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{"created":"2022-01-31T14:44:11.054483+00:00","id":"lit4952","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Brix, Walter","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 6: 261-334","fulltext":[{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\nEine logische Untersuchung.\nVon\nWalter Brix.\n(Schluss.)\nViertes Kapitel.\nDer allgemeine Zahlhegriff.\n1. Der Begriff der formalen Zahl.\nWir haben bereits im ersten, historischen Theil dieser Arbeit gesehen, wie sich der Uebergang von der Ma\u00dfzahl der Griechen zu der universelleren Zahl der Inder auf Grund einer Verallgemeinerung der drei lytischen Operationen vollzog. Dort kam wesentlich die mathematische Seite dieser Erweiterung in Betracht, hier indessen handelt es sich darum, die logische Bedeutung des Ueber-ganges zu beleuchten, welcher dem vom psychologischen Zahlbegriff zum absoluten ganz analog ist. Wir werden finden, dass wir uns hier durchweg im Gebiet der generalisirenden Abstraction und der Deduction nach exacter Analogie bewegen.\nDer absolute Zahlbegriff war aus dem psychologischen dadurch hervorgegangen, dass man von der Bildungsweise der Zahlen aus Einheiten abstrahirte und dieselben als etwas von Anfang an fer-tiges betrachtete. Dieser Umstand erm\u00f6glichte es, dass man nun die Zahl im Zusammenhang mit ihres gleichen behandeln konnte Und die arithmetischen Eigenschaften derselben kennen lernte, welche ihren Ausdruck in einer Reihe von bisher sechs Grundoperationen fanden.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nWalter Brix.\nAn diesem Punkt setzt nun die weitergehende Abstraction ein, welche zum allgemeinen Zahlhegriff f\u00fchrt. Der Hauptschritt, den sie zu thun hat, besteht in der Elimination des anschaulichen Charakters, welcher dem absoluten Zahlhegriff noch von seinem psychologischen Ursprung her anhaftete, indem sie nur die neu hinzugekommenen charakteristischen Eigenschaften, d. h. die arithmetische Bedeutung, als wesentliche Momente heibehielt. Der allgemeine Zahlhegriff entsteht aus dem absoluten einfach dadurch, dass man von aller Anschaulichkeit, d. h. von aller M\u00f6glichkeit, f\u00fcr die durch die Zahlbeziehungen geforderten Denkakte concrete Beziehungssubstrate anwenden zu k\u00f6nnen, ahstrahirt und als Merkmal des allgemeinen Zahlhegriffs allein die arithmetischen Eigenschaften festh\u00e4lt. Und hier zeigt sich deutlich, wie der absolute Zahlhegriff zwischen dem psychologischen und dem allgemeinen in der Mitte steht, denn er hat mit jenem die anschaulichen, mit diesem die abstracten Bestimmungen gemein.\nL\u00e4sst man nun aber das Merkmal der Anschaulichkeit hei den Zahlen sowohl, wie hei ihren Operationen ganz fallen, so ergibt sich damit auch sofort, dass man dann nicht mehr hei der bisherigen Form derselben stehen zu bleiben braucht, sondern jene Erweiterungen des Zahlhegriffs durch die F\u00e4lle der Unausf\u00fchrbarkeit der lytischen Operationen wirklich vornehmen kann, welche fr\u00fcher die Forderung der Anschaulichkeit noch verhinderte. Der Umfang der auf diesem Wege gewonnenen Formen, f\u00fcr welche die Sprache auch noch die Bezeichnung wie den Begriff der Zahl heibehalten hat, ist dadurch gegen fr\u00fcher nat\u00fcrlich ein au\u00dferordentlich erweiterter. Doch ist selbstverst\u00e4ndlich andererseits hei jeder derartigen Ausdehnung die gr\u00f6\u00dfte Vorsicht geboten. Denn sobald man die Erfahrung verl\u00e4sst \u2014 und diese gibt uns ja zun\u00e4chst nur absolute Zahlen \u2014 bewegt man sich auf dem Boden von rein transcendenten Speculationen, ') hei denen ein lohnendes Resultat von vom herein eigentlich kaum zu erwarten ist. An Warnungen, gutgemeinten Rathschl\u00e4gen, selbst an Drohungen haben es ja auch in dieser\n1) Wir brauchen hier, wie im folgenden, auch wenn wir von transcendenten Zahlen sprechen, das Wort transcendent immer in dem philosophischen und nicht im mathematischen Sinn, also in der Bedeutung von \u00fcberempirisch.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t263\nHinsicht die Empiristen nicht fehlen lassen. Allein es ist ihnen die Erfahrung nicht erspart gebliehen, dass die Mathematik ruhig auf der betretenen Bahn fortschritt, ohne sich um eine derartige Bevormundung auch nur im geringsten zu k\u00fcmmern. Und wennD\u00fch-ring dieselbe deshalb wie ein ungezogenes Kind behandelt, so bleibt doch immer noch zu bedenken, dass, wer sich zum allgemeinen Richter aufwirft, zun\u00e4chst mit den gegebenen Verh\u00e4ltnissen zu rechnen hat, nicht aber hartn\u00e4ckig an einem, nur f\u00fcr einen viel engeren Umfang passenden Standpunkt festhalten und alles andere lediglich deshalb als \u00bbmystischen Unsinn\u00ab verwerfen darf, weil es zuf\u00e4llig \u00fcber den ersten beschr\u00e4nkteren Gesichtskreis hinausreicht. Es muss ja zugegeben werden, dass die Mathematiker sich oft seihst \u00fcber ihre Methode am wenigsten klar waren, dass sie von den erreichten Resultaten mit am meisten \u00fcberrascht wurden; allein wie oft sind nicht in der Wissenschaft richtige Schl\u00fcsse aus ganz falschen Pr\u00e4missen gezogen und umfangreiche, sch\u00f6ne Theorien auf den anerkannt unzuverl\u00e4ssigsten Grundlagen aufgebaut worden. Und wenn endlich der Erfolg als eine B\u00fcrgschaft f\u00fcr die Billigung des Versuchs anzusehen ist, so kann sich der Mathematiker in nnserm Falle mit vollstem Recht auf ihn berufen. Denn nicht genug damit, dass keine einzige von den tr\u00fcben Prophezeihungen der Erfahrungs-philosophen eingetroffen ist, die verhassten transcendenten Zahlformen sind sogar eine \u00fcberreiche Quelle der scheinbar unersch\u00f6pflichsten Erkenntniss geworden, welche jene nur darum als fragw\u00fcrdig hinzustellen sich bem\u00fchten, weil sie sich den Zusammenhang absolut nicht erkl\u00e4ren konnten.\nDie wahre, wissenschaftlich allein zul\u00e4ssige Beurtheilung der Sache darf aber offenbar nicht in dieser Weise dogmatisch, sondern nur kritisch verfahren und richtige Resultate nicht lediglich deshalb verwerfen, weil sie mit der engeren Methodik eines bestimmten erkenntnisstheoretischen Standpunktes nicht zu gewinnen sind, sondern hat den gegebenen Verh\u00e4ltnissen gem\u00e4\u00df auszugehen von den thats\u00e4chlich unanfechtbaren Ergebnissen und Licht \u00fcber den Weg zu verbreiten, auf dem der Mathematiker halb unbewusst zu ihnen gelangt ist. Denn am Ende ist es doch nicht die Philosophie, sondern die Mathematik selbst, welche zu bestimmen hat, was sie zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen will und was nicht.\nWundt, Philos. Studien. YI.\t18","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nWalter Brix.\nTritt man nun aber an die kritische Behandlung der Frage heran, so zeigt sich zun\u00e4chst als das begrifflich wichtigste Moment die Thatsache, dass alle \u00fcber die absoluten Zahlen hinausf\u00fchrenden Betrachtungen, alle ferneren Erweiterungen des Zahlbegriffs ohne jeden realen Untergrund sind und rein transcendente Speculationen bedeuten. Die genetische Entwicklung ist f\u00fcr die Erfahrung mit dem absoluten Zahlbegriff geschlossen als dem Beziehungssubstrat f\u00fcr die actuellen Operationen der vier Species. Dieser anschauliche Charakter wurde nun aber sehr bald \u00e4u\u00dferst l\u00e4stig. Denn der Mathematik kommt es ja im allgemeinen auf die concrete Bedeutung der Objecte, auf welche sie bezogen wird, keineswegs an; sie untersucht in der Hauptsache nur die \u00e4u\u00dferen Formen ihrer Verkn\u00fcpfung. Infolge dessen musste es auch durchaus unbequem erscheinen, wenn gerade bei den einfachen vier Species die ziemlich gleichg\u00fcltige anschauliche Bedeutung der Forschung da Grenzen setzen sollte, wo das eigentliche Object der Untersuchung, n\u00e4mlich die formalen Eigenschaften der Operationen keine besa\u00dfen. Denn schon die ersten, halb spielenden Versuche, die man in Hinsicht auf eine Erweiterung des bisherigen Forschungsgebietes unternahm, nicht weil irgend ein unerkl\u00e4rlicher Hang zum Mystischen gewaltsam zu trans-cendenten Speculationen getrieben h\u00e4tte, sondern weil man, freilich nur halb bewusst, jene Beschr\u00e4nkung der formalen Untersuchung durch das ganz fremde Element der Anschaulichkeit als etwas dr\u00fcckendes empfand und empfinden musste, lehrten, dass in der That die algebraischen Formen der Species nicht an die Anschauung gekn\u00fcpft waren. Und schon sehr bald zeigte es sich, dass man Subtraction, Division und Radicirung unter genau denselben Gesichtspunkten wie fr\u00fcher betrachten konnte, auch da, wo die (bishei auch schon v\u00f6llig einflusslose) anschauliche Bedeutung ganz fehlte. Da man aber f\u00fcr diese F\u00e4lle immerhin irgendwelche Beziehungssubstrate brauchte, wenn man auch keine concreten finden konnte, so fin-girte man zu diesem Zweck die negativen, gebrochenen, irrationalen und imagin\u00e4ren Zahlen, nicht in dem Glauben hiermit ganz neue, bisher dem menschlichen Geist unbekannte Gr\u00f6\u00dfen entdeckt zu haben, sondern anfangs mit dem vollen Bewusstsein einer der Allgemeinheit der lytischen Methoden zu Liebe erfundenen Fiction.\nDies ist in wenig Worten das wahre Motiv zur Bildung der","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t265\ntranscendenten Zahlformen. Unter einem h\u00f6heren Gesichtspunkt betrachtet stellt es sich dar als ein Specialfall jenes unentwegten zielbewussten Strebens nach gr\u00f6\u00dftm\u00f6glicher Allgemeinheit, nach Beseitig1111? aller Ausnahmen, das den neueren Mathematiker den synthetisch construirenden Griechen so unendlich \u00fcberlegen gemacht bat, dass Hankel ihn einmal treffend mit einem Minirer vergleicht, welcher in wenigen G\u00e4ngen einen Fels durchzieht, dann von diesen aus den ganzen Block zersprengt und so mit einem Schlage dasjenige zu Tage f\u00f6rdert, was der Grieche in m\u00fchseliger Arbeit langsam von au\u00dfen abzubr\u00f6ckeln gezwungen ist1). Gerade darum aber stehen auch die erw\u00e4hnten Zahlformen als nominelle Erfindungen zu Gunsten der allgemeinen Ausf\u00fchrbarkeit aller lytischen Operationen durchaus auf der gleichen Stufe, wie etwa die unendlich fernen Punkte, Geraden und Ebenen der projectiven Geometrie, sie sind v\u00f6llig transcendent. Und so wenig es dem Geometer beikommt zu glauben, dass es im Unendlichen auf der Geraden wirklich nur einen Punkt, in der Ebene nur eine Gerade2), im Baum nur eine Ebene g\u00e4be, so wenig darf auch der Arithmetiker die zun\u00e4chst rein, fictive Existenz seiner Zahlformen leugnen wollen. Dass man dieser Forderung nicht immer gerecht wurde, dass man, verleitet durch eine Reihe leicht zu findender, nachtr\u00e4glich beizubringender Bedeutungen im Banne realistischer Ansichten doch wieder alle Zahlen zu substantialisiren suchte, dass selbst ein Gau\u00df aus der geometrischen Veranschaulichung des Imagin\u00e4ren neuen Aufschluss \u00fcber die \u00bbwahre Metaphysik\u00ab desselben erhalten zu k\u00f6nnen meinte, haben wir ja bereits bei der Besprechung des mathematischen Realismus zu bemerken Gelegenheit gehabt. Hier ist weniger die kritische Pr\u00fcfung dieser realistischen Verirrung, als vielmehr die positive W\u00fcrdigung der lange verkannten und vielfach missgedeuteten formalen Erweiterung des Zahlbegriffs unsere Aufgabe.\nDa wir es nun hier durchweg mit transcendenten Begriffen zu thun. haben, so sind wir zun\u00e4chst dem bisher ma\u00dfgebenden Gebiete der Induction v\u00f6llig entr\u00fcckt und g\u00e4nzlich in das der abstracten\n1)\tHankel: Die Entwicklung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten, zweite Auflage, T\u00fcbingen 1885 p. 9.\n2)\tHier w\u00fcrde er noch dazu mit dem Functionentheoretiker Zusammenst\u00f6\u00dfen, der ja das Unendliche der Ebene als Punkt auffasst.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nWalter Brix.\nDeduction getreten. Die Form dieser Deduction, welche nat\u00fcrlich eigentliche empirische Erkenntnisse nicht mehr liefern kann, ist nun \u00fcberall die exacte Analogie. Von der obigen, auch beim absoluten Zahlbegriff in Wirksamkeit tretenden Generalisation unterscheidet sie sich dadurch, dass jene nur die Aufgabe hat, inductiv gewonnenen Resultaten auch f\u00fcr solche F\u00e4lle G\u00fcltigkeit zu verleihen, wo die Erfahrung diese nicht unmittelbar gibt oder doch nur auf sehr m\u00fchsame Art und Weise geben k\u00f6nnte, diese jedoch Gesetze und Beziehungen derselben Art auf Formen zu \u00fcbertragen hat, die aus der Erfahrung niemals gewonnen wurden. Jene diente daher nur zur begrifflichen Ordnung anderweitig schon bekannter Verh\u00e4ltnisse, wie sie ja auch stets mit absoluten Zahlen operirte, diese dagegen war bestimmt, ein ganz neues Feld der Speculation zu er\u00f6ffnen, dessen Begriffe, rein abstract, allein dem logischen Denken angeh\u00f6rten. Jene bedurfte bei ihrer allgemeinen Anwendung allein des generellen Princips der Constanz aller mathematischen Untersuchungsobjecte, d. h. der Gleichartigkeit des psychologischen Denkens, diese dagegen, wollte sie nicht ganz vag auf gutes Gl\u00fcck herumprobiren, noch eines neuen allgemeinen hodegetischen Princips, an dessen Hand die Auffindung weiterer Zahlbegriffe allein m\u00f6glich war.\nNun haben wir oben als allein g\u00fcltiges Merkmal f\u00fcr den Zahlbegriff die arithmetischen Eigenschaften festgehalten. Als Zahl im weitesten Sinne w\u00e4re demnach zu definiren, was immer diese Merkmale aufweist. Hiermit ist nun in der That auch im wesentlichen der leitende Grundsatz der folgenden Generalisation ausgesprochen. Doch ist eine Bemerkung so allgemeiner Natur selbstverst\u00e4ndlich niemals geeignet, als ein mathematisches Princip zu dienen. Ein solches bedarf vielmehr einer scharfen, exacten Fassung und unzweideutigen Bestimmung. Darum pr\u00e4cisirte Hankel das verlangte durchgreifende Princip der Nominalisirung als das der Permanenz formaler Gesetze*), eine Gestalt, in der es seitdem allgemein in die Lehrb\u00fccher \u00fcbergegangen ist. In Wahrheit ist es noch allgemeiner und umfassender als die Specialform, in der es f\u00fcr unsern Zweck in Betracht kommt, n\u00e4mlich in der Forderung der Allgemeing\u00fcltig-\n1) Complexe Zahlen p. 10.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n267\nkeit s\u00e4mmtlicher drei lytischen Operationen. Und da ein Zweifel \u00fc\"ber seine Richtigkeit nicht existirt, werden wir uns ihm im folgenden unbedingt an vertrauen.\nAls ein zweiter, aber nicht \u00fcberall befolgter Grundsatz w\u00e4re dann noch die Forderung anzusehen, dass alle betrachteten Operationen stets eindeutig sein sollen. F\u00fcr die Division ist aber z. B. dies Verlangen wieder fallen gelassen. So ist bei den Quaternionen und den Grassmann\u2019schen alternirenden Zahlen die Division keineswegs eindeutig. Daher k\u00f6nnen wir von diesem Grundsatz auch nicht durchg\u00e4ngig Gebrauch machen.\nDa nun die Grundlagen, von denen die Generalisation vermittelst des Permanenzprincips formaler Gesetze ausgeht, der Anschaulichkeit ganz entbehren, so sind sie in gewissem Sinne willk\u00fcrlich. Denn wie man sonst im allgemeinen solche Bestimmungen fassen will, d. h. welche formalen Eigenschaften man beibehalten will, w\u00e4re methodologisch ganz gleichg\u00fcltig. Nur die eine Beschr\u00e4nkung ist dabei gegeben, dass sie weder sich selbst noch bereits recipirten Begriffen der Logik widersprechen d\u00fcrfen. Die historisch behandelten Zahlbegriffe haben \u00fcbrigens zu einem Gegensatz zum allgemeinen Denken selten Anlass gegeben; nur in sich selbst schienen sie h\u00e4ufig genug widerspruchsvoll. Wir haben aber angedeutet, wie eine solche schiefe Auffassung immer auf der unberechtigten Vermengung zweier verschiedener Begriffe beruhte, indem man einmal die Vorzeichen functioneil, das andere Mal als charakteristisches Merkmal einer durch sie definirten Zahl auffasste. Die erste Form entspricht dem absoluten, die zweite dem allgemeinen Zahlbegriff, mit dem wir es hier allein zu thun haben.\nWir hatten den letzteren nun abh\u00e4ngig gemacht von den formalen Eigenschaften der arithmetischen Grundoperationen. Sollte also eine exacte Durchf\u00fchrung der beabsichtigten Generalisirung \u00fcberhaupt m\u00f6glich sein, so war es nothwendig, diese formalen Eigenschaften erst gr\u00fcndlich zu fixiren, eine Aufgabe, deren endg\u00fcltiger L\u00f6sung ein gro\u00dfer Theil der wissenschaftlichen Arbeit des letzten Jahrhunderts gewidmet war. Als Resultat derselben, das wir hier nat\u00fcrlich nur historisch mittheilen, nicht ausdr\u00fccklich verificiren k\u00f6nnen, stellten sich die wesentlichen Eigenschaften der Addition","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nWalter Brix.\nund Multiplication \u2014 die Potenzirung k\u00f6nnen wir vorl\u00e4ufig aus dem Spiele lassen \u2014 in folgender Form dar:\n1.\tf\u00fcr die Addition\na) das associative Gesetz: (a-f-J) + c = a -f- (b-\\-c) und b) das commutative : a + b == b + a-,\n2.\tf\u00fcr die Multiplication\na) das associative: [a-b)-c \u2014 a-(b-c)\nund ebenfalls b) das commutative: a-b \u2014 b-cr,\n3.\tf\u00fcr beide Operationen in ihrer Verbindung das distributive\nGesetz: a[b-\\-c) \u2014a-ba-c und (b-{-c)-a = b-a + c-a.\nDiese Eigenschaften1) sind f\u00fcr die absoluten Zahlen nat\u00fcrlich alle inductive Wahrheiten von allgemeiner G\u00fcltigkeit und zwar zugleich die letzten und einfachsten Formen derselben. Der gew\u00f6hnliche Weg ihrer logischen Schematisirung f\u00fcr die Deduction w\u00fcrde also der sein, dass man sie ohne weiteres zu Definitionen der Addition und Multiplication macht. Und in der That ist diese rein formale Definition diejenige, welche der Entwicklung des allgemeinen Zahlbegriffs zu Grunde gelegt wurde. Wir werden demnach die Addition definiren als eine associative und commutative Verkn\u00fcpfung irgendwelcher Beziehungselemente, die Multiplication als eine associative, commutative und in Bezug auf die Addition distributive Operation derselben Art. Da diese Bestimmung rein formal ist, so umfasst sie nat\u00fcrlich auch den Specialfall der actuellen Addition und Multiplication, in welche die generellen Operationen \u00fcbergehen, wenn der allgemeine Zahlbegriff zum absoluten zusammenschrumpft.\nDer allgemeine Zahlbegriff kann nun auf Grund des Permanenz-princips der formalen Gesetze einfach definirt werden als das Beziehungssubstrat f\u00fcr die angef\u00fchrten formalen Operationen. Hiermit ist in der That die wissenschaftlich recipirte Begriffsbestimmung der transcendenten Zahlformen auf ihre logischen Grundlagen zur\u00fcckgef\u00fchrt. Denn da dieselben lediglich Fictionen ohne jeden realen Inhalt sind, die man erfand, um die lytischen Operationen immer ausf\u00fchrbar zu machen, so l\u00e4sst sich eine andre\n1) Ich entnehme dieselben der besten hier\u00fcber bestehenden Darstellung, der von Hankel. (Complexe Zahlen p. 36\u201439.)","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t269\nals diese rein \u00e4u\u00dferliche Nominaldefinition schlechterdings nicht gehen.\nFragen wir nun nach dem Umfang des so definirten Begnfls, der wie wir hier bemerken wollen, als \u00bbformale Zahl\u00ab bezeichnet \u25a0wird so brauchen wir uns der abstracten Bestimmung zufolge dabei keineswegs mehr an die Anschauung zu binden ; dennoch aber werden thats\u00e4chlich die verschiedenen hierhergeh\u00f6rigen Zahlformen indirect aus der Anschauung gewonnen, da ja eine apriorische Existenz derselben im menschlichen Geiste weder zu beweisen noch \u00dcberhaupt wahrscheinlich ist.\nAls einfachste Zahlart bieten sich hier offenbar die absoluten Zahlen seihst, welche v\u00f6llig mit unter den allgemeineren Begriff fallen. Nur kommt hier nicht ihre actuelle Bedeutung, sondern allein ihr formaler Charakter in Betracht. Damit ist aber der allgemeine Begriff der formalen Zahl keineswegs ersch\u00f6pft. Denn nun zeigt sich unmittelbar, dass man die im vorigen Kapitel erw\u00e4hnten F\u00e4lle von unausf\u00fchrbaren lytischen Operationen sofort zur Definition von Formen benutzen kann, welche v\u00f6llig unanschaulich sind, aber direct unter den Begriff der formalen Zahlen fallen. Als einfachste neue Zahlgattung bieten sich zun\u00e4chst die negativen Zahlen. Wie man die absolute Zahl gewann durch vollendet gedachte Setzung von Einheiten des psychologischen Anzahlbegriffes, so wurde die negative der begriffliche Ausdruck f\u00fcr die angenommene Hinweg-denkung einer absoluten Zahl. Dieser Process ist nat\u00fcrlich an und f\u00fcr sich vollst\u00e4ndig unanschaulich, so lange nicht schon von Anfang an eine bestimmte absolute Zahl gegeben ist, derart, dass das Resultat jener Aufhebung immer noch einen positiven Rest l\u00e4sst. Es w\u00e4re aber ganz verkehrt, zu glauben, dass auf die Natur desselben \u00fcberhaupt irgend etwas ank\u00e4me ; die Discussion dar\u00fcber geh\u00f6rt allein dem absoluten Zahlbegriff an. Dort war es in der That der Process der Negation, welcher von Bedeutung wurde, hier aber ist die negative Zahl das vollendet gedachte Resultat desselben, ganz gleich, oh es vorstellbar ist oder nichts\nBegrifflich aber ist auf diesem Wege das Negative, fr\u00fcher eine Function des absoluten Zahlbegriffs, jetzt selbst\u00e4ndig geworden und tritt nun in entschiedenen Gegensatz zu jenem, der hierdurch erst als positive Zahl erscheint. Eine, nat\u00fcrlich mit gr\u00f6\u00dfter Sorgfalt","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nWalter Brix.\nvorzunehmende Untersuchung lehrt dann, dass in der That die negativen Zahlen dem allgemeinen Begriff beizurechnen sind, d. h., dass sich formale Eigenschaften derselben so festsetzen lassen, dass sie dem Permanenzprincip Gen\u00fcge thun. Die wesentlichsten dieser neu zu treffenden Bestimmungen sind:\n+ \u00ab + (\u2014 a) = 0 ; \u2014 (\u2014 a) = + a ; (\u2014 a) \u25a0 b = a \u25a0 (\u2014 b) = \u2014{a \u2022 b) ;\n(._\u00ab)\u2022 (-$) = +(a-5)\nUnd diese Beziehungen sind \u2014 darauf m\u00fcssen wir hier noch einmal zur\u00fcckkommen \u2014 durchaus nothwendige Festsetzungen, welche den Begriff der negativen Formalzahlen erst erm\u00f6glichen. Sie sind aber als solche zugleich in gewissem Sinne willk\u00fcrlich; denn im Begriff der negativen Zahl sind sie nicht gegeben. Nun gibt es allerdings noch heutzutage sehr viele Mathematiker, welche die Zu-muthung, dass ihre Wissenschaft etwas willk\u00fcrliches enthalte, mit Entr\u00fcstung zur\u00fcckweisen, die Richtigkeit der obigen Formeln aber entweder als beweisbar ansehen oder sich damit tr\u00f6sten, dass sie schlechthin nothwendig seien. Das eine ist so unzutreffend, wie das andere. Denn alle Beweise, welche f\u00fcr die Richtigkeit der Gleichungen in\u2019s Feld gef\u00fchrt werden, treffen in Wahrheit ganz etwas andres. Sie beweisen n\u00e4mlich nicht, wie wir schon oben1) bemerkten, die betreffenden Combinationsgesetze der negativen, sondern nur die negativ genommener absoluter Zahlen, sie dedu-ciren nicht aus dem Zahlbegriff, sondern aus dem Vorzeichen allein, kurz sie haben nicht das Resultat der Negation, sondern die Negation selbst im Auge, geh\u00f6ren also zum absoluten, nicht zum allgemeinen Zahlbegriff. Aus der Nominaldefinition der negativen Zahl ist aber schlechterdings nichts zu entnehmen. Weitere Bestimmungen, die nat\u00fcrlich auch rein formaler Natur sein m\u00fcssen, k\u00f6nnen also nur von au\u00dfen hinzukommen. Dies hat man nun wohl auch andererseits erkannt, aber die Willk\u00fcr ihrer Festsetzung durch das Schlagwort ihrer 'Nothwendigkeit heben zu k\u00f6nnen gemeint2). Hier ist aber der Irrthum ziemlich durchsichtig. Denn nothwendig sind die Fixirungen wohl, so nothwendig sogar, dass sie die negativen Zahlen \u00fcberhaupt erst begrifflich fest bestimmen, aber jedenfalls\n1)\tKapitel III, 2 gegen Ende.