen hinzuf\u00fcgen muss. Durch analoge Additionen concreter Einheiten kann man ferner in mannigfacher Weise die verschiedensten Mengen erzeugen; dieselben Mengen sind aber andererseits auch durch irgendwelche Subtractionen zu erhalten, kurz","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n137\nes gibt unendlich viele physikalische Erzeugungsweisen einer jeden Zahl. Das anscheinend Wunderbare dieser Mannigfaltigkeit erkl\u00e4rt sich nun leicht aus dem exacten Charakter der Arithmetik, der es gestattet, alle diese physikalisch verschiedenen Bildungsweisen doch a posteriori deductiv aus einer einzigen abzuleiten; und als solche Grunderzeugungsweise w\u00e4hlt man einerseits die Addition von Einheiten und andererseits, aus praktischen Gr\u00fcnden, die Darstellung durch Potenzen von zehn.\nDiese Ausf\u00fchrungen wird man nun im allgemeinen zugeben k\u00f6nnen, wenigstens vom historischen Standpunkt aus; entwickelt doch noch heut jeder Dorfschulmeister die Zahlengesetze ebenso, nur dass er etwa die Mill\u2019sehen Kiesel durch die wegen ihrer Theilharkeit bevorzugten Aepfel ersetzt, aber er wird dabei von p\u00e4dagogischen und nicht, wie Mill das f\u00fcr sich in Anspruch nimmt, von logischen Gesichtspunkten geleitet. Es wird sich niemand der Anerkennung verschlie\u00dfen k\u00f6nnen, dass er selbst in analoger Weise, wie es hier ausgef\u00fchrt ist, sich sein arithmetisches Wissen erworben hat. Indessen erhellt auch gerade \"aus dieser Bemerkung, dass Micha\u00eblis Recht hat, wenn er behauptet1), die ganze Mill\u2019sehe Lehre g\u00e4be keine Discussion der eigentlichen mathematischen Begriffe, sondern eine Darstellung, wie erfahrungsm\u00e4\u00dfig mathematische Kenntnisse erworben werden.\nAn der Zur\u00fcckf\u00fchrung der begrifflichen Elemente in der Zahl auf die Erfahrung muss aber der ganze Nominalismus, in der empirischen Form wie wir ihn bisher kennen gelernt haben, scheitern. Denn die oben erw\u00e4hnte deductive Beziehung der einzelnen Erzeugungsweisen einer Zahl zu einander kann eben wegen ihres deductiven Charakters nicht direct in der Anschauung begr\u00fcndet werden. Daher sieht sich Mill auch gen\u00f6thigt, die eigentliche Ableitung aus der Erfahrung auf die beiden angef\u00fchrten Grunds\u00e4tze zu beschr\u00e4nken, auf welche die ganze Deduction erst hasirt ist. Diese Axiome nimmt er nun allerdings vollst\u00e4ndig f\u00fcr seine empi-ristische Erkenntnisslehre in Anspruch. Sie sind nach ihm lediglich inductive Wahrheiten und verdanken ihre Entstehung sogar nur einer gew\u00f6hnlichen \u00bbinductio per enumerationem simplicem\u00ab.\n1) in seiner Schrift: Stuart Mill\u2019s Zahlbegriff. Programmabhandlung. Berlin 1888 S. 7.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nWalter Brix.\nDaher stehen sie durchaus auf gleicher Stufe mit den geometrischen und mechanischen Axiomen, vor denen sie nur das voraus haben, dass sie als Naturgesetze h\u00f6chster Ordnung aufgefasst werden k\u00f6nnen, w\u00e4hrend sie die Unabh\u00e4ngigkeit vom Causalprincip mit ihnen theilenf).\nDiese vom erkenntnisstheoretischen Interesse dictirte Doctrin stellt sich aber in offenkundigen Widerspruch mit dem logischen Bewusstsein. Denn wie sollen Axiome von unmittelbarer Evidenz ihre einzige Rechtfertigung in dem Umstand suchen, dass sie gl\u00fccklicherweise noch niemals falsch befunden sind? Oder wie sollen Grunds\u00e4tze, deren Ab\u00e4nderung eine logische Unm\u00f6glichkeit invol-virt, deren Aufgeben einfach undenkbar ist, durch eine zuf\u00e4llige empirische Richtigkeit erkl\u00e4rt werden?\nDie ganze schiefe Auffassung der Sachlage hat ihren Grund lediglich in dem Umstand, dass sowohl die psychologische wie die logische Seite der Frage dem erkenntnisstheoretischen Interesse aufgeopfert wird. So lange sich Mill auf die Ableitung der Entstehung mathematischer Begriffe und Operationen beschr\u00e4nkt, so lange wird man ihm seine Zustimmung nicht versagen d\u00fcrfen. Denn er kann sich hier auf die Erfahrung berufen und nachweisen, dass wirklich die Zahlbegriffe durch Abstraction gebildet, die Rechnungsregeln durch Induction gefunden wurden. Nun begn\u00fcgt er sich aber damit nicht, sondern gibt die historische Entwickelung f\u00fcr die genetische, die Baumaterialien f\u00fcr das Haus aus. Auf diese Weise gelangt er zu Resultaten, die den wirklichen Verh\u00e4ltnissen nicht entsprechen, um so mehr als er auch noch die mathematische Abstraction und Induction ohne weiteres mit den entsprechenden physikalischen Methoden identificirt, mit dem einzigen Unterschiede, dass sie des Causalgesetzes entbehren. Wie aber soll \u2014 muss man hier wieder fragen \u2014 der Begriff der Gleichheit aus der Erfahrung gewonnen werden k\u00f6nnen, wenn in dieser \u00fcberhaupt nirgends zwei gleiche Gr\u00f6\u00dfen Vorkommen, wie der der Zahl zwei, wenn es that-s\u00e4chlich immer nur zwei Pferde, zwei Kiesel u. s. w. gibt ?1 2) Oder wie ist es denkbar, dass ein inductiv gefundener Grundsatz denk-\n1)\tVgl. zu den obenstehenden Ausf\u00fchrungen Book III, chap. XXV, \u00a7 5.\n2)\tWir m\u00fcssen hier auf die Ausf\u00fchrungen in Kapitel II, 3 verweisen.","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwieklungsformen.\t139\nnothwendig erscheint, wenn die einzige Gew\u00e4hr f\u00fcr seine Richtigkeit, die Erfahrung, durch irgend einen unvorhergesehenen Fall jeden Augenblick umgesto\u00dfen werden kann?\nSehen wir so, wie die Vernachl\u00e4ssigung der s\u00fcbjectiven Elemente des Erkenntnissprocesses zu Anschauungen f\u00fchrt, weiche der Mathematiker unm\u00f6glich gelten lassen kann, weil sie der Natur der Arithmetik direct widersprechen m\u00fcssen, so hleiht auch andererseits in Mill\u2019s System kein Platz f\u00fcr die \u00fcbrigen Zahlbegriffe. Denn, da diese sicherlich nicht aus der Erfahrung abstrahirt waren, da es negative Kiesel so wenig gab, wie imagin\u00e4re Pferde, so hlieh, wollte man hei solchen nominalistischen Ansichten \u00fcberhaupt stehen bleiben, nichts weiter \u00fcbrig, als ihre begriffliche Existenz zu leugnen. Mill selbst, welcher gleich seinen englischen Vorg\u00e4ngern sich an die ganze Zahl h\u00e4lt, vermied die Erledigung dieser Frage v\u00f6llig und \u00fcberlie\u00df sie Andern.\nNun ist es aber interessant zu verfolgen, wie wenig man sich mit der Schwierigkeit ihrer Existenz abfinden konnte. In das em-pirisch-nominalistische System passten sie nicht hinein, ihre Lebensf\u00e4higkeit stand aber andererseits ganz au\u00dfer Frage; so kam man denn auf den vermittelnden Ausweg, allein ihre begriffliche Natur zu ersch\u00fcttern, sie aber daf\u00fcr noch als inhaltsleere Symbole bestehen zu lassen. Hiermit ist offenbar nur ein Wort durch; ein anderes, viel dunkleres ersetzt. Denn Symbole m\u00fcssen sich doch immer auf etwas Festes beziehen, sie sind seihst schematische Zeichen, vertreten aber stets ein reales Object des Denkens. Bei den imagin\u00e4ren Symbolen fehlte hingegen ein solcher fester Hintergrund vollkommen.\nUm den Widerspruch, dass trotzdem reelle Resultate aus jenen Schemen gezogen werden k\u00f6nnten, zu beseitigen, war man dann gezwungen, sich immer weiter in Worterkl\u00e4rungen zu verlieren, aus denen es schlie\u00dflich keinen Ausweg mehr gab. Zu welchen sinnentstellenden und hohlen Auseinandersetzungen dieser zweideutige Standpunkt f\u00fchren kann, davon m\u00f6gen z. B. die Worte Zeugniss ahlegen, mit welchen eine Autorit\u00e4t wie Cauchy seine \u00bbconsid\u00e9rations g\u00e9n\u00e9rales sur les expressions imaginaires\u00ab er\u00f6ffnet1): \u00bbEn\n1) Cours d\u2019analyse de l\u2019\u00e9cole royale polytechnique. I\u00bb\u00ab partie. Analyse alg\u00e9brique, Paris 1821, Chapitre VII, \u00a7 1 (p. 173).","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nWalter Brix.\nanalyse on appelle expression symbolique ou symbole toute combinaison de signes alg\u00e9briques, qui ne signifie rien par elle-m\u00eame, ou \u00e0 laquelle on attribue une valeur diff\u00e9rente de celle qu\u2019elle doit naturellement avoir. On nomme de m\u00eame \u00e9quations symboliques toutes celles qui, prises \u00e0 la lettre et interpr\u00e9t\u00e9es d\u2019apr\u00e8s les conventions g\u00e9n\u00e9ralement \u00e9tablies, sont inexactes ou n\u2019ont pas de sens, mais desquelles on peut d\u00e9duire des r\u00e9sultats exacts, en modifiant et en alt\u00e9rant selon des r\u00e8gles fixes ou ces \u00e9quations elles-m\u00eames ou les symboles qu\u2019elles renferment. L\u2019emploi des expressions ou \u00e9quations symboliques est souvent un moyen de simplifier les calculs et d\u2019\u00e9crire sous une forme abr\u00e9g\u00e9e des r\u00e9sultats assez compliqu\u00e9s en apparence... Parmi les expressions ou \u00e9quations symboliques dont la consid\u00e9ration est de quelque importance en analyse, on doit surtout distinguer celles que l\u2019on a nomm\u00e9es imaginaires\u00ab. Hankel hat diese \u00bbconsid\u00e9rations g\u00e9n\u00e9rales\u00ab, welche Ausdr\u00fccke, \u00bbdie an sich nichts bezeichnen\u00ab, oder doch \u00bbetwas anderes bezeichnen, als sie naturgem\u00e4\u00df bezeichnen sollten\u00ab, in einer nicht anders als mystisch zu nennenden Form f\u00fcr die realen Gr\u00f6\u00dfen verwerthen, nicht mit Unrecht als ein unerh\u00f6rtes Spiel mit Worten charakte-risirt \u2019). Trotzdem muss der Fortschritt zu einer solchen mystischen Symbolik den Zeitgenossen als etwas Au\u00dferordentliches erschienen sein. Denn noch 1868 schreibt Cauchy\u2019s Biograph Valson dar\u00fcber1 2) \u00bbParmi les plus belles recherches de Cauchy, il faut compter aussi celles, qu\u2019il entreprit au sujet de la th\u00e9orie des quantit\u00e9s imaginaires. Cette th\u00e9orie est la plus extraordinaire et en m\u00eame temps la plus f\u00e9conde de l\u2019analyse. Ici le savant n\u2019op\u00e8re plus, ni sur des nombres, ni sur des quantit\u00e9s g\u00e9om\u00e9triques, ni m\u00eame sur des quantit\u00e9s alg\u00e9briques de valeur arbitraire, mais uniquement sur des signes et de purs symboles. Les expressions imaginaires en effet, auxquelles on donne quelquefois improprement le nom de quantit\u00e9s, ne sont autre chose que des symboles abstraits, n\u2019ayant absolument aucun sens par eux-m\u00eames ; et cependant, en les combinant suivant des lois d\u00e9termin\u00e9es, en les soumettant \u00e0 une sorte d\u2019analyse m\u00e9canique, on d\u00e9duit, pour les quantit\u00e9s r\u00e9elles elles-m\u00eames, des\n1)\tHankel, Complexe Zahlen. S. 14.