\n2)\tDieses Schlagwort ist namentlich sehr beliebt in der am Ende von Ka-nitel III 2 erw\u00e4hnten Controverse.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische- Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t271\ndoch nur nothwendig auf Grund des Permanenzprincips der formalen Gesetze. Dass nlan aber gerade dies Princip zum leitenden gemacht hat, das ist eben conventionelle Willk\u00fcr. Zwar empfiehlt es sich durch seine au\u00dferordentliche Fruchtbarkeit, und seine Aufstellung ist tief in der historischen Entwicklung des menschlichen Denkens begr\u00fcndet, aber man h\u00e4tte mit demselben Rechte auch irgend ein andres hodegetisches Princip w\u00e4hlen k\u00f6nnen. Denn wir d\u00fcrfen keinen Augenblick vergessen, dass wir uns hier auf dem v\u00f6llig unanschaulichen Boden von Nominaldefinitionen und formalen Bestimmungen bewegen, dass die behandelten Zahlbegriffe, urspr\u00fcnglich ganz inhaltsleer, ihre Eigenschaften erst durch \u00e4u\u00dfere k\u00fcnstliche Fixirung erhalten.\nDurch die Einf\u00fchrung der negativen Zahlen waren nun alle Subtractionen in Formalzahlen wirklich auszuf\u00fchren oder, wie man sich besser ausdr\u00fccken sollte, ausgef\u00fchrt zu denken, und alle additiven, suhtractiven und multiplicativen Verkn\u00fcpfungen f\u00fchrten wieder auf Zahlen desselben Charakters, d. h. auf positive oder negative ganze Zahlen (oder auch auf die Null) ; nicht so die Division. Das Verlangen, dass auch sie formell immer ausf\u00fchrbar sein sollte, leitete auf die Br\u00fcche oder die gebrochenen Zahlen. Anf\u00e4nglich formell als m\u00f6glich angenommen und gedacht als das Resultat einer unrealisirbaren Theilung einer Zahl, werden sie durch die noth-wendige Probe auf Grund des Permanenzprincips in ihren Eigenschaften wieder derartig bestimmt, dass sie thats\u00e4chlich als neue Formen des allgemeinen Zahlbegriffs zugelassen werden k\u00f6nnen. Diese hinzukommenden Festsetzungen tragen nat\u00fcrlich wieder den Charakter formal nothwendiger Zusatzbestimmungen, welche die Zahlexistenz der Br\u00fcche bedingen ; und S\u00e4tze wie : \u00bb Statt mit einem Bruch zu dividiren, kann man mit dem umgekehrten multipliciren\u00ab sind hier aus dem Begriff des Bruches so wenig zu beweisen, wie fr\u00fcher die Bestimmung \u2014(\u2014a) =-)-\u00ab.\nAuf diese Weise waren nun alle vier Species immer ausf\u00fchrbar geworden, und zwar so, dass sie immer wieder formale Zahlen oder \u2014 und das bildet die einzige, unvermeidliche Ausnahme \u2014 die Null erzeugten. Die formale Zahl selbst aber, definirt als das Beziehungssubstrat f\u00fcr diese Operationen, war nun beherrscht von dem doppelten Gegensatz der positiven und negativen, der ganzen und","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nWalter Brix.\ngebrochenen Zahlen. Hiermit ist ihr Gebiet indessen noch nicht ersch\u00f6pft. Denn in der That liefert die Unausf\u00fchrbarkeit der Ra-dicirung weitere, ebenfalls als Zahlen zu behandelnde Formen, n\u00e4mlich zun\u00e4chst die Irrationalit\u00e4ten, d. h. die Wurzeln aus irgendwelchen ganzen Zahlen*). Eine Discussion dieser Ausdr\u00fccke lehrte dann, dass auch sie den formalen Zahlen beizurechnen seien, und dasselbe galt auch von den Wurzeln aus Br\u00fcchen.\nHierbei zeigte sich nun freilich eine neue Erscheinung, n\u00e4mlich die, dass eine solche Bestimmung der Irrationalzahlen niemals eindeutig zu erreichen war, dass es immer mehrere, unter einander verschiedene Ausdr\u00fccke gab, welche den definirenden formalen Bedingungen Gen\u00fcge leisteten. Es war also hier zum ersten Mal das Princip der eindeutigen Begriffsbestimmung durchbrochen, aber nicht so, dass nun ein regelloses Chaos von neuen Zahlen entstanden w\u00e4re, sondern die auftretende Vieldeutigkeit wurde durch ihre Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit wieder unsch\u00e4dlich gemacht. Sie konnte daher ignorirt, und die einzelnen Formen einer Irrationalit\u00e4t durften f\u00fcr sich als Zahlen gefasst werden.\nDie M\u00f6glichkeit der allgemeinen Durchf\u00fchrung dieser Betrachtung beruht indessen schon auf der Voraussetzung der letzten hier in\u2019s Auge zu fassenden Zahlgattung, der imagin\u00e4ren Zahlen. Defi-nirt als Quadratwurzeln aus negativen Zahlen, was selbstverst\u00e4ndlich wieder nur einer inhaltsleeren Nominalbestimmung gleichkommt, durch ihre formalen Eigenschaften auf Grund dieser Definition in Uebereinstimmung mit den bereits bekannten Regeln f\u00fcr das Negative und die Wurzeln n\u00e4her fixirt, bilden sie die letzte Art des formalen Zahlbegriffs und zugleich die interessanteste Erweiterung desselben. Da aber auch sie, wie die reellen Irrationalit\u00e4ten, niemals v\u00f6llig eindeutig definirt werden k\u00f6nnen, so m\u00fcssten sie eigentlich ebenfalls vom Zahlbegriff ausgeschlossen werden, wenn man nicht statt der urspr\u00fcnglich geforderten Eindeutigkeit eine gesetzm\u00e4\u00dfige Vieldeutigkeit zulassen will.\nWir haben hier zwei einander umfassende Gebiete der formalen Zahl. Das eine beschr\u00e4nkt sich auf die vier Species als Grundoperationen, und seine Zahlarten sind bestimmt durch die Gegen-\n1) Dabei darf nat\u00fcrlich die Potenzirung auch nur formal gefasst, d. h. durch ihre \u00e4u\u00dferen Eigenschaften definirt werden, wie z. B. durch die Formel aP-ac= a1,+c-","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n273\nsatte von positiv und negativ, von ganz und gebrochen. Alle seine Begriffe und Operationen sind eindeutig definirt. Das zweite, umfangreichere Gebiet hebt die letzte Beschr\u00e4nkung auf und l\u00e4sst statt dessen eine gesetzm\u00e4\u00dfige Vieldeutigkeit zu, wobei freilich die Null, weil sie zu einer unendlich vieldeutigen Division Anlass geben w\u00fcrde, immer noch ausgeschlossen bleibt. Sein Zahlenmaterial ist noch durch den Gegensatz von rational und irrational, von reell und imagin\u00e4r erweitert. Dort haben wir nur vier, hier aber sechs Grundoperationen, n\u00e4mlich die vier Species und die algebraischen Verkn\u00fcpfungen; und weder f\u00fchren die ersteren \u00fcber die gebrochenen, noch die letzteren \u00fcber die complexen Zahlen hinaus. Beide Gebiete sind also in sich v\u00f6llig abgeschlossen. F\u00fcr das erstere ist das unmittelbar evident, f\u00fcr das zweite ergibt es sich aus dem Fundamentalsatz der Algebra, dass jede endliche Combination der sechs Grundoperatiofien immer in gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise eine allgemein complexe Zahl definirt1).\nZu neuen Zahlen kann man demnach auf diesem Wege nicht mehr gelangen. Der Umfang der formalen Zahlen ist damit v\u00f6llig ersch\u00f6pft. Es wird deshalb zweckm\u00e4\u00dfig sein, am Schl\u00fcsse dieser Betrachtung sich noch einmal kurz ihre logischen Merkmale zu vergegenw\u00e4rtigen. Das erste und vorz\u00fcglichste derselben ist die rein begriffliche Existenz, die absolute Unanschaulichkeit. Wir haben, mit andern Worten, in der formalen Zahl den reinen Typus der n\u00fcmeri ficti Cardan\u2019s und Stifel\u2019s gefunden. Definiren konnten wir diese Zahlen daher auch nur nominal als dip Beziehungssubstrate f\u00fcr die gleichfalls formal gefassten arithmetischen Grundoperationen. Da aber aus einer Nominaldefinition niemals etwas reales herauszulesen ist, da ferner f\u00fcr eine zweckm\u00e4\u00dfige Begriffsbestimmung einer formalen Operation aus ihrem Begriffe heraus keinerlei Anhaltspunkte zu gewinnen sind2), so ist die formale ----------\u00ab- '\t. i i\t. .\n1)\tDer Beweis dieses Satzes muss in dem vorliegenden Zusammenh\u00e4nge nat\u00fcrlich rein algebraisch sein und sich von allen Stetigkeitsbetrachtungen freihalten, etwa wie der zweite von Gau\u00df angegebene.\n2)\tMan k\u00f6nnte nat\u00fcrlich von vom herein auch irgend welche andern for-\nmalen Eigenschaften festsetzen, als die gew\u00f6hnlichen. Dies w\u00fcrde aber doch einem blinden Probiren gleich zu achten sein, ob es gleich nicht ausgeschlossen mt, dass man auch auf diesem Wege zu interessanten Operationssystemen gelangen k\u00f6nnte.\t' >","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nWalter Brix.\nZahlentheorie doch gezwungen, sowohl ihre Operationen als auch ihr Material indirect aus der Anschauung zu entlehnen. Jene k\u00f6nnen daher auch nur durch den Zusatz genetisch fixirt werden, dass sie unmittelbar in ihre actuellen Formen \u00fcbergehen, wenn man den allgemeinen Zahlbegriff auf den absoluten beschr\u00e4nkt.\nDie Beziehungssubstrate f\u00fcr diese Operationen sind ebenfalls in fester Gestalt nur aus der Anschauung zu gewinnen. Denn in ihrer Definition \u2014 und eine andere ist f\u00fcr die formale Zahl schlechterdings nicht zu geben \u2014 liegt gar nichts, was auf irgend eine Bestimmung ihrer Form hinwiese. Die Auffindung dieser Zahlarten kann daher auch nur durch ein systematisches Probiren geschehen, derart, dass man bestimmte anschauliche Formen in\u2019s Auge fasst, die anschaulichen Momente eliminirt, die formalen allein beibeh\u00e4lt und nun die Nominaldefinition als ein Kriterium benutzt, verm\u00f6ge dessen \u00fcber die Zulassung der betreffenden Formen zum Zahlbegriff entschieden wird. Auf diesem Wege erhalten dann zugleich die neuen Zahlen auch alle die neuen Bestimmungen, welche ihnen die blo\u00dfe Nominaldefinition nicht geben konnte.\nWir haben damit die systematische Methode skizzirt, welche heutzutage seit dem Erscheinen des vielfach schon citirten Hankel-schen Werkes \u00fcber die complexen Zahlsysteme und mehr noch auf Grund der parallelen Untersuchungen von Weierstra\u00df1) allgemein angewendet wird, um die mangelhaften fr\u00fcheren Theorien zu ersetzen. Sie ist mathematisch ja entschieden viel werthvoller und so streng, wie es \u00fcberhaupt nur denkbar ist. Indessen kann doch nicht verschwiegen werden, dass sie das wahre logische Verh\u00e4ltniss einigerma\u00dfen verdeckt. Bei dieser Art der Behandlung erscheint es n\u00e4mlich schlie\u00dflich doch immer als ein Gl\u00fcck, auf das man eigentlich gar nicht hoffen durfte, wenn die untersuchten Ausdr\u00fccke sich thats\u00e4chlich so bestimmen lassen, dass man sie mit unter den Zahlbegriff aufnehmen kann. Denn man bleibt hierbei bis zuletzt\n1) Da das H ankelsche Werk viel weniger bekannt ist, als es verdient, so kann man heutzutage noch vielfach die Ansicht h\u00f6ren, dass die ganze strenge Betrachtung \u00fcberhaupt erst von Weierstra\u00df herr\u00fchre. Dies ist durchaus unzutreffend. Hankel hat seine, von Weierstra\u00df ganz unabh\u00e4ngigen Arbeiten zum mindesten fr\u00fcher (1867) publicirt und verf\u00e4hrt auch arithmetisch viel systematischer, w\u00e4hrend Weierstra\u00df, der nur f\u00fcr die Functionentheorie eine sichere Basis gewinnen will, immer mit Zahlgr\u00f6\u00dfen, nie mit formalen Zahlen operirt.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t275\nungewiss dar\u00fcber, ob die Entscheidung positiv oder negativ ausfallen wird, w\u00e4hrend es doch logisch von vom herein klar sein muss, dass die Anwendung der formal ganz eindeutig definirten allgemeinen Operationen nicht an den engen Umfang der blo\u00dfen absoluten Zahlen gebunden sein kann. Diese Incongruenz zwischen der mathematischen Behandlung und dem eigentlichen logischen Yerh\u00e4ltniss erkl\u00e4rt sich leicht durch die Thatsache, dass der Arithmetiker durch die hergebrachte Form der Bearbeitung gezwungen ist, auf den Zahlbegriff selbst die volle Aufmerksamkeit zu lenken, w\u00e4hrend in Wahrheit gar nicht einmal dieser, sondern eigentlich nur die formalen Operationen der wirkliche Gegenstand der Untersuchung sind. Denn man hatte keineswegs die neuen Zahlen um ihrer selbst willen in den Kreis der Betrachtung gezogen, etwa weil ihre wunderbaren Eigenschaften den wissenschaftlichen Forschungseifer gereizt h\u00e4tten. Im Gegentheil, ihre ganz heterogene Natur hat von Anfang an den exact geschulten Arithmetiker mit Misstrauen erf\u00fcllt und immer nur abgesto\u00dfen, nie angezogen. Und wenn die formalen Zahlen sich trotzdem immer und immer wieder aufgedr\u00e4ngt haben, so ist das der beste Beweis daf\u00fcr, dass man sich nicht freiwillig mit ihnen befasste, sondern nur gezwungen durch die rein formalen arithmetischen Untersuchungen, welche nothwendig \u00fcber die anschaulichen absoluten Zahlen hinausf\u00fchren mussten. Denn in der That, wenn man es z. B. unternahm, gr\u00f6\u00dfere Zahlen von kleineren ahzuziehen, so war es nicht das Interesse an den Zahlen, welches diesen Versuch bestimmte, sondern das an der fraglichen Operation seihst. Man wollte eben sehen, ob die Subtraction auch au\u00dferhalb der Anschauung dieselben Eigenschaften beibehielt, welche man his dahin an ihr kennen gelernt hatte. Und da man hei allen Grundoperationen sehr bald merkte, dass sie, formal aufgefasst, ganz unabh\u00e4ngig waren von ihrem concreten Beziehungssubstrat, den absoluten Zahlen, so war es ganz nat\u00fcrlich, dass man sie auch unabh\u00e4ngig davon behandeln wollte.\nNun ist es aber offenbar v\u00f6llig unm\u00f6glich, Operationen ohne einen Gegenstand, worauf sie sich beziehen, Verkn\u00fcpfungen ohne ein Verkn\u00fcpftes zu untersuchen oder auch nur zu denken. In Folge dessen war es unvermeidlich, dass man sich nach einem Object umsah, welches den leeren Formbetrachtungen einen festen","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nWalter Brix.\nHalt geben konnte. Als solches bestimmte man den allgemeinen Begriff der formalen Zahl, welcher eben nichts weiter ist und sein soll, als ein Beziehungssubstrat f\u00fcr die formalen Operationen. Er ist also lediglich ein H\u00fclfsbegriff. Seine Gestalt und Natur ist zun\u00e4chst v\u00f6llig gleichg\u00fcltig und f\u00fcr die Operationen selbst ohne jede Bedeutung, sowie die Leinwand auf das Bild einflusslos ist, das man auf sie gemalt hat.\nErst eine secund\u00e4re Frage ist es dann, ob es m\u00f6glich ist, f\u00fcr die erw\u00e4hnten Beziehungssubstrate auch thats\u00e4chlich n\u00e4her bestimmte, greifbarere Formen zu finden. Und, da man aus der Definition selbst nichts folgern kann, auch f\u00fcr die Untersuchung der rein formalen Operationen nichts zu folgern braucht, so ist man gezwungen, anderswoher H\u00fclfe zu nehmen. Die Fundgrube f\u00fcr die Gewinnung solcher Zahlarten bilden nun die lytischen Operationen der Subtraction, Division und Radicirung. Denn, abgesehen von den absoluten Zahlen, welche naturgem\u00e4\u00df unter den Begriff der formalen rubricirt werden m\u00fcssen, konnten sie f\u00fcr die F\u00e4lle, wo ihnen anschauliche Deutungen nicht mehr zu geben, d. h. wo sie in absoluten Zahlen nicht mehr auszuf\u00fchren waren, dadurch dass man von ihrer actuellen Bedeutung abstrahirte, zur Definition neuer Formen benutzt werden, welche sich dann, mit Ausnahme der Null, alle so bestimmen lie\u00dfen, dass sie als formale Zahlen betrachtet werden durften. Dies kann aber kaum Wunder nehmen. Denn, da die absoluten Zahlen wohl unter den allgemeinen Begriff fallen, aber doch von viel zu beschr\u00e4nkter Anwendbarkeit sind und den ganz allgemeing\u00fcltigen Operationen immer nur in gewissen F\u00e4llen als begriffliche Unterlage dienen k\u00f6nnen, so war es logisch eigentlich unmittelbar evident, dass es f\u00fcr die \u00fcbrigen F\u00e4lle andere Formen geben m\u00fcsse, welche, den absoluten Zahlen gleichwertig, sie bei den transcendenten Speculationen ersetzten. Deshalb bedeuten die Betrachtungen, welche die Arithmetik bei der Einf\u00fchrung der neuen Zahlgattungen vorzunehmen pflegt, nicht eigentlich exp\u00e9rimenta crucis \u00fcber die M\u00f6glichkeit derselben, obwohl man ihnen der methodischen Strenge zuliebe diesen Anschein gibt \u2014 denn, dass irgend welche, den betrachteten \u00e4hnliche Formen existiren m\u00fcssen, ist logisch von vorn herein klar \u2014 sondern sie sind vielmehr direct positiv bestimmt, die noch ungewissen schematischen Aus-","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegiff und seine Entwicklungsformen.\t277\ndr\u00fccke, von denen man nichts wei\u00df, als dass sie existiren m\u00fcssen, so zu fixiren, wie es gerade n\u00f6thig ist. Denn um ihre M\u00f6glichkeit handelt es sich in Wahrheit viel weniger, als um die Eigenschaften, die man ihnen noch beilegen muss, damit sie Zahlen werden.\nDiese Eigenschaften selbst sind aber f\u00fcr den allgemeinen Zahlbegriff vollst\u00e4ndig irrelevant. Sie sind nur halb zuf\u00e4llig durch den Umstand bestimmt, dass man, um \u00fcberhaupt irgend welche bekannten Formen f\u00fcr den allgemeinen Begriff zu finden, von der Anschauung, d. h. von den absolut\u00e9n Zahlen ausgehen muss. Aber das Resultat w\u00e4re schlie\u00dflich auch dasselbe geworden., wenn das uns zun\u00e4chst gegebene nicht die absoluten Zahlen, sondern etwa die negativen Zahlen, und entsprechend die prim\u00e4re Operation nicht die Addition, sondern die Subtraction gewesen w\u00e4re. Man h\u00e4tte dann ein ganz analog beschr\u00e2nkt\u00e8s Forschungsgebiet f\u00fcr die in Wahrheit unbeschr\u00e4nkten Operationen gehabt und, um diesem: unnat\u00fcrlichen Zwange zu entgehen, dasselbe ganz entsprechend durch die positiven Zahlen u. s. f. erweitert.\nVielleicht ist es nicht \u00fcberfl\u00fcssig, die vorstehenden Betrachtungen durch einen Vergleich n\u00e4her zu erl\u00e4utern. Die ersten Versuche bildhauerischer Th\u00e4tigkeit sind bekanntlich bei den meisten V\u00f6lkern in Stein ausgef\u00fchrt. Man konnte deshalb die Skulptur anf\u00e4nglich definiren als die Kunst, gewisse Formen im Stein abzubilden. Dennoch ist offenbar in der Definition der Stein ziemlich \u00fcberfl\u00fcssig. Denn in Wahrheit kommt es doch nur auf die Erzielung der gew\u00fcnschten Formen an, nicht auf das Material. Nur weil man zu diesem Zweck irgend einen Stoff der Bearbeitung braucht, war man gen\u00f6thigt zu der Erreichung der: gew\u00fcnschten Absichten den. Stein z\u00fc benutzen als das vorl\u00e4ufig allein geeignete Material. Nun wuchs aber die Skulptur allm\u00e4hlich \u00fcber ihre bisherigen Zwecke hinaus und erweiterte sich zur plastischen bildenden Kunst, als deren Aufgabe man allgemein die k\u00f6rperliche Herausarbeitung bestimmter, gewollter Formen bezeichnen kann. Von dem Stoff der Bearbeitung ist hier keine Rede, er ist vollst\u00e4ndig Nebensache geworden. Zudem kam man nun mit dem bisher dazu verwandten Stein nicht mehr aus. Denn da dieser immer doch nur gewisse, typisch wiederkehrende Arten der Beth\u00e4tigung einer offenbar viel allgemeineren Kunst gestattete, da man z. B. immer","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nWalter Brix.\nin gro\u00dfen Dimensionen arbeiten musste, so fand man schlie\u00dflich nach und nach andere Materialien, welche jedes f\u00fcr sich auf einem bestimmten speciellen Gebiete als Objecte der Bearbeitung dienen konnten und so in ihrer Gesammtheit das ersetzten, was in der Natur nicht gegeben war, n\u00e4mlich ein einheitliches, f\u00fcr alle k\u00fcnstlerischen Zwecke passendes Material. Eine ganz \u00e4hnliche Entwicklung h\u00e4tte aber schlie\u00dflich die plastische Kunst genommen, wenn man anf\u00e4nglich nicht vom Stein, sondern etwa vom Holz oder etwas anderem ausgegangen w\u00e4re. Auch dann w\u00fcrde man heutzutage Colossalstatuen nicht aus Elfenbein, sondern aus Stein oder Erz, Miniaturfiguren umgekehrt nicht aus Stein, sondern aus Elfenbein oder Porzellan oder etwas \u00e4hnlichem machen.\nGanz analog liegen die Verh\u00e4ltnisse beim Zahlbegriff. Urspr\u00fcnglich war die Arithmetik eine Rechnenkunst, die man, weil man nichts anderes hatte, an absoluten Zahlen aus\u00fcbte. Dann wurde die Kunst die Hauptsache, die absoluten Zahlen gleichg\u00fcltig, d. h. man hielt ebenfalls die Form fest, unabh\u00e4ngig von dem bisher benutzten Material. Aber auch hier brauchte man irgend einen festen Stoff, womit man die verlangten Operationen vornehmen konnte. Und da zu diesem Zweck der absolute Zahlbegriff zu beschr\u00e4nkt war, da er immer nur in ganz bestimmten F\u00e4llen die Ausf\u00fchrung der beabsichtigten Operationen gestattete, so war man gen\u00f6thigt, f\u00fcr alle \u00fcbrigen F\u00e4lle zu neuen Zahlformen zu greifen, welche zwar nur transcendent sein konnten, aber den absoluten Zahlen arithmetisch doch durchaus coordinirt waren. So setzte man aus positiven und negativen, ganzen und gebrochenen, rationalen und irrationalen, reellen und imagin\u00e4ren den allgemeinen Begriff der Formalzahl, das Complexe zusammen. Und man w\u00e4re auch hier schlie\u00dflich zu demselben Resultat gekommen, wenn man einen anderen Ausgangspunkt, also etwa die negativen statt der absoluten Zahlen gew\u00e4hlt h\u00e4tte. Immer bleibt das Object das secund\u00e4re, die Form das prim\u00e4re. Und so wenig der reine Formenwerth eines Kunstwerkes von dem Material ber\u00fchrt wird, in dem es ausgef\u00fchrt ist, so wenig ist die mathematische Sicherheit eines Resultates davon abh\u00e4ngig, oh man mit absoluten oder irgendwelchen transcen-denten Zahlen gerechnet hat.\nIn diesem letzteren Umstand liegt zugleich die Erkl\u00e4rung f\u00fcr","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t279\ndie dem Nominalismus unbegreifliche Thatsache, dass v\u00f6llig reale Ergebnisse und Beziehungen aus ganz unm\u00f6glichen transcendenten Formen gewonnen werden. Sie werden n\u00e4mlich gar nicht durch diese Zahlen, sondern in Wahrheit durch die allgemeingiiltigen formalen Operationen erhalten, auf deren Bichtigkeit die Beziehungssubstrate ohne jeden Einfluss sind. Die transcendenten Zahlen haben eben nur die Bestimmung, als allgemeinere Beziehungssubstrate f\u00fcr die dem absoluten ZahlbegrifF entwachsenen arithmetischen Grundverkn\u00fcpfungen zu dienen, d. h. genauer gesprochen den drei lytischen Operationen allgemeine G\u00fcltigkeit zu verleihen.\nDieser Zweck ist aber auch wohl erreicht. Denn es sind im Gebiete der formalen Zahl thats\u00e4chlich Subtraction, Division und Badicirung in jedem Falle ausf\u00fchrbar geworden, wenn man noch in beschr\u00e4nkter Weise die Null hinzunimmt. Es ist nun aher interessant, zu sehen, wie gerade durch ihre unbegrenzte Erweiterung ihr Charakter als lytischer Operationen ganz verloren geht. In der That kennt das Gebiet der formalen Operationen in seiner allgemeinsten Herausarbeitung nur die Addition, Multiplication und Potenzirung, da ja die Begriffsbestimmung derselben durch ihre formalen Yerkn\u00fcpfungsgesetze auch unmittelbar auf ihre Umkehrungen passt. Die Subtraction ist eben hier formal nichts weiter, als die Addition einer negativen Zahl, die Division eine Multiplication mit einem Bruch, die Potenzirung mit gebrochenen Exponenten ersetzt endlich die Badicirung, weil die negativen, gebrochenen und irrationalen Zahlen nothwendig von vorn herein so bestimmt werden m\u00fcssen, dass\n(+\u00ab) + (\u2014\u00ab) = 0 , j \u2014 a \u25a0 j ~ \u25a0 a ; ]/\u00ab?== jj/\u00f4j? = \u00ab \u00a5\nist. In diesem Sinne spricht man bekanntlich von einer algebrai- j sehen.Addition und m\u00fcsste ebenso eine algebraische Multiplication ' und Potenzirung einf\u00fchren.\nDie M\u00f6glichkeit einer derartigen Identificirung entgegengesetzter Operationen, welche als solche deshalb nicht mehr erscheinen k\u00f6nnen, weil sie ihre actuelle Bedeutung eingeb\u00fc\u00dft haben und in formaler Beziehung gleich sind, beruht wesentlich auf der Commuta-tivit\u00e4t. Denn nur wenn es gleich ist, ob man erst mit a multiplient und darauf mit b dividirt, oder umgekehrt, nur dann k\u00f6nnen\nWundt, Philos. Studien. YI.\tiq","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nWalter Brix.\nbeide Operationen als coordinirt gelten. Wo daher z. B. die Multiplication nicht mehr commutativ ist, \u2014 und das ist bei vielen h\u00f6heren Zahlsystemen der Fall \u2014 da kann die Division auch nicht mehr als ein Specialfall derselben erscheinen, sondern wird wieder lytisch, und zwar dadurch meistens auch mehrdeutig. Man pflegt sie deshalb dort auch nicht mehr zu benutzen und von den Grundoperationen ganz auszuschlie\u00dfen. Als solche gelten dann nur noch die Addition, welche, immer commutativ, die Subtraction mit umfasst, und die jeweilig n\u00e4her zu bestimmende Multiplication.\nIn unserm Falle, wo die letztere associativ, commutativ und distributiv zugleich ist, haben wir, wenn die Null ausgeschlossen wird, ein eindeutiges Operationsgebiet, welches im allgemeinen die rationalen Zahlen umfasst. Gestattet man au\u00dferdem noch eine gesetzm\u00e4\u00dfige Vieldeutigkeit, so kann der Umfang des Zahlenmaterials, ohne dass man an dem Bisherigen etwas zu \u00e4ndern brauchte, noch um die algebraisch irrationalen und imagin\u00e4ren Zahlen erweitert werden. Ihre Multiplication ist auch noch associativ, commutativ und distributiv, und sie gestatten nunmehr alle algebraischen Verkn\u00fcpfungen.\nDie M\u00f6glichkeit einer solchen rein formalen Entwicklung der complexen Zahlen ist begrifflich vollkommen gegeben. Sie sind logisch ebenso wohl definirt, wie alle anderen Begriffe, und ihre Existenzberechtigung ist selbst dann nicht anzufechten, wenn man mit Berkeley der Meinung ist, dass sie nur zum Amusement dienen. Es darf indessen andrerseits auch nicht verschwiegen werden, dass noch niemals ein Mensch die hier angedeutete Entwicklung wirklich ausgef\u00fchrt hat; sondern, wo immer die Idee dazu auftaucht, da ist sie bei den rationalen Zahlen stehen geblieben. Die bestimmenden Gr\u00fcnde sind dabei freilich immer praktischer, niemals logischer Natur gewesen. So scheute Hankel, der erste, dem man eine systematische Theorie der formalen Zahlen verdankt1), vor der nothwendig unendlichen Menge von Definitionen und Untersuchungen \u00fcber die Irrationalit\u00e4ten zur\u00fcck und kam zu dem Schluss : \u00bbEs ist klar, man wird verzichten m\u00fcssen, alle Aufgaben, welche die Einf\u00fchrung neuer Zahlen erfordern w\u00fcrden, vollst\u00e4ndig und\n1) Complexe Zahlen p. 35\u201447.\nJ","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen,\t281\nersch\u00f6pfend zu betrachten.\u00ab1). Das kann man wohl auch ohne weiteres unterschreiben ; indessen ist der hieraus gezogene Schluss, dass auch die begriffliche Fixirung aller formalen Irrationalzahlen deshalb unausf\u00fchrbar sei, doch ein \u00fcbereilter zu nennen. Denn die Generalisation nach exacter Analogie, welche den ganzen formalen Zahlbegriff beherrscht, gestattet unmittelbare Uebertragung gewisser Eigenschaften auf ganze Klassen von Irrationalit\u00e4ten, wenn auch das zu beobachtende Verfahren immerhin noch ein sehr umst\u00e4ndliches bleibt.\nDieselben Gesichtspunkte leiten auch Stolz, welcher die Unm\u00f6glichkeit, auf diesem Wege eine Uebersicht \u00fcber die fraglichen Zahlformen zu erhalten, besonders betont und die Potenz deshalb schon als eine Function betrachtet wissen will2). Ebenso bleibt die Behandlung, welche Weierstra\u00df dem Gegenst\u00e4nde in seinen Vorlesungen, allerdings nur in Bezug auf die hier noch nicht in Frage kommenden Zahlgr\u00f6\u00dfen angedeihen lie\u00df, bei den rationalen Zahlen stehen und geht dann gleich zu den mathematisch-transcendenten irrationalen Gr\u00f6\u00dfen \u00fcber, weil die formalen f\u00fcr die Functionentheorie nicht zu gebrauchen sind3). Und man kann auch in der That mit den oben entwickelten formalen Begriffen der irrationalen und complexen Zahlen nichts anfangen, als sie eben fixiren und schematisch mit ihnen rechnen, w\u00e4hrend sie in der Gr\u00f6\u00dfenlehre eine viel bedeutendere Rolle spielen. Nichts desto weniger w\u00fcrde diese Erfahrung noch nicht die Ausschlie\u00dfung solcher Zahlen recht-fertigen, wenn nicht andererseits auch begriffliche Bedenken ihrer Zulassung im Wege st\u00fcnden. Hierzu ist vor allen Dingen zu rechnen, dass sie die anf\u00e4nglich verlangte Eindeutigkeit in eine gesetzm\u00e4\u00dfige Vieldeutigkeit verwandeln, weil ja nach dem Fundamentalsatz der Algebra jede algebraische Gleichung \u2014 und aus einer\n1)\tEbenda p. 46.\n2)\tStolz, Vorlesungen \u00fcber allgemeine Arithmetik, Leipzig 1885, p. 56.\n3)\tVgl. die Darstellungen der Weierstra\u00df\u2019schen Theorie bei Kossak, Die Elemente der Arithmetik, Berlin 1872; Thomae, Elementare Theorie der analytischen Functionen einer complexen Ver\u00e4nderlichen, Halle, 1880. Bi ermann, Theorie der analytischen Functionen, Leipzig, 1887. Die b\u00f6hmische Arbeit von Kraus, Grundlagen der Arithmetik nach Vortr\u00e4gen von Weierstra\u00df, Casopis XII, 1883 p. 153 ist mir nicht zug\u00e4nglich gewesen.\n19*","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"28*2\nWalter Brix.\nsolchen kann man die formale Irrationalit\u00e4t doch nur definiren____\nebenso viel Wurzeln hat, wie ihr Grad angibt.\nIst nun aber auch diese Vieldeutigkeit ihrer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit wegen gefahrlos, so kann doch andrerseits die Betrachtung der Po-tenzirung und Badicirung als Grundoperationen schwerer wiegende Bedenken erregen. Die Species waren so eingerichtet, dass alle additiven und multiplicativen Verkn\u00fcpfungen zwischen zwei Zahlen des Gebietes wieder eine ebensolche Zahl (oder die Null) erzeugten; und dasselbe gilt auch noch einerseits f\u00fcr die in ihnen als Specialf\u00e4lle enthaltenen Subtractionen und Divisionen, und andrerseits f\u00fcr die complexen Zahlen in Bezug auf die Species, nicht aber f\u00fcr die neu hinzu1;retende Potenzirung und Badicirung. Denn unter ]/2 EU war ebensowenig etwas zu verstehen, wie unter [a-\\-bi)c + di. Es existirt auch vorl\u00e4ufig keine zu \u00fcbersehende M\u00f6glichkeit, aus dem Begriff der bisherigen formalen Zahl heraus zu einer Auffassung solcher Verbindungen zu gelangen. Jene Ausdr\u00fccke sind etwas v\u00f6llig Neues, Incommensurables, in diesem Zusammenhang ganz Sinnloses, kurzum sie geh\u00f6ren nicht in die Theorie der hier betrachteten formalen Zahlen.\nEs zeigt sich also, dass die sechs Grundoperationen nicht so in sich abgeschlossen sind, wie die vier Species, d. h. nicht durch jede Verkn\u00fcpfung zweier allgemeiner Zahlen wieder eine solche ergeben. Wenn man daher diese Eigenschaft als wesentlich f\u00fcr den Begriff einer Grundoperation hinstellen will, dann bleiben allein die vier Species oder vielmehr, was ja v\u00f6llig gen\u00fcgt, die Addition und Multiplication \u00fcbrig; und die Erfahrung hat in der That gelehrt, dass Potenzirung und Badicirung besser als Functionen betrachtet werden, welche den Begriff der Stetigkeit schon voraussetzen. Man ist daher logisch auch berechtigt, das Gebiet der formalen Zahlen auf die rationalen Zahlen zu beschr\u00e4nken. Denn ob die complexen gleich als Beziehungssubstrate f\u00fcr die Addition und Multiplication benutzt werden k\u00f6nnen, so sind sie von diesen doch nicht noth-wendig gefordert, wie die Br\u00fcche und die negativen Zahlen. Es sind dies Verh\u00e4ltnisse, \u00fcber welche eine volle begriffliche Klarheit vorl\u00e4ufig noch nicht zu gewinnen ist. Denn so lange nicht eingehendere Untersuchungen \u00fcber die gegenseitigen Beziehungen der arithmetischen Operationen vorliegen, so lange wird es logisch\nJ","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n283\nimmer mehr als ein Zufall erscheinen, dass es Zahlformen gibt, welche geeignet sind, als Beziehungssubstrate f\u00fcr die Species zu dienen, ohne doch von diesen selbst nothwendig gefordert zu werden.\nFreilich wird sich m\u00f6glicherweise der ganze Begriff der formalen Zahl einmal mathematisch als \u00fcberfl\u00fcssig darstellen, wenn es n\u00e4mlich Kronecker wirklich gelingen sollte, alles auf die absoluten Zahlen zu reduciren und zugleich seinen Congruenzenalgo-rithmus derart zu vervollkommnen, dass man geneigt werden k\u00f6nnte, ihn gegen die bisher allein ma\u00dfgebende Behandlung der Arithmetik mit den rein formalen Operationen einzutauschen. Aber das sind lediglich Fragen der mathematischen Praxis. In der genetischen Entwicklung wird jedenfalls die formale Zahl als das logische Mittelglied zwischen der absoluten und der Zahlgr\u00f6\u00dfe niemals zu entbehren sein. Und seihst die Untersuchung der complexen Zahlen allein unter dem formalen Gesichtspunkt bietet wegen der commu-tativen Eigenschaft der Multiplication gro\u00dfe methodologische Vorteile. Da indessen ein weiteres Eingehen auf diese Fragen nicht in den Rahmen der vorliegenden Arbeit geh\u00f6rt, so scheint es zweckm\u00e4\u00dfig, den v\u00f6llig ersch\u00f6pften Begriff der formalen Zahl nunmehr zu verlassen und zu dem genetisch n\u00e4chsten, ungleich wichtigeren der discreten Zahlgr\u00f6\u00dfe \u00fcberzugehen.\n2. Die discrete Zahlgr\u00f6fse.\nDer bisher in\u2019s Auge gefasste Zahlbegriff ist zwar logisch mindestens ebenso berechtigt, wie jeder andere, aber thats\u00e4chlich v\u00f6llig unfruchtbar gehlieben. Denn selbst die Algebra, deren Gebiet er doch eigentlich beherrschen sollte und anf\u00e4nglich auch immer beherrscht hat, verl\u00e4sst ihn sehr h\u00e4ufig, um Gr\u00f6\u00dfenbetrachtungen oder selbst, wie z. B. beim Beweise ihres Fundamentalsatzes, Stetigkeitserw\u00e4gungen in ihrer Methodik breiten Kaum zu gew\u00e4hren. Unfruchtbar ist er namentlich deshalb, weil man sich unter ihm nichts denken kann, weil er unvorstellbar und unanschaulich allein als ein leeres Schema sich darstellt, dessen Erforschung an und f\u00fcr sich wohl m\u00f6glich sein w\u00fcrde, aber doch immer nur den besch\u00e4ftigt hat, der aus ihm neue Eigenschaften f\u00fcr die Veranschaulichung zu gewinnen trachtete. Bezeichnend f\u00fcr seine Unselbst\u00e4ndigkeit ist","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nWalter Brix.\nja auch der Umstand, dass er alle seine Zahlarten allein aus der Anschauung entlehnt und nur ihre unvorstellbaren Operationen sche-matisirt. Gerade diese nominalistische Umformung concreter fassbarer Beziehungen, diese schattenhafte Existenz leerer Formen erm\u00fcdet aber den denkenden Geist derartig und ist an und f\u00fcr sich so wenig anregend, dass sich z. B. niemals ein Mensch enger mit den imagin\u00e4ren Zahlen abgegeben h\u00e4tte, w\u00e4ren sie allein auf diese Weise zu behandeln. Und so wenig ein Rechnen mit Schwingungszahlen die Musik zu ersetzen vermag, so wenig ist auch der formale Zahlbegriff im Stande, die greifbaren Verh\u00e4ltnisse der Anschauung vergessen zu lassen. Seine leblosen, starren Formen haben an und f\u00fcr sich nicht das geringste Interesse und sind allein deshalb erfunden, weil man f\u00fcr die gew\u00fcnschte formale Untersuchung der arithmetischen Operationen ein Beziehungssubstrat nicht entbehren konnte. Sollte daher eine weitere Ausbildung der Zahlenlehre praktisch m\u00f6glich sein, so war es nothwendig, jenem schematischen Beziehungssubstrat, das eigentlich nur das Bed\u00fcrfniss des Denkens nach einem solchen ausdr\u00fcckte, ohne es doch wirklich zu liefern, einen realen, denkbaren Inhalt zu verleihen, d. h. die fr\u00fchere Anschaulichkeit des absoluten Zahlbegriffs in irgend einer Weise zu ersetzen.\nDer anschauliche Zahlbegriff in seiner allgemeinen Form ist nun freilich keineswegs so zu fassen, dass es immer m\u00f6glich sein sollte, diesen Begriff, wie die absolute 'Zahl, in der \u00e4u\u00dferen Anschauung zu substantialisiren. Die Anschauung ist hier vielmehr in den meisten F\u00e4llen nur eine hypothetische und durch exacte Generalisation aus der gew\u00f6hnlichen erweiterte. Die allgemeinen Zahlen k\u00f6nnen sich z. B. auf alle transcendenten Raumformen beziehen. Es gen\u00fcgt f\u00fcr diese Art der allgemeinen mathematischen Anschaulichkeit ihre rein begriffliche Existenz, d. h. man begn\u00fcgt sich mit der M\u00f6glichkeit, die formale Zahl oder, was dasselbe ist, die formalen Operationen auf irgend einen festen, wirklich widerstandsf\u00e4higen Denkinhalt zu beziehen, welcher selbst wenigstens durch Abstraction aus der Anschauung erzeugt gedacht werden konnte. Dieser gesuchte abstracte Begriff, welchem nat\u00fcrlich die gr\u00f6\u00dfte Allgemeinheit zukommen muss, da er alle concreten Verkn\u00fcpfungen in sich vereinigen soll, ist der der Gr\u00f6\u00dfe. Er ist,","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t285\nrichtig aufgefasst, nichts weiter, als irgend ein Denkact unter dem Gesichtspunkt eines exacten Vergleichs mit einem anderen. Und da edes Denkohject dadurch sofort zu einer Gr\u00f6\u00dfe wird, dass man es mathematisch behandelt, d. h. eben mit anderen, analogen exact vergleicht, so ist der allgemeine Gr\u00f6\u00dfenbegriff offenbar gar nichts anderes, als der stellvertretende Sammelbegriff f\u00fcr die unendlich verschiedenen einzelnen Gr\u00f6\u00dfen. Daher ist er gewisserma\u00dfen der feste Zustand jenes fl\u00fcchtigen, niemals zu fassenden Begriffs des Beziehungssubstrates, das verbindende Mittelglied zwischen Anschauung und Schematismus der Operationen, diejenige Form der concreten Objecte, unter der sie einer mathematischen Behandlung erst f\u00e4hig werden, oder das letzte Abstractionsproduct aus der Erfahrung, welches mit dem subjectiven Formalismus des Denkens zusammentrifft, um die reine Gr\u00f6\u00dfenlehre, als den Urtypus der angewandten Formenlehre, zu erzeugen. Wie die anschauliche Gr\u00f6\u00dfe daher einerseits formal dem obigen Beziehungssubstrat wenig nachgibt, so ist sie andrerseits als h\u00f6chster Realbegriff der Erfahrung sofort f\u00e4hig, ihre formalen Verkn\u00fcpfungen als actuelle in die Welt der Anschauung zu projiciren; ja dies ist gerade die Bestimmung, durch welche sie allein definirt werden kann.\nIst aber die Gr\u00f6\u00dfe das mathematische Abstractionsproduct der Erfahrungsbegriffe und als solches gewisserma\u00dfen der arithmetische Grundbegriff der Nominalisten, die formale Zahlentheorie dagegen der subjective Schematismus des discursiven Denkens, der letzte zusammengeschrumpfte Rest der Leibnizischen Ideenwelt, welchem wir noch dazu seine selbst\u00e4ndige Apriorit\u00e4t bestreiten m\u00fcssen, so entsteht die Frage, mit welchem Recht \u00fcberhaupt an eine Vereinigung beider gedacht werden kann. Die Beantwortung derselben ist allerdings so einfach, dass viele Mathematiker von den Indern herauf bis in unsere Zeit sie f\u00fcr \u00fcberfl\u00fcssig hielten. Nichts desto weniger muss sie aber einmal ausgesprochen und richtig formulirt werden, wenn man nicht in die Irrth\u00fcmer der fr\u00fcheren erkenntnisstheore-tischen Schulen zur\u00fcckverfallen will.\nNun definirt die reine Formenlehre die Addition nur als eine associative und commutative Verkn\u00fcpfung, die Multiplication dagegen, wenigstens die bisher in Betracht gezogene, als eine in sich ebenfalls associative und commutative, au\u00dferdem aber noch in Bezug","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nWalter Brix.\nauf die Addition distributive. Hat man nun irgend eine actuelle anschauliche Verkn\u00fcpfung zweier Gr\u00f6\u00dfen, so wird man sofort berechtigt sein, sie eine Addition zu nennen, wenn sie die ersten eine Multiplication, wenn sie die zweiten Bedingungen erf\u00fcllt* Denn es ist, da die obigen Begriffe der Operationen einen reinen Nominalcharakter tragen, offenbar nur n\u00f6thig, dass die formalen Eigenschaften \u00fcbereinstimmen, um die actuellen Operationen unter diesem formalen Gesichtspunkt als Addition oder Multiplication darzustellen. Mag daher immer eine solche Veranschaulichung nicht unmittelbar gegeben, sondern nur eine nachtr\u00e4gliche sein, man wird ohne weiteres die vorher schon bekannten ferneren Eigenschaften der formalen Operationen auf die speciellen concreten Verkn\u00fcpfungen \u00fcbertragen k\u00f6nnen, und so auf deductivem Wege ganze Gruppen von Resultaten mit einem Schlage anschaulich zu deuten im Stande sein, zu deren selbst\u00e4ndiger actueller Erforschung die inductive Detailarbeit vielleicht Jahrhunderte brauchte oder \u00fcberhaupt nicht gelangt w\u00e4re. Von welcher Tragweite aber ein so einfacher Grundgedanke, wie die isolirte Betrachtung der schematischen Formenverkn\u00fcpfung und die leichte, unmittelbare Uebersetzung in das specielle Anschauungsgebiet \u2014 dieses immer in dem oben besprochenen allgemeinen Sinne gefasst \u2014 werden kann, das zeigen die vielen sch\u00f6nen und weitgehenden Resultate, welche der eigentliche Sch\u00f6pfer dieser Idee, Hermann Grassmann, in seinen vielen Einzelschriften daraus gezogen hat1). Dass andrerseits diese Methode der Trennung von Form und Stoff auch dem Geiste der Wissenschaft v\u00f6llig entspricht, beweist ihre immer xveiter gehende Anwendung auf andern Gebieten. So haben z. B. Riemann und Weierstra\u00df die Functionen formalistisch behandelt, d. h. durch Functionalgleichungen allein definirt, so schuf Grass mann die geometrische Charakteristik2), so wurde endlich die Mechanik theil-\n1)\tUm die Fruchtbarkeit dieser Idee nachzuweisen, m\u00fcsste man eigentlich alle mathematischen Schriften Grassmann\u2019s citiren. Es gen\u00fcge aber hier der Hinweis auf die Zusammenstellungen der Titel in den mathematischen Annalen XIV (1879) p. 43\u201445 am Ende seines Nekrologs und auf p. 79\u201482 der Biographie Grassmann\u2019s von Victor Schlegel, Leipzig 1878.\n2)\tIn der ber\u00fchmten Preisschrift: Geometrische Analyse etc., Leipzig\n1847.\n","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t287\nweise von Kirchhoff1), vollst\u00e4ndig aber von Neumann2) for-malisirt.\nLogisch ist aber \u2014 das muss hier ausdr\u00fccklich betont werden die Beziehung der formalen Zahlen auf Gr\u00f6\u00dfen f\u00fcr die Arithmetik keineswegs nothwendig, sie wird nur aus Bequemlichkeits-r\u00fccksichten von der mathematischen Praxis gefordert. Rein begrifflich betrachtet, m\u00fcssten die formalen Zahlen vollkommen ausreichen, um alle algebraischen Resultate zu liefern. Wenn man daher dennoch \u00fcberall in der historischen Entwickelung den erw\u00e4hnten Schritt gethan hat und noch heute thut, so muss man sich dabei immer des Umstandes bewusst bleiben, dass dies nicht geschieht unter dem Zwange der noth wendigen Forderung anderer, als der bisherigen Zahlen, \u2014 denn als Beziehungssubstrate f\u00fcr die formalen Operationen,: aus denen man doch allein Ergebnisse gewinnen kann, sind die formalen Zahlen vollkommen ausreichend \u2014 sondern lediglich aus R\u00fccksichten der bequemeren Behandlung, und darf andererseits auch nicht vergessen, dass man dadurch nicht neue Resultate zu erhalten hoffen kann, welche mit den gew\u00f6hnlichen formalen Zahlen nicht auch zu gewinnen w\u00e4ren, sondern h\u00f6chstens einfachere und elegantere Ableitungen derselben.\nH\u00e4lt man sich diese Thatsachen vor Augen, so w\u00fcrde die Einf\u00fchrung der Gr\u00f6\u00dfe in den Zahlbegriff etwa folgenderma\u00dfen zu gestalten sein. Ausgehend von dem psychologischen Begriff der Anzahl denke man sich ein Object, d. h. also eine Gr\u00f6\u00dfe, ein-, zwei-, dreimal u. s. w. gesetzt. Das Resultat des psychologischen Denk-processes liefert dann die absoluten Zahlen 1,2,3..., das Resultat der Setzung aber kann dargestellt werden durch le, 2e, 3e ... . Diese Ausdr\u00fccke geben, unter e die Gr\u00f6\u00dfeneinheit verstanden, die einfachsten Gr\u00f6\u00dfen. Ihr Begriff entsteht offenbar, indem man das Resultat der subjectiven Denkth\u00e4tigkeit mit dem objectiven Beziehungssubstrat zu einem Ganzen verschmilzt, eine begriffliche\n1)\tKirchhoff, Vorlesungen \u00fcber mathematische Physik, Mechanik, dritte Auflage, Leipzig 1883.\n2)\tC. Neumann: Grundz\u00fcge einer analytischen Mechanik, insbesondere er Mechanik starrer K\u00f6rper, Berichte der mathematisch-physikalischen Klasse er K\u00f6niglich S\u00e4chsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Leipzig 1887, p. 153\nJls 190, 1888, p. 22\u201488.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nWalter Brix.\nTh\u00e4tigkeit, die immer m\u00f6glich und zul\u00e4ssig ist, da die in sich bereits formal untersuchten Denkprocesse, welche den arithmetischen Operationen entsprechen, wirklich dauernd auf feste Einheiten bezogen werden k\u00f6nnen, d. h. ihren formalen Charakter dabei behalten. Im vorliegenden Fall ist das leicht nachzuweisen. Denn die Reihe der Gr\u00f6\u00dfen le, 2e, 3e ... wird ja, wenn le = e die Beziehung eines Denkactes auf die Gr\u00f6\u00dfe e bezeichnet, definirt durch die Formeln: le-\\- le = 2e, 2e + le = 3e, ... allgemein: ae + le\n\u2014\t(a 4- l) e u. s. w. Und die Gleichungen zeigen sofort, dass die Verbindung ae unmittelbar ihrer distributiven Eigenschaft wegen als eine Multiplication aufgefasst werden kann, da man ihr associative und commutative Vertauschbark eit nat\u00fcrlich auch noch zuschreiben darf. Die Addition zweier solcher Gr\u00f6\u00dfen ist demnach umgekehrt wieder durch das distributive Gesetz gegeben: ae + be\n\u2014\t(a + b)e, und hieraus folgen auch sofort die Gesetze der Association und Commutation durch Reduction der ganzen Frage auf die voranstehenden formalen Zahlen. Denn es ist: ae + (he + ce) = ae + (j + c) e = [a + [b + e)] e = [(a + h) + e] e = (a + b) e + ce = (ae + he) + ce und andrerseits : ae + be = (a + b) e \u2014 (b + a) e\n\u2014\tbe-\\- ae.\nEs ist also eine Addition solcher Gr\u00f6\u00dfen m\u00f6glich, und zwar ist dies einfach diejenige Verkn\u00fcpfung, welche die Synthesis ihrer Definition bezeichnet. Ebenso zeigt sich, dass die Multiplication, als Specialfall der Addition, hergeleitet aus ihrem fr\u00fcheren erkennt-nisstheoretischen Begriff, sehr wohl zul\u00e4ssig ist, wenn man noch die Festsetzung trifft : a \u25a0 (he) \u2014 (ab) e.\nWas allerdings unter der Multiplication zweier Gr\u00f6\u00dfen zu verstehen sei, das bedarf in jedem einzelnen concreten Fall wieder einer besonderen Untersuchung. Die allgemeing\u00fcltige, formalistische Behandlung erlaubt hier nur die Bestimmung, dass (ae) \u25a0 (be) = (ab) \u2022 (ee) gesetzt werden solle. F\u00fcr die actuelle Sonderbedeutung ist dann die ganze Frage auf die Multiplication von Einheiten redu-cirt, und nur diese brauchen gegebenen Falls specialisirt zu werden-In dem gew\u00f6hnlichen Gr\u00f6\u00dfensystem der Algebra pflegt man z. B-einfach e \u2022 e = 1 \u2022 1 = 1 zu setzen, f\u00fcr Fl\u00e4chenma\u00dfe k\u00f6nnte etwa e ein Meter, e \u2022 e ein Quadratmeter bedeuten u. s. w. Selbst f\u00fcr verschiedene Einheiten ist diese \u00e4u\u00dferliche Multiplication ganz wohl","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwieklungsformen.\t289\nbeizubehalten, und man k\u00f6nnte z. B. (ae) \u2022 (JeJ = [ab) \u2022 (eey) , 5 kg \u25a0 16 m = 80 kgm setzen.\nEbenso wie die absoluten lassen sich dann ohne weiteres auch die negativen, gebrochenen und irrationalen Zahlen verdinglichen, d. h. auf eine Gr\u00f6\u00dfe beziehen. Doch erscheint eine n\u00e4here Behandlung dieser mathematischen Frage f\u00fcr unsern Zweck \u00fcberfl\u00fcssig\u2019), wir k\u00f6nnen uns hier mit der Bemerkung begn\u00fcgen, dass eine derartige Substantialisirung deshalb und nur deshalb m\u00f6glich ist, weil man den formalen Charakter der Operationen dabei wahren kann. Eben darum kann man aber auch das ganze bisher betrachtete Zahlgebiet auf eine einzige Gr\u00f6\u00dfeneinheit beziehen, die urspr\u00fcnglich selbst\u00e4ndigen formalen Zahlen in Coefficienten verwandeln und Gr\u00f6\u00dfen bilden, wie (\u2014a) e , i e, ja sogar [a + bi) e,\nohne dass an den Rechnungsregeln irgend etwas ge\u00e4ndert zu werden brauchte. Indessen haben z. B. Gr\u00f6\u00dfen der letzten Art doch noch niemals Verwendung gefunden1 2). Vielmehr zeigte es sich als viel vortheilhafter, wie schon in der Schreibweise angedeutet lag, i selbst als eine neue, der reellen 1 coordinirte Gr\u00f6\u00dfeneinheit zu betrachten. Diese Auffassung involvirt aber bereits den Begriff der zusammengesetzten Gr\u00f6\u00dfe, dem wir uns nunmehr zuzuwenden haben.