\n2)\tLa vie et les travaux du Baron Cauchy par C. A. Valson, Paris 1868, Tome I, p. 127, 128.\nA","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n141\nr\u00e9sultats d\u2019une grande importance, qu\u2019on chercherait vainement \u00e0 d\u00e9montrer de toute autre mani\u00e8re.\u00ab\nDie letzte Stelle ist hier ausf\u00fchrlich mitgetheilt, weil aus ihr nicht etwa blos der bedingungslos begeisterte Biograph spricht, sondern weil sie im allgemeinen auch noch auf die Anschauungen der heutigen franz\u00f6sischen Mathematiker passt, nur dass diese noch die geometrische Anschauung zu H\u00fclfe rufen. Wie wenig aber die angef\u00fchrten consid\u00e9rations g\u00e9n\u00e9rales ihren Autor sogar \u00fcber den Betrug hinwegzut\u00e4uschen vermochten, dass hier sinnlose Symbole schlankweg als reale Rechnungsgr\u00f6\u00dfen behandelt werden, hat er schlie\u00dflich selbst nicht mehr verhehlen k\u00f6nnen1). Aber die neue Theorie der algebraischen Aequivalenzen, die er statt dessen vorschlug, und die des weiteren von Grunert ausgef\u00fchrt ist2), hilft dadurch, dass sie V\u2014 1 als eine Art reeller Ver\u00e4nderlichen betrachtet, \u00fcber die ersten Grundbedenken hinweg, verlegt sie aber nur in einen sp\u00e4teren Zeitpunkt. Denn die Anwendung derselben auf concrete Probleme bleibt schlie\u00dflich ebenso mystisch wie die fr\u00fchere. Darum entschloss sich Cauchy sogar schlie\u00dflich dazu, sich ganz auf die geometrische Veranschaulichung zu st\u00fctzen3). So gelangte er aus\n1)\tMais il est \u00e9vident que la th\u00e9orie des imaginaires deviendrait beaucoup plus claire encore et beaucoup plus facile \u00e0 saisir, qu\u2019elle pourrait \u00eatre mise \u00e0 la port\u00e9e de toutes les intelligences, si l\u2019on parvenait \u00e0 r\u00e9duire les expressions imaginaires et la lettre i elle-m\u00eame, \u00e0 n\u2019\u00eatre plus que des quantit\u00e9s r\u00e9elles. Die Stelle steht am Anfang der Abhandlung, welche die neue Theorie enth\u00e4lt: M\u00e9moire sur une nouvelle th\u00e9orie des imaginaires, et sur les racines symboliques des \u00e9quations et des \u00e9quivalences. Comptes rendus Tome XXIV (1847) S. 1120, auch abgedruckt in den Nouveaux Exercices d\u2019analyse et de physique math\u00e9matique IV (1847) p. 87 als M\u00e9moire sur la th\u00e9orie des \u00e9quivalences alg\u00e9briques substitu\u00e9e \u00e0 la th\u00e9orie des imaginaires.\n2)\tTheorie der Aequivalenzen: Grunert\u2019s Archiv f\u00fcr Mathematik und Physik XLIV, 186B, S. 443\u2014477 und: Allgemeine Theorie der Wurzeln der Aequivalenzen, ebenda XLV, 1866, S. 454\u2014492.\n3)\tDans mon analyse alg\u00e9brique, publi\u00e9e en 1821, je m\u2019\u00e9tais content\u00e9 de faire voir qu\u2019on peut rendre rigoureuse la th\u00e9orie des expressions imaginaires en consid\u00e9rant ces expressions et ces \u00e9quations comme symboliques ; mais, apr\u00e8s de nouvelles et m\u00fbres r\u00e9flexions, le meilleur partie \u00e0 prendre me para\u00eet \u00eatre d\u2019abandonner enti\u00e8rement l\u2019usage du signe V\u2014 1 et de remplacer la th\u00e9orie des expressions imaginaires par la th\u00e9orie des quantit\u00e9s que j\u2019appellerai g\u00e9om\u00e9triques. Diese Stelle ist dem Anfang der Abhandlung entnommen : M\u00e9moire sur la th\u00e9orie des quantit\u00e9s g\u00e9om\u00e9triques et sur leurs applications. Nouveaux exercices d\u2019analyse et de physique math\u00e9matique. IV, p. 157.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nWalter Brix.\ndem krassesten Nominalismus allm\u00e4hlich wieder in den alten Realismus zur\u00fcck, gefolgt von den meisten Mathematikern aus dem Anfang des Jahrhunderts. Und dementsprechend finden wir in dieser Zeit einen ausgesprochenen Dualismus. Die reine Symboltheorie gilt begrifflich als unanfechtbar. Da sie aber doch zu wunderbar erschien, und sich namentlich ihre Anwendung auf reelle Verh\u00e4ltnisse als eine ganz mystische Beziehung darstellen musste, so hielt man sich lieber an die concretere geometrische Anschauung und glaubte die eigentliche Schwierigkeit dadurch heben zu k\u00f6nnen, dass man sich nicht um sie k\u00fcmmerte1).\nUm ein f\u00fcr alle Mal den Standpunkt aller derartigen Darstellungen zu charakterisiren, sei hier noch auf die ziemlich ruhige und sachliche Auffassung verwiesen, wie sie sich in Kl\u00fcgel\u2019s W\u00f6rterbuch der Mathematik findet2). Der Anfang des betreffenden Artikels lautet hier: \u00bbUnm\u00f6gliche oder eingebildete oder imagin\u00e4re Gr\u00f6\u00dfen nennt man alle solche Ausdr\u00fccke, f\u00fcr welche sich keine wirkliche Gr\u00f6\u00dfe als Werth angeben l\u00e4sst, z. B. arc sin x, arc cos x f\u00fcr *>1. Die Werthe solcher Gr\u00f6\u00dfen, wenn sie den Regeln des Algorithmus unterworfen werden, existiren also hlos symbolisch und sind nur eingebildet oder imagin\u00e4r. Dessenungeachtet sind solche Gr\u00f6\u00dfen in der Mathematik von gro\u00dfem Nutzen und werden oft absichtlich zur Abk\u00fcrzung der Rechnung eingef\u00fchrt, wo sie sich aber im Laufe der Rechnung wieder aufheben und das Resultat real und m\u00f6glich bleibt. Uebrigens aber rechnet man in der Mathematik mit imagin\u00e4ren Gr\u00f6\u00dfen, wie mit wirklichen.\u00ab Hier ist zwar das Anklammern an die geometrische Veranschaulichung vermieden; aber die beiden Auffassungen, die nominalistische Symbol- und die realistische Gr\u00f6\u00dfentheorie, gehen doch nebeneinander her. Und wenn der Lexikograph auch im Sinne der ersten Anschauung die Forderung stellt, dass alles Imagin\u00e4re im Resultat wieder verschwinden m\u00fcsse, so h\u00e4lt doch weder die praktische Mathematik, noch er selbst diese Regel ein. Denn in den sp\u00e4teren Theilen jenes Artikels wird\n1)\tMit \u00fcberraschender Offenheit ist dies noch eingestanden im Anfang der Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire des quantit\u00e9s complexes von Ho\u00fcel (Paris 1867), welche in Frankreich sehr gesch\u00e4tzt ist.\n2)\tMathematisches W\u00f6rterbuch von Kl\u00fcgel, Mollweide, Grunert, f\u00fcnfter Theil (Leipzig 1831), Artikel: Unm\u00f6gliche Gr\u00f6\u00dfen.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t143\nfortw\u00e4hrend mit complexen Zahlen gerechnet, ohne dass diese aus den Endformeln herausfallen. W\u00e4re aber seihst das der Fall, so bleibt doch immer noch unerkl\u00e4rt, wie man denn eigentlich dazu kommt, die gew\u00f6hnlichen Rechnungsregeln auf das Imagin\u00e4re anzuwenden. Die Motivirung: \u00bbUebrigens aber rechnet man in der Mathematik mit imagin\u00e4ren Gr\u00f6\u00dfen, wie mit wirklichen\u00ab l\u00e4sst die ganze Benutzung des Complexen als ein unermessliches, aber unverdientes Gl\u00fcck erscheinen, das dem Mathematiker verg\u00f6nnt, selbst aus solchen sinnlosen Symbolen eine F\u00fclle der sch\u00f6nsten Resultate zu ziehen.\nHier stand der Nominalismus vor einem erkenntnisstheoretischen R\u00e4thsel. Dass Symbole, von denen man nichts weiter wusste, als dass sie an und f\u00fcr sich gar keine Bedeutung haben, wenn man sie nur richtig behandelte, mit einem Mal eine der ergiebigsten Quellen der mathematischen Erkenntniss wurden, das war doch nicht viel weniger als ein logisches Wunder, welches die cons\u00e9quente Kritik unm\u00f6glich dulden konnte. Nun aber stand die Thatsache, dass complexe Zahlen von den Mathematikern fortw\u00e4hrend unbek\u00fcmmert um irgendwelche Unsicherheit in der Motivirung gebraucht wurden, unumst\u00f6\u00dflich fest. Es mussten also nothwendig die bisherigen Voraussetzungen des Nominalismus falsch sein. Und hier setzte nun wieder die bisher lange unterdr\u00fcckte negirende Richtung der nominalistischen Kritik den Hebel an, indem sie die Existenz alles Imagin\u00e4ren und zugleich alles Negativen \u00fcberhaupt leugnete. Der Grundgedanke dieser Richtung ist der, dass diese Ausdr\u00fccke weder m\u00f6gliche, noch unm\u00f6gliche Gr\u00f6\u00dfen, noch Symbole, noch Zahlen, kurz \u00fcberhaupt keine Begriffe seien, sondern wesentlich Formen der Rechnung, Functionszeichen f\u00fcr gewisse vorzunehmende Operationen.\nIn diesem Sinne bestimmt zuerst Duhamel in seinem gro\u00dfen Werk : Des m\u00e9thodes dans les sciences de raisonnement1) die Zahl wieder lediglich als das Verh\u00e4ltniss irgend einer Gr\u00f6\u00dfe zur Einheit2),\n1)\tParis 1865\u201473. F\u00fcr unsern Zweck kommen allein der zweite und dritte Band in Betracht.\n2)\tC\u2019est l\u00e0 ce que dor\u00e9navant nous entendrons par un nombre, que l\u2019usage veut encore qu\u2019on appelle le rapport de la grandeur \u00e0 l\u2019unit\u00e9. A. a. O. II, \u00b0hap. VII, p. 42.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nWalter Brix.