\nSchon das bisherige System kann unter einem anderen Gesichtspunkt als ein zusammengesetztes betrachtet werden. Denn eine Gr\u00f6\u00dfe (\u2014 a) e muss nach dem Permanenzprincip der formalen Gesetze auch geschrieben werden k\u00f6nnen als a (\u2014 e), und in dieser Schreibart erscheint dann bereits \u2014 e als eine neue Gr\u00f6\u00dfeneinheit, jede negative Gr\u00f6\u00dfe aber als Multiplication einer absoluten Zahl mit derselben. Bestimmt ist die negative Einheit durch die Gleichung (fl-e) -f- (\u2014 e) = 0, w\u00e4hrend ihre Setzung die negative Zahlgr\u00f6\u00dfe erzeugt. Dasselbe Permanenzprincip l\u00e4sst aber zugleich die andere Auffassung zu, so dass man hier zwei Betrachtungsweisen einhalten kann und im allgemeinen auch thats\u00e4chlich beobachtet, ohne dass beide sich st\u00f6ren. Die eine kennt nur eine einzige Gr\u00f6\u00dfeneinheit und zweierlei Zah-\n1)\tEine eingehendere Darstellung geben die oben citirten Bearbeitungen der Weierstr a\u00df\u2019sehen Vorlesungen und Grassmann\u2019s Lehrbuch der Arithmetik. Berlin 1861.\n2)\tNur Hamilton betrachtet bisweilen derartig gebildete Quaternionen.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nWalter Brix.\nlen, die andere nur einerlei Zahlen1) und zwei Gr\u00f6\u00dfeneinheiten. Ebenso gibt der Ausdruck ~ (wo a und b ganze Zahlen sind) die\ndoppelte M\u00f6glichkeit, ~ als Zahl und e als Einheit oder ~ als Einheit und a als Zahl zu fassen, und das Gleiche w\u00fcrde von Formen wie Y% e gelten. Welche von beiden Auffassungen gew\u00e4hlt wird, h\u00e4ngt ganz von der Natur des jeweiligen Gedankenganges ab. Im Anfang der functionentheoretischen Untersuchungen wird man immer mit Weierstra\u00df von der zweiten Art der Betrachtung ausgehen, die allgemeine Arithmetik pflegt dagegen meist die erste zu w\u00e4hlen, d. h. als \u00bb Zahlencoefficient \u00ab alle formalen reellen Zahlen zuzulassen, die complexen aber nur aus dem praktischen Grunde auszuschlie\u00dfen, weil sie, abgesehen von den citirten Biquaternionen Hamilton\u2019s, keine Verwendung finden. Die bisher behandelte Zahlgr\u00f6\u00dfe besitzt arithmetisch also nur eine \u00bbDimension\u00ab, d. h. eine Gr\u00f6\u00dfeneinheit, und ist ihrem Wesen nach discontinuirlich und einfach ausgedehnt. Denn es ist m\u00f6glich, die einzelnen Zahlgr\u00f6\u00dfen nach ihrer Gr\u00f6\u00dfe in eine einzige Reihe so zu ordnen, dass eine jede einen eindeutigen, gegen die \u00fcbrigen fest definirten Platz einnimmt. Dies Gr\u00f6\u00dfengebiet ist demnach vorl\u00e4ufig in sich v\u00f6llig abgeschlossen, da man keine anderen formalen Zahlen mehr zur Verf\u00fcgung hat, die man verdinglichen k\u00f6nnte.\nWill man also zu umfassenderen Zahlgr\u00f6\u00dfen vorschreiten, so sind irgend welche neuen Festsetzungen und Annahmen n\u00f6thig, welche ebenfalls so eingerichtet sein m\u00fcssen, dass sie dem, nat\u00fcrlich auch f\u00fcr die Zahlgr\u00f6\u00dfe beibehaltenen Permanenzprincip der formalen Gesetze nicht widersprechen. Aber auch hier ist von vorn herein klar, dass man nicht erwarten kann, auf diesem Wege irgend welche Resultate zu gewinnen, die man mit den bisherigen Mitteln nicht auch erreichen k\u00f6nnte, sondern h\u00f6chstens eine \u00fcbersichtlichere Form oder elegantere Ableitung. Daher bedeutet dieser Schritt ganz analog der Verdinglichung der formalen Zahlen ebenfalls nicht eine Erweiterung des Zahl-, sondern in diesem Fall nur\n1) Dies entspricht im Gebiete der stetigen Zahlgr\u00f6\u00dfe, d. h. ausgedehnt auf die im mathematischen Sinne transcendenten Irrationalit\u00e4ten den Definitionen der Zahl, welche Newton in seiner Arithmetica universalis und Duhamel in seinem Methodenwerk gegeben hat. Vgl. oben Kapitel III, 2.","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t291\neine solche des Gro\u00df enbe griffs. Eine Ausdehnung derselben nahm man nun zun\u00e4chst vor, indem man die Anzahl der Einheiten vermehrte. Logisch wie mathematisch war diese Generalisation zu rechtfertigen durch den Beweis, dass sie noch keine weiteren Verkn\u00fcpfungsregeln gebrauchte und durchaus eindeutig war. In der That zeigte sich zun\u00e4chst bei der Betrachtung eines zweifach ausgedehnten discontinuirlichen Gr\u00f6\u00dfengebietes, das also repr\u00e4sentirt war durch Zahlen von der Form : a1el -j- 0% e2, dass man die Addition vollkommen bestimmen konnte durch die Festsetzung : (ax et +\te2)\n+ f\u00dfi e\\ + b2 e\u2018i) \u2014 [ai + ^i) ei + [ai + h) e2 und die Multiplication durch die distributive Eigenschaft : [av et -f- a2 e2) 'hx et + b2 e2) = (\u00ab1 b\\) (el el ) + (\u00ab1 \u00d62) (e\\ e2) + (\u00ab2 M (e2 ev) + (a2 ^2) [e2 e\u00ee) \u2022\nNimmt man hierin z. B. f\u00fcr ex die reelle Gr\u00f6\u00dfeneinheit, die man ja vielfach kurz mit 1 bezeichnet, f\u00fcr e2 aber die imagin\u00e4re Einheit i, so wird speciell: !ex ex) =1 , (ex e2) \u2014i , [e2ex] \u2014 i , {e2 e2) = \u2014 1 zu setzen sein. Man erh\u00e4lt durch die Multiplication zweier complexen Zahlen dann immer wieder eine ebensolche. Dass man aber i als eine wesentlich neue Einheit betrachten darf, daf\u00fcr b\u00fcrgt begrifflich die Unm\u00f6glichkeit, complexe Zahlgr\u00f6\u00dfen wie (a + bi) e eindeutig in die obige discrete reelle eindimensionale Gr\u00f6\u00dfenreihe einzuordnen, mathematisch die formale Durchf\u00fchrbarkeit dieses Gedankens.\nDas hier betrachtete specielle zweidimensionale Gr\u00f6\u00dfengehiet, \u00fcber das wir uns an dieser Stelle nur ganz summarisch aussprechen k\u00f6nnen, hat noch die Eigenschaft, dass die Addition und Multiplication in ihm commutativ sind und zugleich immer wieder auf Zahlen desselben Gebietes f\u00fchren. Eine weitere Aufrechterhaltung aller dieser Eigenschaften bei irgend welchen anderen Zahlsystemen ist aber bekanntlich nicht mehr ausf\u00fchrbar. Denn begrifflich stand zwar der Einf\u00fchrung anderer Gr\u00f6\u00dfeneinheiten nichts im Wege, mathematisch stellte sich aber sehr bald die Unm\u00f6glichkeit heraus, wenigstens alle bisherigen Merkmale der Multiplication beizubehalten. Worauf diese, mathematisch l\u00e4ngst streng erwiesene Thatsache logisch eigentlich beruht, ist noch nicht recht durchsichtig. Man hat wohl versucht sie darauf zur\u00fcckzufuhren, dass die bisherigen complexen Formalzahlen direct erfunden waren, weil die Allgemeing\u00fcltigkeit der Grundoperationen sie verlangte, dass aber alle","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nWalter Brix.\nweiteren Zahlarten, als nicht nothwendige, den Operationen auch h\u00f6chst wahrscheinlich nicht mehr gehorchen w\u00fcrden. Diese Ueber-legung ist aber in doppelter Hinsicht falsch. Denn erstens sind die complexen Zahlen gar nicht durch die Allgemeing\u00fcltigkeit der Multiplication bestimmt, sondern nur die rationalen, und zweitens gibt es au\u00dfer ihnen noch andere Zahlgr\u00f6\u00dfen, n\u00e4mlich die (im mathematischen Sinne) transcendenten Irrationalit\u00e4ten, welche sich ebenfalls den formalen Gesetzen noch vollkommen unterwerfen lassen. Wie es daher kommt, dass au\u00dfer den nothwendig verlangten gewisse singul\u00e4re Formen f\u00fcr die gew\u00f6hnliche Multiplication zu gebrauchen sind und andere nicht, ist begrifflich vorl\u00e4ufig noch nicht gen\u00fcgend aufgekl\u00e4rt und kann erst durch eine weitere Untersuchung der algebraischen Operationen in ihrem Yerh\u00e4ltniss zu einander verst\u00e4ndlich werden, wie sie bisher noch nicht vorliegt. Es w\u00e4re z. B. ein gewisser Zusammenhang zu erkennen, wenn man die transcen-denten Irrationalit\u00e4ten durch die formale Betrachtung von Ausdr\u00fccken wie Y3 ^ oder allgemein (a -f- bi) c * erhalten k\u00f6nnte. Das w\u00fcrde ja in der That die gerade Fortsetzung der obigen Betrachtung \u00fcber den formalen Zahlbegriff sein1). Oh dies aber n\u00f6thig, ob \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, das ist noch in keiner Weise zu \u00fcbersehen. Denn man w\u00fcrde dann durch Formalisirung fr\u00fcherer Operationen, welche in absoluten Zahlen sich als Specialf\u00e4lle der Po-tenzirung darstellen, zu einer \u00fcberw\u00e4ltigenden F\u00fclle von transcendenten2) Irrationalit\u00e4ten gelangen, in denen sich der Forscher mit den jetzigen H\u00fclfsmitteln v\u00f6llig verlieren w\u00fcrde. Es w\u00e4re dann allerdings erkl\u00e4rlich, dass das auf solchem Wege zu gewinnende allgemeine Beziehungssuhstrat f\u00fcr alle formalen Operationen : Addition, Multiplication, Potenzirung, und die unendlich vielen h\u00f6heren Operationen seiner Allgemeing\u00fcltigkeit wegen auch s\u00e4mmtlichen formalen Verkn\u00fcpfungsregeln gehorcht. Es k\u00f6nnte auch nicht weiter auffallen, wenn die durch allgemeine Ausdehnung der h\u00f6heren Verkn\u00fcpfungen gewonnenen neuen Formen, welche nat\u00fcrlich immer transcendenter werden (das Wort transcendent hier in der philo-\n1)\tVgl. oben 1 (Begriff der formalen Zahl) Schluss.\n2)\tWir brauchen jetzt das Wort wieder in dem mathematischen Sinn von \u00fcberalgebraisch.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t293\nsophischen und mathematischen Bedeutung zugleich verstanden), auch stets f\u00fcr alle niedrigeren Operationen brauchbar bleiben. Da dies aber vorl\u00e4ufig ganz unrealisirbare Speculationen sind, so k\u00f6nnen wir das Gesagte nur als eine beweislose Yermuthung aussprechen und m\u00fcssen uns betreffs der Frage, warum bestimmte Zahlen au\u00dfer den notbwendigen, n\u00e4mlich den rationalen, f\u00fcr die bisherige Multiplication zu brauchen sind und andere nicht, dem Beispiel des Mathematikers folgend mit dem Hinweis auf die Thatsache begn\u00fcgen.\nWollte man nun trotzdem noch andere Gr\u00f6\u00dfengebiete unter dem Gesichtspunkt des Zahlbegriffs betrachten, so war es, da sie den bisherigen Grundoperationen sich nicht mehr f\u00fcgten, eben nothwendig, diese in ihrer bisherigen Form aufzugeben und zu erweitern. Ob der Erfolg die M\u00fche lohnte, die eine derartige Um\u00e4nderung des ganzen Arbeitsfeldes bedingen w\u00fcrde, war nat\u00fcrlich von vorn herein nicht abzusehen. Es ist indessen doch gelungen, auf diesem Wege eine solche F\u00fclle der interessantesten Untersuchungen und Resultate zu gewinnen, dass der kritische Beur-theiler heutzutage die allgemeinen complexen Zahlgr\u00f6\u00dfen als etwas \u00fcberall Recipirtes anerkennen muss. Wir k\u00f6nnen deshalb nicht umhin, ihnen auch hier Raum zu gew\u00e4hren.\nAn der Addition, dieser einfachsten Verkn\u00fcpfungsform, war ja nat\u00fcrlich kaum etwas zu \u00e4ndern; man war also ganz auf die Multiplication angewiesen. Und hier wurde es denn bald durch die verschiedenen Untersuchungen von Hankel1), Weierstra\u00df2), Simony3) und anderen klargelegt, dass man, wie schon Gau\u00df behauptet hatte4), und Hamilton durch den Versuch lernte5), an\n1)\tComplexe Zahlen namentlich S. 99 ff.\n2)\tIn der Abhandlung aus den G\u00f6ttinger Nachrichten von 1884, S. 395\u2014419, an welche sich in derselben Zeitschrift noch die Arbeiten anschlie\u00dfen von Schwarz, 1884, S. 516\u2014519 ; Dedekind, 1885, S. 141\u2014159; 1887, S. 1\u20147; Holder, 1886, S. 241\u2014244, Petersen, 1887, S. 487\u2014502. Hierzu geh\u00f6rt auch eine Abhandlung von dem Letzteren in der Tidsskrift for Mathematik, udgivet af J. P. Gram og H. G. Zenthen, V, 3, S. 1\u201422, Kj\u00f6benhavn 1885.\n3)\tUeber zwei universelle Verallgemeinerungen der algebraischen Grund-operationen. Sitzungsberichte der mathematisch-physikalischen Klasse der Kaiserlichen Academie der Wissenschaften zu Wien. 1885, S. 223\u2014328.\n4)\tWerke II, S. 178.\n5)\tVgl. die Vorrede zu den Lectures on Quaternions, Dublin 1853.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nWalter Brix.\ndem Begriff der bisherigen Multiplication irgend etwas fallen lassen musste. Die wesentlichen Eigenschaften derselben waren das associative, das distributive, das commutative Gesetz und endlich die Bedingung, dass die multiplicativen Verkn\u00fcpfungen zweier Zahlgr\u00f6\u00dfen wieder eine Gr\u00f6\u00dfe desselben Gebietes lieferten. Die Erfahrung lehrte nun, dass es das Zweckm\u00e4\u00dfigste war, die beiden letzten Bestimmungen zugleich fallen zu lassen und die Multiplication allein als eine associative und in Bezug auf die Addition distributive Verkn\u00fcpfung zu definiren.\nDemgem\u00e4\u00df war nun in irgend einem allgemeinen Zahlgr\u00f6\u00dfengebiet oder wie man nun sagte \u00bbZahlsystem\u00ab ei , <?2... en die Addition zu definiren durch die Formel:\nn\tn\tn\nav ev\tbv ev\t(av + bv) ev,\n1\t1\t1\nworaus die associative und commutative Eigenschaft von selbst folgte, weil sie ja f\u00fcr die Zahlenco\u00ebfficienten a und b galt, die Multiplication\taber\tdurch\tdas\tdistributive Gesetz:\nn\tn\tn n\nV avev\t(av^x) \u25a0 levex)i\nl\ti\tli\nworin,\tda\timmer\teine\tbeliebige Verstellbarkeit der Zahlenco\u00ebfficien-\nten gestattet werden muss, das associative Princip ebenfalls implicit schon enthalten ist.\nDie Addition ist immer commutativ, die Multiplication nach der Definition nicht mehr, kann es aber in speciellen F\u00e4llen nat\u00fcrlich ebenfalls sein. Die Addition f\u00fchrt stets auf Zahlen desselben Gebietes, bei der Multiplication ist auch dies nicht nothwendig der Fall. Denn [ev ex) ist eine vorl\u00e4ufig noch gar nicht definirte Combination von Zeichen, eine neue Gr\u00f6\u00dfeneinheit, welche in den fr\u00fcheren nicht enthalten ist oder doch wenigstens nicht enthalten zu sein braucht. Die Multiplication ist daher wohl formal zul\u00e4ssig, aber vorl\u00e4ufig ohne jeden Sinn und jedes Interesse, wenn nicht noch irgend eine Festsetzung f\u00fcr die einstweilen rein formalen Einheits-producte getroffen, d. h. das Zahlsystem specialisirt wird.\nHierbei hat man sich nun nat\u00fcrlich, da die Bestimmung iw \u00fcbrigen willk\u00fcrlich bleibt, vollst\u00e4ndig von dem Gedanken der Eindeutigkeit f\u00fcr die Multiplication leiten zu lassen. Da sie aber nun","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n295\nim allgemeinen nicht mehr commutativ ist, wird sie die Division auch nicht mehr unter sich hegreifen. Die letztere ist vielmehr wieder selbst\u00e4ndig zur lytischen Operation geworden und k\u00f6nnte hier als dritte Grundoperation \u2014 die Subtraction ist nat\u00fcrlich nach wie vor von der Addition nicht unterschieden \u2014 hinzukommen. Indessen hat man sie aus praktischen Erw\u00e4gungen doch als solche nicht zugelassen und demzufolge auch die lange heibehaltenen Beschr\u00e4nkungen aufgehoben, dass sie immer eindeutig sein m\u00fcsse, und dass andererseits ein Product nur dann verschwinden d\u00fcrfe, wenn einer der Factoren, d. h. jeder seiner Zahlenco\u00ebfficienten gleich Null ist1). Ohne auf die mathematischen Details der Rechnung einzugehen, sieht man hier sofort, dass es zwei ganz verschiedene Arten der Multiplication geben wird. Entweder n\u00e4mlich bleiben die Einheitsproducte so bestimmt, dass sie durchaus neue, heterogene Einheiten liefern, oder aber sie reduciren sich auf die urspr\u00fcnglichen Einheiten. Ein Beispiel f\u00fcr die erste Art von Zahlsystemen bieten die von Grassmann entdeckten Zahlen, welche Hankel alternirend genannt hat2), f\u00fcr die zweite die gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen und die Quaternionen. Eine Verschmelzung beider Arten von Multiplication ist im allgemeinen nicht wohl m\u00f6glich, wenigstens noch nie vorgekommen, da der Uehersichtlichkeit und Eindeutigkeit wegen alle Definitionsgleichungen f\u00fcr die Einheitsproducte immer in gewisser Weise gleichartig gehalten werden m\u00fcssen.\nDamit ist aber das Gebiet der discreten Zahlgr\u00f6\u00dfen begrifflich im wesentlichen ersch\u00f6pft. Die weitere Ausf\u00fchrung der nur generell\n1)\tBei den alternirenden Zahlen ist diese Bedingung im allgemeinen nicht\nerf\u00fcllt, oder, um ein bequemes Beispiel zu benutzen, bei einem System, dessen Multiplication etwa definirt w\u00e4re durch die Gleichungen : (ev ev) = ev , (ev ex) = 0. Benn hier w\u00fcrde !at + a2 \u00ab2 + \u2022 \u2022 \u2022\te\u201e) (it + 62 \u00ab2 + Ken) = \u201ci ei + \u00ab2&2\u00ab2\n+ .. . anbnensem und man k\u00f6nnte z.B. durch die Wahl von \u00abi = \u00ab2 = \u2022 \u25a0 \u2022 an\u2014i = 0 und bn \u2014 0 erreichen, dass das ganze Product verschwindet, ohne dass doch einer der Factoren Null wird. Ja, es gibt, wie Frobenius in seiner Arbeit \u00bbUeber lineare Substitutionen und bilineare Formen\u00ab (Crelle\u2019s Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik. Bd. 84. 1878, p. 1\u201463) nachgewiesen hat, \u00fcberhaupt nur drei Zahlsysteme, welche die letzte Bedingung erf\u00fcllen, und deren Einheitsproducte sich wieder linear durch die Einheiten selbst ausdr\u00fccken, n\u00e4mlich die reellen, die gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen und die Quaternionen.\n2)\tComplexe Zahlen p. 129 ff.\nWnnat, Philos. Studien. VI.\n20","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nWalter Brix.\nhier angedeuteten Ideen ist die Aufgabe der mathematischen Forschung, und zwar zum gr\u00f6\u00dften Theil die einer zuk\u00fcnftigen, obwohl dies Gebiet bereits mit gro\u00dfem Gl\u00fcck von Grassmann, Hankel. Hamilton, Weierstra\u00df, Simony und Anderen theils in spe-cielleren, theils in allgemeineren Untersuchungen bearbeitet ist. Es gen\u00fcge an dieser Stelle die charakteristischen Merkmale der ganzen Entwickelung noch einmal hervorzuheben.\nAls ein solches bot sich zun\u00e4chst die Substantialisirung des arithmetischen Beziehungssubstrates, die Anwendung der formalen Operationen auf irgend einen vorausgesetzten realen, festen Denkinhalt, der hierdurch als der allgemeine Begriff der Gr\u00f6\u00dfe gegeben war. W\u00e4hrend also die formale Zahl im allgemeinen nur dem Schematismus der Rechnung diente, ist die Zahlgr\u00f6\u00dfe die Grundlage f\u00fcr das Rechnen mit benannten Zahlen, sie ist selbst nichts weiter als die benannte Zahl. So lange sie sich nun im Gebiete der gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen bewegt, so lange deckt sie sich \u00e4u\u00dferlich vollkommen mit den Formalzahlen und bezeichnet gewisserma\u00dfen deren Krystallisation um den Gr\u00f6\u00dfenbegriff. Sobald man Gr\u00f6\u00dfen aus mehreren incommensurablen Einheiten in Betracht zieht, fordert das Verlangen, sie als Zahlen zu behandeln, d. h. den formalen Gesetzen der Arithmetik unterwerfen zu k\u00f6nnen, eine Erweiterung des Begriffs der Multiplication. An dieser wurde deshalb die Bedingung der Commutativit\u00e4t und der Geschlossenheit, d. h. die Forderung, eine multiplicative Verkn\u00fcpfung zweier Gr\u00f6\u00dfen des Systems solle wieder eine Gr\u00f6\u00dfe des n\u00e4mlichen Systems ergeben, fallen gelassen. Hierdurch wurde sie ihres Charakters als Species, zu der viele noch die Geschlossenheit rechnen, theilweise entkleidet, w\u00e4hrend die Addition nach wie vor als die einfachste, geschlossene associative und commutative Verkn\u00fcpfung beibehalten werden konnte. Die Multiplication blieb dagegen nur associativ und in Bezug auf die Addition distributiv. Die Subtraction ging verm\u00f6ge der Commutativit\u00e4t noch in der Addition auf. Aber die Division war wieder selbst\u00e4ndig geworden, wurde indessen, da sie nicht immer eindeutige Verkn\u00fcpfungen zu geben brauchte, da ein Product auch dann verschwinden durfte, wenn keiner der Factoren Null war, aus der Reihe der Grundoperationen stillschweigend gestrichen. Potenzirung und Radicirung endlich kamen \u00fcberhaupt","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n297\nnicht mehr in Frage und wurden schon zu den Functionen gerechnet. Als Grundoperationen f\u00fcr die allgemeine Zahlgr\u00f6\u00dfe gelten demnach nur die Addition und die Multiplication in ihrem umfassenderen Begriff. Die erste, ganz so defmirt wie fr\u00fcher, kann niemals aus dem Gr\u00f6\u00dfensystem herausf\u00fchren, der zweiten aber braucht diese Eigenschaft nicht zuzukommen. Es ist also unmittelbar einleuchtend, dass die Multiplication immer das Charakteristische f\u00fcr ein Zahlsystem sein wird ; und thats\u00e4chlich bietet sie auch einen guten Eintheilungsgrund.\nDies ist im allgemeinen der begriffliche Inhalt des Ueberganges von den Formalzahlen zu den discreten Zahlgr\u00f6\u00dfen. Wir k\u00f6nnten daher diesen Gegenstand verlassen, wenn es nicht aus mehrfachen Gr\u00fcnden angebracht schiene, noch einiges speciell \u00fcber die geometrische Veranschaulichung der complexen Zahlen, \u00fcber die wir uns hier und da schon gelegentlich ge\u00e4u\u00dfert haben, hinzuzuf\u00fcgen. Jedoch werden wir uns hier nach dem Voraufgegangenen ganz kurz fassen k\u00f6nnen.\nWir hatten in der historischen Entwickelung das allgemeine Streben nach m\u00f6glichst schneller geometrischer Veranschaulichung der anf\u00e4nglich immer formell gefundenen Zahlen verfolgt und von den Indern bis in unser Jahrhundert \u00fcberall die n\u00e4mliche Erscheinung wiedergefunden, dass die formalen Zahlen immer erst durch diese Verdinglichung in ihrer Existenz sich zu behaupten vermochten. Es galt also dem hierbei in Erscheinung tretenden mathematischen Realismus a posteriori die Anschauung, d. h. das feste, in gewisser Weise noch vorstellbare Beziehungssubstrat f\u00fcr das Prim\u00e4re, unmittelbar Evidente, und dieses sollte in der Veranschaulichung seine bekannten und l\u00e4ngst untersuchten Eigenschaften f\u00fcr den schematischen, unfassbaren Begriff der formalen Zahl herleihen. Dadurch sollte dann der letztere, seiner Nominaldefinition nach unbegriffen, mit fremder H\u00fclfe gefestigt und \u00fcberhaupt erst verstanden werden. Ja selbst Gau\u00df glaubte noch, dass die Veranschaulichung des Imagin\u00e4ren ein neues, helles Licht auf die \u00bb Metaphysik \u00ab dieses Begriffes werfen k\u00f6nne1).\nIn Wirklichkeit ist aber das Verh\u00e4ltniss, wie es auf anderen\n1) In der schon mehrfach citirten Stelle, Werke II, S. 175.\n20*","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nWalter Brix.\nGebieten zuerst durch die sch\u00f6nen Arbeiten von Grassmann klargelegt wurde, gerade umgekehrt. Nicht der Gr\u00f6\u00dfenbegriff bildet das prim\u00e4re, erforschte Gebiet in der Veranschaulichung, sondern die formale Zahl, welche als das Beziehungssubstrat f\u00fcr die allgemeinen Operationen sich allein durch ihre arithmetischen Eigenschaften und durch diese vollst\u00e4ndig bestimmt. Und nicht der feste Beziehungsinhalt ist das tertium comparationis, sondern der Schematismus der formalen Operationen, der \u00fcberall den Hauptgegenstand des Interesses bildet. In einer jeden Veranschaulichung des allgemeinen Zahl- oder Zahlgr\u00f6\u00dfenbegriffs wird darum auch nicht, wie der fr\u00fchere Realismus glaubte, der Zahlbegriff der Anschauung, sondern umgekehrt die Anschauung dem Zahlbegriff unterworfen, d. h. auf additive und multiplicative Verkn\u00fcpfungen zur\u00fcckgef\u00fchrt. Der obige Ausspruch von Gau\u00df ist deshalb geradezu umzudrehen, indem, wenn man diesen eigenartigen Ausdruck beibehalten will, die Metaphysik des Imagin\u00e4ren h\u00f6chstens ein helles Licht auf die analytische Behandlung der Ebene wirft.\nWie aber speciell eine solche Veranschaulichung zu denken sei, ist nach den allgemeinen Betrachtungen, die voraufgegangen sind, leicht auszuf\u00fchren. Hat man es n\u00e4mlich mit einem anschaulichen Gr\u00f6\u00dfengebiet zu thun, so kann man irgend eine actuelle Verkn\u00fcpfung zweier Elemente desselben untersuchen. Stellt sie sich als eindeutig, associativ und commutativ heraus \u2014 und diese Eigenschaften kommen sehr vielen anschaulichen Verkn\u00fcpfungen zu \u2014 so wird man sie ohne weiteres als eine Addition auffassen k\u00f6nnen, da sie ja deren formale Eigenschaften besitzt. So hat, um statt vieler Beispiele nur eins der bekanntesten anzuf\u00fchren, Grass mann gezeigt, dass die statische Zusammensetzung von Kr\u00e4ften als eine Addition angesehen werden kann. Eine andere Gr\u00f6\u00dfenbeziehung l\u00e4sst sich vielleicht, weil sie associativ und in Bezug auf eine, bereits als bekannt vorausgesetzte additive Verkn\u00fcpfung distributiv sich erweist, als Multiplication auffassen, wie etwa die Inhaltsberechnung von Rechtecken u. a. Ist aber einmal eine solche Zur\u00fcckf\u00fchrung der Anchauung auf den Formalismus gelungen, so wird man mit einem Schlage alle schon vorher bekannten formalen Operationseigenschaften in die betreffende Anschauung \u00fcbersetzen k\u00f6nnen.\nDie au\u00dferordentliche Tragweite dieser Behandlungsart hat ja","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t299\nGrassmann in seinen zahlreichen Schriften, in denen er eine F\u00fclle der verschiedensten Deutungen von Zahlgr\u00f6\u00dfen, Additionen und Multiplicationen gegeben hat, zur Gen\u00fcge bewiesen. Der eminente Vorzug dieser, in ihrer Einfachheit wahrhaft gro\u00dfartigen Idee ist die gemeinsame, gleichzeitige Behandlung der verschiedensten anschaulichen Verkn\u00fcpfungen unter demselben, rein formalen Gesichtspunkt, w\u00e4hrend ihre singul\u00e4re anschauliche Untersuchung nicht allein sehr m\u00fchsam war, sondern oft gerade die charakteristischen Eigenschaften verkennen lie\u00df.\n3. Die continuirliche Zahlgr\u00f6fse.\nDer Umfang des Begriffs der discreten Zahlgr\u00f6\u00dfe und damit das Feld seiner Anwendbarkeit ist schon ziemlich bedeutend. Er umfasst n\u00e4mlich alle denkbaren discontinuirlichen Mannigfaltigkeiten, deren gemeinsamen Algorithmus er an die Hand gibt. Aber grade die discrete Natur dieses Begriffes beschr\u00e4nkt seine Anwendbarkeit doch immer nur auf solche Gr\u00f6\u00dfen, welche selbst discontinuir-lich sind. Er ist demnach nichts mehr und nichts weniger als die Grundlage der Lehre von den discreten Gr\u00f6\u00dfen, f\u00fcr welche man im allgemeinen die Algebra ansieht, und einer weiteren Ausdehnung vorl\u00e4ufig nicht f\u00e4hig. Sollte er noch andere Anwendungen erfahren, so musste er sich zun\u00e4chst um ein neues, ihm noch fremdes Merkmal bereichern, um die Eigenschaft der Stetigkeit.\nDer Begriff der Stetigkeit, oder vielmehr die Einf\u00fchrung desselben in den der Gr\u00f6\u00dfe, hat von jeher sehr viele Schwierigkeiten gemacht, und man kann sagen, dass dieselben bis zu einem gewissen Grade noch heute nicht \u00fcberwunden sind. Seine fundamentale Wichtigkeit und die ihn charakterisirende Eigenschaft der Unmessbarkeit, deren Entdeckung \u2014 ein eigenartiges Spiel des Zufalls \u2014 gerade derjenigen Schule gelang, welche das Ma\u00df, und zwar die einfachsten Ma\u00dfe, in allen Dingen nachzuweisen sich bem\u00fchte, den Pythagoreem, n\u00f6thigen uns, bei ihm etwas l\u00e4nger zu verweilen.\nDie Griechen hatten die Eigenart des Stetigkeitshegriffes zuerst an den Irrationalit\u00e4ten kennen gelernt; und zwar waren ihnen diese deshalb so merkw\u00fcrdig erschienen, weil sie den \u00fcbrigen","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nWalter Brix.\nZahlen gegen\u00fcber incommensurabel sich erwiesen, indem sich trotz aller Bem\u00fchungen kein gemeinsames Ma\u00df finden lie\u00df, durch das man beide in einer ganzzahligen Proportion h\u00e4tte ausdr\u00fccken k\u00f6nnen. So war die vollst\u00e4ndige Heterogeneit\u00e4t des discreten und stetigen, des discontinuirlichen und continuirlichen Gr\u00f6\u00dfenbegriffs klar erkannt und gab zu jener gl\u00fccklichen Trennung von Arithmetik und Geometrie Anlass, welcher die antike Mathematik ihren exacten Charakter verdankt. Nichts desto weniger erschien doch das Stetige immer noch als etwas Mystisches, Geheimniss volles, dessen Existenz man anzunehmen gezwungen war, ohne doch recht daran glauben zu m\u00f6gen.\nFragt man aber nach dem Grund dieses unverkennbaren Misstrauens, so wird man keinen andern finden, als den, dass die continuirlichen Gr\u00f6\u00dfen eben im allgemeinen incommensurabel waren. Denn, wie \u00fcberhaupt die Mathematik dem Verlangen nach Messung der Gr\u00f6\u00dfen ihren Ursprung verdankte, so ging man naturgem\u00e4\u00df an die Bearbeitung derselben auch mit der unwillk\u00fcrlichen Voraussetzung, alle Gr\u00f6\u00dfen m\u00fcssten messbar sein. Die Erfahrung, dass man sich in dieser Voraussetzung t\u00e4uschte, blieb ja auch nicht aus. Aber weit entfernt, die als unrichtig erkannte Grundannahme zu beseitigen, brachte sie vielmehr umgekehrt jenes nie ganz \u00fcberwundene Gef\u00fchl begrifflicher Unsicherheit hervor, das die Analysis eigentlich bisher noch nicht verlassen hat. Denn jetzt, am Ende dieser ganzen Entwicklung stehend, kann man unbedenklich die obige Ueberlegung verallgemeinern und das Urtheil aussprechen : Alle Unklarheiten, welche jemals die Behandlung des Stetigen oder Irrationalen verdunkelt haben, entsprangen lediglich aus dem, seinem Begriff direct widersprechenden Verlangen einer Ausmessbarkeit durch discrete Gr\u00f6\u00dfen. Und so oft Erw\u00e4gungen theoretischer oder praktischer Natur eine quantitative Bestimmung der Irrationalit\u00e4ten forderten, kamen jedesmal die alten Widerspr\u00fcche und Gegens\u00e4tze wieder zum Vorschein.\nNothwendig, ja unentbehrlich war aber eine Gr\u00f6\u00dfenvergleichung von Discretem und Stetigem f\u00fcr die praktische Mathematik durchaus. Man musste deshalb wenigstens irgend ein methodisches Auskunftsmittel suchen und fand dies schlie\u00dflich in der Ann\u00e4herung, welche noch heutzutage den einzigen Weg f\u00fcr die Auswerthung","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklnngsformen,\t301\nder Irrationalit\u00e4ten bildet. Der Gedanke derselben taucht zuerst in der griechischen Exhaustionsmethode auf. Sie war ein Noth-behelf f\u00fcr die Berechnung unquadrirbarer Fl\u00e4chen und damit der erste Schritt aus dem bis dahin streng exacten Aufbau der alten Mathematik heraus. So lange man sich aber der Thatsache bewusst blieb, dass dieser Weg niemals wirkliche Werthe, sondern immer nur Ann\u00e4herungen zu liefern im Stande sei, so lange war er noch gefahrlos und konnte als eine mehr praktische Methode nebenbei gelehrt werden. Immerhin bildete diese aber doch eine stete Bedrohung f\u00fcr die Strenge der exacten Gr\u00f6\u00dfenlehre, und der Sophist Antiphon mag nicht der einzige gewesen sein, der in ihr eine wirklich genaue, zum Ziele f\u00fchrende Methode sah1).\nMit dem Untergang der griechischen Mathematik ging auch die Idee der Ausmessung des Irrationalen wieder verloren. Denn die indisch-arabische Mathematik, welche sie in ihrer Herrschaft abl\u00f6ste, unterwarf diese Gr\u00f6\u00dfen, soweit sie noch in Frage kamen, einfach dem Formelmechanismus der Algebra, ohne hierf\u00fcr die iierechtigung nachzuweisen. Sie vermischte Arithmetik und Geometrie von vorn herein zu einer einzigen algebraischen Gr\u00f6\u00dfenlehre, w\u00e4hrend der wissenschaftlich richtige Weg zun\u00e4chst die Untersuchung beider f\u00fcr sich gefordert h\u00e4tte. Erst durch den Beweis, dass gewisse geometrische Beziehungen als Additionen, andere als Multiplicationen oder Potenzirungen u. s. w. sich auffassen lie\u00dfen, w\u00e4re jene unmittelbare Identificirung wissenschaftlich begr\u00fcndet worden, w\u00e4hrend sie sich so nur durch den Erfolg rechtfertigen konnte. Der Grund aber, warum gerade den Indern der tiefe Zwiespalt des Discreten und Stetigen verborgen blieb, ist in nichts anderem als in jener Schematisirung der Geometrie zu suchen. Denn man ging nun nicht mehr aus auf die unmittelbare Messung aller Gr\u00f6\u00dfen, sondern nur auf ihre Construction. Und indem man sich gew\u00f6hnte, nicht allein die vier Species, sondern auch h\u00f6here algebraische Operationen f\u00fcr die Zahlen und Zahlgr\u00f6\u00dfen zuzulassen, konnte es nat\u00fcrlich nicht Wunder nehmen , wenn man auf diese Art zu Zahlen gelangte, welche nur durch die Badicirung, nicht durch die einfachen Operationen bedingt waren. Eben die falsche\n1) Vgl. Hankel, Geschichte der Mathematik p. 110.","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nWalter Brix.\nVoraussetzung, dass alle Gr\u00f6\u00dfen messbar sein m\u00fcssten, fehlte den viel abstracter denkenden indischen Mathematikern. Da sie die Irrationalit\u00e4ten nur als Quadrat- und Cuhikwurzeln kannten, gen\u00fcgte es ihnen, dass sie algebraisch \u00fcberhaupt brauchbar waren, um sie als Zahlen zu dulden.\nJahrhunderte lang blieb die Wissenschaft auf diesem Standpunkt stehen. Erst als man anfing, Geometrie wieder selbst\u00e4ndig zu treiben, als man sich nicht mehr mit den Resultaten begn\u00fcgte, welche geometrisch aus algebraischen Relationen gelegentlich mit erhalten wurden, erst da konnte die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Stetigen und Irrationalen wieder in den Vordergrund treten. Und die von Descartes begonnene innige Verschmelzung von Algebra und Geometrie in die neuere Analysis \u2014 bei den Indern war diese rein \u00e4u\u00dferlich gewesen \u2014 musste wieder den alten Gegensatz von discret und stetig auch in Bezug auf die Zahlenlehre acut machen. Und da dieser Gegensatz tief in der Natur der Sache begr\u00fcndet lag, andererseits aber jene Verschmelzung, sollte sie aufrecht erhalten werden, die Gleichartigkeit der aufeinander bezogenen Formen unbedingt verlangte, so hing alles davon ab, ob man einen Ausweg fand, der dieser Forderung wenigstens \u00e4u\u00dferlich entsprach.\nIn solcher Verlegenheit kam man nun wieder auf die alte Exhaustionsmethode zur\u00fcck, d. h. man versuchte von neuem das Unm\u00f6gliche, die Ausmessung des Unmessharen. Das Mittel aber, die hierbei unvermeidlichen Fehler zu verschleiern und der oberfl\u00e4chlichen Betrachtung unsichtbar zu machen, bot die neu entdeckte Infinitesimalmethode. Man verwandelte ganz einfach die endliche Ann\u00e4herung der Exhaustion in eine unendliche und verdeckte durch das Wort: unendlich die Thatsache, dass man es eben nur mit einer Ann\u00e4herung zu thun hatte. Diese Anwendung der Infinitesimalmethode, die nicht viel mehr als ein Missbrauch derselben ist, war nun eine doppelte, je nachdem man von der unbegrenzt abnehmenden Gr\u00f6\u00dfe, oder von der unendlich kleinen, vom infiniten oder transfiniten Differentialbegriff ausging.\tJ\nDie letztere Auffassung behauptete sich namentlich im Anfang lange Zeit. Durch fortgesetzte Addition von immer kleineren Gr\u00f6\u00dfen m\u00fcsste man \u2014 so wurde calculirt \u2014 im Unendlichen","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t303\nschlie\u00dflich einmal zu den transfinit unendlich kleinen Gr\u00f6\u00dfen gelangen, welche der Null gleichzuachten seien; durch unendliche Addition ganz kleiner Gr\u00f6\u00dfen sei also der Werth des Irrationalen wirklich zu ersch\u00f6pfen. Der Grundfehler dieser Ueherlegung besteht in ihrer Doppelseitigkeit. Im Anfang hat sie n\u00e4mlich eine successive Ann\u00e4herung im Auge, welche die zu bestimmende Irrationalit\u00e4t wohl durch bekannte Bruchma\u00dfe zu umzirkeln, niemals aber wirklich zu erreichen im Stande ist. Dann jedoch setzt sie die N\u00e4herung pl\u00f6tzlich als vollendet und gelangt auf diesem Wege zwar thats\u00e4chlich zu der Zahl selbst, \u00fcbersieht aber dabei, dass damit gar nichts gewonnen ist. Denn von einer wirklichen Ausmessung kann offenbar, sobald man die Ann\u00e4herung verl\u00e4sst, \u00fcberhaupt nicht mehr die Bede sein. Das Irrationale seihst bleibt so singul\u00e4r, wie zuvor, da der Process der Ausmessung nur durch einen Sprung, durch ein kategorisches Machtwort, nicht vollendet, sondern nur als vollendet erkl\u00e4rt wird.\nHob aber so die transfinite Betrachtungsweise ihren ganzen Zweck, die Ausmessung des Irrationalen, d. h. seine exacte Vergleichung mit dem Bationalen, ohne es zu wollen durch jenen Gedankensprung wieder auf, so machte sich die infinite des entgegengesetzten Fehlers schuldig, sie erreichte \u00fcberhaupt gar nicht das Ziel. Denn da die verlangte unendliche Ann\u00e4herung in der Anschauung niemals auszuf\u00fchren ist, so blieben die allgemeinen Irrationalit\u00e4ten als unvorstellbar von den vorstellbaren rationalen Gr\u00f6\u00dfen genau so verschieden, wie fr\u00fcher ; und die Ann\u00e4herung konnte zu ihrer Kl\u00e4rung nicht das geringste beitragen, war vielmehr v\u00f6llig \u00fcberfl\u00fcssig.\nBeide Wege waren also gleich erfolglos und auch ihre Vereinigung in der Grenzmethode war nicht im Stande, die Aufgabe zu l\u00f6sen. Denn wenn man der infiniten, in der Natur der Sache gegebenen Ann\u00e4herung dadurch gerecht wurde, dass man den Gedankensprung der Bealisten vermied und statt dessen eine Grenze des Processes einf\u00fchrte, d. h. eine Gr\u00f6\u00dfe, der man durch die Ann\u00e4herung so beliebig nahe kommen kann, dass sich immer eine Gr\u00f6\u00dfe durch Synthese von messbaren Br\u00fcchen finden l\u00e4sst, welche sich von der Grenze um weniger als eine andere, beliebig kleine, aber auch noch messbare Gr\u00f6\u00dfe unterscheidet, so war hier die","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nWalter Brix.\nfalsche transfinite Auffassung doch von vorn herein durch die Annahme der Existenz einer Grenze in die Ueberlegung hineingetragen. Man hatte nur eine wissenschaftlich v\u00f6llig werthlose petitio prin-cipii gemacht, indem man das Vorhandensein einer Grenze aus der Annahme derselben bewies. Der Fehler dieser verf\u00fchrerischen Speculation bestand also darin, dass man die anf\u00e4ngliche Induction, welche nat\u00fcrlich zuerst die Existenz der Grenze lehren musste, nicht vollst\u00e4ndig durch die Deduction ersetzte.\nDieser Mangel ist nun allerdings, wenn auch erst sehr sp\u00e4t beseitigt, und die inductive Thatsache wirklich, wie es der deductive Umwandlungsprocess verlangt, in eine formale Hypothese verwandelt worden. Man machte n\u00e4mlich die unbestreitbare Annahme, dass eine gesetzm\u00e4\u00dfige unendliche Zahlenreihe eben wegen ihres Bildungsgesetzes auch irgend etwas \u2014 es brauchte nicht einmal eine Gr\u00f6\u00dfe zu sein *) \u2014 bestimmen m\u00fcsse. Erst weiterhin wird dann bewiesen, dass man unter diesem Etwas auch die Grenze, d. h. eine solche Gr\u00f6\u00dfe verstehen kann, der man sich, falls man nur in der Reihe weit genug fortschreitet, bis auf beliebig kleine vorgegebene Gr\u00f6\u00dfen n\u00e4hern kann. In dieser Form, deren Grundgedanke von Weierstra\u00df herr\u00fchrt, ist der Begriff heutzutage in die neueren deutschen Lehrb\u00fccher der Functionentheorie \u00fcbergegangen. Aber die meisten derselben sind nicht ganz consequent. Sie setzen h\u00e4ufig genug die Reihe mit ihrer Grenze einfach identisch, w\u00e4hrend doch beide f\u00fcr die functionentheoretische Betrachtung nur als gleich angesehen werden, in Wahrheit aber ganz verschiedene Begriffe sind, der eine ein flie\u00dfender, niemals zu vollendender, der andere ein fester, von vorn herein bestimmter.\nAehnlich mit der hier gegebenen, functionentheoretischen Behandlungsweise vergleicht auch Cantor1 2) von einem h\u00f6heren Gesichtspunkt aus zwei Begriffe des Irrationalen mit einander, deren einer als eine bestimmte Gr\u00f6\u00dfe b auftritt, w\u00e4hrend der andere dessen Darstellung durch eine Fundamentalreihe erster M\u00e4chtigkeit\n1)\tHe ine in seinem Aufsatz : Die Elemente der Functionenlehre, Borchardt\u2019s Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik, Band 74, 1872, S. 172, der ersten Publication dieser Art, spricht von einem Zeichen.\n2)\tIn dem Aufsatz: Ueber unendliche, lineare Punktmannigfaltigkeiten, Mathematische Annalen, Band XXI, 1883, S. 545 ff. Vgl. namentlich S. 567.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t305\nliefert1). Auch Christoffel ersetzt in analoger Weise jenes allgemeine Zeichen Heine\u2019s durch eine, als endlichen Begriff gefasste, aber in unendlicher Form erscheinende Charakteristik2).\nAllen diesen drei Betrachtungsweisen ist also eine Doppel-seitigkeit des Irrationalit\u00e4tsbegriffes gemein, welche aber offenbar dem ganz klaren und eindeutig fest bestimmten anschaulichen Begriff des Continuums nicht eigen sein kann und nur durch die specielle Art der mathematischen Behandlung k\u00fcnstlich hineingetragen ist. In dieser Hinsicht h\u00e4lt sich nun eine vierte und zwar die originellste und scheinbar ganz unalgebraische Einf\u00fchrungsweise rein, die von Dedekind3). Ausgehend von der auffallenden Analogie des reellen Zahlgebietes mit den Punkten einer Geraden versucht er, das erstere so zu bestimmen, dass die Analogie vollst\u00e4ndig, d. h. das Zahlgebiet stetig wird. Das Kriterium f\u00fcr die Stetigkeit sieht er dann in der M\u00f6glichkeit, \u00fcberall einen Schnitt zu machen, d. h. \u00fcberall einen und nur einen Punkt des Zahlgebietes zu finden, derart, dass alle Zahlen auf der einen Seite desselben kleiner sind als alle auf der anderen. Hier tritt uns nun das Irrationale gleich von vorn herein als ein fester, ganz bestimmter Begriff entgegen, n\u00e4mlich als ein Punkt, oder vielmehr ein Schnitt des Gebietes. Aber auch Dedekind kann bei dieser Form allein nicht stehen bleiben, auch er sieht sich am Schl\u00fcsse der Arbeit, wo er von der Anwendung auf die Infinitesimalmethode spricht, gen\u00f6thigt, doch zugleich noch den Grenzwerth einer N\u00e4herung einzuf\u00fchren. Es\n1)\tGegen die Theorien der irrationalen Zahlen von Cantor und Weier-stra\u00df erhebt 111igens im XXXIII. Bande der Mathematischen Annalen (Leipzig 1888) S. 155 ff. Einspruch, weil diese schematischen Zeichen gegen die Zahlgr\u00f6\u00dfen, denen sie doch gleichgesetzt werden, ganz heterogen sind, wie uns aber scheinen will, mit Unrecht. Denn es wird doch das Zeichen nicht selbst als die irrationale Zahl definirt, sondern die wirkliche Grenze, und nur nachtr\u00e4glich bewiesen, dass man diese Grenze auch unter dem Zeichen, dessen Existenz anf\u00e4nglich allein gewiss ist, verstehen kann. Dies ist \u00fcbrigens auch wohl der Sinn der inzwischen von Cantor (a. a. O. S. 476) gegebenen Antwort, mit welcher sich allerdings Illigens (ebenda Bd. XXXV p. 454) nicht befriedigt erkl\u00e4rt.\n2)\tIn dem Aufsatz : Lehrs\u00e4tze \u00fcber arithmetische Eigenschaften der Irrationalzahlen, Briosehi\u2019s Annali di Matematica pura ed applicata. Serie IIa, Tomo XV\u00ab, Milano 1888, p. 253.\n3)\tIn der Schrift: Stetigkeit und irrationale Zahlen, Braunschweig 1872.","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nWalter Brix.\nl\u00e4sst sich freilich nicht leugnen, dass seine Definition das Moment des Stetigen im Irrationalen wesentlich besser trifft, als die \u00fcbrigen Behandlungsweisen, welche in dieser Beziehung der mathematischen Verwendung zu Liehe mit anschaulich ungen\u00fcgenden, schematischen H\u00fclfsbegriffen arbeiten, aber das Wesen des Stetigen trifft sie so wenig wie die fr\u00fcheren. Denn die Dede kind\u2019sehe Definition des Continuums liefert nur eine schematisehe Nachahmung desselben durch eine \u00fcberall gleich dichte Mannigfaltigkeit, ohne das den Begriff des Stetigen in erster Linie charakterisirende Moment des inneren Zusammenhangs zu ber\u00fccksichtigen1). Andrerseits erweist sich der Begriff des Schnittes analytisch auch wieder als unbrauchbar und muss nothwendig der Grenzbetrachtung weichen. Allerdings leiten auch Dini2), Pasch3) und Tannery4) ihre analytischen Werke mit dem Dedekind\u2019schen Begriff des Schnittes ein, jedoch nur, um ihn alsbald wieder zu verlassen und zu den fr\u00fcheren analytisch allein brauchbaren Grenzentwickelungen zur\u00fcckzukehren. Diese Darstellungen sind eigentlich doppelseitig. In den begrifflichen Deductionen operiren sie mit dem finiten Schnitte, in den mathematischen mit der infiniten Ann\u00e4herung.\nSo zeigt denn die ganze lange Behandlung des Irrationalit\u00e4tsbegriffes mit den H\u00fclfsmitteln der Infinitesimalmethode, dass der urspr\u00fcngliche Zweck, auf den es eigentlich ankam, die Ausmessung des Irrationalen, keineswegs erreicht ist. War aber dieses Resultat eben deshalb, weil man sich von vorn herein ein falsches Ziel steckte, vorauszusehen, so ist doch andrerseits die Discussion der Frage durchaus nicht nutzlos gewesen. Sie hat vielmehr die Sachlage in einem Ma\u00dfe gekl\u00e4rt, dass man nun deutlich erkennt, wie es \u00fcberhaupt zwei ganz verschiedene Begriffe des Irrationalen, beziehungsweise Stetigen gibt, deren erster, den man den finiten oder transfiniten nennen kann, allein dem eigentlich anschaulichen Begriff der Stetigkeit entspricht, w\u00e4hrend der zweite, passend als infinit zu bezeichnende, eigentlich nur ein Bastardbegriff ist, ein Surrogat,\n1)\tDas betont schon Cantor in der mehrfach citirten Abhandlung : Mathematische Annalen XXI (S. 576).\n2)\tFondamenti per la teorica delle funzioni di variabili reali, Pisa 1878.\n3)\tEinleitung in die Differential- und Integralrechnung, Leipzig 1883.\n4)\tIntroduction \u00e0 la th\u00e9orie des fonctions d\u2019une variable, Paris 1886.","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t307\ndas die Functionentheorie und messende Arithmetik sich geschaffen haben, um die Irrationalit\u00e4ten \u00fcberhaupt in irgend einer Form ihren Betrachtungsweisen unterwerfen zu k\u00f6nnen*). Der infinite Irrationa-nalit\u00e4tsbegriff ersetzt n\u00e4mlich die Ausmessung, die er in Wirklichkeit nicht erreichen kann, durch eine Reihe von unendlich vielen Messungen, deren Folge nach einem gewissen Gesetz geregelt ist. Das Object der Messung, die irrationale Gr\u00f6\u00dfe selbst erscheint also hier als die Grenze eines unendlichen Processes. Eben deswegen ist aber die verlangte Operation eine ideale, die Grenze niemals zu erreichen.\nDieser Begriff des Irrationalen ist also in gewisser Weise unbestimmt, flie\u00dfend und nie zu vollenden. Andrerseits steht es aber der Einbildungskraft frei, den N\u00e4herungsprocess, dessen Abschluss nicht vorstellbar ist, beendet zu denken. Das Irrationale erscheint dann nicht mehr als die N\u00e4herung selbst, sondern als die Grenze, nicht als eine unendliche Reihe, sondern als ihre Summe, nicht als eine niemals zu erreichende, sondern als eine festgegebene Gr\u00f6\u00dfe. Diese Form des Irrationalit\u00e4tshegriffes ist die transfinite. Sie ist in dem \u00bbZeichen\u00ab Heine\u2019s und in der \u00bbCharakteristik\u00ab Christoffel\u2019s dargestellt. Sie deckt sich auch im wesentlichen mit den verdinglichten formalen Irrationalit\u00e4ten der discreten Zahlgr\u00f6\u00dfe, nur dass sie allgemeiner ist und auch die transcendenten mit umfasst. In diesem Sinne erscheint analog wie hei Dedekind irgend ein Abschnitt des zur stetigen Reihe erg\u00e4nzten Zahlgebietes als Irrationalit\u00e4t, ob er sich gleich im speciellen Falle auf rationale Gr\u00f6\u00dfen reduciren kann. Und dies ist, wenn man noch die F\u00e4higkeit, positiv und negativ zu sein, hinzuf\u00fcgt, analog derjenigen Definition, welche Newton und Duhamel gegeben haben: Zahl ist das Yer-h\u00e4ltniss einer Gr\u00f6\u00dfe zu der ihr entsprechenden Einheit1 2).\nHier, wie in vielen anderen Betrachtungen stellt sich das Irra-\n1)\tWir wenden hier die bisher nur f\u00fcr unendlich gro\u00dfe oder unendlich kleine Verh\u00e4ltnisse gebrauchten W\u00f6rter infinit und transfinit auch f\u00fcr den endlichen Ma\u00dfstab an, weil wir offenbar hier dieselben Beziehungen haben, und andere bequeme Bezeichnungen nicht existiren. Da jedoch eine endliche Gr\u00f6\u00dfe nicht blos als Grenze eines N\u00e4herungsprocesses, sondern auch von vorn herein als ge geben aufgefasst werden kann, werden wir f\u00fcr diesen Fall die Benennungen fin und transfinit promiscue gebrauchen.