\neine Definition, die schon Newton an die Spitze seiner Arithmetica universalis gestellt hat. Ganz wie Newton fasst er dementsprechend auch das Negative und Imagin\u00e4re nicht als Zahlen, sondern als Gr\u00f6\u00dfen (allerdings in einem andern Sinne als gew\u00f6hnlich) oder als Ausdr\u00fccke auf, f\u00fcr welche er mit Vorliehe das Wort expressions anwendet. Beide gelten ihm f\u00fcr unentbehrlich, um die Allgemeinheit arithmetischer S\u00e4tze und Methoden aufrecht zu erhalten; sie sind als Ilechnungsformen von gro\u00dfem Nutzen. Man darf sie aber nicht als isolirte Gr\u00f6\u00dfen individualisiren oder ihnen irgend eine begriffliche Existenz zuschreiben wollen. Solche Versuche k\u00f6nnten immer nur zu unklaren \u00bb\u00eatres phantastiques\u00ab f\u00fchren, wie er dies z. B. durch eine ziemlich klare und im allgemeinen zutreffende Besprechung der \u00fcber das Negative von Laplace, Euler, D\u2019Alembert und Carnot1) aufgestellten Theorien nachzuweisen sich bem\u00fcht. Eine negative Gr\u00f6\u00dfe ist nach ihm von einer positiven begrifflich gar nicht verschieden, sondern nur eine andere Form, unter der man jene betrachtet, indem man sie in irgend einem Zusammenhang mit anderen Gr\u00f6\u00dfen \u2014 und in einem solchen kann sie \u00fcberhaupt nur Sinn haben \u2014 nicht setzen, sondern abziehen soll.\nIst in diesem Sinn das Negative immerhin noch in concreteren Verh\u00e4ltnissen interpretirbar, so kommt dagegen dem Imagin\u00e4ren gar keine reelle Bedeutung zu. Dies ist ihm nur eine symbolische Form, erfunden, um die Zerlegung eines algebraischen Ausdrucks in lineare Factoren immer m\u00f6glich zu machen, und zwar eine Form weniger f\u00fcr die Factoren selbst, als f\u00fcr die Zerlegung. Aber auch hier muss man sich h\u00fcten, in solchen und \u00e4hnlichen Rechnungen wirkliche Operationen zu sehen. In Wahrheit haben wir es nur mit Umformungen gewisser Identit\u00e4ten in andere zu thun, aus denen irgend ein Resultat nicht zu gewinnen ist2).\nAllen diesen Ausf\u00fchrungen wird man eine gewisse Klarheit und Vorsicht im Gegensatz zu den Cauchy\u2019sehen \u00bbconsid\u00e9rations g\u00e9n\u00e9rales\u00ab nicht absprechen k\u00f6nnen. Allein sie treffen leider nicht die wirklichen Begriffe des Negativen und Imagin\u00e4ren, wie sie thats\u00e4chlich von der Mathematik fortw\u00e4hrend gehandhabt werden, sondern viel engere, von Duhamel selbst construirte Formen. Dies\n1)\tA. a. O. II, chap. XIX.\n2)\tVgl. H, Chap. XX, p. 178 und 181 ff.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n145\nzeigt sich denn auch klar in dem dritten Bande seines Werkes in den Theilen, wo er die Anwendungen der reinen Arithmetik behandelt. Hier wird es ihm n\u00e4mlich unm\u00f6glich, seinen eigenen Definitionen und selbstgew\u00e4hlten Beschr\u00e4nkungen treu zu bleiben. So ist er z. B. doch schon recht oft gezwungen, isolirte negative Ausdr\u00fccke in den Kreis der Betrachtung zu ziehen, obwohl er dies nat\u00fcrlich nicht zugeben will; vollkommen aber versagt seine Theorie gegen\u00fcber denjenigen Disciplinen der Mathematik, f\u00fcr welche das Complexe die Grundlage der Betrachtung bildet. Denn bei der Besprechung dieser vergisst er ganz die urspr\u00fcnglich aufgestellte Bestimmung, dass alle Rechnungen mit imagin\u00e4ren Gr\u00f6\u00dfen niemals Erkenntnisse, sondern immer nur schematische Umformungen liefern k\u00f6nnten, und leitet selbst durch ausgedehnte Betrachtungen \u00fcber complexe Reihen, complexe Functionen u. s. w. eine F\u00fclle von ganz neuen Resultaten ab. Freilich kommen ihm anf\u00e4nglich noch Bedenken \u00fcber eine derartige Handlungsweise, und er spricht dieselben offen aus ') ; aber er gelangt dann schlie\u00dflich keineswegs, wie es nach seiner Definition doch eigentlich sein sollte, zu dem Schluss, dass solche Rechnungen in der That zwecklos sein m\u00fcssten, weil sie ja lediglich Umformungen bekannter reeller Verh\u00e4ltnisse bedeuteten, sondern sieht sich, dem wirklichen Thatbestand entsprechend, zu dem Urtheil gen\u00f6thigt, dass er es mit sehr wichtigen und n\u00fctzlichen Methoden zu thun hat, die auch Resultate, und zwar sehr sch\u00f6ne Resultate zu liefern im Stande sind. An jener Stelle h\u00e4lt er allerdings \u00e4u\u00dferlich noch an seiner fr\u00fcheren Darstellung fest und hilft sich mit der Bemerkung : Or la transformation des expressions est une des plus grandes ressources de l\u2019analyse1 2) \u00fcber die Frage hinweg. Aber in der allgemeinen Uebersicht\n1)\tTout cela (es handelt sich um Folgerungen aus dem Moivre\u2019schen Satz) est \u00e9vident et incontestable; mais on peut se demander \u00e0 quoi peuvent servir ces fictions de calculs qui ne semblent qu\u2019un amusement bizarre, qui n\u2019offre de remarquable que la simplicit\u00e9 du r\u00e9sultat compar\u00e9e \u00e0 la multitude des mat\u00e9riaux qu\u2019il a fallu combiner. N\u2019y a-t-il autre chose que dans ces jeux d\u2019enfants o\u00f9, avec un grand nombre de pi\u00e8ces de toutes formes, on parvient \u00e0 construire des figures qui surprennent par leur \u00e9l\u00e9gance et leur r\u00e9gularit\u00e9 ? A ces questions, qu\u2019il semble naturel de s\u2019adresser, il faut une r\u00e9ponse nette et pr\u00e9cise, a. a. O. HI, Chap. XVII, p. 359.\n2)\tEbenda p. 361.\nWundt, Philos. Studien. VI.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nWalter Brix.\n\u00fcber das Vorgetragene, mit welcher er den dritten Band schlie\u00dft, erkennt er das Rechnen mit imagin\u00e4ren Gr\u00f6\u00dfen, welches doch nach der urspr\u00fcnglichen Begriffsbestimmung niemals den Charakter von wirklichen Operationen tragen sollte, sogar als eine sehr wichtige und ebenso strenge Methode an, wie jede andere, die nur mit reellen Gr\u00f6\u00dfen rechne ').\nNach alledem ist die Duhamel\u2019sehe Ansicht wohl in sich consequent und widerspruchsfrei, aber seine Begriffe von Zahl, negativ, imagin\u00e4r sind nicht die in der Mathematik wirklich herrschenden, sondern viel zu beschr\u00e4nkt. Und dies Verh\u00e4ltniss tr\u00e4gt einen tiefgreifenden Widerspruch in seine Darstellung hinein, der, wenn man sich an den wirklichen Thatbestand der wissenschaftlichen Methodik halten will, nur zu beseitigen ist durch das Aufgeben seiner allzuengen Definitionen. Allerdings gibt es in einer solchen Lage noch eine zweite L\u00f6sung der Schwierigkeit. Statt die eigenen, beschr\u00e4nkteren Begriffe den weiteren der Wissenschaft anzupassen, kann man auch ebenso consequent an ihnen festhalten, sie als grundlegende Normen aufstellen und alles, was ihnen in der thats\u00e4chlichen Entwickelung der Wissenschaft widerspricht, f\u00fcr fehlerhaft, unzul\u00e4ssig und verwerflich erkl\u00e4ren. Diesen, ja mehrfach bew\u00e4hrten (man denke nur an den Untergang der Astrologie, Alchemie u. s. w.), aber im Gebiete der exacten Wissenschaften doch immerhin bedenklichen Ausweg schlug im gleichen Falle D\u00fch-ring ein.\nSeine diesbez\u00fcglichen Anschauungen, die sich mit denen Du-hamel\u2019s vielfach ber\u00fchren, obwohl sie von ihnen ganz unbeeinflusst sich entwickelt zu haben scheinen, hat er niedergelegt in dem mit seinem Sohn gemeinsam verfassten Werk: Neue Grundmittel und Erfindungen zur Analysis etc.1 2). Nachdem er hier die mathema-\n1)\tC\u2019est surtout l\u2019application r\u00e9ciproque de la science des nombres et de la g\u00e9om\u00e9trie qui met en \u00e9vidence les avantages de l\u2019introduction des imaginaires, et nous les avons fait ressortir avec tout le soin que m\u00e9rite cette m\u00e9thode, si bizarre de d\u00e9duction et de recherche : m\u00e9thode aussi s\u00fbre que celles qui n\u2019emploient que des quantit\u00e9s r\u00e9elles. Expos\u00e9 synoptique III, p. 429.\n2)\tDer vollst\u00e4ndige Titel lautet: Neue Grundmittel und Erfindungen zur Analysis, Algebra, Functionsrechnung und zugeh\u00f6rigen Geometrie sowie Principien zur mathematischen Reform nebst einer Anleitung zum Studium und Lehren der Mathematik von Dr. E. D\u00fchring und Ulrich Dtihring. Leipzig 1884.\nj","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n147\ntisch-realistische Auffassung, wie sie bis in die Mitte unseres Jahrhunderts in Deutschland die gew\u00f6hnliche war, im allgemeinen besprochen und in seiner schonenden Polemik, \u00bbwas hier\u00fcber ein Gau\u00df, und was Nachtreter dieses Professors an abnormen Beschr\u00e4nktheiten und Thorheiten zu Markte gebracht haben\u00ab, auf Rechnung ihres \u00bbpers\u00f6nlichen Idiotismus\u00ab gesetzt hat, geht er dazu \u00fcber, seine positiven Ansichten \u00fcber die Frage zu entwickeln. Dieselben bestehen im allgemeinen darin, dass er die anschauliche und begriffliche Existenz aller Zahlen mit Ausnahme der absoluten leugnet. Ueber das Irrationale und die Br\u00fcche spricht er sich nirgends aus, aber es geht doch aus allem hervor, dass er im allgemeinen den Zahlbegriff ebenso wie Duhamel und Newton fasst.\nWas nun seine Anschauungen \u00fcber das Negative und Imagin\u00e4re betrifft, so soll der Grundirrthum der vor-D \u00fchring \u2019sehen Mathematiker darin bestanden haben, dass sie in diesen Ausdr\u00fccken die Vorzeichen mit der absoluten Gr\u00f6\u00dfe zu einem Begriff verschmolzen und die so k\u00fcnstlich hergestellten Formen als neue, selbst\u00e4ndige Zahlgattungen einf\u00fchrten. Die fr\u00fcheren Bezeichnungen als falsche Wurzeln oder unm\u00f6gliche Gr\u00f6\u00dfen w\u00e4ren demnach die einzig richtigen gewesen, insofern sie anzeigten, dass man es hier \u00fcberhaupt nicht mit Gr\u00f6\u00dfen zu thun habe. In Wahrheit sind aber \u2014 so muss man hier die D\u00fchring\u2019schen Ueberlegungen erg\u00e4nzen \u2014 nur absolute Gr\u00f6\u00dfen der Anschauung zug\u00e4nglich und darum allein zu dulden. Daher bezeichnen auch jene Formen, welche an und f\u00fcr sich keineswegs unm\u00f6glich sind, nicht selbst\u00e4ndige Gr\u00f6\u00dfengattungen, sondern allein die Art und Weise, in der die in ihnen enthaltene absolute Gr\u00f6\u00dfe zu betrachten ist, die Gestalt, in welcher sie indie Rechnung eingef\u00fchrt werden soll. Denn \u00bb die Vorzeichen bedeuten nie und nirgends etwas anderes, als Operationen und Operationsbeziehungen\u00ab1). Die Formen \u2014a und Y\u2014a sind daher bei D\u00fchring keine dem a coordinirten neuen Begriffe, sondern, um es kurz zu sagen, Functionen der absoluten Gr\u00f6\u00dfe a. So bedeutet der Ausdruck \u2014a, dass a in irgend einer Rechnung abgezogen werden soll, j/a \u2014 so m\u00fcsste man hier eigentlich wieder inter-poliren \u2014 dass es \u00fcberhaupt erst mit Gr\u00f6\u00dfen verglichen werden\n1) A. a. O. p. 7.