\n2)\tVgl. oben Kapitel III, 2.","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nWalter Brix.\ntionale als fest fixirt und begrifflich genau umrissen dar. Und deshalb ist der transfinite Irrationalit\u00e4tsbegriff auch der einzige, welcher einer exacten Behandlung zug\u00e4nglich ist. Sein Gebiet ist darum, so lange er discontinuirlich bleibt, die abstracte Algebra, wie sie durch Substantialisirung der formalen Zahlen gewonnen wird, au\u00dferdem aber, sobald er stetig wird, die construirende, nicht die berechnende Geometrie, oder allgemeiner die Grassmann\u2019sehe Ausdehnungslehre.\nAndrerseits ist aber dieser strenge Begriff nicht mehr zu verwenden, wo es sich um eine Ausrechnung irgend welcher Art handelt. In der rechnenden Arithmetik z. B. muss man sich entweder mit einer endlichen Ann\u00e4herung begn\u00fcgen oder eine unendliche durch den infiniten Irrationalit\u00e4tsbegriff andeuten. Hier zeigt sich nun aber auf\u2019s klarste, dass man in diesem Fall nur eine Aush\u00fclfe geschaffen hat, welche niemals gestattet, die transfinite Irrationalit\u00e4t wirklich zu erreichen, dass man der pr\u00e4cisen, exacten Gr\u00f6\u00dfe ein ver\u00e4nderliches Surrogat unbestimmten Werthes substituirt. Ja die Forderung der Gleichartigkeit aller Gr\u00f6\u00dfen, z. B. ihre Dar-stellbarkeit durch Potenzen von zehn, f\u00fchrt hier sogar schon dazu, Gr\u00f6\u00dfen, die auf andere Weise rational zu messen w\u00e4ren, durch einen unausf\u00fchrbaren Process zu bestimmen. So verwandelt diese\nBetrachtungsweise z. B. den finit bestimmten Quotient y in den infiniten Decimalbruch 0,333 ..... und f\u00fcr diesen Process lassen sich nat\u00fcrlich noch beliebig viele Beispiele beibringen.\nSieht aber schon die rechnende Algebra, zu welcher auch alle geometrischen Berechnungen hinzuzuziehen sind, sich gezwungen, durch das H\u00fclfsmittel der unendlichen N\u00e4herung das Unmessbare zu assimiliren, so verlangt die wissenschaftliche Behandlung der stetigen Gr\u00f6\u00dfen eine Einheitlichkeit der Untersuchungsobjecte in noch viel h\u00f6herem Grade. Der begrifflich sehr schwierig zu de-finirende Unterschied der stetigen Gr\u00f6\u00dfe von der discreten, der continuirlichen von der discontinuirlichen ist in der Anschauung klar und durchsichtig. Hier ist die stetige Gr\u00f6\u00dfe offenbar nichts weiter als die Ausf\u00fcllung der discreten. Gleichwie die dem Bewusstsein urspr\u00fcnglich in unzusammenh\u00e4ngenden einzelnen Momenten gegebene Zeit dadurch zu einer stetigen erg\u00e4nzt wird, dass","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t309\ninan die Zwischenr\u00e4ume zwischen den verschiedenen Denkacten durch irgend welchen Vorstellungsinhalt erf\u00fcllt denkt, oder wie. um ein concretes Bild zu gebrauchen, der Verfertiger einer Reliefkarte den in H\u00f6hencurven discontinuirlich gegebenen Abfall eines Gebirges durch Ausf\u00fcllung mit Thon zu einem allm\u00e4hlichen macht, so braucht man nur die discrete Zahlgr\u00f6\u00dfe, deren Anordnung in eine Reihe ja schon ihre einseitige Ausdehnung nahelegt, vollst\u00e4ndig in sich verbunden zu denken, um sofort den Begriff der stetig eindimensional ausgedehnten Gr\u00f6\u00dfe zu erhalten, der sich nat\u00fcrlich m\u00fchelos auf beliebig viele Dimensionen verallgemeinern l\u00e4sst.\nDer so durch Ausf\u00fcllung der L\u00fccken des Discontinuirlichen gewonnene Begriff der continuirlichen Zahlgr\u00f6\u00dfe ist, wie man sofort sieht, an und f\u00fcr sich finit. Die Untersuchung desselben st\u00f6\u00dft auf keinerlei Schwierigkeiten, so lange sie von einer Ma\u00dfvergleichung absieht. Deshalb besteht in der Euklidischen Geometrie, wie in der modernen, wo die Ma\u00dfzahlen durch Proportionen, beziehungsweise Lagebestimmungen ersetzt werden, der Gegensatz von rational und irrational eigentlich \u00fcberhaupt nicht. Er verschwindet sogar ganz, um vollst\u00e4ndig in den generellen, ungegliederten Begriff der stetig ausgedehnten Gr\u00f6\u00dfe \u00fcberzugehen, wenn man in das h\u00f6here, abstractere Gebiet der Grass mann\u2019sehen Ausdehnungslehre hinaufsteigt. Sobald dagegen das Verlangen nach Ma\u00dfbestimmung auch der stetigen Gr\u00f6\u00dfen wieder laut wird, sobald eine wissenschaftliche Analysis es sich zur Aufgabe macht, die Beziehungen continuirlicher Gebiete der Rechnung zu unterwerfen, d. h. sie auf die vorstellbaren Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse zur\u00fcckzuf\u00fchren, muss jener Gegensatz mit einem Schlage wieder acut werden.\nNun verlangten aber die Methode der Untersuchung und die begriffliche Forderung gleicher Correctheit aller Resultate gebieterisch die Gleichartigkeit der zu Grunde gelegten Zahlgr\u00f6\u00dfen. Es blieben demnach aus dieser Schwierigkeit zwei Auswege offen. Entweder musste das Irrationale dem Rationalen angepasst werden oder umgekehrt. In dem einen Fall entfernte man sich nicht allzuweit vom Boden der algebraischen Operationen, im anderen betrat man ein ganz neues Gebiet. Der Versuch, den ersten Weg zu gehen, an dessen Ebnung eine unendliche Arbeit der beiden letzten Jahrhunderte vergeblich gewendet wurde, muss, wie wir oben","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nWalter Brix.\nausgef\u00fchrt haben, als definitiv gescheitert betrachtet werden. Und im Laufe der Zeit stellte es sich immer klarer heraus, dass nur der zweite zum Ziele f\u00fchren k\u00f6nne. So verschwand allm\u00e4hlich aus der Differentialrechnung der transfinite Differentialbegriff der Realisten, und an seine Stelle trat die infinite Grenzmethode von Lagrange, welcher aber immer noch die Unvollkommenheit anhaftete, dass die Grenze der N\u00e4herung als wirkliches Object der Untersuchung ausgegeben wurde, w\u00e4hrend dieses eigentlich die N\u00e4herung seihst war.\nEs ist eines der gr\u00f6\u00dften Verdienste von Weier Stra\u00df, zuerst das Transfinite ganz aus der Analysis verbannt zu haben. Denn, da man die hypothetischen Grenzen in Wirklichkeit doch nie erreichen kann, so scheint es nicht allein methodisch falsch, sondern auch mathematisch durchaus entbehrlich, wenn man hlos sie ins Auge fassen will und nicht die der Behandlung allein zug\u00e4ngliche N\u00e4herung. Ist aber der infinite Irrationalit\u00e4tshegriff erst einmal als der f\u00fcr die Analysis allein zul\u00e4ssige erkannt, so muss die noth-wendig zu erf\u00fcllende Forderung der Gleichartigkeit aller Untersuchungsobjecte sofort die Umwandlung auch des Rationalen in infinite Bestimmungen verlangen, gleichwie aus praktischen Gr\u00fcnden die numerische Rechnung exacte Quotienten durch unendliche Decimalbr\u00fcche zu ersetzen gezwungen war. In der That ist denn auch diese Umwandlung, deren Gedanke, so einfach er sich ausnimmt, doch erst sehr sp\u00e4t als richtig erkannt wurde, im umfangreichsten Ma\u00dfe von Weierstra\u00df vorgenommen worden. Nur indem alle Zahlgr\u00f6\u00dfen in die infinite Form umgegossen, d. h. durch Reihen definirt werden, \u2014Weierstra\u00df w\u00e4hlt bekanntlich immer Potenzreihen, wodurch die Analogie mit den Decimalbr\u00fcchen noch gr\u00f6\u00dfer wird, \u2014 nur so kann jene Gleichartigkeit der Grundbegriffe erreicht werden, die das erste Erfordemiss einer einheitlichen Theorie bildet1).\nHiermit hat man nun aber auf einmal einen ganz neuen Boden betreten. Denn wenn alle in Betracht kommenden Gr\u00f6\u00dfen nur\n1) Wohl zieht die W eie rstra\u00df\u2019sehe Functionentheorie auch ganze rationale Functionen in den Kreis der Betrachtung, aber doch nur immer gelegentlich als Specialf\u00e4lle, und man f\u00fchlt auch eigentlich instinctiv dabei, dass sie nicht recht zu den \u00fcbrigen Functionen geh\u00f6ren, dass die Methode nicht auf sie berechnet ist.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t311\ndurch unendliche Processe in Ann\u00e4herung zu bestimmen, niemals aber in finiter oder transfiniter Form gegeben sind, dann muss auch nothwendig die unerbittliche Exactheit der Algebra verschwinden, um der beliebigen Genauigkeit der Functionentheorie Platz zu machen. Man muss sich eben immer des Umstandes bewusst bleiben, dass man es hier mit ganz andersartigen Zahlgr\u00f6\u00dfen zu thun hat, mit Aushiilfsbegriffen, die nur erfunden wurden, um der messenden Betrachtung diejenigen Gr\u00f6\u00dfen zug\u00e4nglich zu machen, welche es an und f\u00fcr sich nicht sind. Mathematisch l\u00e4sst sich hiergegen nichts einwenden, sobald man sich nur eingesteht, dass alle Resultate allein in N\u00e4herung, wenn auch in beliebiger, richtig sind. Gerade darum hat man sich hier aber auch ein ganz neues Untersuchungsgebiet geschaffen, das mit dem der Algebra nichts gemein hat als die Namen, ein Zusammenhang, den man zudem auch nicht gerade als einen Vorzug betrachten kann.\nDas ganze Gebiet der transfiniten stetigen Zahlgr\u00f6\u00dfe musste also f\u00fcr die messende Betrachtungsweise in die infinite Form umgegossen werden. Und hierbei verlor nat\u00fcrlich nicht nur die Zahlgr\u00f6\u00dfe als solche, sondern auch der Begriff der Stetigkeit seinen wahren Charakter, um in eine formale, begrifflich nichts sagende Definition umgewandelt zu werden. Denn w\u00e4hrend derselbe im allgemeinen so eng mit der anschaulichen Bewegung verkn\u00fcpft ist, dass man beinahe als ein Kriterium (nat\u00fcrlich nicht als eine Definition) den Satz aufstellen k\u00f6nnte: \u00bbStetig ist alles, was durch Bewegung, im weitesten Sinne des Wortes, erzeugt gedacht werden kann\u00ab, hei\u00dft in der analytischen Betrachtung die eine Gr\u00f6\u00dfe defi-nirende Zahlenreihe dann stetig, wenn sie sich bei beliebig kleiner Aenderung des Argumentes selbst um beliebig wenig \u00e4ndert. Diese Begriffsbestimmung steht offenbar zu der wirklichen anschaulichen Stetigkeit nicht in der geringsten Beziehung. Denn es fehlt ihr das in diesem Zusammenh\u00e4nge allerdings unn\u00f6thige Merkmal, dass die Reihe zwischen zwei beliebig nahe gelegenen Werthen alle zwischenliegenden wirklich annehmen muss, wenn sie dem anschaulichen Begriff der Stetigkeit entsprechen soll. Weit entfernt aber, aus der Formalisirung eines anschaulichen Begriffs der Functionentheorie einen Vorwurf zu machen, muss man ihr vielmehr f\u00fcr diesen Schritt die vollste Anerkennung zollen. Denn nur eine vollst\u00e4ndige\nWundt, Philos. Studien. VI.\t01","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312\nWalter Brix.\nUmpr\u00e4gung aller durch transfinite Gr\u00f6\u00dfen gegebenen Beziehungen in die infinite Form vermag der Functionentheorie und mit ihr der Analysis diejenige Einheit und innere Festigkeit zu geben, welche sie besitzen muss, soll sie anders als eine selbst\u00e4ndige Disciplin und nicht als ein missrathenes H\u00fclfsmittel der analytischen Untersuchung erscheinen.\nSo sehen wir denn den Versuch, das Irrationale der Messung zu unterwerfen, vollkommen misslungen. Die ganze Arbeit zweier Jahrhunderte hat im Gegentheil gerade dazu gedient, zwei v\u00f6llig verschiedene Irrationalit\u00e4tsbegriffe aufzustellen, welche aber beide keine Messung zulassen. Denn der erste, der transfinite, kommt \u00fcberhaupt nur da in Frage, wo es sich gar nicht um eine Messung handelt, wie in der allgemeinen Grassmann\u2019schen Ausdehnungslehre oder in der abstracten Algebra, der zweite, infinite, aber ist immer nur ann\u00e4hernd auszumessen und hat sich sogar in dieser Beziehung noch die rationalen Gr\u00f6\u00dfen assimilirt, vollst\u00e4ndig in der Functionentheorie, soweit wie nothwendig in der numerischen Algebra. Das Resultat dieser Untersuchung ist also eine durchgehende Spaltung des Begriffs der Zahlgr\u00f6\u00dfe in vier verschiedene Formen. Denn was hier der Einfachheit wegen an einer reellen Gr\u00f6\u00dfenreihe ausgef\u00fchrt wurde, ist nat\u00fcrlich sofort auf beliebig viele Dimensionen auszudehnen, und was f\u00fcr die stetige Zahlgr\u00f6\u00dfe untersucht ist, gilt mutatis mutandis auch f\u00fcr die discrete (weshalb wir auch, um Wiederholungen zu vermeiden, bei der Besprechung der infiniten und transfiniten Formen beide Arten von Zahlgr\u00f6\u00dfen stillschweigend zusammengezogen haben). Je nachdem man daher dasselbe Zahlgr\u00f6\u00dfengebiet als discontinuirlich oder con-tinuirlich, als finit oder infinit betrachtet, wird es die Grundlage einer reinen oder numerischen Algebra, einer Ausdehnungslehre oder Functionentheorie, obwohl in den wenigsten F\u00e4llen die Untersuchung dieser allgemeinen Disciplinen bisher durchgef\u00fchrt ist.\nWir k\u00f6nnen diese Stetigkeitsbetrachtungen nicht verlassen, ohne noch der j\u00fcngsten und unerwartetsten Erweiterung des Zahlgebietes zu gedenken, welche zwar anf\u00e4nglich nicht an diese Stelle zu geh\u00f6ren scheint, sich aber doch ziemlich ungezwungen hier anschlie\u00dft, der unendlichen Zahlen G. Cantor\u2019s1). Denn, mag es\n1) Dieselben sind eingef\u00fchlt in der schon citirten Abhandlung : Ueber","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t313\nauch auf den ersten Blick den Anschein gewinnen, als ob es sich hier um etwas ganz anderes handle, als um Stetigkeitsbetrachtungen, so wiederholen sich hier doch in Wahrheit \u00e4hnliche Ueberlegungen, nur im unendlichen Ma\u00dfstab. Das Resultat ist wenigstens ein dem continuirlich stetigen \u00e4hnliches Gr\u00f6\u00dfensystem.\nCantor geht aus von der Zahlenreihe 1, 2, 3, ... welche ihrer Definition und genetischen Entstehung nach nothwendig ohne obere Grenze, also infinit ist. Das mathematische Symbol f\u00fcr den hierdurch charakterisirten infiniten Unendlichkeitshegriff ist bekanntlich oo. Kann man nun aber in der Vorstellung die Ersch\u00f6pfung der Zahlreihe auch niemals erreichen, so liegt doch andererseits gar kein Hinderniss vor, sie begrifflich vollendet zu denken. Und da der so gewonnene Begriff der transfiniten Unendlichkeit, f\u00fcr welchen Cantor das Zeichen tu einf\u00fchrt, ein ebenso v\u00f6llig bestimmter ist, wie der der endlichen Grenze in Bezug auf die zugeh\u00f6rige Potenzreihe, so wird es auch m\u00f6glich sein, ihn der mathematischen Gr\u00f6\u00dfenhetrachtung zu unterwerfen.\nDiese ist es nun aber, welche Cantor, der haupts\u00e4chlich bem\u00fcht war, seine begriffliche Existenz sicher zu stellen, nicht v\u00f6llig gelungen zu sein scheint. Denn w\u00e4hrend gegen die M\u00f6glichkeit einer logischen Setzung des transfinit Unendlichen nur noch ein dogmatischer Nominalismus Einspruch erheben kann, lassen sich gegen die algebraische Handhabung dieses Begriffes doch schwerere mathematische Bedenken beibringen. Cantor bleibt n\u00e4mlich nicht bei dem blo\u00dfen Begriff der transfiniten Unendlichkeit stehen, sondern f\u00fchrt gleich eine ganze Reihe unendlicher Zahlen ein. Ganz analog den endlichen Zahlen sollen diese, nachdem die einheitliche Zusammenfassung des oo in co vorgenommen ist, die Reihe bilden:\nco, co -(- 1, io -j- 2, co + 3.2<w, 2co -J- 1, 2co + 2 .... 3co .... ico\n____cP ... co3... cow . co0><\u201c_und so eine Mannigfaltigkeit zweiter\nM\u00e4chtigkeit erzeugen durch die abwechselnde infinite Addition von Einheiten und die transfinite Zusammenfassung derselben* 1 *).\nAls eine charakteristische Eigenschaft dieses unendlichen Zahl-\nunendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten, Mathematische Annalen XXI, Leipzig 1883, S. 545 ff.\n1) Betreffs der weiteren Ausf\u00fchrung dieser Gedanken m\u00fcssen wir auf die\ncitirte Originalabhandlung verweisen.\n21*","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314\nWalter Brix.\ngebietes wird es nun betrachtet, dass in ihm schon das commutative Gesetz der Addition nicht mehr gilt. Denn es w\u00e4re to + 1 von w verschieden, eben durch die Setzung der neuen Einheit, 1 + w m\u00fcsste aber wieder gleich to gesetzt werden, weil dies seiner Begriffsbestimmung nach die Zusammenfassung aller Zahlen bereits darstelle. Ebenso w\u00e4re z. B. fita + w1 2 = w2 zu setzen, w\u00e4hrend vto2 -f- f.uo eine davon ganz verschiedene Zahl sei. Wollte man also die neuen Cantor\u2019sehen Formen als Zahlen beibehalten, so m\u00fcsste auch die Definition der Addition ge\u00e4ndert, ihre Commutativit\u00e4t fallen gelassen werden. Dies w\u00fcrde nun allerdings eine ungeheure St\u00f6rung in der Formenlehre hervorbringen; denn Hankel hat die Commutativit\u00e4t der Addition aus dem nicht aufzugebenden associa-tiven Princip derselben, so wie aus der associativdistributiven Multiplication direct bewiesenx). Hoffentlich aher wird die hierdurch erforderte, weitgehende Aenderung, deren Folgen gar nicht zu \u00fcbersehen w\u00e4ren, unn\u00f6thig sein. Denn so bestechend die Cantor\u2019schen Ueberlegungen auch klingen m\u00f6gen, recht \u00fcberzeugt wird man von ihnen nicht ; und in der That scheint hier, wenn man n\u00e4her zusieht, eine unberechtigte Vermengung der logisch-psychologischen Seite der Frage mit der mathematischen vorzuliegen. Denn die logische Function des Setzens ist bei beiden Ausdr\u00fccken 1 + io und to + 1 zweimal in Wirkung getreten. In dieser Beziehung sind sie also v\u00f6llig gleich. Nichts desto weniger bringt es der Begriff\u2019 des to mit sich, dass die 1 in 1 + \u00ab unterdr\u00fcckt werden muss. Dies wird man unmittelbar zugeben k\u00f6nnen ; denn obwohl psychologisch verschieden, m\u00fcssen beide Ausdr\u00fccke nach den Gr\u00f6\u00dfengesetzen doch als gleichwerthig behandelt werden. Cantor bezieht diese Betrachtung nur auf die Form 1 to. Nun aber sind wir der Meinung, dass dieselbe Ueberlegung auch auf den Ausdruck to + 1 Anwendung findet. Denn wenn to bereits den Inbegriff aller Zahlen bezeichnet, wie sollen dann to + 1, to + 2 u. s. w., durch die psychologische Setzung von to nat\u00fcrlich ebenfalls verschieden, in der Gr\u00f6\u00dfenbetrachtung noch irgend etwas anderes bedeuten k\u00f6nnen als to selbst2)? Dass in der Behandlung Cantor\u2019s bald\n1)\tComplexe Zahlen, S. 32.\n2)\tDer Gebrauch, den Cantor von den unendlichen Zahlen heim Abz\u00e4hlen von Mannigfaltigkeiten macht, hat nat\u00fcrlich hiermit nichts zu thun, weil dabei","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t315\nder psychologische, bald der Gr\u00f6\u00dfen-Gesichtspunkt bevorzugt wird, leuchtet ein. Gerade darum erscheint aber die ganze Frage der transfiniten Zahlen, deren Einf\u00fchrung nur von dem psychologischen Interesse der Abz\u00e4hlung gefordert wird, in dieser Gr\u00f6\u00dfenbetrachtung um so mehr entbehrlich, als die Gr\u00f6\u00dfennatur der betreffenden Zahlen noch keineswegs ganz klar ist. Wir d\u00fcrfen deshalb von einer systematischen Verwerthung an dieser Stelle wohl Abstand nehmen.\nF\u00fcnftes Kapitel.\nDie logische Entwickelung des Zahlbegriffs.\n1. Der Oberbegriff f\u00fcr die Zahl.\nNachdem wir in den voraufgegangenen Kapiteln die Haupt-und Grundformen des Zahlbegriffs nach ihrer mathematischen wie logischen Gestalt besprochen haben, erhebt sich nunmehr die Frage, in welcher Weise die verschiedenen Typen, zu denen wir gelangt sind, zusammengeh\u00f6ren oder in einander greifen. Hatten wir uns bisher bem\u00fcht, sie zu isoliren, ihre logische Natur klar zu legen und die begriffliche Existenz eines jeden von ihnen einzeln zu erweisen, so handelt es sich jetzt darum, in genereller Untersuchung zu entscheiden, ob sie sich nicht etwa widersprechen, wiederholen, oder sonst in irgend welchen inneren Beziehungen \u2014 der \u00e4u\u00dferen hat es zum Schaden der Sache immer genug gegeben \u2014 zu einander stehen, die ihre Selbst\u00e4ndigkeit gef\u00e4hrden k\u00f6nnten. Die L\u00f6sung dieser Aufgabe f\u00e4llt unmittelbar mit der M\u00f6glichkeit zusammen, die vorhandenen Zahlbegriffe in eine bestimmte logische Beziehung zu einander zu setzen, ihr gegenseitiges Yerh\u00e4ltniss zu beleuchten, ihre Stellung zur \u00fcbrigen Begriffswelt klarzulegen, mit einem Wort, sie zu classificiren. Erst wenn es gelingt, diese Classification in eindeutiger und zufriedenstellender Weise vorzunehmen, erst wenn es m\u00f6glich wird, r\u00fcckw\u00e4rtsschreitend durch logische Determination alle einzelnen Zahlbegriffe aus ihrem obersten Gattungs-\nallein die psychologische Betrachtung in Frage kommt, hei der alle unendlichen Zahlen verschieden sind. Unseres Erachtens k\u00f6nnte man \u00fcbrigens auch mit demselben Recht 1 + <a, 2 -f- io u. s. w. z\u00e4hlen, nur w\u00e4re dies zwecklos.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316\nWalter Brix.\nbegriffe zu entwickeln, erst dann wird man berechtigt sein, von einem befriedigenden Abschluss der ganzen Untersuchung zu sprechen.\nEs w\u00e4re uns daher hier die letzte Aufgabe gestellt, auf die historische und genetische umgekehrt eine logische Entwickelung des Zahlbegriffs folgen zu lassen, als ein Kriterium f\u00fcr die Richtigkeit der befolgten Principien und als wissenschaftlichen Abschluss der ganzen Untersuchung. Dieser dritte Theil d\u00fcrfte daher als der wichtigste und \u00fcber die Zul\u00e4ssigkeit des Ganzen entscheidende Anspruch auf eine ebenso umfangreiche Behandlung machen, wie die vorhergehenden. Da indessen einmal bei dem jetzigen Stand der Frage ein Eingehen auf die Details noch in keiner Weise thun-lich erscheint, andrerseits aber auch die successive Determination als directe Umkehrung der in den drei vorhergehenden Kapiteln behandelten genetischen Entwickelung nothwendig zu Wiederholungen f\u00fchren muss, so kann sie hier nur in allgemeiner Uebersicht gegeben werden. Was man aber in dieser Beziehung vorl\u00e4ufig \u00fcberhaupt erreichen kann, ist im allgemeinen noch nichts Fertiges. Denn weder sind die begrifflichen Bestimmungen der Zahl so sicher, dass man auf Grund derselben sofort eine durchgreifende Classification wagen k\u00f6nnte, noch sind die Untersuchungen \u00fcber die Oberbegriffe abgeschlossen genug, um als sichere Fundamente eines festen Systems dienen zu k\u00f6nnen. Eine willk\u00fcrliche Begrenzung des Zahlbegriffs aber auf Grund der vorliegenden Untersuchungen w\u00fcrde bei der L\u00fcckenhaftigkeit derselben und bei der Nothwen-digkeit, mit der sich die Beantwortung dieser Frage im Laufe der Zeit aus ihr selbst ergeben muss, nicht viel mehr wissenschaftlichen Werth besitzen, als etwa der Versuch, die K\u00fcstenlinie des hypothetischen antarktischen Continentes durch eine internationale Convention festzusetzen. Die folgende Uebersicht kann daher, umsomehr als sie wohl die erste ihrer Art sein d\u00fcrfte1 * * 4), im wesentlichen\n1) In kleinerem Ma\u00dfstabe sind solche Ableitungen gegeben bei Wundt,\nLogik II, S. 118 ff., wo aber der infinite Irrationalit\u00e4tsbegriff nicht ber\u00fchrt wird,\nbei Schmitz-Dumont, Die mathematischen Elemente der Erkenntnisstheorie,\nBerlin 1878, welcher bei den gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen stehen bleibt. Ferner bei Frege in der Schrift: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung \u00fcber den Begriff der Zahl. Breslau 1884, und bei Dedekind in der Abhandlung: Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig 1888, endlich im Anschluss an die beiden letzten Arbeiten, welche sich","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungstormen.\n317\nnur allgemeine Bestimmungen geben, Andeutungen, die noch nicht in\u2019s Einzelne gehen, Gedanken, die noch ihrer Ausf\u00fchrung harren.\nVon welcher Seite man aber auch die Frage betrachten mag, eins kann gegenw\u00e4rtig als gesichert gelten, dass man n\u00e4mlich in der Mannigfaltigkeitslehre die Oberdisciplin der Zahlen- und Gr\u00f6\u00dfenlehre gefunden hat. Indessen wird selbst sie besser noch in zwei verschiedene Theile zu spalten sein. Denn wenn man mit Wundt der Mathematik die Aufgabe zuerkennt, \u00bbdie denkbaren Gebilde der reinen Anschauung sowie die auf Grund der reinen Anschauung vollziehbaren formalen Begriffsconstructionen in Bezug auf ihre Eigenschaften und wechselseitigen Relationen einer ersch\u00f6pfenden Untersuchung zu unterwerfen\u00ab* 1), so bleibt als oberste Aufgabe offenbar eine doppelte \u00fcbrig, n\u00e4mlich einmal die Untersuchung der h\u00f6chsten denkbaren Begriffe der reinen Anschauung und zweitens eine Discussion der allgemeinsten m\u00f6glichen Beziehungen zwischen solchen. Der ersten Aufgabe sucht die allgemeine Mannigfaltig-keits-, der zweiten die allgemeine Formenlehre gerecht zu werden; und aus ihrer Verbindung entsteht erst die in gewisser Beziehung schon angewandte Mannigfaltigkeitslehre Cantor s.\nDie urspr\u00fcngliche, reine Mannigfaltigkeitslehre hat sich also zun\u00e4chst mit der Feststellung der Begriffsformen zu besch\u00e4ftigen, welche einer mathematischen Behandlung f\u00e4hig sind. Abstrahirt man aber bei allen Objecten des Denkens von ihren sonstigen Eigenschaften und beh\u00e4lt allein diejenige Qualit\u00e4t im Auge, verm\u00f6ge deren sie Gegenstand irgend welcher formaler Verkn\u00fcpfungen werden k\u00f6nnen, so erh\u00e4lt man den gesuchten Begriff der Mannigfaltigkeit. Seiner Bestimmung nach ist er die einheitliche Zusammenfassung einer Menge gegebener Elemente, als der letzten, f\u00fcr unzerleglich angesehenen Beziehungssubstrate des discursiven Denkens. Die n\u00e4here Discussion dieses Begriffes l\u00e4sst nun aber schon verschiedene Typen unterscheiden, deren Abgrenzung gegen einander durch den von Cantor eingef\u00fchrten Begriff der M\u00e4chtig-\nim wesentlichen auf die ganzen Zahlen beschr\u00e4nken in einem Aufsatz von Keferstein. Ueber den Begriff der Zahl, Festschrift, herausgegeben von der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg anl\u00e4sslich ihres 200j\u00e4hrigen Jubelfestes 1890. Zweiter Theil, Leipzig 1890 p. 119 ff.\n1) Logik II, S. 75.","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318\nWalter Brix.\nkeit gegeben wird. Dieser letztere Begriff hat die Bestimmung, f\u00fcr unendliche Mengen ein von der Anordnung derselben unabh\u00e4ngiges Kennzeichen an die Hand zu geben. F\u00fcr endliche Mengen dient ja diesem Zwecke der Begriff der Anzahl, und es sind zwei endliche Mannigfaltigkeiten in Bezug auf ihre Anzahl gleich, wenn sich jedem Element der einen auch eins und nur eins der anderen zuordnen l\u00e4sst. F\u00fcr unendliche Mengen ist nat\u00fcrlich der Begriff der Anzahl nicht zu verwerthen. Dagegen wird man die zweite Bestimmung auch auf diese \u00fcbertragen und zwei unendlichen Mannigfaltigkeiten dann und mir dann gleiche M\u00e4chtigkeit zuschreiben m\u00fcssen, wenn sich ihre Elemente eindeutig auf einander beziehen lassen. Als niedrigste M\u00e4chtigkeit bietet sich ohne weiteres die der unendlichen Zahlenreihe 1, 2, 3, ...., weil jeder Theil derselben, falls er nicht selbst von der M\u00e4chtigkeit der Reihe ist, endlich sein muss. In gleicher Weise ist dann jede h\u00f6here M\u00e4chtigkeit aus den niedrigeren dadurch zu definiren, dass alle ihre Theile, sobald sie nicht selbst die in Frage kommende M\u00e4chtigkeit besitzen, eine der vorhergehenden aufweisen m\u00fcssen. In der abgek\u00fcrzten Symbolsprache der abz\u00e4hlenden Geometrie w\u00fcrden z. B. die verschiedenen M\u00e4chtigkeiten den Anzahlen oo , oo\u00b0\u00b0 , oo\u00b0o\u00b0\u00b0 u. s. w. entsprechen*).\nDie M\u00e4chtigkeit ist also begrifflich das charakteristische Merkmal der Mannigfaltigkeit und als solche von gro\u00dfer Wichtigkeit. Schon hier tritt n\u00e4mlich der ganz fundamentale Unterschied von discret und stetig in Erscheinung, insofern die Mannigfaltigkeiten erster M\u00e4chtigkeit in die discontinuirlichen, die zweiter in die con-tmuirhchen Zahlgr\u00f6\u00dfen \u00fcbergehen werden, und die Variirung dieses Begriffs zu den Zahlarten Wundt\u2019s f\u00fchrt2). So erhalten wir eine Reihe von vier Typen der allgemeinen Mannigfaltigkeit, n\u00e4mlich erstens die einheitliche, welche sich mit ihrem Element deckt, d. h. selbst als untheilbar betrachtet wird, zweitens die endliche, aus einer endlichen Anzahl von Elementen bestehend, drittens die unendliche erster M\u00e4chtigkeit oder abz\u00e4hlbare, und endlich viertens\n1)\tBetreffs der weiteren Ausf\u00fchrung aller hier in Frage kommenden Ideen m\u00fcssen wir nat\u00fcrlich auf die Kapitel III. 3 citirten Originalarbeiten Cantor\u2019s verweisen.\n2)\tVgl. Wundt, Logik II, S. 119.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t319\ndie zweiter M\u00e4chtigkeit oder stetige, von denen nat\u00fcrlich immer die h\u00f6heren alle niedrigeren vollst\u00e4ndig enthalten.\nWeiter wird man aber in dieser Rubricirung vorl\u00e4ufig nicht o-ehen k\u00f6nnen. Denn Mannigfaltigkeiten von h\u00f6herer als der zweiten M\u00e4chtigkeit sind bisher noch nicht nachgewiesen, wenngleich Cantor in der Gesammtheit aller stetigen und unstetigen Functionen eine solche erhalten zu haben glaubt*). Au\u00dferdem enth\u00e4lt aber auch schon die bisherige Aufz\u00e4hlung eine gro\u00dfe, noch nicht ausgef\u00fcllte L\u00fccke. Denn der Beweis, dass die continuirliche Mannigfaltigkeit wirklich von der zweiten M\u00e4chtigkeit sei, wie wir dies oben ohne weiteres angenommen haben, ist bisher noch nicht erbracht. Wohl arbeitet Cantor schon Jahre lang an einem befriedigenden Nachweis daf\u00fcr, wohl scheint er selbst von der Wichtigkeit der Annahme, welche \u00fcbrigens der ganze Zusammenhang direct aufn\u00f6thigt, vollkommen \u00fcberzeugt zu sein, wohl gewinnt es sogar nach einer Notiz1 2) aus dem Jahre 1884 den Anschein, als oh er den zum Ziele f\u00fchrenden Gedankengang selbst schon v\u00f6llig \u00fcbers\u00e4he und nur noch nicht f\u00fcr reif zur Mittheilung hielte, indessen steht trotz alledem der definitive Beweis noch heute aus. Und da kaum anzunehmen ist, dass Cantor einen so wichtigen Satz gekannt h\u00e4tte, ohne ihn zu puhliciren, so m\u00fcssen wir an dieser Stelle eben eine L\u00fccke, und zwar eine f\u00fcr uns leider sehr bedeutende constatiren. Wo wir daher im Folgenden, wie ja auch im Vorhergehenden, die Mannigfaltigkeit zweiter M\u00e4chtigkeit mit der stetigen oder continuirlichen identificiren, m\u00fcssen wir immer den Vorbehalt treffen, dass wir dazu vorl\u00e4ufig noch kein Recht haben, obwohl es nach dem ganzen Zusammenhang der Dinge kaum denkbar erscheint, dass die Annahme nicht doch richtig sein sollte.\nIm Interesse unserer sp\u00e4teren Determination k\u00f6nnen wir zu den Cantor\u2019sehen Resultaten noch hinzuf\u00fcgen, dass, je nachdem man die Zusammenfassung der Elemente oder ihre Aneinanderreihung, d. h. die Mannigfaltigkeit selbst oder ihre Darstellung durch die Elemente in\u2019s Auge fasst, der finit-transfinite oder infinite Mannigfaltigkeitshegriff entsteht, eine Spaltung, die allerdings\n1)\tMathematische Annalen XXI, S. 590, Anmerkung 10.\n2)\tActa mathematica IV, S. 388.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320\nWalter Brix.\nbisher noch nie vorgenommen wurde. Beide Formen fallen zusammen im ersten Typus, unterscheiden sich aber schon merklich im zweiten und gehen dann weit auseinander im dritten, um endlich im vierten ganz heterogen zu werden. F\u00fcgt man diesen wenigen Ueberlegungen noch den selbstverst\u00e4ndlichen Satz hinzu, dass jeder Theil einer Mannigfaltigkeit wieder eine solche gleicher oder niedrigerer M\u00e4chtigkeit ist, so wird man im wesentlichen alles zusammengefasst haben, was f\u00fcr unsere Zwecke von Nutzen ist und was, wie man wohl behaupten darf, vorl\u00e4ufig \u00fcberhaupt \u00fcber diesen Gegenstand zu sagen ist.\nSollen vielmehr irgend welche neuen Beziehungen gefunden werden, so ist dazu die Kenntniss der zweiten Oberdisciplin der Mathematik n\u00f6thig, der allgemeinen Formenlehre. Ihre Aufgabe ist die Discussion der formalen Eigenschaften aller Beziehungen von Denkobjecten, die ihr dadurch nat\u00fcrlich in der Form von Mannigfaltigkeiten gegeben sind. Ihr Umfang kann daher auch nur ein geringer sein. Denn \u00fcber allgemeine Verkn\u00fcpfungen l\u00e4sst sich selbstverst\u00e4ndlich nicht viel ausmachen. Bestimmt, allein den formalen Algorithmus des Denkens zu fixiren, wird sie sich vorl\u00e4ufig auf die Betrachtung des Unterschiedes von thetisch und lytisch, von asso-ciativen, distributiven und commutativen Eigenschaften beschr\u00e4nken m\u00fcssen. Die knappe Darstellung von Hankel1) wird demnach so ziemlich alles enthalten, was hier\u00fcber zu sagen ist.\nDie Anwendung dieser Formenlehre auf die Mannigfaltigkeit als Beziehungssubstrat f\u00fchrt nun zu der eigentlichen Cantor\u2019sehen Mannigfaltigkeitslehre. Das neue Element der Betrachtung, das hier hinzukommt, ist die M\u00f6glichkeit der begritfliehen Verkn\u00fcpfung zweier Mannigfaltigkeiten oder ihrer Abbildung. So kommt man einerseits dazu, eine Mannigfaltigkeit auf eine andere, andrerseits aber auch sie auf sich selbst abzubilden, und gewinnt namentlich den wichtigen Cantor\u2019sehen Satz, dass sich jede Mannigfaltigkeit beliebig vieler Dimensionen auf eine eindimensionale derselben M\u00e4chtigkeit eindeutig abbilden l\u00e4sst, andrerseits aber durch die Selbstabbildung zu der Vorstellung einer Erzeugung der Mannigfaltigkeit, welche von nun an die Tr\u00e4gerin der infiniten Form des\n1) Complexe Zahlen, S. 18\u201429, 33.","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t321\nMannigfaltigkeitsbegriff es wird. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man dann \u00e4hnlich von solchen Operationen sprechen, welche, auf zwei Theile einer Mannigfaltigkeit angewandt, wieder einen Theil derselben geben, und solchen, hei denen dies nicht der Fall ist. Derartige \u00bbgruppentheoretische\u00ab Betrachtungen w\u00fcrden also auf die Unterscheidung von geschlossenen und ungeschlossenen Operationen f\u00fchren; doch geh\u00f6ren sie im allgemeinen noch der Zukunft an1).\nIm allgemeinen muss diese generelle Uebersicht gen\u00fcgen, um die folgende Determination verst\u00e4ndlich zu machen. Es w\u00fcrde h\u00f6chstens noch erforderlich sein, am Schluss hier diejenigen logischen Postulate kurz zusammenzustellen, welche bei dieser einfachsten Anwendung des Denkschematismus auf den allgemeinsten Denkinhalt in Frage kommen. Das ist aber sehr schnell gethan. Denn diese Postulate sind offenbar nichts anderes, als die vier logischen Grundgesetze, noch dazu in ihrer reinsten schematischen Form. Die drei ersten, der Satz von der Identit\u00e4t, dem Widerspruch und dem ausgeschlossenen Dritten beziehen sich auf die selbst\u00e4ndige Mannigfaltigkeit, der Satz vom Grunde hingegen bedingt die Anwendung der Formenlehre auf die letztere. Alle diese Gesetze kann man nat\u00fcrlich noch entsprechend variiren. So ist z. B. f\u00fcr die Anwendung der Formenlehre auf die Mannigfaltigkeitslehre auch noch die Specialisirung des Identit\u00e4tssatzes n\u00f6thig: Jede Mannigfaltigkeit wird jeder anderen dann gleich gesetzt, wenn sie sie in dem fraglichen Gedankenzusammenhang vertreten kann2).\n1)\tW\u00e4hrend die vorliegende Arbeit entstand, ist die Frage gerade von dieser Seite aus erfolgreich und mit ganz neuen allgemeinen Methoden in Angriff genommen und erheblich gef\u00f6rdert worden durch die Aufs\u00e4tze von Schur, \u00bbZur Theorie der aus Haupteinheiten gebildeten complexen Zahlen\u00ab, Mathematische Annalen XXXHI, Leipzig 1888, S. 49; Study, \u00bbUeber Systeme von complexen Zahlen\u00ab, G\u00f6ttinger Nachrichten von 1889, S. 237, und \u00bbComplexe Zahlen und Transformationsgruppen\u00ab, Berichte der math.-phys. Classe der K\u00f6nigl. s\u00e4chs. Gesellschaft der Wissenschaften von 1889, S. 177, und Scheffers, \u00bbZur Theorie der aus \u00ab-Einheiten gebildeten complexen Gr\u00f6\u00dfen\u00ab, a. a. O. S. 290 und \u00bbUeber die Berechnung von Zahlensystemen\u00ab, ebenda, S. 400.\n2)\tDamit ist nat\u00fcrlich nicht, wie viele das wollen, eine Definition der Gleichheit gegeben, sondern diese Bestimmung ist lediglich einem Kriterium gleichzuachten, wie ja \u00fcberhaupt die h\u00f6chsten logischen Begriffe wegen des Mangels an Oberbegriffen nicht mehr exact zu definiren, sondern allein aus ihren Determinationen heraus zu fixiren, d. h. nur durch Kriterien zu bestimmen sind.","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322\nWalter Brix.\nDie entsprechende specifische Form des Satzes vom Grunde w\u00fcrde aber in diesem Falle lauten: Jede Mannigfaltigkeit kann mit jeder anderen jeder formalen Verkn\u00fcpfung unterworfen werden.\n2. Zahl und Gr\u00f6\u00dfe.\nv\nAuf Grund der Fundamentalbeziehungen, wie sie im vorigen Abschnitt niedergelegt wurden und wie sie sich nat\u00fcrlich auch in allen niederen Begriffen wiederspiegeln m\u00fcssen, w\u00e4re nunmehr die Determination des Zahlbegriffs auszuf\u00fchren. Es scheint dabei einer der wesentlichsten Punkte zu sein, dass man das Verh\u00e4ltniss von Zahl und Gr\u00f6\u00dfe, welche in den verschiedensten Entwicklungsperioden der Mathematik bald einander \u00fcber-, bald nebengeordnet, bald direct identificirt wurden, vor allen Dingen kl\u00e4rt und in die geh\u00f6rige Beleuchtung r\u00fcckt. Der folgende Gedankengang wird in dieser Beziehung wohl im allgemeinen als zutreffend zu bezeichnen sein.\nWir definiren zun\u00e4chst die Gr\u00f6\u00dfe als die quantitative Determination der Mannigfaltigkeit. Hiermit ist nun freilich noch nicht allzuviel gesagt, weil sich darunter f\u00fcr\u2019s erste nur sehr wenig denken lassen wird. Indessen d\u00fcrfte doch eine logische Entwicklung, da ja Quantit\u00e4t und Qualit\u00e4t die letzten und einfachsten Abstractionen aus der Anschauung darstellen, ziemlich au\u00dfer Stande sein, eine ad\u00e4quatere als diese, in gewisser Beziehung tautologische Definition zu gehen. Sie deckt sich logisch ungef\u00e4hr mit der Kan tischen, wonach die Gr\u00f6\u00dfe die Anwendung der Kategorie der Quantit\u00e4t auf die Erfahrung sein soll, ohne sich nat\u00fcrlich erkenntnisstheoretisch mit ihr identificiren zu wollen1).\nUnmittelbar werden sich nun die Fundamentalunterschiede der Mannigfaltigkeit auch auf die Gr\u00f6\u00dfe vererben. Entsprechend den vier Typen der ersteren erh\u00e4lt man n\u00e4mlich die einfache, zusammengesetzte, discrete und stetige Gr\u00f6\u00dfe direct durch quantitative Determination. Au\u00dferdem kann sie auch wieder unter dem infiniten oder transfiniten Gesichtspunkt betrachtet werden, wobei dieser Gegensatz schon wesentlich sch\u00e4rfer als in der Mannigfaltigkeitslehre zum Ausdruck kommt. Endlich kann sie nat\u00fcrlich auch beliebig\n1) Betreffs des positiven Inhalts des Gr\u00f6\u00dfenbegriffs vgl. oben Kapitel IV, 2.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t323\nviel Dimensionen besitzen. Wie aber andererseits alle Mannigfaltigkeiten sich auf lineare eindeutig abbilden lassen, so gen\u00fcgt auch die Betrachtung einer einfach ausgedehnten Gr\u00f6\u00dfenreihe, um dann m\u00fchelos auf beliebig viele Dimensionen \u00fcbertragen zu werden. Die hier angedeutete Untersuchung setzt aber schon nothwendig eine Anwendung der Formenlehre auf den Gr\u00f6\u00dfenbegriff voraus, welche zwar auch eine selbst\u00e4ndige, eigenartige sein kann, aber doch fast immer auf den Zahlcharakter zur\u00fcckgreift. Wir werden deshalb jetzt zu der Fixirung des Zahlbegriffs gen\u00f6thigt.\nDen Zahlbegriff werden wir nun in dieser Betrachtung keineswegs als einen Ueher- oder Unterhegriff der Gr\u00f6\u00dfe auffassen k\u00f6nnen, wie das sehr vielfach geschehen ist, sondern ihn formal neben dieselbe stellen. Denn w\u00e4hrend wir die Gr\u00f6\u00dfe als die quantitative Determination der Mannigfaltigkeit darstellten, ist die Zahl lediglich als eine qualitative Determination derselben denkbar. Denn wir hatten ja in der genetischen Entwickelung gesehen, dass das einzige, was allen Zahlbegriffen gemein, was daher auch allein als Merkmal des allgemeinen Zahlhegriffs beizuhehalten war, die Verwendung als Beziehungssubstrat f\u00fcr die formalen arithmetischen Grundoperationen bildete. Nun ist aber die Mannigfaltigkeit bestimmt als das Beziehungssubstrat f\u00fcr die allgemeine Formenlehre. Folglich wird sie unmittelbar dadurch zur Zahl, dass man die allgemeinen Verkn\u00fcpfungen als die arithmetischen Grundoperationen, also rein durch qualitative Determination specialisirt.\nAls solche Grundoperationen w\u00e4hlt man aber die Addition mit der Subtraction auf der einen, die Multiplication mit der Division auf der andern Seite. Die erste wird hier nat\u00fcrlich nur formal definirt als eine associative und commutative geschlossene Operation, welche also niemals \u00fcber das jeweilige Mannigfaltigkeitssystem hinausf\u00fchrt, die Multiplication aber als eine in Bezug auf die Addition distributive und in sich associative. Die Subtraction und Division sind als lytische, d. h. als Umkehrungen der thetischen Operationen zu bestimmen. Die wesentliche Eigenschaft der Addition ist ihre Geschlossenheit und Commutativit\u00e4t, welche beide die eindeutige Umkehrung in der nur \u00e4u\u00dferlich von der Addition verschiedenen Subtraction bedingen. Die gleichen Verh\u00e4ltnisse treffen hei der Multiplication nicht mehr zu. Denn abgesehen","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324\nWalter Brix.\ndavon, dass sie im allgemeinen nicht geschlossen ist, braucht sie auch nicht mehr commutativ zu sein, so dass man infolge dessen als lytische Umkehrung zwei verschiedene Divisionen erh\u00e4lt, je nachdem man durch den ersten oder den zweiten Factor dividirt denkt.\nBezeichnet daher 0 (a, b) irgend eine thetische Verkn\u00fcpfung, so ist die Addition definirt' durch die Functionalgleichungen : \u00a9 (\u00a9(\u00ab, b), c) = \u00a9 (a, Q{b, c}) und 0 [a, b) = \u00a9 [b, a), welche das associative und commutative Princip ausdr\u00fccken, und durch die Bedingung der Geschlossenheit. Eine solche Verkn\u00fcpfung, die man als a + b bezeichnet, kann daher auch zur Erzeugung der hierdurch als formale Zahl erscheinenden Mannigfaltigkeit benutzt werden. F\u00fcgt man noch die Null als Modul (eine Hankel\u2019sche Bezeichnung1) hinzu, d. h. als einen Ausdruck, dessen Addition an der Zahl nichts \u00e4ndert, definirt ganz allgemein durch die Gleichung \u00a9(\u00ab, Mod.) = a, so ist alles ersch\u00f6pft, was wesentliches \u00fcber die Addition hier gesagt werden kann.\nViel interessanter ist jedenfalls die Multiplication. Sie wird zun\u00e4chst in sich associativ, dann in Bezug auf die Addition distributiv definirt durch die Gleichungen: \u00a9 (\u00a9 [a, b), c)\u20140 (a, 0(J, c auf der einen und: \u00a9 (\u00ab, b-\\-c) = \u00a9 (o, b) + \u00f6 [a, c) nebst: \u00a9 \\b-\\-c. a) = \u00a9 (b, a) + 0 (c, a) auf der andern Seite. Das letzte Gleichungspaar, in seiner Gesammtheit das volle distributive Princip repr\u00e4sen-tirend, bedingt zugleich die Commutativit\u00e4t der Addition, so dass man diese \u00fcberall da, wo sie nicht allein, sondern mit der Multiplication zusammen vorkommt, also z. B. \u00fcberall im Gebiete der Zahlen, lediglich durch die associative Eigenschaft definiren kann. Eine durch die multiplicativen Eigenschaften bestimmte Verkn\u00fcpfung bezeichnet man mit a \u2022 b, ihren Modul formal mit 1. Es zeigt sich dann, dass diese formale 1 als Zahleinheit betrachtet werden darf. Ihre successive Addition kann eine Reihe von Formen erzeugen, welche, da die Addition ja geschlossen ist, alle einer Mannigfaltigkeit angeh\u00f6ren. Auf diese m\u00fcssen dann der Definition der Zahl zufolge auch alle lytischen Operationen anzuwenden sein, und so kann man zu dem oben2) bereits behandelten Begriff der rein formalen Zahl auf ebenfalls formalem Wege gelangen. Diese Gestalt\n1)\tComplexe Zahlen S. 23.\n2)\tKapitel IV, 1.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t325\ndes allgemeinen logischen Zahlbegriffs ist aber offenbar nur \u00e4u\u00dferlich dadurch bestimmt, dass man von einer festen Einheit, dem Modul der Multiplication ausging, begrifflich nothwendig ist sie jedoch durchaus nicht und wird nur zuf\u00e4llig bedingt durch die psychologische Form unserer mathematischen Apperception. Der logische Zahlbegriff ist aber in Wahrheit viel allgemeiner. Er ist ja gar nichts anderes als die Mannigfaltigkeit seihst. Denn wenn diese so wie so dazu bestimmt ist, als Beziehungssubstrat f\u00fcr die Verkn\u00fcpfungen zu dienen, so kann ihre Form auch nicht davon ber\u00fchrt werden, wenn man nicht sie, sondern nur die Verkn\u00fcpfungen specialisirt. Die formale Zahlenlehre kann daher an ihr nichts \u00e4ndern, sie ist h\u00f6chstens im Stande, Bezeichnungen und Symbole f\u00fcr den allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriff einzuf\u00fchren, also etwa algebraische Zeichen, und nur die Betrachtung concreter F\u00e4lle, d. h. die Anwendung der formalen Speculationen auf die Erfahrung, kann sich der gew\u00f6hnlich gebrauchten Zahlformen bedienen, weil diese ja nicht rein logische Realit\u00e4ten, sondern durch mehr oder minder lange Abstractionen und Generalisationen aus der Erfahrung gewonnen sind, also nicht dem logischen Denken, sondern der Art und Weise unserer Apperception ihre, in diesem Sinne zuf\u00e4llig erscheinende, Gestalt verdanken1).\n1) Wir haben bisher durchgehende die Multiplication nothwendig f\u00fcr asso-ciativ und distributiv erkl\u00e4rt, ihre Commutativit\u00e4t aber nicht gefordert. Wir befinden uns dabei in Uebereinstimmung mit den meisten Mathematikern, welche auch, da eine der drei Eigenschaften geopfert werden muss, bei der Betrachtung der h\u00f6heren Zahlsysteme in der Regel die Commutativit\u00e4t fallen lassen. Es darf indessen nicht verschwiegen werden, dass einige Mathematiker gerade diese beibehalten und daf\u00fcr eine andere Eigenschaft aufgeben. So hat z. B. Scheffler (Leber das Verh\u00e4ltniss der Arithmetik zur Geometrie, insbesondere \u00fcber die geometrische Bedeutung der imagin\u00e4ren Zahlen, 1846 und 1851 im Situations-calcul) das commutative gegen das distributive, Kirkmann (On Pluquaternions and Homoid Products of Sums of n Squares, Philosophical Magazine 1848, p. 447 und 494) und Cayley (\u00fcber ein analoges Thema, Philosophical Magazine, 1845, p. 210) dasselbe gegen das associative Princip umgetauscht. Da aber diese und \u00e4hnliche Zahlsysteme immer ohne allgemeine Bedeutung und unfruchtbar geblieben sind, darf man sie ohne sonderliche Bedenken von dem allgemeinen Zahlbegriff ausschlie\u00dfen. Sollte sich wider Erwarten zeigen, dass sie doch brauchbar smd, so m\u00fcsste man allerdings die Definition der Multiplication anders fassen.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326\nWalter Brix.\n3. Die Zahlgr\u00f6\u00dfe.\nDer Begriff der Zahlgr\u00f6\u00dfe, nach dem Vorhergehenden leicht abzuleiten, entsteht nun einfach, indem man den allgemeinen Zahlbegriff auf einen festen Erfahrungsinhalt bezieht, wobei er nat\u00fcrlich, da hier die Art und Weise der Erfahrung, also namentlich die Form unserer Apperception in Frage kommt, als formale Zahl in dem fr\u00fcheren Sinne erscheinen muss. Die Zahlgr\u00f6\u00dfe ist sonach wirklich, wie ihr Name besagt, die begriffliche Vereinigung der Gr\u00f6\u00dfe mit der Zahl, die quantitative Determination der Formalzahl, die formale der Gr\u00f6\u00dfe. Und wie die Gr\u00f6\u00dfe aus dem reinen Mannigfaltigkeitsbegriff, die Zahl aus der allgemeinen Formenlehre gewonnen wurde, so bietet sich ganz entsprechend die Zahlgr\u00f6\u00dfe dar als die Specialisirung der Anwendung der Formenlehre auf den allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriff in der Can tor\u2019sehen Mannigfaltigkeitslehre. Die Analogie ist also eine vollkommene. Dort zwei selbst\u00e4ndige Gebiete und ihre Vereinigung, hier dasselbe in ihren Determinationen wiederholt. Die Zahlgr\u00f6\u00dfe erscheint deshalb auch direct als das Product einer Formalzahl mit der Gr\u00f6\u00dfeneinheit, eine Form, die ja allen complexen Zahlsystemen zukommt. Eine Zahlgr\u00f6\u00dfe wird sich deshalb stets in der Form dar stellen lassen: \u00abi ev + \u00ab2 e2 + \u2022 \u2022 \u2022 \u2022 (in en, wo die a Zahlenco\u00f6fficienten, d. h. die formalen Zahlen, die e die verschiedenen Gr\u00f6\u00dfeneinheiten der Beziehung bezeichnen.