\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nWalter Brix.\n\u00ab\nkann, welche sich als Quadrate darstellen, ]/\u2014 a endlich, nicht zu lesen als: Wurzel aus minus a, sondern als das Functionszeichen: Wurzel minus in Bezug auf a, die verlangte Setzung einer ganz unm\u00f6glichen Operation, welche aber deshalb noch nicht zu verwerfen ist, sondern als solche, \u00e4hnlich den unm\u00f6glichen Annahmen im indirecten Beweise, bewusst vorgenommen von gro\u00dfem Yortheil werden kann1).\nAuf diese functionelle Auffassung, welche die Zahlen allein als Argumente f\u00fcr ihre Vorzeichen bestehen lassen will, gr\u00fcndet D\u00fch-ring dann eine neue Algebra des Absoluten. So liest er z. B. aus der Existenz einer L\u00f6sung y \u2014 a \u2014 x (a<^x) heraus, dass es eine Gleichung x \u2014 y = a statt der vorgelegten : x -f- y \u2014 a gibt, f\u00fcr welche sofort die positive L\u00f6sung y = x \u2014 a gefunden wird. \u00bbDie negative L\u00f6sung liefert, sei es durch Substitution, sei es durch jene unmittelbare Ueberlegung, jederzeit eine neue Gleichung, die in absoluten Gr\u00f6\u00dfen m\u00f6glich ist\u00ab2). Ebenso bedeutet eine imagin\u00e4re L\u00f6sung y ==]/\u00ab\u2014x1 ix1 )> a) der Gleichung 1) x2 + y2 = a, dass es eine reelle y = ]/x'2\u2014 a der Gleichung 2) x1 \u2014 y2 \u2014 a gibt, oder, geometrisch gesprochen, dass y statt einer Ordinate im Kreise 1) eine solche in der Hyperbel 2) sei. Dies ist ihm \u00fcbrigens auch zugleich im Gegensatz zu jenen \u00bbmonstr\u00f6sen Gau\u00dfigkeiten\u00ab die wahre geometrische Veranschaulichung des Imagin\u00e4ren.\nBetreffs der weiteren Entwickelung dieser Ideen m\u00fcssen wir auf das Originalwerk verweisen. Den positiven Entwickelungen desselben wird man im allgemeinen zustimmen k\u00f6nnen. Man kann entschieden die Vorzeichen lediglich als functionelle Symbole f\u00fcr die Zahlen ansehen, man kann die letzteren in Folge dessen auf die absoluten Zahlen beschr\u00e4nken. Aber wir d\u00fcrfen hier die Bemerkung nicht unterdr\u00fccken, dass, einmal auf dem D\u00fchring\u2019schen Standpunkt angelangt, man diese functionelle Auffassung auch noth-wendig auf alle Vorzeichen, d. h. auch auf die Wurzeln und den Bruchstrich ausdehnen und das Irrationale wie Gebrochene gleichfalls aus dem Zahlbegriff eliminiren muss, so dass f\u00fcr diesen nur\n1)\tEbenda p. 27.\n2)\tEbenda p. 10.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t149\ndie positive ganze Zahl, die absolute Zahl im engeren Sinne \u00fcbrig bleibt.\nIn dieser Richtung ist denn auch in neuester Zeit Kro-necker noch weit \u00fcber D\u00fchring hinausgegangen, indem er mit dem Versuch begonnen hat, die ganze Arithmetik wieder auf die Lehre von den absoluten ganzen Zahlen zu reduciren1), ein Gedanke, den nach seiner Darstellung schon Gau\u00df ausgesprochen haben soll. Nun ist K r on e c k e r allerdings nicht gerade unter die Nominalisten zu rechnen. Die Motive, die ihn bestimmen, sind nicht in erster Linie erkenntnisstheoretischer, sondern mathematischer Natur. Und seine Theorie ist praktisch noch nicht als ein ausgebildetes System, sondern vorl\u00e4ufig noch als ein Versuch anzusehen, wie weit man mit der ganzen Zahl in der Mathematik allein ausreichen kann. Mag dem aber immerhin so sein, implicit liegt einer solchen Beschr\u00e4nkung doch jedenfalls die begriffliche Erw\u00e4gung zu Grunde, dass die \u00fcbrigen Zahlformen unsicher und schwankend, vielleicht sogar zu unsicher sind, um zu constanten Elementen einer mathematischen Disciplin gemacht zu werden.\nIn der That ist diese Erw\u00e4gung ja auch insofern richtig, als die positive ganze Zahl die einzige Form ist, in der uns der Zahlbegriff \u00fcberhaupt in der Erfahrung gegeben ist, in der wir ihn thats\u00e4chlich abstrahiren (daher sich auch die Empiristen alle auf sie beschr\u00e4nkt haben). Aber wollte man hieraus den Schluss ziehen, dass darum auch die Arithmetik sich mit der absoluten ganzen Zahl begn\u00fcgen solle, so w\u00fcrde das die Voraussetzung involviren, die Mathematik sei nur anzusehen als ein H\u00fclfsmittel oder gar eine specielle Form der Erfahrung. Von der Seite des empiristischen Nominalismus ist ihr diese Rolle ja auch beinahe durchg\u00e4ngig zu-\nll Kroneoker, Ueber den Zahlbegriff. Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik, Band 101, Berlin 1887, S. 337\u2014355, zum Theil auch enthalten in dem Aufsatz, welcher neben der Arbeit von v. Helmholtz \u00fcber Z\u00e4hlen und Messen in der Sammlung von Festschriften zum f\u00fcnfzigj\u00e4hrigen Doctor-Jubil\u00e4um Eduard Zeller\u2019s als No. VIII abgedruckt ist. Kronecker hat dann seinen Algorithmus der Congruenzen schon weiter angewandt, und zwar auf allgemeine complexe Zahlen, in den Abhandlungen : Zur Theorie der allgemeinen complexen Zahlen und der Modulsysteme, Sitzungsberichte der k\u00f6niglich preu\u00dfischen Academie der Wissenschaften zu Berlin, 1888, p. 429\u2014438, 447\u2014465, 557\u2014578, 595\u2014612, 983\u20141016. (Fortsetzung in Aussicht gestellt.)","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nWalter Brix,\ngedacht worden. Der Mathematiker selbst jedoch, der t\u00e4glich vollbewusst mit Entwickelungen arbeitet, die schlechterdings nicht in empirische Erkenntnisse umzusetzen sind, kann sich mit dieser Auffassung, welche der Zahlenlehre im Grunde nur die schematische Reproduction von Gruppirungsm\u00f6glichkeiten zuerkennen will, unm\u00f6glich zufrieden gehen. Er wird deshalb als Grundlage der reinen abstracten Mathematik auch einen anderen, den allgemeinen Zahlhegriff verlangen, um auch die h\u00f6heren complexen Zahlen in den Kreis der Betrachtung ziehen zu k\u00f6nnen, welche D\u00fchring\u2019s singul\u00e4re Auffassung unter die \u00bbfehlgreifenden Phantasien, Spielereien und Wortschmiedereien \u00fcber neue Combinationen, oder vielmehr mit neuen Masken des Imagin\u00e4ren\u00ab rechnen muss1).\nSo haben wir denn als positives Ergebniss der erkenntniss-theoretischen Bearbeitung des Zahlbegriffs vorl\u00e4ufig das Resultat gewonnen, dass es zwei ganz verschiedenartige Betrachtungen des Zahlbegriffs geben kann. Die eine geht direct von erkenntniss-theoretischen Erw\u00e4gungen aus und l\u00e4sst nur das gelten, was in der realen Welt vorgehildet ist. Sie beschr\u00e4nkt den Zahlbegriff deshalb consequenter Weise auf die absolute Zahl2). Die andere betont den logisch systematischen Charakter der Mathematik und fordert als Grundlage derselben den allgemeinen Zahlbegriff. Auf die erste Auffassung, welche die Vorzeichen als Functionsbezeichnungen auffasst, gr\u00fcnden sich z. B. alle Beweise f\u00fcr das Zeichen von Producten, bei denen einer oder jeder von beiden Factoren negativ ist, w\u00e4hrend diejenigen, welche das als eine nothwendige, aber unvorstellbare Concession an die Permanenz der formalen Gesetze ansehen, nur den zweiten Zahlbegriff im Auge haben. In der Regel w\u00e4hnt man dann die vermeintliche Unglaublichkeit, welche in den Beziehungen: (\u2014a) \u25a0 (-j- b) = \u2014 ab ; (\u2014a) \u25a0 (\u2014 b) = -f- ab liegen soll, durch einen Beweis im Sinne der ersten Auffassung heben zu k\u00f6nnen3). Diese, und nur diese ist ja wirklich im Stande, \u00fcberhaupt einen solchen Beweis zu erbringen, aber man \u00fcbersieht dabei, dass\n1)\tA. a. O. p. 4.\n2)\tUnter absoluter Zahl ist hier wie im folgenden immer der engere Begriff, d. h. die absolute ganze Zahl zu verstehen.\n3)\tVgl. z. B. Kuno Fischer, System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre. Zweite Auflage, Heidelberg 1865 \u00a7 116 S. 340.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n151\nman keineswegs das Multiplicationsgesetz f\u00fcr negative, sondern nur das f\u00fcr negativ genommene absolute Zahlen demonstrirtl).\nDie vermeintliche Paradoxie entspringt aber hier, wie \u00fcberall in der Mathematik, lediglich aus der Vermengung zweier \u00e4hnlicher, aber doch verschiedener Begriffe. Es erw\u00e4chst demnach, wenn der Schein des Wunderbaren von diesen und \u00e4hnlichen Gebieten definitiv genommen werden soll, der logischen Untersuchung die Aufgabe, beide Begriffe einmal wirklich ganz zu trennen, um sie einer isolirenden und erkl\u00e4renden Einzelbetrachtung zu unterwerfen.\nNun ist es allerdings nicht zu verkennen, dass auf diesem Gebiete bisher dem kritischen Forscher noch sehr wenig vorgearbeitet ist. Die Mathematiker k\u00f6nnen aus formalen Gr\u00fcnden auf die Noth-wendigkeit der erw\u00e4hnten Trennung nur schwer kommen, und die Logiker scheinen sie \u00fcbersehen oder nicht f\u00fcr n\u00f6thig gehalten zu haben, weil sie sich meist auf die reellen Zahlen beschr\u00e4nken, bei denen sie weniger zur Geltung kommt2). Nichts desto weniger besteht aber dieser Unterschied, und als bester Beweis daf\u00fcr d\u00fcrfen die unendlichen Schwierigkeiten gelten, welche z. B. der Begriff\n1)\tDie lange und ziemlich erfolglose Controverse \u00fcber diese Frage in der Hoffmann\u2019sehen Zeitschrift f\u00fcr mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht (Leipzig, hei Teuhner), zu welcher die Aufs\u00e4tze von Kober, Band XIV, S. 13\u201417, S. 178, S. 340\u2014341, XV, S. 106\u2014108; Thieme, XIV, S. 177 bis 178; Hoffmann, XIV, S. 178-181, XV, S. 108-113, 274-277,344-345, 505-515, 581\u2014582, 595\u2014598, XVI, S. 107\u2014110; H\u00e4rter, XIV, S. 582\u2014587 ; R\u00fcfli XV, S. 500\u2014504; Z, S. 599\u2014606 geh\u00f6ren, gibt ein sehr lehrreiches Beispiel daf\u00fcr ab, wie weit die unbewusst vorgenommene Vermischung zweier solcher verschiedener Begriffe selbst mathematisch geschulte K\u00f6pfe irre machen kann.