\nDie Eigenschaften dieser Zahlgr\u00f6\u00dfen, als der quantitativen Determinationen der Formalzahlen sind nat\u00fcrlich auch zun\u00e4chst durch ihre formalen Operationen zu bestimmen, sodass das Permanenz-princip der formalen Gesetze hier ganz von selbst als ein hodege-tisches sich darbietet. Die Addition wird sich nun allerdings ihrer Geschlossenheit wegen nicht weiter specialisiren lassen au\u00dfer in der Ausdehnung auf mehrere Dimensionen. Dagegen ist die Multiplication ganz vorz\u00fcglich geeignet, als ein Eintheilungsmittel zu dienen, und bildet auch in der That das f\u00fcr ein Zahlsystem charakteristische. Leider bestehen aber \u00fcber die M\u00f6glichkeit verschiedener Multiplicationen noch so wenig Untersuchungen, dass man eine weitere Eintheilung der Zahlgr\u00f6\u00dfen auf Grund derselben heutzutage noch nicht wird vornehmen k\u00f6nnen. Zwar sind manche einzelne Specialf\u00e4lle in den Arbeiten von Hankel, Simony, Weierstra\u00df,","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwieklungsformen.\n327\nDe de kind und anderen untersucht1), zwar hat selbst Grassmann das Problem allgemein anzufassen unternommen2), indessen kann von einer befriedigenden L\u00f6sung der Frage im allgemeinen doch noch nicht gesprochen werden3). Nur ein Unterschied ist vorl\u00e4ufig au\u00dfer der zuf\u00e4llig vorhandenen oder fehlenden Commutativit\u00e4t als wichtig und fundamental zu betrachten, der einer geschlossenen oder ungeschlossenen Multiplication, je nachdem die multiplicative Verkn\u00fcpfung zweier Gr\u00f6\u00dfen des Zahlsystems eine ebensolche erzeugt oder nicht. Diesem Unterschied gem\u00e4\u00df trennt man n\u00e4mlich begrenzte und unbegrenzte Zahlsysteme. Zu den ersteren geh\u00f6ren z. B. die Quaternionen und die gew\u00f6hnlichen complexen, zu den letzteren unter anderen die G rassmann\u2019sehen alternirenden Zahlen.\nDer Begriff der Zahlgr\u00f6\u00dfe, ausgedr\u00fcckt im allgemeinen w,-dimensionalen Zahlsystem, ist also selbst mathematisch sehr mannigfach modellirt. Gemeinsam ist allen Zahlsystemen eigentlich nur die Addition. Die Multiplication ist zwar formal, d. h. in Bezug auf den Zahlcharakter \u00fcberall gleich, modificirt sich aber andrerseits in Bezug auf das Moment der Gr\u00f6\u00dfe durch die in jedem System anders gew\u00e4hlten Beziehungen zwischen den Einheitsproducten. Die Subtraction, urspr\u00fcnglich die Lysis der Addition, wird durch Einf\u00fchrung der negativen Gr\u00f6\u00dfen dieser gleichgestellt. Die Division endlich, nur selten in eindeutiger Form erscheinend, ist so wenig in ihrer Zul\u00e4ssigkeit bestimmt oder untersucht, dass man dies eigentlich als einen Mangel der bisherigen Theorien bezeichnen muss. N\u00e4her erforscht und wirklich vollst\u00e4ndig behandelt sind au\u00dfer den Quaternionen leider nur die gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen, weil\n1)\tVon einem formal neuen Geschtspunkt aus ist erst j\u00fcngst die Frage von Holder an dem Specialfall der Quaternionen wieder aufgenommen in G\u00f6ttinger Nachrichten 1889, S. 34.\n2)\tIn dem Aufsatz: Sur les diff\u00e9rents genres de multiplication. C relie\u2019s Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik, Band 49, 1854, p. 123.\n3)\tDoch sind bereits in j\u00fcngster Zeit in den auf S. 321 citirten Arbeiten von Study und Scheffers unabh\u00e4ngig mit zwei verschiedenen Methoden alle Zahlensysteme von zwei, drei und vier Dimensionen aufgestellt worden, deren Multiplication geschlossen ist und einen Modul (in\u2019dem oben benutzten Grass-mann\u2019sehen Sinne) besitzt. Die betreffenden Anzahlen sind 2, 5 und 16. Scheffers hat endlich in der oben zuletzt citirten Abhandlung die Methode noch auf das entsprechende Gr\u00f6\u00dfengebiet von f\u00fcnf Dimensionen ausgedehnt und in diesem 54 m\u00f6gliche Zahlsysteme gefunden.\nWundt, Philos. Studien. VI.\n22","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nWalter Brix.\nsie das einzige begrenzte Zahlsystem mit commutativer Multiplication darstellen und deshalb \u00e4u\u00dferlich ganz dem reellen Gr\u00f6\u00dfensystem gleichen. Im \u00fcbrigen ist in dieser Beziehung wohl schon vielfach vorgearbeitet worden, aber ein vorl\u00e4ufiger Abschluss f\u00fcr\u2019s erste nicht zu erwarten. Eine weitere Determination und Classification der Zahlsysteme bietet daher bei dem gegenw\u00e4rtigen Stand der Frage noch so gro\u00dfe Schwierigkeiten, dass man sie vorl\u00e4ufig wird aufschieben m\u00fcssen.\nIst aber einerseits die mathematische Ausbildung der Zahlgr\u00f6\u00dfe noch nicht im Stande, eine weitere logische Behandlung zuzulassen, so ist es dagegen unbedingt nothwendig, zum Schluss noch einmal auf die begrifflichen Gegens\u00e4tze in derselben, namentlich auf den Unterschied von contiuuirlich und discontinuirlich hier n\u00e4her einzugehen, der zwar in Wahrheit ganz fundamental, bisher aber doch noch immer unter der Oberfl\u00e4che verborgen geblieben ist. Da jedoch alle M-dimensionalen Mannigfaltigkeiten sich immer auf eine lineare derselben M\u00e4chtigkeit reduciren lassen, so k\u00f6nnen wir die ganze Frage im wesentlichen auf die reellen Zahlgr\u00f6\u00dfen beschr\u00e4nken.\nDie Specialisirung der vier Mannigfaltigkeitstypen f\u00fchrt unmittelbar in ihrer qualitativ-quantitativen Determination auf die vier entsprechenden Typen der Zahlgr\u00f6\u00dfe, welche wir mit W un d t ') als Zahlarten unterscheiden k\u00f6nnen. Der erste Typus liefert unmittelbar die Gr\u00f6\u00dfeneinheit, der zweite die ganze und zwar, da es sich hier um Gr\u00f6\u00dfen handelt, nicht die absolute, sondern die benannte ganze Zahl, der dritte ferner eine allgemein discrete und der vierte die stetige Zahlgr\u00f6\u00dfe. Und wie die h\u00f6heren Mannigfaltigkeiten immer alle niedrigeren umschlie\u00dfen, so sind auch hier die vorhergehenden Zahlarten vollst\u00e4ndig in den folgenden enthalten.\nSo lange es sich nun allein um die formale Verkn\u00fcpfung selbst handelt, sind alle einzelnen Begriffe als gleichartig zu betrachten und zeigen keine Verschiedenheit; sobald dagegen der Begriff der Gr\u00f6\u00dfe den der Zahl zur\u00fcckdr\u00e4ngt, m\u00fcssen ihre Unterschiede auch wieder in den Vordergrund treten. Indessen bringt es wiederum die mathematische Behandlung mit sich, dass zwar der vierte Typus gegen die drei anderen sehr erheblich, der dritte aber gegen die\n1) Wundt, Logik II, S. 119.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlhegriff und seine Entwicklungsfornen.\t329\nbeiden ersten viel weniger absticht. Denn sieht man von der Dis-ciplin der sogenannten Zahlentheorie ab, deren Anwendung auf Gr\u00f6\u00dfen relativ gering ist, so werden in der Regel die drei ersten Zahlarten einfach zusammengefasst in die algebraische, d. h. discon-tinuirliche Gr\u00f6\u00dfe. Diese Behandlungsweise ist praktisch allein entwickelt und in der Algebra durch den Gebrauch beinahe geheiligt. Sie operirt im wesentlichen mit dem Begriff der discreten Gr\u00f6\u00dfe, welche ihren Charakter dadurch erh\u00e4lt, dass sie \u00e4u\u00dferlich in der ganzen Rechnung immer allein um ihrer selbst willen in\u2019s Auge gefasst, niemals aber mit den anderen Gr\u00f6\u00dfen der Verkn\u00fcpfung in eine vergleichende Ma\u00dfbeziehung gesetzt wird. Die Algebra hat es daher nur mit der discontinuirlichen Gr\u00f6\u00dfe oder der allgemeinen algebraischen Irrationalit\u00e4t zu thun. Und zwar treten diese Irrationalit\u00e4ten als etwas von vorn herein bestimmtes, wohldefinirtes, logisch greifbares auf, mit einem Wort, sie sind finite Zahlgr\u00f6\u00dfen. Die Algebra ist daher, wie wir es jetzt endg\u00fcltig aussprechen k\u00f6nnen, die Lehre von den discreten finiten Gr\u00f6\u00dfen. So lange sie sich mit der Untersuchung der formalen Beziehungen solcher Gr\u00f6\u00dfen begn\u00fcgt, so lange sie immer noch mit Buchstaben rechnet, nicht mit Ziffern, so lange bleibt der algebraische Irrationalit\u00e4tsbegriff auch stets ein finiter.\nDas wird aber mit einem Schlage anders, sobald sie darauf ausgeht die Gr\u00f6\u00dfen zu messen, d. h. quantitativ in bestimmter Weise auf eine Grundeinheit zu beziehen. Hier n\u00f6thigt die Unm\u00f6glichkeit, diese Forderung im ganzen betrachteten Gebiete zu erf\u00fcllen, zu der Heranziehung gewisser infiniter Piocesse, welche durch eine immer noch discontinuirlich erscheinende Addition N\u00e4herungswerthe aufstellen muss, um wenigstens den Irrationalit\u00e4ten \u00e4hnliche Ausdr\u00fccke in die Rechnung einf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Diese infinite Behandlungsweise greift sogar \u00fcber auf die rationalen Zahlen, welche hierdurch oft genug als unendliche Decimalbr\u00fcche einge-f\u00fchrt werden m\u00fcssen. Andrerseits gestattet aber gerade der dis-continuirliche Charakter der Messung nicht, dies Verfahren auch auf alle rationalen Zahlgr\u00f6\u00dfen auszudehnen, da man doch immer gewisse, streng ausmessbare Grundverh\u00e4ltnisse haben muss, welche zur Auswerthung der anderen verwendet werden k\u00f6nnen. Diese Disciplin der Gr\u00f6\u00dfenlehre, die numerische Algebra, formt den finiten\n22\u00ae","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nWalter Brix. '\nZahlbegriff also nicht ganz in den infiniten um, sondern nur da, wo es n\u00f6thig ist. Das ist aber z. B. bei allen Irrationalit\u00e4ten der Fall. In Folge dessen muss denn doch die numerische Algebra von der allgemeinen, abstracten wohl unterschieden werden, da ihr Zahlbegriff, abgesehen von den einfachsten Formen, wesentlich ein infiniter ist. Hier ist das Irrationale im allgemeinen als eine abzahlbare Mannigfaltigkeit erster M\u00e4chtigkeit gegeben, w\u00e4hrend es dort transfinit als Summe derselben auftritt.\nSpaltet sich so die discontinuirliche Zahlgr\u00f6\u00dfe in zwei grundverschiedene Unterbegriffe, je nachdem man ihre Erzeugung aus Elementen oder das Resultat derselben in\u2019s Auge fasst, so tritt derselbe Gegensatz bei der continuirlichen der (wenigstens wahrscheinlichen) quantitativen Zahldetermination der Mannigfaltigkeit zweiter M\u00e4chtigkeit in noch viel h\u00f6herem Ma\u00dfe auf. Wieder ist hier der finite Begriff der urspr\u00fcngliche, der infinite nur eine H\u00fclfsform des messenden Denkens. Die Behandlung der finiten stetigen Gr\u00f6\u00dfe aber ist die Aufgabe der reinen Geometrie oder vielmehr ihrer, von Grassmann ausgebildeten, umfassenden Oberdisciplin, der Ausdehnungslehre. Es ist das gro\u00dfe, methodologisch unsch\u00e4tzbare Verdienst dieses Mannes, gezeigt zu haben, dass sich solche \u00bbextensiven\u00ab Gr\u00f6\u00dfen auch als Zahlen betrachten lassen, d. h. mit gro\u00dfem Vortheil Verkn\u00fcpfungen zu unterwerfen sind, welche, in dem vorliegenden Gebiet nat\u00fcrlich von actueller Bedeutung, ihren formalen Eigenschaften nach als Addition und Multiplication erscheinen *). Zwar hatten schon vor ihm M\u00f6bius1 2), Bellavitis3) und andere \u00e4hnliche Gedanken in\u2019s Auge gefasst und theilweise zur Ausf\u00fchrung gebracht, aber sie reichten lange nicht heran an die durchgreifende Ausbildung derselben bei Grassmann, dessen au\u00dferordentliche Bedeutung f\u00fcr unsern Zweck darin besteht, dass er urspr\u00fcnglich methodisch ganz verschieden behandelte Begriffe dem einen um-\n1)\tGrassmann hat bekanntlich einen gro\u00dfen Theil seines Lebens hindurch an der Durchf\u00fchrung dieser Idee gearbeitet. Wir m\u00fcssten darum auch hier alle seine Schriften citiren; vgl. deshalb Anmerkung 1, S. 286.\n2)\tIn dem bekannten vielcitirten \u00bbBarycentrischen Calcul\u00ab, Leipzig 1827; in den gesammelten Werken von M\u00f6bius abgedruckt in Band I, Leipzig 1883.\n3)\tIn mehreren Einzelabhandlungen, namentlich: Saggio di applicazioni di un nuovo metodo di Geometria analitica [Calcolo delle equipollenze], Annali delle Scienze del Regno Lombardo-Yeneto, Padova e Venezia V, 1835, p. 244\u2014259, und Metodo delle Equipollenze, ebenda VII, 1887, p. 243\u2014261, und VIII, 1838, p. 17\u201437, p. 85\u2014121. Au\u00dferdem ist er noch mehrfach gelegentlich darauf zur\u00fcckgekommen.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwieklnngsformen.\n331\nfassenden der Zahlgr\u00f6\u00dfe subsumirte und so die Zusammenfassung aller fr\u00fcher einzelnen actuellen Verkn\u00fcpfungen in den formalen Operationen erm\u00f6glichte.\nDie Disciplin der Anschauungslehre, leider in der modernen Mathematik immer noch recht wenig eingeb\u00fcrgert, entbehrt des Ma\u00dfbegriffes durchaus oder kennt ihn doch nur in der Form von Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnissen. Daher sind auch alle ihre Begriffe in sich v\u00f6llig widerspruchsfrei und finit. Sowie dagegen das analysirende Denken sich des anschaulichen Begriffs der stetigen Zahlgr\u00f6\u00dfe bem\u00e4chtigt, sowie durch ein synthetisches successives Setzen die con-tinuirliche Erzeugung desselben durch Bewegung grob nachgeahmt wird, sowie, mit einem Wort, die Zahlgr\u00f6\u00dfe der Messung unterworfen werden soll, wird dieser finite Begriff unbrauchbar und muss durch den infiniten ersetzt werden. Diejenige Disciplin, welche sicli die Messung des Stetigen zur Aufgabe macht, ist die Functionentheorie oder im weiteren Sinne die ganze Analysis. Sie entspricht also direct der numerischen Algebra, wie die Ausdehnungslehre der allgemeinen. Nur ist hier die Umwandlung der finittransfiniten Form in die infinite viel weiter getrieben als dort, indem als Grundbegriffe nur wirklich infinite, d. h. z. B. Potenzreihen \u2014 bei Cauchy bestimmte Integrale \u2014 ebenso Differentiale als unendlich klein werdende Gr\u00f6\u00dfen u. s. w. zugelassen werden sollen, wenn auch dieser Regel selbst heutzutage noch nicht \u00fcberall entsprochen wird.\nAls Haupteintheilung der Gr\u00f6\u00dfenlehre ergibt sich also nach dem Vorangehenden eine doppelte. Zun\u00e4chst kann man aus den vier verschiedenen Typen der Mannigfaltigkeit und ihrer quantitativen Determination, der Gr\u00f6\u00dfe, vier verschiedene Zweige ahleiten. Der erste behandelt die einheitliche, der zweite die zusammengesetzte, der dritte die allgemeine discrete, der vierte die stetige Zahlgr\u00f6\u00dfe. Doch ist die erste Disciplin hier lediglich von schematischer Bedeutung, da man mit der Gr\u00f6\u00dfeneinheit doch nichts weiter beginnen kann, als sie eben setzen. Hier decken sich also unmittelbar Begriff und Umfang der Wissenschaft. Die drei andern aber sind selbst\u00e4ndige, wohlunterschiedene Gebiete der Gr\u00f6\u00dfenlehre und theilen sich wieder gleichm\u00e4\u00dfig in zwei parallele Entwickelungen. Je nachdem sie n\u00e4mlich nur auf Lage, Richtung, Ordnung und \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse, diese nat\u00fcrlich im allgemeinsten Sinne gefasst, R\u00fccksicht nehmen oder auf die Messung der Gr\u00f6\u00dfen ausgehen, behandeln sie den finit-transfiniten oder infiniten Gr\u00f6\u00dfenhegriff.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nWalter Brix.\nDie drei finiten Disciplinen sind : Zahlentheorie, reine Algebra und Ausdehnungslehre, die ihnen entsprechenden infiniten : das inductive Rechnen mit benannten ganzen Zahlen, die numerische Algebra mit ihrer Anwendung auf die Geometrie, also alles Rechnen im weitesten Sinne umfassend, und die Functionentheorie oder Analysis. In diesem Sinne d\u00fcrfte in der That die von Grassmann gegebene Haupteintheilung der \u00abFormenlehre\u00ab, die er direct mit der Mathematik identificirt, zeitgem\u00e4\u00df zu modificiren sein. Seine Eintheilung war beherrscht von dem doppelten Gegensatz von gleich und ungleich auf der einen, von discret und stetig auf der andern Seite *). Die Lehre von den gleichen discreten Gr\u00f6\u00dfen sollte die Algebra, von den ungleichen die Combinationslehre, die von den gleichen stetigen die Functionentheorie, von den ungleichen stetigen die Ausdehnungslehre sein. Aber diese Scheidung scheint uns nicht den eigentlichen springenden Punkt zu treffen. Denn die Com-binationslehre d\u00fcrfte doch wohl zur reinen Algebra zu z\u00e4hlen sein, und eine Wissenschaft, die gleiche Gr\u00f6\u00dfen betrachtet, bezweckt eben ihre Messung. Nach den ganzen vorhergehenden Deductionen m\u00fcssen wir aber nothwendig zu dem Resultat kommen, dass der Begriff des Ma\u00dfes es ist, welcher die fundamentale Spaltung der Gr\u00f6\u00dfenlehre bedingt, nicht der Unterschied von gleich und verschieden1 2). Deshalb haben wir der Systematik zu Liebe auch auf die endliche zusammengesetzte Gr\u00f6\u00dfe diese Scheidung angewandt, so dass unsere Eintheilung durch das folgende Schema darzustellen w\u00e4re:\nGro\u00df enlehre.\nLehre von der Lehre von den Lehre von den Lehre von den einheitlichen\tendlichen\tdiscreten\tstetigen\nGr\u00f6\u00dfe\tGr\u00f6\u00dfen\tGr\u00f6\u00dfen\tGr\u00f6\u00dfen\n1.\t\"\"fckfinitc Dis-\nciplinen :\n2.\tInfinite Disciplinen :\n1.\tZahlentheorie 1. Reine Algebra 1. Ausdehnungs-\n2.\tInductives 2. Numerische lehre\nRechnen mit Algebra\t2. Functionenganzen Zahlen\ttheorie.\nAllen diesen drei, beziehungsweise sechs Oberdisciplinen lassen sich nun als Grundbegriffe Zahlgr\u00f6\u00dfen zu Grunde legen. Die Zahl-gro\u00dfe kann deshalb als ebenso fundamental f\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfenlehre betrachtet werden, wie die abstracte Gr\u00f6\u00dfe selbst. Denn die ganze\n1)\tA\u00fcsdehnungslehre von 1844 (zweite Auflage 1878) S. XXIII ff.\n2)\tGrassmann hat in der Ausdehnungslehre von 1862 zwar auch eine Art von finiter Functionentheorie gegeben. Dieselbe hat sich aber bisher noch nicht als brauchbar erwiesen.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t333\nGr\u00f6\u00dfenlehre, als der allgemeinste Ausdruck der angewandten Mathematik in der Verbindung von objectivem Erfahrungsinhalt mit sub-jectivem Denkmechanismus, kann mit H\u00fclfe der einfachen arithmetischen Grundoperationen v\u00f6llig ausreichend behandelt werden. Die Zahlentheorie behandelt den erkenntnisstheoretischen Begriff der absoluten Zahl bezogen auf eine Gr\u00f6\u00dfe, die reine Algebra die discrete, die Ausdehnungslehre die stetige Zahlgr\u00f6\u00dfe. Die zugeh\u00f6rigen infiniten Beziehungssubstrate sind: der psychologische Begriff der Anzahl, ebenfalls auf eine Gr\u00f6\u00dfe bezogen, f\u00fcr die numerische Algebra die discrete infinite (Decimal-, Kettenbruch u. s. w.), f\u00fcr die Functionenlehre im weitesten Sinne die stetige infinite Zahlgr\u00f6\u00dfe, wie etwa Potenzreihen, Integrale u. s. w. Und in aufsteigender Reihe benutzt der Begriff der Anzahl zu seiner primitivsten Messung, der psychologischen, die einfache finite Gr\u00f6\u00dfeneinheit, die numerische Algebra als Ma\u00dfstab die transfinite Form der Anzahl, n\u00e4mlich die absolute Zahl, die Functionentheorie endlich misst mit den transfiniten discreten Gr\u00f6\u00dfen. So st\u00fctzen sich also die infiniten Begriffe der h\u00f6heren Mannigfaltigkeiten immer auf die transfiniten der n\u00e4chst niedrigen, wie es ja auch sein muss, da sie aus diesen durch Synthese erzeugt werden.\nDie hier f\u00fcr ein einfach ausgedehntes Gebiet vorgenommene Betrachtung gilt nat\u00fcrlich unmittelbar f\u00fcr eine Zahlgr\u00f6\u00dfe beliebig vieler Dimensionen. Zu jeder geh\u00f6rt eine Zahlentheorie1), reine Algebra, Geometrie auf der einen, und eine Z\u00e4hlbetrachtung, numerische Algebra und Functionentheorie auf der andern Seite. Nur bringt es gerade der Ma\u00dfbegriff mit sich, dass die drei infiniten Disciplinen, deren erste allerdings nur dem Schematismus zu Liebe hier aufgestellt wurde, vorzugsweise begrenzte Zahlsysteme, also solche mit geschlossener Multiplication betrachten. Die unbegrenzten, f\u00fcr die Ma\u00dfbestimmung unfruchtbarer, k\u00f6nnen daf\u00fcr mit gro\u00dfem Nutzen unter dem transfiniten Gesichtspunkt behandelt werden. So zieht z. B. Hanke 1 aus den altemirenden Zahlen gro\u00dfe Vortheile f\u00fcr die gew\u00f6hnliche Algebra, namentlich die Determinanten2), und so legt namentlich Grassmann diese seiner ganzen Aus-\n1)\tHierbei denken wir nat\u00fcrlich keineswegs allein an die Theorien der von Gau\u00df eingef\u00fchrten, von ihm, Kummer, Dedekind und anderen vielfach behandelten \u00bbidealen Zahlen\u00ab, welche vielmehr nur eine andere Betrachtungsform f\u00fcr die gew\u00f6hnlichen complexeren Zahlen darstellen, da ihre Einheiten die \u00bb-ten Einheitswurzeln sind.\n2)\tComplexe Zahlen S. 119 ff.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334 Walter Brix. Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\ndehnungslehre zu Grande1). Andrerseits sind aber auch die transfiniten Formen der begrenzten Zahlsysteme vielfach von Nutzen Beispielsweise l\u00e4sst sich die sph\u00e4rische, nichteuklidische Geometrie mit Quaternionen, die euklidische der Ebene mit den gew\u00f6hnlichen\ncomplexen Zahlen leicht behandeln.------------\nHiermit d\u00fcrfte die Classification der Zahlgr\u00f6\u00dfen, soweit sie bei dem gegenw\u00e4rtigen Stand der Frage \u00fcberhaupt r\u00e4thlich ist, im wesentlichen ersch\u00f6pft sein. Denn weder wird die mehr formal mathematische Trennung in begrenzte und unbegrenzte Zahlsysteme wegen des Mangels allgemeiner Untersuchungen \u00fcber die Multiplicationen .viel weiter zu treiben, noch die mehr logische Scheidung von finit-transfinit und infinit \u00fcber den Begriff der stetigen Zahlgr\u00f6\u00dfe auszudehnen sein. Indessen beruht doch die Beschr\u00e4nkung auf die betrachteten vier Typen auf keiner logisch nothwendigen Ueberlegung, sondern allein auf der Erfahrung, dass bisher noch keine Mannigfaltigkeiten von h\u00f6herer als der zweiten M\u00e4chtigkeit gefunden worden sind. Und wenn auch der genaueste Kenner dieser Verh\u00e4ltnisse, G. Cantor, au\u00dfer der Vermuthung, dass die Gesammtheit aller stetigen und unstetigen Functionen die dritte M\u00e4chtigkeit besitze2), in dieser Richtung noch keinen Fortschritt hat machen k\u00f6nnen, so schlie\u00dft das doch nat\u00fcrlich keinesfalls die Existenz h\u00f6herer Mannigfaltigkeiten aus. Es ist ja sogar noch nicht einmal die zweite M\u00e4chtigkeit der stetigen Zahlgr\u00f6\u00dfe erwiesen ; und die Denkbarkeit \u00fcberstetiger Zahlsysteme ist keineswegs so unwahrscheinlich, dass von vorn herein Forschungen in dieser Richtung aussichtslos w\u00e4ren. Hat doch Cantor selbst schon in seinen transfiniten Zahlen eine Art Mittelding zwischen discreten und stetigen Gr\u00f6\u00dfen aufgestellt. Sind aber erst einmal h\u00f6here Mannigfaltigkeiten gefunden, so w\u00fcrden sich diese leicht wieder zu Zahlgr\u00f6\u00dfen deter-miniren lassen; und so wird vielleicht die Untersuchung \u00fcberstetiger Zahlsysteme einmal eine wesentliche Aufgabe der Zukunft bilden.\n1)\tHaupts\u00e4chlich in der Ausdranungslehre von 1862.\n2)\tVgl. oben S. 319.","page":334}],"identifier":"lit4952","issued":"1891","language":"de","pages":"261-334","startpages":"261","title":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, Schluss","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:44:11.054489+00:00"}