\n2)\tNur Hankel hat in seiner Theorie der complexen Zahlsysteme einen \u00e4hnlichen Unterschied von aetuellen und formalen Zahlen, und a\u00fcein Si g wart hat in seiner Logik einmal gelegentlich (Band II, dritter Theil, erster Abschnitt \u00a7 15, S. 52 [T\u00fcbingen 1878]) die oben in\u2019s Auge gefasste Scheidung bei den negativen Zahlen ausgesprochen. Aber beide Auffassungen stehen unvermittelt nebeneinander z. B. bei Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Berlin 1840, I, S. 22, bei Kuno Fischer an der in der dritten Anmerkung auf S. 47 citirten Stelle, bei Lotze, Logik, zweite Auflage, Leipzig 1880 S. 600, 601, und bei Drobisch, Logik (Neue Darstellung der Logik), f\u00fcnfte Auflage, Hamburg und Leipzig 1887, S. 29, 30, 38 etc. Auch die sonst so eingehend gliedernde Logik von Wundt f\u00fchrt ohne deutlichen Uebergang von dem einen Zahlbegriff zum andern \u00fcber, so z. B. auf S. 100 und 101 des zweiten Bandes und S. 94 desselben in dem Passus: Da zahlreiche Objecte mathematischer Speculation ganz imagin\u00e4rer Art sind u. s. w.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nWalter Brix.\ndes Negativen von jeher gemacht hat. Daf\u00fcr spricht andererseits auch die Existenz der allgemeinen complexen Zahlen, welche allein dem zweiten Begriff angeh\u00f6ren.\nSoll aber die Erkenntniss dieser Doppelnatur des Zahlbegriffs, welche schon einigerma\u00dfen bei Leibniz1), weniger bei Cardan2) vorgebildet ist, dazu f\u00fchren, dass man mit D\u00fchring den allgemeinen Zahlbegriff ganz wegwirft? Wir meinen nein ! Was sich nicht blos als leichtfertige Speculation des Augenblicks, sondern als ein so geschlossenes und fehlerfreies System darbietet, wie es z. B. das \u2014 D\u00fchring scheinbar ganz unbekannte \u2014 ausgezeichnete Werk von Hankel gibt, das ist doch wohl nicht ohne Weiteres als \u00bbmystischer Aberglaube\u00ab und \u00bbUebermathematik der Ma-thematisten \u00ab in den Papierkorb zu werfen ; was nicht allein als praktisches H\u00fclfsmittel, sondern auch als begriffliche Theorie so allgemein recipirt ist, wie z. B. die Quaternionenrechnung, kann nicht der Machtspruch einer Autorit\u00e4t einfach als \u00bbfehlgreifende Phantasie oder Spielerei\u00ab bei Seite schieben. Wenn die Philosophie ihren wahren Beruf als Wissenschaftslehre erf\u00fcllen will, darf sie nicht mit der vorgebildeten Meinung einer in sich noch so abgeschlossenen Erkenntnistheorie an die Frage herantreten, sondern hat das von der Arithmetik ihr schon ziemlich fertig \u00fcbergebene Begriffsmaterial einer in diesem Fall allerdings sehr nothwendigen Kritik zu unterziehen.\nEine solche unbefangene Kritik f\u00fchrt aber zu dem Ergebniss, dass jeder der beiden erw\u00e4hnten Zahlbegriffe, welche wir als absoluten und allgemeinen unterschieden haben, gleichm\u00e4\u00dfig f\u00fcr sich zu Kecht bestehen kann. Und nun wir, gedr\u00e4ngt durch die historische Entwickelung, zu dieser Erkenntniss gelangt sind, zeigt uns sofort ein R\u00fcckblick, dass eigentlich die beiden Gegens\u00e4tze des Nominalismus und Realismus jeder einen anderen Zahlbegriff bearbeitet haben. Dem ersten verdanken wir haupts\u00e4chlich die Entwickelung des absoluten, dem zweiten die des allgemeinen Zahlbegriffs. Und man wird in der That die beiden endg\u00fcltigen Typen aus den von D\u00fchring und Leibniz aufgestellten Formen unschwer herausarbeiten k\u00f6nnen. Der einzige Vorbehalt, den man zu treffen haben\n1)\tVgl. oben Kapitel III, 1.\n2)\tVgl. Kapitel I, 2.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n153\nwird, ist der, dass man ihre Entstehungsweise \u00e4ndert und den nicht zutreffenden Apriorismus der Realisten ebenso eliminirt wie die rein empirischen Grundlagen der Nominalisten.\nIn der That werden wir uns bem\u00fchen zu zeigen, wie in dieser Beziehung eine Stufenfolge von Ahstractionen vom psychologischen zum absoluten, von diesem zum allgemeinen Zahlbegriff f\u00fchrt1).\n3. Der Begriff der absoluten Zahl.\nNachdem wir uns am Schluss der vorstehenden Betrachtungen im allgemeinen dar\u00fcber orientirt haben, in welcher Weise der reine, von allen logischen Yorurtheilen freie Zahlbegriff aus den verschiedenen Ansichten der erkenntnisstheoretischen Schulen herausgesch\u00e4lt werden kann, wird es nunmehr an der Zeit sein, diesen Begriff, oder vielmehr diese Begriffe, positiv aus ihnen zu entwickeln. Da indessen der von uns als allgemeiner bezeichnete Zahlbegriff schon eine h\u00f6here Abstraction des reinen Denkens darstellt, der absolute aber allein im Stande ist, wirkliche Erfahrungen zu vermitteln, so kann in dieser erkenntnisstheoretischen Besprechung auch nur der letztere behandelt werden.\nUeherblickt man die ganze Bearbeitung des Zahlbegriffs in der Philosophie von drei Jahrhunderten, so muss man zu dem Ergehniss gelangen, dass dem Nominalismus der Nachweis f\u00fcr die\n1) Was die Benennungen: absoluter und allgemeiner Zahlbegriff betrifft, so habe ich mich hier an den Sprachgebrauch gehalten, obwohl er gerade in diesem Falle recht unsystematisch verf\u00e4hrt. Man k\u00f6nnte vielleicht von einem erkenntnisstheoretischen und einem logischen Zahlbegriff sprechen, weil allein der erste Erkenntnisse vermitteln kann, w\u00e4hrend der zweite eine Abstraction des reinen Denkens darstellt, aber dies w\u00fcrde zu leicht die Vorstellung erwecken, als ob der erstere unlogisch oder kein eigentlicher Begriff sei, und au\u00dferdem der mathematischen Verwendung beider nicht gerecht werden. Ebensowenig w\u00fcrde sich die Classiflcirung : wahrer nominalistischer und wahrer realistischer Zahlbegriff empfehlen, weil mit diesen Bezeichnungen doch immer die Vorstellung des Unfertigen und der logischen Schulvorurtheile, der idola theatri verbunden w\u00e4re. Auch die von Hankel (Complexe Zahlen p. 6 und 36) eingef\u00fchrte Gegen\u00fcberstellung der actuellen und formalen Zahlen, sowie der von Cantor (Mathematische Annalen, Leipzig 1883, p. 562) betonte Unterschied von immanenter resp. intrasubjectiver und transienter resp. transsubjectiver Realit\u00e4t treffen wohl etwas \u00e4hnliches, aber nicht die wahren Gegens\u00e4tze.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nWalter Brix.\nUnm\u00f6glichkeit der apriorischen Existenz desselben v\u00f6llig gelungen ist. Ebenso wird man vom historischen Standpunkt aus der Zu-riickf\u00fchrung der arithmetischen, wie \u00fcberhaupt aller mathematischen Erkenntniss auf Induction und Abstraction unbedingt Glauben schenken. Sind doch die Existenz der dekadischen Zahlsysteme, der in dieser Beziehung sehr werthvolle Papyrus Rhind1), endlich die p\u00e4dagogische Methode der Entwicklung aller Rechengesetze hierf\u00fcr die beredtesten Zeugnisse. Andererseits beruht aber der rein wissenschaftliche Werth der Arithmetik, wie der gesammten Mathematik, keineswegs blos auf dieser Schematisirung der Erfahrung, sondern vielmehr haupts\u00e4chlich auf der von Mill ihrer wahren Bedeutung nach verkannten M\u00f6glichkeit, das ganze inductiv aufgef\u00fchrte Geb\u00e4ude deductiv in jedem Augenblick zu reconstruiren. Die empirisch gefundenen Fundamentals\u00e4tze k\u00f6nnen jederzeit in Definitionen, die inductiven Schl\u00fcsse in Beweise, die Grunds\u00e4tze in Specialisirungen der allgemeinen logischen Axiome umgewandelt werden. Wenn daher die Arithmetik auch durchaus der Erfahrung ihren Ursprung verdankt, wenn man selbst die These nicht ohne Gl\u00fcck verfechten k\u00f6nnte, dass an der ganzen Peripherie des mathematischen Wissens in der Hauptsache noch heutzutage inductiv gearbeitet wird, immer gelten die neuen Resultate erst dann als hei-mathsberechtigt, wenn ihre deductive Herleitung aus bereits bekannten Begriffen und S\u00e4tzen gelungen ist; und hierauf beruht gerade der von Mill falsch dargestellte exacte Charakter der mathematischen Wissenschaften.\nFragt man aber, was diesen Forscher zu einer so schiefen Auffassung der Mathematik als einer, wenn auch der h\u00f6chsten Erfahrungswissenschaft getrieben hat, so wird man mit Wundt2) keinen anderen Grund finden, als den einer unberechtigten Iden-tificirung der mathematischen Abstraction und Induction mit den entsprechenden Methoden der Erfahrungswissenschaften.\nEs wird nothwendig sein, dies hier noch etwas n\u00e4her zu erl\u00e4utern. Unter Abstraction versteht man bekanntlich3) \u00bbim allge-\n1)\tVgl. oben Kapitel I, 1.\n2)\tWundt, Logik II, S. 98\u2014111.\n3)\tIch entnehme diese Definition ebenfalls der Wundt\u2019sehen Logik (II, S. 10).","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zanlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t155\nmeinen das Verfahren, durch welches aus einer zusammengesetzten Vorstellung oder aus einer Mehrzahl solcher Vorstellungen gewisse Bestandtheile eliminirt und die \u00abzur\u00fcckbleibenden als Elemente eines Begriffs festgehalten werden\u00ab. Die Entstehung der arithmetischen Grundbegriffe auf diesem Wege ist unmittelbar evident; es fragt sich nur, Welche positiven Bestandtheile hier als Begriffselemente Zur\u00fcckbleiben. An der Beantwortung dieser Frage scheitert der Nominalismus vollst\u00e4ndig. Denn Mill fasst die betreffenden positiven Elemente noch als Merkmale der objectiven Dinge selbst auf, welche sich nur dadurch auszeichnen, dass sie allen Gegenst\u00e4nden gleichm\u00e4\u00dfig zukommen. Hiernach w\u00e4ren also die Zahlen im wesentlichen eine Nachbildung der objectiven Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen im Geiste. Wir haben aber gesehen und schon bei der Besprechung des psychologischen Zahlbegriffs nachzuweisen versucht1), wie diese nothwendig an der Raumanschauung haftende Zahlform nur einen ganz minimalen Umfang haben kann und gewisserma\u00dfen als eine Vorstufe zu betrachten ist, deren Besitz selbst h\u00f6her organisirten Thieren zugesprochen werden muss. Hierbei kann aber von einem Z\u00e4hlen, welches immer einen Zeitverlauf bedingt, nicht die Rede sein, und in der Anschauung werden die verschiedenen Gegenst\u00e4nde nicht einzeln gesetzt, sondern in demselben Augenblick gemeinsam vorgestellt, ohne dass ihre psychologisch m\u00f6gliche Construction von Einheiten dabei zum Bewusstsein kommt. Bei dem psychologischen Begriff der Anzahl muss indessen schon die Mill'sehe Theorie versagen. Denn die Definition der letzteren als das, was zur\u00fcckbleibt, wenn man bei Betrachtung getrennter Dinge von den Merkmalen ahsieht, durch welche sie sich unterscheiden2), muss nothwendig darauf f\u00fchren, dass sie \u00fcberhaupt keine objective Bedeutung hat \u2014 denn alles Objective wird ja im Ahstractionsprocess eliminirt \u2014 sondern lediglich den rein subjectiven Schematismus der Zusammenfassung einzelner Denkacte bezeichnet. Wir haben demgem\u00e4\u00df oben3) den psychologischen Zahlbegriff auch im Lichte dieser\n1)\tKapitel II. 2.\n2)\tIch entnehme diese Definition, in welcher allerdings das genus proximum fehlt, die man aber doch sehr oft h\u00f6ren und lesen kann, einem der verbreitetsten Lehrb\u00fccher, dem Lehrbuch der Analysis von Lipschitz (I Bonn 1877, S. 1).\n3)\tKapitel II. 3.","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nWalter Brix.\nAuffassung betrachtet. Ihr Unterschied von der Kantischen, der sie \u00e4u\u00dferlich sehr \u00e4hnelt, besteht darin, dass der transcendentale Apriorismus dieses Schemas gestrichen und durch die subjective Ge-dankenth\u00e4tigkeit im psychologischen Apperceptionsprocess ersetzt ist.\nDer Begriff der Anzahl liegt nun zun\u00e4chst auch der weitergehenden erkenntnisstheoretischen Behandlung zu Grunde. W\u00e4hrend aber die psychologische Betrachtung nur eine einzige Erzeugung einer jeden Zahl durch Zusammensetzung von Einheiten, d. h. durch die einheitliche Zusammenfassung getrennter Denkacte liefert, lehrt die erkenntnisstheoretische Untersuchung die mannigfachsten und verschiedenartigsten Bestimmungsweisen derselben durch die Ausbildung der sogenannten Zahlentheorie. Im psychologischen Begriff der Anzahl liegt selbstverst\u00e4ndlich nur eine einzige Erzeugungsart. Soll die Zahl also Gegenstand der Erkenntniss werden, so m\u00fcssen Bestimmungen und Entwickelungen mit ihr in Beziehung treten, die ihrer psychologischen Wirkungssph\u00e4re fern stehen. Hierdurch erh\u00e4lt sie aber ein ganz neues Aussehen ; denn sie wird durch eine F\u00fclle von neuen Eigenschaften bereichert, welche dem Begriff der Anzahl noch fremd sind. Diese neuen Eigenschaften sind weder analytisch aus ihrem Begriff zu entwickeln, wie Leibniz glaubte, noch synthetisch a priori in der Anschauung zu construiren, wie Kant annahm, sondern durchaus auf empirischem Wege gefunden.\nDer Erfahrungsprocess nun, welcher auf die Erkenntniss der Zahlbeziehungen f\u00fchrte, ist, wie Mill richtig hervorhob, die Induction, aber wiederum nicht die gew\u00f6hnliche physikalische, sondern die mathematische Wundt\u2019s. Denn aueh hier bezieht sich der Erkenntnissprocess keineswegs auf die jeweilig betrachtete \u00e4u\u00dfere Einheit, welche vielmehr ganz nebens\u00e4chlich ist und nur als festes Beziehungssubstrat dient, noch haftet sie etwa gar an ihr, sondern einzig und allein auf die dabei aufgewandte subjective Denkth\u00e4tigkeit.\nBetrachten wir z. B. das f\u00fcr diese Zwecke beinahe gewohnheitsm\u00e4\u00dfig eingeb\u00fcrgerte Beispiel Kant\u2019s: 7 + 5 = 12, so ist dies zun\u00e4chst, wie Kant richtig betont1), kein analytisches Urtheil;\n1) Kritik der reinen Vernunft. Ausgabe von Rosenkranz und Schubert II (Leipzig 1838) S. 143 und 703.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t157\ndenn weder im Begriff der sieben, noch in dem der f\u00fcnf wird die zw\u00f6lf mitgedacht. Darum braucht es aber noch lange nicht ein synthetisches Urtheil a priori oder ein Axiom im Kantischen Sinne') zu sein; denn hierf\u00fcr ist ein Beweis schlechterdings nicht zu erbringen. Ebensowenig ist man aber auch andererseits berechtigt, die ohige Gleichung als physikalisches Erfahrungsgesetz zu bezeichnen und seine Richtigkeit mit Mill allein in der Thatsache zu suchen, dass sieben Kiesel und f\u00fcnf Kiesel zusammen bisher noch immer die constante Summe von zw\u00f6lf Kieseln ergeben haben. Nicht durch die unzuverl\u00e4ssige \u00e4u\u00dfere Wahrnehmung kann ihre apodiktische Gewissheit erkl\u00e4rt werden, sondern allein durch die untr\u00fcgliche innere Erfahrung, dass die Combination von f\u00fcnf einzelnen Denkacten, zusammengefasst mit der von sieben, der zw\u00f6lfmaligen Wiederholung desselben Denkactes \u00e4quivalent ist.\nPflegt man sich auch solche arithmetischen Grundwahrheiten in der Regel an concreten Objecten, am liebsten an sichtbaren klar zu machen, so sind diese doch eben nur Beziehungssuhstrate f\u00fcr die einzelnen Denkacte, Objecte mit der einzigen Bestimmung, gesetzt zu werden. Die Induction bezieht sich aber nicht auf die Verbindung der Objecte, sondern lediglich auf die Art und Weise des Setzens. Die Objecte selbst sind dabei v\u00f6llig gleichg\u00fcltig. Als ein empirischer Beweis f\u00fcr die Richtigkeit dieser Ansicht kann auch der Umstand gelten, dass f\u00fcr alle diejenigen, welche in Folge des Mangels eines Sinnes, namentlich des Auges, nur unklarere Vorstellungen von der Au\u00dfenwelt haben k\u00f6nnen, die arithmetischen S\u00e4tze genau die gleiche Evidenz besitzen, wie f\u00fcr jeden anderen.\nDie mathematische Induction, welche uns die arithmetischen Wahrheiten liefert, bezieht sich also nach alledem nicht mehr, wie Mill glaubt, auf die Gr\u00f6\u00dfen Verh\u00e4ltnisse der Au\u00dfenwelt, sondern bereits auf die aus ihnen abstrahirten Zahlen, sie ist rein subjectiv. Das Gebiet aber, welches sie in dieser Porm beherrscht, ist ein ziemlich umfangreiches, und die Summe derjenigen S\u00e4tze, welche entweder direct oder im letzten Grunde auf die Anschauung zur\u00fcck-\n1) Kant scheut zwar vor der Bezeichnung: Axiom zur\u00fcck, und w\u00e4hlt daf\u00fcr den Ausdruck : Zahlformel, weil es sonst unendlich viele Axiome gehen m\u00fcsste. Dies ist aber offenbar kein logischer, sondern ein rein praktischer Grund. In Wahrheit bleibt die Gleichung bei ihm trotz des andern Wortes doch Axiom.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nWalter Brix.\ngehen, eine sehr bedeutende. Wundt unterscheidet drei verschiedene Arten derselben1).\nZu der ersten geh\u00f6ren die arithmetischen Axiome, welche nat\u00fcrlich dieselbe unmittelbare Evidenz besitzen, wie die logischen Grundgesetze, d. h. nicht auf Grund einer \u00e4u\u00dferen inductio per enume-rationem simplicem geglaubt werden, sondern ihre unmittelbare, durch innere Erfahrung freilich erst zum Bewusstsein kommende Gewissheit in der subjectiv unumst\u00f6\u00dflichen Thatsache ihrer Denkno thwendigkeit finden. Eben deswegen k\u00f6nnen sie sich aber auch nur als Determinationen der allgemeinen logischen Grunds\u00e4tze im arithmetischen Gew\u00e4nde darstellen und m\u00fcssen, wo dies nicht der Fall ist, auf ihre einfachsten Bestandtheile noch reducirt werden.\nSo sind z. B. entschieden die neun Euklidischen xoival evvoiai nicht alle selbst\u00e4ndige Nothwendigkeiten2). Deshalb wollte schon Mill dieselben auf die beiden Grunds\u00e4tze zur\u00fcckf\u00fchren: \u00bbDinge, welche einem und demselben Ding gleich sind, sind untereinander selbst gleich\u00ab und: \u00bbGleiches zu Gleichem addirt gibt gleiche Summen\u00ab3 4). Der letzte ist aber noch unn\u00f6thig eng, da er z. B. der Multiplication negativ genommener Zahlen nicht gerecht werden kann. Man wird daher zweckm\u00e4\u00dfiger, analog mit Wundt1), von folgenden vier Specialisirungen der logischen Axiome, des Satzes von der Identit\u00e4t, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten und vom Grunde ausgehen: Erstens \u00bbJede Zahleinheit gilt jeder andern gleich\u00ab, zweitens: \u00bbEine Zahl ist jeder andern ungleich\u00ab, drittens: \u00bbDie Bildung einer Zahl aus Einheiten ist stets eindeutig\u00ab, und viertens: \u00bbGleiche Operationen, mit gleichen Zahlen vorgenommen, ergeben wieder Gleiches\u00ab. Die letzte ist als arithmetische Form des Satzes vom zureichenden Grunde die interessanteste und\n1)\tWundt, Logik II, S. 100\u2014106.\n2)\tIn der Teubner\u2019schen Ausgabe von Heiberg ist \u00fcbrigens der gew\u00f6hnlich als f\u00fcnfter bezeichnete Grundsatz : \u00bbVon Ungleichem Gleiches weggenommen gibt Ungleiches\u00ab und der gew\u00f6hnlich mit vier numerirte \u00bbGleiches zu Gleichem zugesetzt gibt Gleiches\u00ab eingeklammert. Daf\u00fcr ist dann, allerdings auch in Klammern, ein geometrisches Axiom hinzugef\u00fcgt \u00bbzwei Gerade schlie\u00dfen keinen Raum ein\u00ab, ein anschauliches Postulat, das offenbar nicht unter die xoiva'i h-voiat, sondern unter die airfip-ciTa geh\u00f6rt.\n3)\tLogik III, Kap. XXIV, \u00a7 5, vgl. oben S. 34.\n4)\tLogik I, S. 521.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t159\nkann leicht durch weitere Specialisirung auf die einzelnen arithmetischen Operationen, auf die drei thetischen Addition, Multiplication und Potenzirung sowohl, wie auf die drei lytischen Subtraction, Division, Radicirung bezogen werden1).\nWas nun diese Operationen betrifft, so ist zun\u00e4chst zu bemerken, dass dieselben f\u00fcr den vorliegenden Zahlbegriff auch nur die Bedeutung von actuellen, anschaulichen Beziehungsformen, d. h. von functionellen Verkn\u00fcpfungen besitzen, dass andrerseits die Vorzeichen \u00fcberall auch nur w\u00f6rtlich als Vor-Zeichen aufzufassen sind, auf die Natur der ihnen nachgestellten Zahlen aber nicht den geringsten Einfluss haben. Denn auf Objecte der Erfahrung bezogen ist allein der Zahlbegriff, welchen die Sprache als absoluten (nat\u00fcrlich hier immer im engeren Sinne verstanden) bezeichnet. Er besitzt nur die einzige Form der positiven ganzen Zahl und sticht durch seine begriffliche Starrheit bedeutend gegen den geschmeidigeren, artenreichen allgemeinen Zahlbegriff, durch seine h\u00f6here Abstraction ebenso sehr gegen den psychologischen ab. Von letzterem unterscheidet er sich namentlich dadurch, dass jener allein durch seine Genese aus Einheiten definirt werden konnte, dieser aber auf unendlich viele Weisen zu erzeugen ist. Dort konnte jede Zahl allein f\u00fcr sich betrachtet oder h\u00f6chstens auf die vorhergehende bezogen werden, hier aber wird sie lediglich in Verbindung mit anderen Zahlen behandelt, und gerade diejenigen Merkmale werden an ihr festgehalten, welche allen Zahlen gemein sind; dort war unter der Zahl jedesmal der Z\u00e4hlprocess selbst verstanden, hier wird er ganz eliminirt und von vornherein als vollendet angenommen; dort war sie bestimmt, die Gegenst\u00e4nde zu registriren, hier soll sie Erkenntnisse vermitteln; dort schuf sie einen Ausdruck f\u00fcr die Menge, hier einen solchen f\u00fcr das Ma\u00df. Das Verh\u00e4ltniss vom psychologischen zum absoluten Zahlbegriff ist also etwa so zu fassen, dass\n1) \"Wir brauchen hier wie im Folgenden immer die von Hanke 1 (in der Theorie der complexen Zahlsysteme) eingef\u00fchrten W\u00f6rter : thetisch und lytisch. In der That empfehlen sie sich auch mehr, als die von Leibniz und Gra\u00df-mann angewandten, anderweitig schon so viel abgenutzten Bezeichnungen: synthetisch und analytisch, oder als die ebenfalls vielfach gebrauchten : direct und indirect. Zudem sind die Hankel\u2019sehen Bezeichnungen wohl mehr recipirt, z. B. bei Stolz, Vorlesungen \u00fcber allgemeine Arithmetik, Leipzig 1885, Wundt, Logik u. s. w.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nWalter Brix.\nder zweite die fertig gedachte Zusammenf\u00fcgung von Einheiten darstellt, welche unter dem ersten verstanden wird, dass er als Ganzes das betrachtet, was der erste aus Theilen zusammengesetzt, analog wie etwa die transfinite Unendlichkeit als das Einheitssubstrat der infiniten gedacht wird. Betrachtet man aber andrerseits die rein erkenntnisstheoretische Verwendung, so kann man die absoluten Zahlen auch als Argumente definiren f\u00fcr die functionellen Verkn\u00fcpfungen der anschaulichen, arithmetischen Operationen.\nUnter diesem Gesichtspunkt bedeutet z. B. + a nicht etwa eine positive Gr\u00f6\u00dfe (+ a) \u2014 diese Form geh\u00f6rt erst dem allgemeinen Zahlbegriff an, \u2014 auch nicht, dass ein Ding nacheinander a mal zu setzen sei dies w\u00fcrde dem psychologischen Zahlbegriff entsprechen, \u2014 sondern eine mit der absoluten Zahl \u00ab, welche als Ordinalzahl einen ganz bestimmten Platz unter den logischen Begriffen einnimmt, vorzunehmende Addition, wie sie nach den inductiv gefundenen Regeln daf\u00fcr auszuf\u00fchren ist. Soll diese Addition freilich direct veranschaulicht, zum Bewusstsein gebracht werden, so muss man doch wieder auf den psychologischen Zahlbegriff zur\u00fcckgreifen.\nInductiv und allein durch Abz\u00e4hlen gefunden sind aber die betreffenden Operationsregeln als unmittelbare Specialisirungen der arithmetischen Axiome ; und dies ist das zweite gro\u00dfe Gebiet, auf dem die Induction die mathematische Erkenntniss leitet. Hierzu rechnet Wundt alle einfachen Zahlgleichungen, wie 5 + 7 = 12 oder 5-6 = 30; ihm w\u00fcrden auch die Kan tisch en \u00bbZahlformeln\u00ab entsprechen. Mit dem letzteren Gebiet h\u00e4ngt endlich noch eine dritte Quelle inductiver Erkenntniss zusammen, n\u00e4mlich die an die Einzel - Inductionen sich anschlie\u00dfenden generali sir enden, wie sie vorzugsweise in der Comhinationslehre zur Anwendung kommen, wenn man von n auf n + 1 schlie\u00dft.\nNachdem allerdings solche S\u00e4tze inductiv einmal erst gefunden sind, setzt ihrerseits unmittelbar die Deduction ein, welche, hasirt auf die nicht anders als inductiv zu begr\u00fcndenden Axiome sowie auf die Definitionen der Zahlen und ihrer Operationen, entweder die einfachen Zahlformeln, wie 5 + 7=12 oder 5-6 = 30 beweist, oder aber als Deduction nach exacter Analogie (als sogenannte vollst\u00e4ndige Induction der Mathematik) die Resultate der dritten Art f\u00fcr das Lehrgeb\u00e4ude systematisch verarbeitet. Die Bedeutung der","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n161\nletzten Gattung von Deduction ist allerdings noch eine weit gr\u00f6\u00dfere, insofern sie die empirisch gefundenen Einzelinductionen der zweiten Art m\u00fchelos, etwa auf Grund des dekadischen Zahlsystems, auf das ganze in Frage kommende Gebiet auszudehnen gestattet. So werden z. B. die f\u00fcr die Zahlen 1 bis 9 gefundenen Additions- und Multiplicationsregeln ohne weiteres auf beliebige Zahlen verallgemeinert, 5-)-7 = 12 auf 50 + 70 = 120i?u. s. f.>).\nEine andere und zwar die interessanteste und folgenreichste Anwendung fand diese exacte Generalisation in Bezug auf die F\u00e4lle, wo die lytischen Operationen nicht mehr ausf\u00fchrbar erschienen. Vergegenw\u00e4rtigen wir uns aber, um die Bedeutung dieser Verh\u00e4ltnisse, welche, wie wir hier gleich erw\u00e4hnen wollen, in ihrem vollen Umfange erst dem n\u00e4chsten Abschnitt angeh\u00f6ren, an dieser Stelle geb\u00fchrend w\u00fcrdigen zu k\u00f6nnen, noch einmal kurz den Standpunkt, den wir im vorliegenden Gedankengang eingenommen hatten.\nAls Grundlage der Betrachtung, d. h. als Object der arithmetischen Operationen diente uns bisher immer die absolute (ganze) Zahl als das erkenntnissthe\u00f6retisch nothwendige Einheitssubtrat des zusammengesetzten, psychologischen Anzahlbegriffes. Pr\u00e4ciser hatten wir sie als die subjective Gesammtheit der einzelnen Denkacte bestimmt, welche die Anzahl constituiren. Der Umfang des absoluten Zahlbegriffs ist also nothwendig derselbe, wie der des psychologischen, nur die Form ist eine andere. Was ihn aber wesentlich von jenem unterscheidet, das ist seine Bestimmung, nicht, allein f\u00fcr sich betrachtet, einen psychologischen Vorgang, den des Z\u00e4hlens zu schematisiren, sondern lediglich in Verbindung mit anderen Zahlen behandelt und in Bezug auf die allgemeinen, hieraus sich ergebenden Eigenschaften untersucht zu werden. Die Methode dieser Untersuchung war, wie historisch feststeht, die Induction, aber die mathematische, nicht die gew\u00f6hnliche physikalische. Denn sie bezog sich nicht mehr auf die \u00e4u\u00dferen Bestimmungen der Erfahrung, sondern allein auf die subjective, bei dem Process aufgewandte Gedankenth\u00e4tigkeit. Hierdurch wird ihr aber die von M ill vergeblich geleugnete Constanz des Beziehungsobjectes gegeben, verm\u00f6ge deren es m\u00f6glich wird, das ganze inductiv gewonnene\n1) Vgl. die weitere Ausf\u00fchrung dieser Ideen, \u00fcber die sich wohl kaum noch etwas neues sagen l\u00e4sst, im Original bei Wundt, Logik II, S. 100\u2014114.\nWundt, Philos. Studien. VI.\t| 1","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nWalter Brix.\nErkenntnissmaterial deductiv wieder umzuarbeiten, d. h. ihm jene unbedingte, apodiktische Gewissheit zu geben, welche den Erfahrungswissenschaften abgeht.\nVersteht aber die Deduction diese ihre Aufgabe richtig, so hat sie nichts weiter zu beahsichtigen, als eben nur die einzelnen, in-ductiv gefundenen Resultate systematisch zu ordnen und in ein festes Lehrgeb\u00e4ude zu bringen, mit andern Worten sie aus Definitionen und den arithmetischen Grundaxiomen abzuleiten, welche seihst freilich nicht mehr deductiv, sondern nur mit dem Hinweis auf ihre Existenz zu begr\u00fcnden sind und h\u00f6chstens \u00e4u\u00dferlich auch noch in Definitionen umgewandelt werden k\u00f6nnten. Niemals aber \u2014 und das muss hier besonders betont werden \u2014 hat die Deduction das Recht, neue, bisher unhetretene Wege zu gehen, welche aus dem Gebiet der Induction herausf\u00fchren, selbstverst\u00e4ndlich allein in dem hier festgehaltenen, vom Begriff der absoluten Zahl bestimmten Gedankengang. Sie hat nicht zu forschen, sondern allein zu veri-ficiren und muss daher Halt machen, wo sie durch weitere Verfolgung ihrer Operationen den Umkreis der absoluten Zahlen verlassen, wo ihre Durchf\u00fchrung, um denkbar zu sein, die Einf\u00fchrung neuer Zahlarten erfordern w\u00fcrde.\nNun k\u00f6nnen die thetischen Operationen niemals \u00fcber das bisherige Zahlgebiet hinausf\u00fchren. Denn die Addition, urspr\u00fcnglich nur mit einer Einheit vorgenommen, erzeugte eben dadurch suc-cessiv die ganze Zahlenreihe. Eine Addition irgend welcher Zahlen konnte daher auch immer nur eine h\u00f6here, in der Reihe enthaltene Zahl geben. Ebenso lieferten nat\u00fcrlich die Multiplication als Specialfall der Addition und die Potenzirung als Specialfall der Multiplication stets nur absolute Zahlen, und dasselbe w\u00fcrde von allen h\u00f6heren Operationen gelten, die man durch successives Specialisiren der Potenzirung gewinnen k\u00f6nnte. Sobald man sich aber etwa die Frage vorlegte, ob die Subtraction als Umkehrung der Addition immer m\u00f6glich sei, oh sich also zu einer Zahl a stets eine solche Zahl x finden lasse, welche, zu einer dritten Zahl b addirt, a ergebe, so musste man zu der Erkenntniss kommen, dass eine solche L\u00f6sung der Gleichung a = b + x nicht immer zu geben war. In der That ist diese schon unm\u00f6glich im Falle a \u2014 b. Denn die Gleichung a \u2014 a + x zeigt sofort auf Grund des Satzes vom Wider-","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t163\nspruch, dass x keine absolute Zahl sein, d. h. keinen einheitlichen Denkact postuliren kann. Wenn man daher den fraglichen Werth in diesem Falle mit 0 bezeichnet, so ist damit, wie im dekadischen Positionssystem, nur gesagt, dass an der betreffenden Stelle keine Zahl zu setzen sei. Wird aber vollends b )> \u00ab, so ist die Subtraction, durch welche man zur L\u00f6sung gelangen w\u00fcrde, in keiner Weise mehr auszuf\u00fchren. Man kann wohl die Zahl l in a + c zerlegen und dadurch die Setzung von a wieder aufheben, beh\u00e4lt dann aber immer noch eine abzuziehende Zahl c \u00fcbrig, mit der man aber nichts weiter anfangen kann, als h\u00f6chstens das Vergebliche des ganzen Versuchs durch ein \u2014 c andeuten.\nWeiter kann man hier aber offenbar nicht gehen, ohne das Gebiet der absoluten Zahlen zu verlassen; und auf der empirisch-nominalistischen Grundlage der Betrachtung ist aus der Gleichung x = \u2014 c zun\u00e4chst nichts weiter herauszulesen, als dass das ganze Problem unsinnig, und das x keine Zahl sei. Bei genauerem Zusehen erkennt man allerdings, dass man doch ein positives Resultat erhalten, aber eigentlich eine ganz andere Aufgabe gel\u00f6st hat, als urspr\u00fcnglich beabsichtigt war. Denn die L\u00f6sung x \u2014 \u2014 c zeigt ja an, dass man \u00fcberhaupt erst noch die Zahl c zu a hinzuf\u00fcgen muss, um b zu erhalten, mit anderen Worten, dass man nicht x\u2014 \u2014 c als L\u00f6sung der Gleichung a \u2014 b + x, sondern x = c als L\u00f6sung von b = a + x gefunden hat. Die Subtraction, richtig verstanden, braucht also \u00fcber den Kreis der absoluten Zahlen auch noch nicht hinauszuf\u00fchren, sobald man nur nicht das fingirte Resultat einer actuell unvorstellbaren Operation, wie beim allgemeinen Zahlbegriff, mit in den Kreis der Betrachtungen zieht.\nDasselbe gilt mutatis mutandis auch von der Umkehrung der Multiplication, der Division. Es sei z. B. die Gleichung a = b \u25a0 x vorgelegt, und a und b seien relative Primzahlen (der Begriff derselben ist nat\u00fcrlich bereits fixirt zu denken). Dann bedeutet zun\u00e4chst die schematische L\u00f6sung x \u2014 a : b eine unm\u00f6gliche Division, zeigt also damit an, dass x wiederum nicht zu den absoluten Zahlen geh\u00f6rt, positiv aber sagt sie zugleich aus, dass die Zahl a erst mindestens mit b multiplicirt werden muss, damit die Fragestellung \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist. Statt der sinnlosen Gleichung a \u2014 b \u2022 x erh\u00e4lt man also die verbesserte a \u25a0 b \u25a0 n \u2014 b \u2022 x und als\nH*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nWalter Brix.\nL\u00f6sung derselben x = a \u25a0 n. Ebenso zeigt eine Wurzel x = ~\\/a der Gleichung x \u2022 x = a, in welcher a keine Quadratzahl ist, verm\u00f6ge der unausf\u00fchrbaren Kadicirung an, dass a in jener Gleichung \u00fcberhaupt erst zu einem Quadrat erg\u00e4nzt werden m\u00fcsse, damit man von einem Problem und einer L\u00f6sung sprechen k\u00f6nne.\nEs erscheinen also wirklich in diesem Gedankenzusammenhang dieZeichen +, \u2014, -, :, \u00ff~ lediglich als Bezeichnungen von functioneilen Verkn\u00fcpfungen, welche mit den nachgestellten absoluten Zahlen vorzunehmen sind. Verm\u00f6ge dieser Eigenschaft haben aber, wie schon Cardan und Leibniz richtig betonten1), und D\u00fch-ring n\u00e4her ausgef\u00fchrt hat 2J, alle diese sinnlosen L\u00f6sungen zugleich die positive Bedeutung, die falsch gestellte Frage derart zu corri-giren, dass nun eine L\u00f6sung m\u00f6glich wird.\nDerselbe Sinn, wie er hier an einfachen Specialf\u00e4llen einer unausf\u00fchrbaren Subtraction, Division und liadicirung auftrat, ist nat\u00fcrlich andererseits auch unmittelbar auf zusammengesetzte Operationen anwendbar. Da diese Ausdehnung keinerlei Schwierigkeiten macht, so m\u00f6ge hier nur des speciellen Falles gedacht sein, welcher die Ausziehung einer Quadratwurzel aus einer negativ zu nehmenden Zahl verlangt. Die Unm\u00f6glichkeit dieser Operation ist mathematisch keine wesentlich h\u00f6here, als die Subtraction von Null, wir haben hier eben nur die Combination zweier unausf\u00fchrbarer Operationen. Ganz analog unserer fr\u00fcheren Betrachtungsweise werden wir daher aus der imagin\u00e4ren L\u00f6sung x \u2014 ]/\u2014 a der Gleichung #2 -(- a \u2014 0 sofort herauslesen k\u00f6nnen, dass zun\u00e4chst die Sinnlosigkeit der Gleichung x1 = \u2014 a die G\u00fcltigkeit von x- = + a bedingt, wo dann a eventuell noch zu einem Quadrat zu erg\u00e4nzen ist, damit man als L\u00f6sung eine ganze Zahl erh\u00e4lt.\nDiese summarischen Andeutungen m\u00f6gen gen\u00fcgen, um den Charakter der ganzen Auffassung, die wir die wahre nominalistische nennen k\u00f6nnen, und deren Berechtigung in dieser Form wohl nicht zu bestreiten sein d\u00fcrfte, in das rechte Licht zu stellen. Die weitere Ausf\u00fchrung hat Diihring in den unpolemischen Theilen seines ohen citirten Werkes gegeben, wobei er sich freilich nur auf das\n1)\tVgl. Kapitel I, 2 und III, 1.\n2)\tIn seinem oben citirten Werk.","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n165\nNegative und Imagin\u00e4re beschr\u00e4nkt. Aber eben diese Beschr\u00e4nkung zeigt zugleich, dass die ganze Auffassung den wirklichen Zahlbegriff lange nicht ersch\u00f6pft. Wohl m\u00fcssen wir ihr eine selbst\u00e4ndige Existenzberechtigung zugestehen und sind sogar gehalten, sie als eine Vorstufe des ungleich systematischeren und werthvolleren allgemeinen Zahlbegriffs anzusehen, aber sie muss sich dann eben auch selbst genug bleiben und die algebraischen Irrationalit\u00e4ten und Br\u00fcche ebenso verwerfen, wie das Negative und Imagin\u00e4re. Eine partielle Erweiterung des Zahlgebietes ist logisch wie mathematisch gleich zu missbilligen. Im Gebiet des absoluten Zahlbegriffs darf allein \u2014 und dieser Gedanke beherrschte ja schon die griechische Arithmetik \u2014 die absolute ganze Zahl zugelassen werden; und alle Vorzeichen, das Plus wie das Minus, die Wurzel wie das Wurzelminus, d\u00fcrfen nur als Operationszeichen betrachtet und nie zur Definition neuer Zahlformen verwandt werden. Ihre partielle Unausf\u00fchrbarkeit aber lehrt einerseits die Sinnlosigkeit der gestellten Frage, gibt jedoch andrerseits sofort die Mittel an die Hand, die Aufgabe derart zu verbessern, dass sie l\u00f6sbar wird, und wirft so elastisch jeden Versuch einer Erweiterung des Zahlgebietes in die bisherigen Grenzen zur\u00fcck.\nEs ist nun aufs lebhafteste zu bef\u00fcrworten, dass dieser absolute Zahlbegriff in seiner urspr\u00fcnglichen Reinheit in der Arithmetik wieder hergestellt wird, wie es Kr on ecke r in der oben citirten Abhandlung, angeregt von Gau\u00df, beabsichtigt und direct als Ziel der Arithmetik hinstellt ; es ist sogar auf s h\u00f6chste zu w\u00fcnschen, namentlich deswegen, weil dann endlich einmal die principielle Sonderung der functioneilen von der substantiellen Auffassung der negativen und imagin\u00e4ren Zahlen die letzten unklaren Ansichten \u00fcber diese Frage beseitigen w\u00fcrde und z. B. jene Debatte \u00fcber das Negative in der Hoffmann\u2019sehen Zeitschrift1) unm\u00f6glich gemacht h\u00e4tte, deren Vorkommen nicht das gl\u00e4nzendste Zeugniss f\u00fcr die allseitig erkannte Klarheit der mathematischen Grundanschauungen ablegt.\nAndrerseits kann aber auch wieder nicht genug betont werden, dass die bisher besprochene Auffassung schon deshalb, weil sie auf stetige Gr\u00f6\u00dfen nicht anwendbar ist, nicht die einzige Behandlungsweise bleiben muss oder darf. Und wenn der unaufhaltsam fort-\n1) Vgl. Die betreffende Anmerkung am Schluss von Kapitel III, 2.","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"166 Walter Brix. Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\nschreitende Geist mathematischer Forschung nicht allein hei den absoluten Zahlen stehen geblieben ist, sondern sie thats\u00e4chlich mit ihren Vorzeichen zu neuen, festen Begriffen verschmolzen hat, so ist dies wohl weder eine entbehrliche Verallgemeinerung der Zahlenlehre, wie Kr\u00f6n ecke r das behaupten zu wollen scheint, noch eine gewaltige speculative Verirrung der mystisch werdenden Mathematik, wie D\u00fchring das glauben machen will, sondern der Ausdruck jenes nie vollendeten, aber tief in der Natur der Sache selbst begr\u00fcndeten logischen Strebens nach immer h\u00f6heren Abstractionen und Generalisationen, deren durchaus exacter Charakter der bisher betrachteten Methodik nichts nachgibt, deren Forschungsgebiet aber, in\u2019s Unbegrenzte erweitert, ganz neue, nie geahnte Probleme dem menschlichen Geist aufgeschlossen hat.\nMan kann eine solche Erweiterung f\u00fcr erkenntnisstheoretisch werthlos, f\u00fcr unpraktisch und unbrauchbar, man kann sie mit Kronecker f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig, mit Berkeley f\u00fcr eine Spielerei erkl\u00e4ren \u2014 alles das, sobald man allein den subjectiven Standpunkt festh\u00e4lt, \u2014 aber eine Proclamirung dieser Ansichten als der allgemeinen oder gar eine wissenschaftliche Vernichtung der reinen Mathematik, wie sie D\u00fchring beabsichtigt, w\u00e4re wohl ebenso unm\u00f6glich wie sinnlos.\nEine logische Untersuchung vollends hat sich vor allen Dingen mit den Begriffen zu besch\u00e4ftigen, welche thats\u00e4chlich gebildet sind, sie vorurtheilsfrei zu untersuchen und erst dann zu verwerfen, wenn sie in sich unm\u00f6glich oder bereits anerkannten Begriffen widersprechend befunden werden. Geht man aber wirklich, ohne sich den klaren Blick durch Vorurtheile erkenntnisstheoretischer oder logischer Natur tr\u00fcben zu lassen, an die Untersuchung der Frage selbst, so muss man nothwendig zu dem Schl\u00fcsse gelangen, dass weitaus die meisten der noch gebildeten Zahlbegriffe, wenn man sie nur richtig versteht, ihrer logischen Natur nach genau so sicher und fest bestimmt sind, wie der psychologische Begriff der Anzahl oder der erkenntnisstheoretische der absoluten Zahl. Wie diese Anschauungen durchgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, das werden wir uns im n\u00e4chsten Capitel zu zeigen bem\u00fchen.\n(Schluss folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":166}],"identifier":"lit4943","issued":"1891","language":"de","pages":"104-166","startpages":"104","title":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Fortsetzung","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:44:25.313357+00:00"}